Kapitel

 

Am Rand von Bobs Ozean

 

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»Mißbrauch durch Ignoranz« — Tochter geht in die zweite Runde

(Bild: das Ehepaar Hubbard weinend vor dem Gerichtsgebäude)

Off-Stimme: Ein Termin ist jetzt für den zweiten Prozeß wegen Kindesmißbrauchs gegen Rudy und Violet Hubbard anberaumt worden, die von ihrer erwachsenen Tochter Halvah Mae Warringer beschuldigt werden, in ihrer Kindheit ein »Klima der Ignoranz« erzeugt zu haben, was den Tatbestand des Mißbrauchs erfülle. Warringer gibt an, daß sie aufgrund der Vorurteile und der Ignoranz ihrer Eltern sowie deren »hartnäckiger Weigerung, sich zu bessern«, ethnischer Intoleranz, mangelndem Gesundheitsbewußtsein und negativen Körperidealen ausgesetzt gewesen sei, mit nachteiligen Folgen für ihr Erwachsenenleben. Bei der ersten Verhandlung in Springfield, Missouri, sahen sich die Geschworenen außerstande, ein Urteil zu fällen …

 

 

> Juniper Bay in Ontario erinnerte Decatur Ramsey an viele Kleinstädte, in denen er als Junge gewohnt hatte, weil sein Vater, der Feldwebel gewesen war, von einem Stützpunkt zum anderen versetzt worden war, erst mit seiner Frau, Caturs Mutters, schließlich ohne sie. Auf den ersten Blick hatte Juniper Bay die gleiche Flachheit wie die Orte seiner Kindheit, nicht bloß geographisch, sondern … Catur hangelte nach dem Wort, während er an einer Kreuzung hielt, wo eine junge Mutter noch unbedingt zwei kleine Kinder über die Straße lotsen mußte, obwohl die Ampel bereits auf Gelb umgesprungen war.

Geistig, dachte er schließlich. Eine geistige Flachheit. Als ob das Innenleben der Stadt plattgedrückt worden wäre. Nicht ausradiert, sondern … verflacht.

Die Stadt war größer als viele, die er als Kind gekannt hatte, aber wie die meisten davon – Eisenbahnstädte, durch die in den verkehrsreichsten Wochen gerade noch ein paar Güterzüge rollten, Fabrikstädte, in denen die Hälfte der Beschäftigten Feierschichten einlegen mußte – schien sie ihre beste Zeit hinter sich zu haben. Die jungen Leute, vermutete er, wanderten in aufregendere Städte ab, nach Toronto oder New York oder sogar in die Metropolis um D.C. herum, wo Ramsey mittlerweile zuhause war.

Transparente mit Ankündigungen eines bevorstehenden Stadtjubiläums hingen über der Hauptstraße und flatterten in der steifen Brise. Ramsey beschlich ein leises Gefühl der Beschämung. Er konnte leicht Urteile abgeben, ein zum Großstadtleben bekehrter Snob in einem aberwitzig teuren Auto (ein Mietwagen, der sein Budget überstieg, aber diesen Luxus hatte er sich leisten wollen). Mußte man wirklich über eine Stadt die Nase rümpfen, nur weil ihre Aufschwungphase vorbei war, zumal wenn man sie mit dem brodelnden Chaos gegensätzlicher Interessen verglich, das eine moderne Großstadt darstellte? Wenigstens sahen sich die Leute hier hin und wieder auf der Straße, gingen vielleicht sogar noch in dieselbe Kirche, zu Elternversammlungen in der Schule ihrer Kinder. Wer sich im WashBaR-Metroplex auf eigenen Füßen den Bürgersteig entlangbewegte oder sich auch nur länger auf der Straße aufhielt, als unbedingt nötig, um vom Fahrzeug zur Tür zu hasten, gab sich damit als Obdachloser oder als potentieller Selbstmörder zu erkennen.

Die Adresse, die er erhalten hatte, lag in einem kleinen Straßenlabyrinth hinter dem Geschäftsbezirk, einem alten Viertel mit ein- und zweistöckigen Holzhäusern, das im vorigen Jahrhundert der Wohnsitz junger akademischer Aufsteiger gewesen sein mußte. Jetzt lagen die Häuser und ihre altmodischen Gärten unter den breiten Hochbahngleisen, einem Schattenband, das wie eine waagerechte Sonnenuhr ein volles Viertel des Blocks abdunkelte. Er stellte sich vor, wie dieser große Zeiger jeden Tag mit der gleichen Pünktlichkeit wie die dort oben fahrenden Züge über die Fenster strich, und meinte erraten zu können, weshalb die Häuser trotz der ungewöhnlich großen Grundstücksflächen, die sie zu begehrten Immobilien hätten machen müssen, dennoch einen Anflug von Schäbigkeit hatten, von langsamem, aber unaufhaltsamem Verfall.

Er hielt vor dem Haus Nummer 74. Was er davon über die hohe Hecke erkennen konnte, wirkte ein wenig sauberer als die Nachbarhäuser oder zumindest vor kürzerer Zeit gestrichen. Er meldete sich am Gartentor, und obwohl niemand antwortete, ertönte der Summton zum Eintreten. Beeindruckt von der Größe des Anwesens schritt er den langen Pfad hinunter. Olga Pirofsky war vielleicht nur einer von zwölf Onkel Jingles, aber die Sendung war schließlich unglaublich populär, und er nahm an, daß selbst die gesichtslosen Darsteller gut bezahlt wurden. Der Garten war weitgehend sich selbst überlassen worden, aber nicht vollkommen verwildert. Hier hinter der dicken Hecke hatte er das Flair einer früheren Epoche, einer Zeit viktorianischer Vergnügungen und phantasievoller Kinderspiele. Obwohl das Haus selbst im Verhältnis zum Grundstück klein war, hatte es drei Stockwerke und Fenster, die in allen möglichen Winkeln zueinander standen.

Während er darüber nachsann, wie es sich wohl anfühlen mochte, an einem dieser Fenster zu sitzen und auf den eigenen Garten hinauszuschauen, einen Garten, in dem man sich richtig verirren konnte, fragte sich Ramsey, was für eine Wohnfläche er sich mit der unverschämten Hypothek auf seine Zweizimmerwohnung in einer Stadt wie dieser wohl leisten könnte.

Es dauerte eine Weile, bis jemand an die Tür kam, was ihm reichlich Gelegenheit gab zur Betrachtung des dürren Weihnachtskranzes, der wahrscheinlich nicht erst Monate, sondern schon Jahre lang ohne Rücksicht auf die Jahreszeit dort hing, und der Gummistiefel, die neben der Fußmatte abgestellt waren.

Die Tür ging auf, aber nur einen Spalt. Ein kleines, helles Auge spähte über die Kette hinweg. »Herr Ramsey?«

Er gab sich Mühe, so wenig wie möglich wie ein Mörder auszusehen. »Der bin ich, Frau Pirofsky.«

Sie zauderte einen Moment, als zöge sie immer noch die Möglichkeit einer Täuschung in Erwägung. Mein Gott, ging es ihm durch den Kopf, als der Moment sich hinzog. Genau das tut sie – sie fürchtet sich dermaßen. Seine kurz aufgeflackerte Verärgerung erstarb. »Ich kann dir meinen Führerschein zeigen, wenn du willst. Erkennst du nicht meine Stimme von unsern Fongesprächen?«

Die Tür ging zu, und er dachte schon, er hätte einen Fehler gemacht, doch dann klapperte die Kette, und die Tür ging wieder auf, diesmal weiter.

»Komm rein«, sagte sie mit einem schwachen, die Worte nur anhauchenden Akzent. »Wie furchtbar von mir, dich vor der Tür stehenzulassen wie einen Zeugen Jehovas oder sowas.«

Olga Pirofsky war jünger, als er nach ihrer Zögerlichkeit am Fon vermutet hatte, eine fitte, robuste Frau Ende fünfzig oder Anfang sechzig, deren dichte, ursprünglich braune Haare kurzgeschnitten und zum großen Teil ergraut waren. Am überraschendsten war das frische Selbstvertrauen ihres Blicks, sehr unerwartet bei einer Frau, die ihn mit vorgelegter Kette beäugt hatte, um zu sehen, ob er vielleicht eine Art Spionagefilmattentäter war.

»Schon gut«, erwiderte er. »Ich bin einfach sehr, sehr froh, daß du dich für ein Treffen mit mir entschieden hast. Und falls dabei etwas Nützliches herauskommt, hast du einigen sehr netten Leuten einen Riesengefallen getan.«

Sie winkte beinahe geringschätzig ab. »Ich kann dir gar nicht sagen, was ich mir wegen meines Verhaltens für Vorwürfe gemacht habe. Aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.« Zum erstenmal, seit er eingetreten war, knickte ihre Selbstsicherheit ein wenig ein. Sie blickte hin und her, als müßte sie sich vergewissern, daß sie wirklich auf heimischem Gelände war, dann lächelte sie wieder. »Das alles hat mich ziemlich durcheinandergebracht.« Sie trat rückwärts auf die Treppe zu und winkte ihm, ihr zu folgen. »Gehen wir nach oben – ich nutze den unteren Teil des Hauses kaum.«

»Es ist ein schönes Haus. Besonders beeindruckt hat mich der Garten.«

»Er ist völlig heruntergekommen. Früher hatte ich eine Mieterin, die hier im Erdgeschoß wohnte, und sie arbeitete gern im Freien, aber sie wurde von ihrer Firma versetzt. Das liegt schon Jahre zurück.« Sie stieg bereits die Treppe hinauf, und Ramsey folgte ihr. »Ich habe einen Gärtner, der einmal im Monat kommt. Manchmal denke ich, ich sollte die Wohnung wieder vermieten – nicht wegen des Geldes, sondern einfach um noch jemand im Haus zu haben, nicht wahr, falls mal ein Notfall eintritt oder so. Aber vermutlich habe ich mich zu sehr an das Leben allein gewöhnt. Na ja, abgesehen von Mischa.«

Aus dem Treppenhaus traten sie in einen Raum, in dem Ramsey die gute Stube der oberen Wohnung vermutete, ein nicht allzu großes Zimmer mit einem Kamin und wenigen eher kargen und geschmackvollen Möbelstücken. Wie zum Hohn auf die Schlichtheit des übrigen Raumes wurde die hintere Ecke von einem riesigen, mit Kabeln behängten Gerät beherrscht, das wie ein Mittelding zwischen der Kommandokapsel eines Raumschiffs und einem altmodischen elektrischen Stuhl aussah.

»Ich bin geschwätzig, nicht wahr?« Sie sah, daß er den Stuhl betrachtete. »Der ist für meine Arbeit. Wir alle – alle Onkel Jingles und die übrigen Figuren, heißt das – arbeiten von zuhause aus.« Sie stockte plötzlich, runzelte die Stirn und tippte sich an die Stirn – die exaltierte Körpersprache einer Pantomimin. »Sowas von Vergeßlichkeit! Hättest du gern einen Tee? Ich könnte auch Kaffee machen.«

»Tee wäre mir recht.«

»Einen kleinen Moment.« Sie blieb vor der inneren Tür stehen. »Jetzt wird gleich etwas passieren. Erschrickst du leicht?«

Er konnte sich ihre Miene nicht deuten. »Erschrecken?« Liebe Güte, was wollte diese Frau ihm zeigen? Konnte es sein, daß diese ganze Heimlichtuerei und Bangigkeit am Ende doch gerechtfertigt waren?

Sie öffnete die Tür, und ein winziges, wuscheliges Etwas sauste mit klackernden Krallen über die blanken Fußbodendielen. Zu seiner Schande zuckte Ramsey zusammen. Als ob Tür und Maul irgendwie gekoppelt wären, fing das kleine Knäuel sofort an zu bellen, kaum daß es draußen war. Es hatte das Organ eines viel größeren Tieres.

»Mischa ist ein ganz Wilder«, sagte sie, und da merkte er, daß sie sich mühsam ein Lächeln verkniffen hatte. »Er ist jedoch nicht ganz so fürchterlich, wie er sich gebärdet.« Sie schlüpfte ins Nebenzimmer und schloß hinter sich die Tür, so daß er mit dem kleinen, fledermausohrigen Hund allein blieb, der knapp außer Ramseys Reichweite hin und her schoß und laute Töne des Widerwillens und Mißtrauens von sich gab.

 

Catur Ramsey war tief in die Couch gesunken, während die Frau ihm von ihrer Odyssee von einem Arzt zum anderen erzählte und von den vielen Diagnosen, die unbeirrt sonnig geblieben waren, auch wenn die Kopfschmerzen gar nicht daran dachten aufzuhören. Mit zunehmendem Vertrauen teilte sie ihm auch die Ergebnisse ihrer Nachforschungen mit, den nächsten Katalog wertloser Befunde; sie wollte ganz offensichtlich den Mut aufbringen, ihm etwas zu sagen, das sie für wichtig erachtete, und genauso offensichtlich hatte sie den Punkt noch nicht erreicht. Seine von Zeit zu Zeit umherschweifenden Augen blieben an einem gerahmten Bild hängen, das umgedreht auf dem Kaminsims lag, und er fragte sich, wer das sein mochte. Alle guten Anwälte hatten etwas von einem Polizisten an sich, eine penetrante, aufdringliche Stimme, die in einem fort Fragen stellte. Die wirklich guten Anwälte jedoch wußten, wann sie diese Stimme ignorieren mußten. Olga Pirofsky hatte augenscheinlich das Bedürfnis zu reden, und Ramsey ließ sie.

»… Und an dem Punkt dachte ich …« Sie zögerte, dann beugte sie sich vor, um den Hund am Kopf zu kraulen. Das kleine schwarzweiße Wesen lugte zwischen ihren Fußknöcheln hervor und funkelte Ramsey an, als wäre er eine Art Sendbote des Antichristen an die Hunde der Welt. »Es ist so schwer zu sagen – es hört sich einfach albern an, wenn du so vor mir sitzt, und dabei bist du den ganzen Weg gekommen, bloß um mich zu sehen.«

»Ich bitte dich, Frau Pirofsky. Ich bin so lange nicht mehr aus meinem Büro herausgekommen, daß ich schon anfange, mit den Gummibäumen zu reden. Selbst wenn du mich jetzt auf der Stelle rauswirfst, wird es mir gut getan haben.« Und das stimmte sogar, begriff er. »Erzähl mir die Geschichte einfach auf deine Art.«

»Ich dachte, das kann doch kein Zufall sein. Daß kein einziger Teilnehmer an der Sendung – wir bewahren sämtliche Daten auf, wie ich dir schon sagte – jemals dieses Tandagoresyndrom bekommen hat. Das kommt mir einfach nicht normal vor. Das müssen Millionen sein, Herr Ramsey. Ich habe bei meiner Arbeit nicht mit Statistik zu tun, aber das kommt mir einfach nicht normal vor.«

»Und …?« Er war sich nicht ganz sicher, worauf genau sie hinauswollte, aber er hatte langsam eine Ahnung. Während sie zögerte und ihre Gedanken zu ordnen versuchte, beugte Ramsey sich vor und machte dem Hund mit einem Fingerwackeln ein Friedensangebot. Mischa riß vor ungläubiger Wut die Augen auf, dann sprang er hinter den Fesseln seiner Herrin auf die Füße und bellte los, als ob er geschimpft worden wäre.

»Oh, lieber Himmel, Mischa!« Sie zog hinter dem Sofakissen einen kleinen Stoffball hervor, schwenkte ihn vor der Nase des Hundes und warf ihn dann in die hinterste Ecke des Zimmers. Mischa sauste hinterher und trieb ihn in einen Winkel neben dem V-Stuhl. Dann grub er seine Zähne tief in den Ball und machte sich mit einem tiefen Grollen in seiner kleinen Kehle daran, ihn aufs gründlichste zu töten.

»Das dürfte ihn eine Weile beschäftigen«, sagte sie liebevoll. »Meine Frage ist: Kann es Zufall sein? Daß die statistischen Daten von Onkel Jingles Dschungel derart von den Durchschnittswerten abweichen?«

»Mit anderen Worten, du denkst, daß es deshalb nicht auftritt, dieses Tandagoresyndrom, weil das Unternehmen irgend etwas Besonderes tut? Aber das wäre doch eher gut, oder nicht?«

»Nicht«, sagte sie langsam, »wenn das Unternehmen etwas zu verbergen hätte und deshalb darauf achtete, daß keinem Teilnehmer der Sendung etwas passiert.« Sie schien zu guter Letzt doch ihr Selbstvertrauen gefunden zu haben und fixierte ihn mit einer Miene, die beinahe herausfordernd zu nennen war.

Ramsey war perplex. Wenn sie recht damit hatte, daß Onkel Jingle verschont geblieben war, dann war das zweifellos interessant, obwohl es sich höchstwahrscheinlich als Zufall der einen oder anderen Art herausstellen würde. Aber es war auch möglich und im Grunde viel wahrscheinlicher, daß sie schlicht und einfach die falschen Daten herausgezogen oder einige Zahlen falsch interpretiert hatte. Das war der große Nachteil des Netzes genauso wie sein großer Trumpf – alle konnten an alles herankommen und daraus machen, was sie wollten. Es war eine Fundgrube für Amateure, harmlose Spinner und echte Verrückte.

Aber er mußte zugeben, daß die Frau, die ihm gegenüber saß, nicht den Eindruck einer Verrückten oder auch nur einer Spinnerin machte. Außerdem mochte er sie und stellte fest, daß er sie nicht verletzen wollte, auch wenn sich in ihm der Verdacht regte, daß die Fahrt womöglich für die Katz gewesen war.

»Das ist eine sehr interessante Möglichkeit, Frau Pirofsky«, sagte er schließlich. »Ich werde sie selbstverständlich prüfen.«

Der eifrige Blick in ihren Augen erlosch, verwandelte sich. »Du hältst mich für verrückt.«

»Nein. Nein, das tue ich nicht. Aber meine Mandanten haben ein Kind, das anscheinend an Tandagore erkrankt ist, und sie brauchen Fakten und Zahlen, keine Theorien. Ich werde wirklich überprüfen, was du sagst.« Er stellte seine Teetasse auf den Boden. Es schien an der Zeit zu sein zu gehen. »Ich versichere dir, daß ich alles, was mit diesem Problem zusammenhängt, sehr ernst nehme.«

»Dieses Kind – ist es ein Junge oder ein Mädchen?«

»Ich bin eigentlich nicht befugt, über meine Mandanten Auskunft zu geben.« Er hörte seinen steifen Ton und fand ihn selber unangenehm. »Es ist ein Mädchen. Sie liegt schon seit einigen Wochen im Koma. Deshalb stehen wir so unter Zeitdruck – in den wenigen Fällen von Tandagore, wo eine Genesung eintrat, war das immer im Frühstadium der Krankheit.«

»Das arme Ding.« Aus ihrem Gesicht sprach ein tiefer Kummer, viel tiefer, als er ihn bei einer erwarten würde, die vom Leiden eines fremden Menschen erfährt. »Deshalb entsetzt mich diese Sache so«, murmelte sie. »Wegen der Kinder. Sie sind so hilflos …«

»Du arbeitest schon ziemlich lange mit Kindern, nicht wahr?«

»Fast mein ganzes Leben.« Sie rieb sich das Gesicht, wie um den Kummer wegzuwischen, aber es glückte nicht ganz: Ihre Augen waren schreckensweit, fast gehetzt. »Sie sind alles, woran mir was liegt. Und Mischa, nehme ich an.« Sie lächelte leise zu dem Hund hinüber, der seinen Sieg mit einem Nickerchen feierte, den Kopf auf den ermordeten Ball gelegt.

»Hast du selbst Kinder?« Er hatte immer noch seine Aktentasche über den Knien liegen und wußte nicht recht, ob er sich allmählich zur Tür begeben sollte, doch als er die Frage stellte, veränderte sich ihre ganze Haltung: Sie sank sichtlich in sich zusammen. Die Wirkung war so drastisch, daß er sich sofort schämte, als ob er absichtlich etwas getan hätte, um sie zu erschrecken oder zu schockieren. »Entschuldige, es geht mich natürlich nichts an.«

Sie gab ihm mit einer Geste zu verstehen, daß das keine Rolle spiele, aber ihre Wangen hatten sich gerötet. Sie starrte eine gute Viertelminute den Hund an, ohne etwas zu sagen. Auch Ramsey schwieg und wagte vor Schuldgefühl und Fauxpas-Angst nicht, sich zu rühren.

»Kann ich dir etwas erzählen?« fragte sie schließlich. »Du kennst mich nicht. Du kannst gehen, wenn du willst. Aber manchmal ist es gut, mit jemandem offen zu reden.«

Er nickte und spürte dabei, wie alles, seine Kontrolle über die Situation, seinen Terminkalender, seine Gefühle, weggesaugt wurde wie Sand von der Ebbe. »Natürlich.«

»Als ich jung war, zog ich mit einem Zirkus durchs Land. Meine Eltern waren beide Artisten, und unser Zirkus, Le Cirque Royal bereiste ganz Europa und sogar Asien. Du weißt doch, was ein Zirkus ist, nicht wahr?«

»Ja, Ma’am. Das heißt, ich habe nie einen gesehen, aber ich weiß, was das ist. Es sind, denke ich mal, nicht mehr viele Zirkusse übrig. Jedenfalls nicht in Amerika.«

»Nein«, sagte sie. »Nicht viele.« Sie seufzte. »Ich weiß nicht, warum ich dir das erzähle, aber ich habe das Gefühl, du solltest es hören. Ich trat als Clown und als Kunstreiterin auf, schon als kleines Mädchen. Vieles von dem, was ich bei Onkel Jingle mache, sind Sachen, die ich damals gelernt habe, von den anderen Clowns und Zirkusdarstellern. Vielleicht bin ich die letzte, die diese Sachen gelernt hat. Auf jeden Fall war es ein gutes Leben, obwohl wir nicht viel Geld hatten. Wir waren alle zusammen, wir reisten viel herum, sahen viele Dinge. Und als sich uns noch ein junger Mann anschloß, ein Gedankenleser … sagt dir das Wort etwas? Leute, die Gedanken lesen oder so tun, sind sehr beliebte Programmfüller, wie Wahrsager auch. Ich glaube, man sieht hin und wieder noch welche im Netz. Als dieser schöne junge Mann sich uns also anschloß, hatte ich alles, was ich wollte.

Er hieß Aleksander Tschotilo.« Sie hielt inne und lächelte unsicher, aber durchaus nicht ohne innere Freude. »Ich habe diesen Namen schon lange nicht mehr ausgesprochen. Ich dachte, es würde weher tun. Ich werde dich nicht mit einer langen Geschichte langweilen. Du bist ein junger Mann. Du kennst die Liebe.«

»Leider nicht mehr so jung«, sagte er leise, aber bat sie mit einem Nicken fortzufahren.

»Wir wollten heiraten – meine Eltern mochten ihn gern, und er war einer von uns, war mit dem fahrenden Leben, dem Zirkusleben großgeworden. Als ich meinem Vater sagte, daß ich ein Kind erwarte, setzte er sehr schnell einen Termin für die Hochzeit fest. Ich war so glücklich.« Sie schloß einen Moment die Augen, langsam, als schliefe sie ein, dann schlug sie sie wieder auf und holte tief Atem. »Doch es kam alles anders. Im fünften Monat setzten die Wehen ein – sehr, sehr stark. Wir waren in Österreich, am Rand von Wien. Ich wurde im Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen, aber das Kind, ein Junge, kam tot zur Welt. Ich habe ihn nie gesehen.« Eine Pause, die Zähne zusammengebissen. »Dann, ich lag noch im Krankenhaus, wurde mein Aleksander in der Thaliastraße von einem Auto angefahren und war sofort tot. Er war auf dem Weg zu mir gewesen. Er hatte Blumen dabeigehabt. Meine Eltern mußten mir die Nachricht überbringen. Sie weinten beide.« Sie betupfte ihrerseits mit dem Ärmel ihre Augen, die an den Rändern leicht gerötet, aber trocken waren. »Damals wurde ich wahnsinnig. Es gibt kein anderes Wort dafür. Ich kam zu der Überzeugung, Aleksander sei entführt worden – auch noch nachdem ich ihn im Sarg gesehen hatte, am Tag der Beerdigung, als man mich aus der Kirche hinaustragen mußte. Ich war mir auch sicher, daß mein Kind noch lebte, daß eine schreckliche Verwechslung geschehen war. Ich lag jede Nacht im Krankenhausbett und stellte mir vor, daß Aleksander und unser Sohn mich suchten, daß sie draußen durch die Gänge irrten und meinen Namen riefen. Dann schrie ich nach ihnen, bis die Schwestern mich ruhigstellten.« Sie lächelte, wie um ihre Dummheit zu unterstreichen; Ramsey fand den Ausdruck sehr verunsichernd. »Ich war vollkommen wahnsinnig.

Ich verbrachte drei Jahre in einem Sanatorium – das Wort hört man heutzutage bestimmt nicht mehr –, und zwar in Südfrankreich, wo der Cirque Royal sein Winterquartier hatte. Ich sprach nicht, schlief kaum. Ich habe heute kaum noch Erinnerungen an die Zeit, nur kleine Bilder, wie aus der Geschichte von jemand anders, aus irgendeinem Dokumentarfilm. Meine Eltern rechneten nicht damit, daß ich jemals wieder zu mir selber finden würde, doch sie irrten sich. Langsam erholte ich mich. Es machte sie glücklich, auch wenn es mich nicht glücklich machte. Aber ich konnte nicht beim Zirkus bleiben – konnte nicht die Orte bereisen, an denen wir alle zusammen gewesen waren. Ich ging zuerst nach England, aber es war zu grau, zu alt, genau wie Österreich, die Leute mit ihren stillen, traurigen Gesichtern. Ich kam hierher. Ich wurde selber alt. Meine Eltern starben, meine Mutter erst vor wenigen Jahren. Und alles, was ich tue, tue ich für die Kinder.«

Sie zuckte mit den Schultern. Die Geschichte war offensichtlich aus.

»Es tut mir sehr leid«, sagte er.

»Ich wollte, daß du das weißt«, erwiderte sie. »Es ist nur fair.«

»Ich fürchte, das verstehe ich nicht ganz.«

»Daß ich wahnsinnig war. Daß alle lange Zeit dachten, ich müßte für den Rest meines Lebens in einer Anstalt bleiben. Wenn du bei deinen Ermittlungen den Dingen nachgehst, die ich dir erzählt habe, solltest du wissen, daß die Information von einer Verrückten stammt, die in einer Anstalt war, deren einziger Lebensinhalt es ist, Kinder glücklich zu machen, weil sie ihr eigenes Kind hat sterben lassen.«

»Du bist zu streng mit dir. Ich glaube nicht, daß du verrückt bist – ehrlich gesagt, wünschte ich, die meisten Leute, mit denen ich zu tun haben muß, wären bei so klarem Verstand wie du.«

Sie lachte. »Vielleicht. Aber sag nicht hinterher, ich hätte dich nicht gewarnt. Wie ich sehe, bist du auf dem Sprung zu gehen. Ich sperre gerade noch Mischa ein, dann bringe ich dich zur Tür.«

Während sie den jetzt wieder wachen und aufgebrachten Hund damit zu versöhnen suchte, ein paar Minuten in der Küche eingesperrt zu werden, stahl sich Ramsey zum Kaminsims, auf dem das umgedrehte Bild lag. Als er es anhob, betrachteten ihn die schwarzen Knopfaugen von Onkel Jingle mit hämischem Vergnügen.

»Wirklich gräßlich, nicht wahr?« bemerkte sie, als sie wieder ins Zimmer trat. Er fuhr schuldbewußt zusammen und hätte ihr beinahe das Bild hingehalten wie ein Kind, das man mit der Hand in der Keksdose ertappt hat.

»Ich wollte bloß…«

»Ich will es nicht mehr sehen. Schlimm genug, innendrin sein zu müssen. Nimm es mit, wenn du willst.«

Er lehnte höflich ab, aber als sie sich voneinander verabschiedet hatten und er sich auf der Fahrt durch die von Bäumen gesäumten Straßen an den richtigen Weg zurück zum Freeway zu erinnern suchte, war Onkel Jingle irgendwie neben ihm auf dem Sitz gelandet, wo er angelehnt stand und grinste wie eine Katze, die gerade in eine Volière eingebrochen ist.

 

 

> Es lag, wie Yacoubian befriedigt feststellte, eine gewisse Spannung in der Luft.

»Es ist ein Skandal«, sagte Ymona Dedoblanco und verzog dabei ärgerlich das Maul ihres Löwengöttinkopfes, daß die elfenbeinfarbenen Fänge blitzten. »Es zieht sich jetzt schon Wochen hin, und es funktioniert immer noch nicht richtig. Was ist, wenn irgendwas passiert?«

»Passiert?« Osiris wandte ihr sein Gesicht zu, das unter seiner Maske wie immer nicht zu deuten war. Er wirkte jedoch langsam; Yacoubian meinte, eine Art Geistesabwesenheit bei dem Alten Mann zu bemerken. Wenn er ein gegnerischer General gewesen wäre – was er in gewisser Hinsicht auch war –, hätte Yacoubian gesagt, daß dieser Feind an der Fortsetzung des Kampfes nicht mehr interessiert war. »Was soll das heißen: ›wenn irgendwas passiert‹?«

Die löwenköpfige Göttin konnte ihre Wut kaum bezähmen. »Was denkst du denn, was das heißen soll? Stell dich doch nicht dumm!«

Das Ausbleiben einer deutlichen Reaktion auf diese Verletzung des Protokolls war unfaßbar; am ganzen Tisch blieben die ägyptischen Tiergesichter, mit denen Osiris seine Gäste maskierte, betont neutral, als ob sie diese Auseinandersetzung mit nichts weiter als höflichem Interesse beobachteten, aber Yacoubian wußte, daß eine Grenze überschritten worden war. Er blickte Wells an, um diesen kleinen Triumph mit ihm zu teilen, doch das gelbe Gottgesicht des Technokraten war so unergründlich wie das aller anderen.

»Das soll heißen, was ist, wenn einer von uns stirbt?« fuhr die Löwengöttin fort. »Was ist, wenn irgendein Unfall passiert, solange wir uns alle untätig die Beine in den Bauch stehen müssen wie Bauern, die um Brot betteln?« Damit war die Ursache ihres Zorns benannt. Wahrscheinlich begab sie sich, wie die meisten Anwesenden, nie aus der Sicherheit ihrer Festung heraus, und es stand ihr zu jeder Tages- und Nachtzeit das beste Ärzte- und Pflegepersonal zu Diensten, das man sich wünschen konnte. Sie sorgte sich nicht übermäßig um ihre Sicherheit oder ihre Gesundheit. Ymona Dedoblanco zürnte, weil man sie zwang, zu warten.

Der Alte Mann straffte sich zwar, aber immer noch fand Yacoubian sein Verhalten seltsam. Merkte Jongleur denn nicht, daß viele andere in der Bruderschaft ebenfalls allmählich die Geduld verloren? Der General konnte seine Befriedigung kaum verhehlen. Nach allem, was er und Wells unternommen hatten, um den alten Drecksack zu stürzen, notorisch ohne Erfolg, sah es jetzt so aus, als müßten sie nichts weiter tun, als abwarten, daß der Vorsitzende seine Rücktrittserklärung unterschrieb.

»Verehrteste«, sagte Osiris, »du machst zu viel Aufhebens um eine geringfügige Verzögerung. Es sind ein paar kleinere Komplikationen aufgetreten – durchaus nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß wir den größten Sprung vorwärts in der Geschichte der Menschheit seit der Entdeckung des Feuers vollbringen.«

»Aber was hat es mit diesen Erdbeben auf sich?« begehrte Sobek, der Krokodilsgott, zu wissen.

»Erdbeben?« fragte Osiris verdutzt. »Wovon redest du?«

»Ich denke, Herr Ambodulu redet über die Störungen im System, die wir beim letztenmal besprachen«, sagte Wells ölig. Die zitronengelben Züge des memphitischen Schöpfergottes Ptah paßten perfekt zu ihm und dem halben Lächeln, das ständig auf seinen Lippen spielte. »Die ›Spasmen‹, wie ich sie nenne. Wir hatten in letzter Zeit ein paar mehr als sonst, da wir dabei sind, das System voll in Betrieb zu nehmen.«

»Nenn es, wie du willst«, sagte das Krokodil. »Ich weiß nur, daß ich in meinem Palast in eurem Netzwerk sitze – in dem Palast, der mich siebzehn Milliarden Schweizer Kredite gekostet hat –, und auf einmal«, selbst noch in seinem Zorn gebrauchte er die alte britische Redewendung mit einem gewissen Stolz, »fliegt mir das ganze Ding Arsch über Teekessel um die Ohren. Alles verkehrt sich. Farben und Licht und alles geht zu Bruch. Du kannst mir nicht erzählen, daß das bloß eine kleine Zuckung im System ist. Es ist eher wie ein Herzinfarkt!«

»Wir haben alle einiges in dieses Projekt investiert«, sagte Osiris kühl. »Nichts wird hier leicht genommen. Du hast Wells gehört – Ptah, wollte ich sagen. Das gehört noch zu den Kinderkrankheiten. Es ist ein sehr, sehr komplizierter Mechanismus.«

Yacoubian konnte es nicht fassen. Der Alte Mann hatte jemanden mit dem RL-Namen bezeichnet statt mit seinem ägyptischen Mummenschanz! Die Sache glitt ihm eindeutig aus den Händen, da war gar nicht dran zu zweifeln. Der General schaute sich um, als rechnete er halb damit, Risse in den mächtigen Granitmauern zu entdecken, Löcher im Dach des Westlichen Palastes, durch die das ewige Dämmerlicht einsickerte, aber natürlich war die Simwelt so, wie sie immer gewesen war.

Das ist genau der Haken an diesem ganzen VR-Scheißdreck, dachte er. Es ist wie bei einer dieser Drittweltarmeen – ein Haufen Blech und Paradeuniformen, und du kommst nie drauf, daß irgendwas nicht stimmt, bis du eines Tages ankommst, und die Kasernen und das Stabszimmer sind leer, und sie sind alle Mann ausgebüxt und haben sich den Rebellen in den Bergen angeschlossen.

Bis auf die Offiziere, dachte er mit einem gewissen bissigen Humor. Die sind unterwegs zur Grenze, um dem Kriegsverbrechertribunal zu entkommen. Und genau das blüht uns allen, falls diese Geschichte ein ungutes Ende nimmt. Es war verlockend zu jubilieren, wenn es so aussah, als ginge der Alte Mann in die Knie, doch selbst ein Jongleurhasser wie Daniel Yacoubian wußte, daß das Gralsprojekt selbst durch nichts gefährdet werden durfte.

»Tatsächlich frage ich mich langsam, ob es alles bloß normale Systemstörungen sind«, bemerkte Wells. »Es scheint mehr Turbulenzen zu geben, als wir erwartet hatten.« Er stand auf und öffnete ein Fenster voll dreidimensionaler Datendarstellungen, eine Palette von Farben und merkwürdigen Formen in langsamer Bewegung, die der Albtraum eines surrealistischen Malers hätte sein können. »Wie ihr hier sehen könnt, hatten wir in den letzten paar Monaten einen beunruhigend sprunghaften Anstieg der Systemspasmen, und der Trend geht weiter dramatisch steil nach oben.«

»Herrgott nochmal«, sagte Osiris mit seltener, unabsichtlicher Komik. »Das liegt ja wohl in der Natur von Turbulenzen, was? Daß man sie nicht vollständig vorausberechnen kann. Gerade du müßtest das doch wissen, Wells – und immerhin bist du für den reibungslosen Ablauf des Gralssystems zuständig, du solltest daher sehr vorsichtig sein, wenn du mit dem Finger auf andere zeigst.« Er ließ seinen Blick über die Runde schweifen. »Tatsache ist, daß wir ein Netzwerk haben, das um etliche Größenordnungen komplizierter ist als alles, was je geschaffen wurde, und es läuft, Tausende von Knoten, Billionen und Aberbillionen Befehle pro Sekunde, und bis auf einen gelegentlichen Windstoß funktioniert es.« Er winkte verärgert mit seiner bandagierten Hand und ließ dabei das Geißelszepter klappern, das er gewöhnlich fest an der Brust hielt.

»Könnte der Kreis daran schuld sein?« Ricardo Klement, der Sonnengott mit dem Kopf eines Mistkäfers, stellte sich mit zuckenden Mandibeln auf die Füße. »Großer Osiris, könnten es diese herumschleichenden Schufte sein, die das mit unserem Netzwerk machen?«

»Der Kreis?« wiederholte Osiris erstaunt. »Was soll der denn damit zu tun haben?«

»Die wirkliche Frage ist«, sagte Wells leise, aber so, daß alle am Tisch ihn verstehen konnten, »ob diese Probleme mit dem Betriebssystem zusammenhängen – das, wie ich betonen möchte, nach wie vor die reine Privatangelegenheit unseres Vorsitzenden ist und mit dem niemand sonst von uns, nicht einmal meine Firma, direkt arbeiten darf.«

»Aber diese Leute vom Kreis«, bohrte der Käfer weiter, »sie sind unsere geschworenen Feinde! Sie haben sich in das Netzwerk eingeschlichen – wieso sollten sie es nicht sein? Sie sind technikfeindliche Sozialisten und Ideologen, die gegen alles sind, was wir tun!« Er kreischte beinahe. Yacoubian wußte, daß Klement mehr als alle anderen Grund hatte, sich über die Verzögerungen zu grämen. Sein Nachrichtendienst meldete dem General, daß dieser Freibeuter auf dem Organmarkt in einem Krankenhaus in Paraguay lag, weil sein ganzer Leib von einer besonders bösartigen Krebsmutation zerfressen war, die auch Transplantate und Chemotherapie nicht länger im Schach halten konnten.

»Wir sind alle Menschen mit großer Macht«, sagte Osiris, wobei sein Ton keinen Zweifel daran ließ, daß Klement, wie ohnehin jeder wußte, der mit der geringsten Macht unter ihnen war. »Wir müssen nicht so tun, als kümmerten wir uns um Ideologien. Ja, selbst wenn diese Leute und ihr sogenannter Kreis Brief und Siegel darauf hätten, daß sie Engel des Herrn sind, würde ich sie dennoch aus dem Weg räumen. Kein Hindernis wird mich vom Gral abhalten.

Die Wahrheit aber ist, daß sie nichts sind. Sie sind kleine Anarchisten und Frömmler, die Sorte Gesindel, das in öffentlichen Parks von Kisten herab weinerliche Volksreden schwingt oder vor Bahnstationen schmuddelige Flugblätter verteilt. Ja, ein paar von ihnen haben sich in das Netzwerk eingeschlichen. Na und? Erst vor wenigen Tagen habe ich einen gefangen, der sich heimlich in einer meiner Domänen herumtrieb. Er wird gerade zum Reden gebracht, das kann ich euch versichern. Aber er hat nichts gesagt, was mir die geringste Sorge bereiten würde – er und der andere Abschaum, sie wissen nicht einmal genau, was das Gralsprojekt überhaupt ist. Und jetzt, mein lieber Chepri, sei so gut und hör auf, meine Zeit zu stehlen.«

Klement setzte sich schwerfällig hin. Soweit man von einem lackglänzenden Insektengesicht behaupten konnte, daß es den Ausdruck eines gescholtenen Kindes hatte, war das bei seinem der Fall. Alle wußten, daß der Südamerikaner einer von Jongleurs glühendsten Anhängern war – was dachte sich der Alte Mann bloß dabei?

»Du hast mir noch keine Antwort gegeben, Vorsitzender«, sagte der gelbgesichtige Ptah. »Zu einem Zeitpunkt, wo viele in der Bruderschaft langsam unruhig werden, wenn sie an ihre Investitionen denken, an die Verzögerungen, könntest du da deine Regeln nicht ein wenig lockern? Ich weiß, daß mir jedenfalls sehr viel wohler wäre, wenn ich tatsächlich mit dem Betriebssystem arbeiten könnte, das unser ganzes Netzwerk aufrechterhält.«

»Da bin ich sicher. Ja, ich habe keinen Zweifel, daß du es liebend gern in deiner Hand hättest«, sagte Osiris steif. Er wandte sich an die anderen, die um den langen Tisch herum gruppierten Vögel und sonstigen Tiere. »Dieser Mann hat bereits einmal versucht, die Kontrolle über die Bruderschaft an sich zu reißen. Vor wenigen Wochen erst wart ihr alle Zeugen, wie der Amerikaner eine falsche Anklage gegen mich vorbrachte – wobei sich herausstellte, daß an der Sache, die er mir in die Schuhe schieben wollte, ein Fehler in seinem eigenen Unternehmen schuld war, eine gravierende Verletzung der Sicherheitsvorkehrungen!« Er stieß sich vom Tisch zurück, schüttelte sein mächtiges, maskiertes Haupt und gab sich ganz den Anschein eines edlen Herrschers, der von seinen undankbaren Höflingen hintergangen wird. »Und jetzt fängt er schon wieder damit an – meine Schuld! Alles ist meine Schuld!« Er drehte sich Wells zu. »Du und dein ungewöhnlich schweigsamer Freund«, er schoß einen Blick aus toten Augen auf Yacoubian ab, »ihr habt immer wieder meine Hingabe an das Projekt in Zweifel gezogen, obwohl ich es ersonnen und initiiert habe! Und jetzt soll ich die Kontrolle über das Betriebssystem aufgeben und dann darauf vertrauen, daß du, Robert Wells, weiter meine Position als Vorsitzender respektierst? Ha!« Er klatschte mit der Hand auf den Tisch, und mehrere der Tiermasken zuckten. »Du würdest mir sofort an die Kehle springen, du heimtückischer Schuft!«

Während Wells sich noch empörte – ziemlich überzeugend, fand Yacoubian –, erhob sich Jiun Bhao in seiner Gestalt als ibisköpfiger Thot. »Das ist keine Art.« Seine ruhigen Töne verbargen kaum seinen Abscheu. »So dürfen wir nicht miteinander sprechen. Das gehört sich nicht.«

Immer noch aufgebracht blickte der Alte Mann ihn an, und einen Moment lang hatte es den Anschein, als würde er gegen den chinesischen Magnaten ebenfalls eine rüde Bemerkung fallen lassen, ein derart atemberaubendes Spiel mit dem politischen Selbstmord, daß selbst Yacoubian nicht anders konnte, als ihn mit offenem Mund anzustarren. Statt dessen sagte Osiris schließlich: »Unser Gott der Weisheit hat bewiesen, daß ich in der Wahl der Rolle für ihn richtig gehandelt habe. Du hast recht, mein Herr. Ich habe mich ungehörig benommen.« Er wandte sich an Wells, und obwohl er dessen gelbes Lächeln ätzend finden mußte, war er jetzt die Förmlichkeit selbst. »Wie unser Freund zu Recht bemerkt, war ich unhöflich, und dafür entschuldige ich mich. Ich möchte jedoch hinzufügen, daß auch du dich einer Taktlosigkeit schuldig machst, Ptah, wenn du unterstellst, daß ich etwas vor meinen Kollegen verheimliche.«

Wells verneigte sich mit fast unmerklicher Ironie. Yacoubian verstand plötzlich nicht mehr, welche Wendung das Ganze nahm. Der alte Mistkerl würde doch nicht etwa nochmal davonkommen?

»Einen kleinen Moment«, sagte Yacoubian. »Es sind ja wohl noch Fragen offen. Bob sagt, die Probleme im System hätten nicht alle mit der Größe zu tun. Er sagt, es liegt am Betriebssystem. Du sagst: ›Das geht dich nichts an.‹ Wie bekommen wir dann Aufklärung darüber, was läuft, verdammt nochmal?«

»Ah, Horus, der König der Lüfte«, bemerkte der Alte Mann beinahe liebevoll. »Du warst so lange still, daß ich schon fürchtete, wir hätten dich offline verloren.«

»Bestimmt. Sag mir nur eins: Wie können wir sicherstellen, daß uns dieses ganze Ding nicht irgendwann zusammenkracht?«

»Das wird langsam ermüdend«, begann Osiris, als der widderköpfige Amon, der Besitzer von sechs Schweizer Banken und einer Insel-»Republik« vor der Küste Australiens, die Hand hob.

»Ich würde auch gern mehr darüber erfahren«, meldete er sich zu Wort. »Mein System teilt mir mit, daß es in allen meinen Domänen immer wieder zu Ausfällen kommt. Wir haben alle mehr als Geld in dieses Projekt investiert, und bald werden wir alles darin investiert haben, eingeschlossen unser Leben. Ich glaube, uns stehen bessere Auskünfte zu.«

»Siehst du?« Yacoubian wollte den Alten Mann noch etwas ins Schwitzen bringen – man konnte nicht wissen, wann er sich wieder eine derartige Blöße geben würde. Er wandte sich Wells zu, um ihn zur Schützenhilfe zu ermuntern. »Ich finde, jetzt sollte endlich reiner Tisch gemacht werden. Komm und rück mit den Tatsachen raus.«

»Halt«, sagte Osiris mit gepreßter Stimme.

Und Wells bemerkte sehr zu Yacoubians Erstaunen: »Ja, ich denke, du solltest es dabei bewenden lassen, Daniel.«

Falls Sachmet, die Löwin, ihn gehört hatte, war sie anscheinend nicht seiner Meinung. »Ich verlange zu erfahren, was da schiefläuft«, fauchte sie, »und ich verlange zu erfahren, wie es in Ordnung gebracht wird.« Als Besitzerin von Krittapong, einem Technologieunternehmen, das Wells’ Telemorphix an Macht nur wenig nachstand, und als Frau, deren Name in allen geheimen Sklavenagenturen Südostasiens mit ehrfürchtigem Grauen geflüstert wurde – sie hatte mehr als nur ein paar Bediente mit eigener Hand zu Tode geprügelt –, hatte Dedoblanco keine besondere Übung darin, sich in Geduld zu fassen. »Ich verlange auf der Stelle Antworten!«

»Ich bürge persönlich dafür …«, begann Osiris, aber jetzt riß Sobek wieder aufgeregt seine Krokodilschnauze auf.

»Du kannst nicht unser Geld nehmen und uns dann erklären, wir hätten keine Rechte!« brüllte er. »Das ist kriminell!«

»Bist du von Sinnen, Ambodulu?« Osiris zitterte sichtlich. »Was schwätzt du da für ein Zeug?«

Die ganze Versammlung schien in eine wüste Krakeelerei auszuarten, als Jiun Bhao die Hand hob. Nach und nach erstarben die Stimmen.

»Das ist keine Art, geschäftlich miteinander umzugehen«, sagte Jiun und wiegte bedächtig sein Vogelhaupt hin und her. »Sehr betrüblich. Völlig inakzeptabel.« Er hielt inne und sah sich um. Es blieb still. »Genosse Vorsitzender, mehrere unserer Mitglieder haben um mehr Informationen über diese … wie war das Wort? … diese ›Spasmen‹ im System gebeten. Gewiß hast du gegen eine solche berechtigte Bitte nichts einzuwenden?«

»Nein.« Osiris hatte sich beruhigt. »Natürlich nicht.«

»Dann könntest du ihnen vielleicht zusichern, zu unserem nächsten Treffen einen Bericht vorzulegen? Bei allem Respekt vor deinem gewiß sehr vollen Terminkalender wäre es ein sinnvolles Gegenmittel gegen einige der allzu emotionalen Reaktionen, die wir heute erlebt haben.«

Der Alte Mann zögerte nur einen Augenblick. »Gewiß. Das ist durchaus einzusehen. Ich werde etwas aufsetzen lassen.«

»Was Brauchbares«, sagte Yacoubian und wünschte sofort, er hätte es gelassen. Jiun Bhaos verärgerter Blick war – selbst vermittelt über ein virtuelles Interface – so durchdringend, daß er am liebsten im Boden versunken wäre.

»Und«, fuhr der Gott der Weisheit fort, nunmehr an Wells gewandt, »vielleicht könnte unser amerikanischer Genosse etwas Ähnliches aufsetzen lassen, woraus hervorgeht, was er aus seiner Perspektive über die Probleme weiß?«

»Gewiß.« Das gelbe Lächeln war eine winzige Idee dezenter als vorher.

»Ausgezeichnet. Sehr gütig.« Jiun Bhao machte gegen beide Protagonisten eine angedeutete Verbeugung – eher ein Kopfnicken – und breitete dann die Arme aus. »Wir hatten einen anstrengenden Tag, und wir haben viele wichtige Dinge besprochen. Vielleicht sollten wir uns jetzt bis zu unserer nächsten Zusammenkunft voneinander verabschieden.«

Weder Osiris noch sonst jemand widersprach.

Als der Westliche Palast im Ägypten des Alten Mannes gerade entschwand, hörte Yacoubian Bob Wells’ Stimme in seinem Ohr.

»Auf ein Wort, Daniel.«

 

Nach dem Moment der Finsternis trat schlagartig eine blendende Helle ein, und im Nu erstand ein weitläufiger, sonniger Raum, ein hohes Eßzimmer mit einem Blick durch die riesigen Fenster auf eine felsige Küste, in der Yacoubian den Rand des Pazifiks vermutete. Trotz der Ausmaße des Raumes stand nur ein einziger kompakter Tisch darin. Wells setzte sich auf die eine Seite; sein Sim bildete seinen wirklichen Körper mit einer Detailgenauigkeit nach, die nur wenig hinter der Perfektion des Gralssystems zurückblieb.

»Bist du sicher, daß das eine gute Idee ist?« fragte der General, als er sich seinerseits setzte. »Sollten wir nicht lieber einen Ort im RL aufsuchen wie bei unserm Gespräch neulich?«

»Abgesehen von deiner Leitung und meiner Leitung ist dies eine dedizierte Maschine, Daniel«, sagte Wells. »Und wenn wir hier fertig sind, lösche ich den Code. Warte, ich mache auf.«

Die Fenster lösten sich auf, so daß zwischen dem Tisch und dem Meer vor der Steilküste nur noch Luft war. Das Dröhnen der Brandung schwoll an, bis es den ganzen Raum füllte. Ohne sich zu bewegen, stellte Wells es zurück, bis es nicht mehr als ein leises Pulsen war. Der Geruch des Wassers und die Prise Ozon wirkten einigermaßen echt. »Besser als ein Restaurant, meinst du nicht?« fragte der Besitzer von Telemorphix. »Aber wenn du gern was Atmosphärisches hättest, einen Drink oder so, sag nur Bescheid.«

»Ich rauche einfach«, sagte Yacoubian. »Da das dein Laden ist, kannst du bestimmt dafür sorgen, daß der Rauch nicht in deine Richtung weht.« Der General holte eine seiner Enaqueiros heraus. Er hatte eine ziemliche Summe dafür ausgegeben, daß die Simulation das auch ordentlich simulierte; als er das Imitat unter seiner Nase vorbeizog und das Aroma genoß, fand er erneut, daß die Ausgabe sich gelohnt hatte. Diese Technobarone mochten imstande sein, dir Babylon Ziegel für Ziegel nachzubauen, aber versuch mal einer, irgendwo eine anständige virtuelle Zigarre aufzutreiben …

Nachdem der General ein Weilchen seine Taschen abgeklopft hatte, ohne das Gesuchte zu finden, zog Wells eine Augenbraue hoch und bewegte dann einen Finger. Ein Päckchen Streichhölzer erschien vor seinem Gast.

»Jetzt sag mir mal, warum du dem Alten Mann nicht den Rest geben wolltest?« erkundigte sich Yacoubian, als die Zigarre endlich gut zog. »Das sieht dir gar nicht ähnlich, Bob. Er stand mit dem Rücken an der Wand – noch ein paar vor den Latz, und er wäre hin gewesen.«

Wells riß sich von seiner Ozeanbetrachtung los. Seine Augen mit ihrem eigentümlichen, antikisiert wirkenden Weiß waren mild, beinahe leer. Er sagte lange nichts. »Ich würde dir das gerne auf eine schonende Art beibringen, Daniel«, sagte er schließlich. »Aber mir fällt keine ein. Weißt du, manchmal bist du unglaublich dumm.«

Yacoubian spie einen Schwall Pseudorauch aus, eine ziemlich gute Imitation des Originals, die in einer wallenden blaugrauen Wolke über seinem Kopf aufstieg. »Hast du den Arsch offen? So kannst du nicht mit mir reden!«

»Doch, das kann ich, Daniel. Und ich denke immer noch, daß du trotz deiner momentanen Verärgerung klug genug bist, um mir zuzuhören und was zu lernen.« Wells wedelte unwillkürlich gegen den Rauch an, zimperlich wie eine alte Dame. »Ja, wenn wir den Alten Mann noch ein kleines Stück weitergetrieben hätten, hätte er wahrscheinlich etwas gesagt oder getan, womit er sich auch die Sympathien der übrigen Bruderschaft verscherzt hätte. Eben deshalb habe ich nichts unternommen und dir den Rat gegeben, das gleiche zu tun, Daniel, aber du hast ihn ignoriert.«

»Hör zu, Bob, es ist mir schnurz, wie reich oder wie alt du bist. So lasse ich nicht mit mir reden.«

»Das würde dir aber vielleicht ganz gut tun, Daniel. Es kann dir nicht entgangen sein, wie Jiun Bhao gegen Ende das Treffen in die Hand nahm. Und was ist jetzt dabei rausgekommen, daß ihr so auf den Putz gehauen habt, du und diese Dedoblancozicke? Daß wir bei der nächsten Zusammenkunft konkurrierende Berichte über diese Systemprobleme vorlegen dürfen.«

»Und?« Die mittlerweile hitzig glimmende Zigarre ragte pfeilgerade in Yacoubians Blickfeld und ließ Wells’ Gesicht mit jedem Zug in ein rotes Glühen aufgehen.

»Und wer, meinst du, wird wohl darüber urteilen, ob die präsentierten Antworten akzeptabel sind? Heimlich, still und leise wird sich dieser chinesische Hund zum ungewählten Vorsitzenden aufschwingen, und er wird den andern aus der Gruppe vorgeben, wie sie zu stimmen haben. Gibt er dem Alten Mann die Zügel zurück, wird Jongleur in seiner Schuld stehen. Gibt er sie uns und drängt damit Jongleur ins Aus, befinden wir uns de facto in einer Koalition mit Jiun – aber nur so lange, wie wir ihm nützlich sind.«

Yacoubian wußte, daß er den Beleidigten spielte, aber er konnte sich nur schwer zu einer konstruktiveren Haltung durchringen. »Ich dachte, du willst, daß der Alte Mann verliert.«

»Nein, Daniel, ich will, daß ich gewinne. Das ist ein Unterschied. Und vergiß nicht, Jongleur hat durchaus noch ein paar eigene Karten in der Hand, etwa dieses verdammte Betriebssystem, an das er keinen ranläßt – wenn wir in einen Dreiparteienkrieg mit ihm und Jiun hineinschliddern, wird viel Blut fließen. Und ich bezweifle, daß wir als Sieger hervorgehen werden.«

»Herrje.« Immer noch wütend, aber jetzt auch bedrückt setzte Yacoubian sich zurück. »Ihr seid doch alle …«

»Was meinst du mit ›ihr‹? Du warst es, der damals ankam und mich beredete, wir sollten den Alten Mann abservieren. ›Wir brauchen ihn nicht mehr, Bob. Er ist ein Unsicherheitsfaktor. Ein Ausländer.‹ Hast du das schon vergessen?«

»Es reicht.« Yacoubian gab sich mit einer abwinkenden Handbewegung geschlagen. Wenn er in seiner Laufbahn etwas gelernt hatte, dann daß es Zeitverschwendung war, mit irgendwelchen Ausflüchten sein Gesicht wahren zu wollen, wenn die eigene Stellung unhaltbar geworden war. »Also, was machen wir?«

»Ich weiß es nicht.« Wells rutschte ein Stück vor. Der Lärmpegel der Brandung sank noch einmal um eine Idee, obwohl sich der Ozean draußen vor dem Fenster noch genauso wild gebärdete wie eh und je und sich gegen die Felsen warf wie ein verschmähter Liebhaber. »Um die Wahrheit zu sagen, Daniel, ich mache mir Sorgen. Diese Spasmen sind wirklich ein Problem. Keiner meiner Leute wird im mindesten daraus schlau, doch selbst unsere vagsten Prognosen klingen nicht gut. Und wie du weißt, passieren noch andere Sachen – ein paar sehr üble Rückschläge in den Kundenknoten, den Pachtwelten und sonstwo. Dieses Kunoharafiasko zum Beispiel.«

»Das hab ich mitgekriegt. Aber ich dachte, es läge bloß daran, daß das System zur Zeit voll online geht, es wäre eine einmalige Sache. Du willst damit sagen, daß es was Ernstes ist, hä? Meinst du, es könnte mit diesem Kerl zusammenhängen, der in das System abgehauen ist, dem Gefangenen des Alten Mannes? Ist er ein Saboteur oder sowas?«

Wells schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie selbst ein Experte das System häcken könnte, wenn er selber drin ist – jedenfalls nicht, wenn er so weit drin ist wie der. Und es kommt mir vor wie irgendwas viel Größeres. Es ist eine chaotische Perturbation. Spar dir diesen Blick, Daniel, ich weiß, daß du nicht blöd bist. Wenn ein kompliziertes System eine Macke entwickelt, kann es klein anfangen, aber wenn es damit weitermacht…«

»Herrgott nochmal!« Yacoubian hatte plötzlich das Bedürfnis, etwas zu schlagen. »Heißt das – diesen politischen Scheißdreck mal beiseite –, das ganze Ding könnte tatsächlich voll in die Hosen gehen? Nach den ganzen Jahren, der ganzen Arbeit, dem ganzen Geld?«

Wells runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, daß es richtig zusammenbrechen wird, Daniel. Aber wir sind hier auf Terra incognita, fast buchstäblich.« Er legte seine knochigen Hände auf den Tisch und betrachtete eingehend die straff gespannte Haut, als hätte er sie noch nie gesehen. »Da laufen ein paar sehr merkwürdige Dinge. Was den Gefangenen des Alten Mannes betrifft – erinnerst du dich an den Aufspüragenten, den wir nach ihm ausgeschickt haben, das Nemesisprogramm?«

»Erzähl mir bloß nicht, daß es den Geist aufgegeben hat oder sowas.«

»Nein, nein, nichts dergleichen. Es ist immer noch da und geht seiner Aufgabe nach. Aber … ich weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll… es ist nicht ganz da.«

»Hä?« Yacoubian sah sich nach etwas um, wo er seine Zigarre ausdrücken konnte, aber Wells war mit den Gedanken woanders, und kein Aschenbecher erschien. Der General legte sie auf die Tischkante. »Ich kann dir nicht ganz folgen.«

»Ich bin mir selbst nicht darüber im klaren, was los ist. Das ganze Jericho-Team ist dabei, die Daten zu sondieren, aber eins ist klar – Nemesis arbeitet weit unter seiner Kapazität. Als ob ein Teil für andere Aufgaben abgezogen worden wäre. Aber wir können nicht sagen, warum oder wie oder was überhaupt genau vor sich geht.«

»Es ist doch bloß ein Stück Gear. Kannst du nicht ein anderes losschicken?«

Wells winkte ab. »Zu kompliziert. Zum einen würden wir gern dieses Gear studieren, ohne es noch zusätzlich zu irritieren. Vielleicht kommen wir auf dem Weg dahinter, was die Systemspasmen verursacht – allein herauszufinden, was diese Spasmen eigentlich sind, wäre schon ein Fortschritt. Zum andern liegt es an der Art, wie der Nemesiscode nach Mustern sucht … Na ja, es wäre, als hätte man so viele Geheimpolizisten auf denselben Fall angesetzt, daß sie anfangen, sich gegenseitig zu verhaften.«

Yacoubian schob seinen Sessel zurück und stieß dabei die Zigarre von der Kante; sie verschwand, bevor sie am Boden aufkam. »Heilige Scheiße, ich hoffe, du bist glücklich, Wells. Den Tag hast du mir versaut. Ich denke, ich geh nach Hause und erschieß mich.«

»Tu’s nicht, Daniel. Aber ich hoffe in der Tat, daß du mit mir Rücksprache nimmst, bevor du auf der nächsten Sitzung etwas allzu Drastisches tust. Die Situation wird eine ganze Weile ziemlich heikel sein.«

Der General blickte finster, aber die Schlacht war schon verloren. »Sei’s drum.« Er klopfte sich wieder auf die Tasche, bevor er sich erinnerte. »Übrigens, Bob, könntest du mir dann einen Ausgang öffnen?«

»Stimmt was nicht mit deinem System, Daniel?«

»Ja-a. Mein Team fummelt grade dran rum. Nur eine kleine Sache.«

»Gewiß. Bist du bereit?«

»Ich denke schon. Ach, eins noch – reine Neugier, weißt du. Hast du … ist in deinem System schon mal irgendwas abhanden gekommen?«

»Abhanden gekommen?« Wells’ helle Augen wurden schmal.

»Na ja, Kleinigkeiten. Gearteile, solche Sachen. Virtuelle Gegenstände.«

»Ich glaube, ich verstehe nicht recht, Daniel. Willst du damit sagen, aus deinem System sind virtuelle Gegenstände verschwunden? Du … hast was verlegt?«

Yacoubian zögerte einen Moment. »Ja. Bloß mein Feuerzeug. Ich muß es in einer der Domänen liegengelassen haben. Ich vermute, wenn die Simulation komplex genug ist, kann man darin genauso was verlieren wie im RL, stimmt’s?«

Wells nickte. »Ich denke. Du hast demnach nichts Wichtiges verloren? Egal was es ist, du kannst es einfach duplizieren.«

»Selbstverständlich! Klar, es war bloß ein Feuerzeug. Ich nehm jetzt den Ausgang, Bob.«

»Danke, daß du mich angehört hast. Ich hoffe, ich war nicht zu grob.«

»Takt ist nicht deine Stärke, Bob, aber ich denke, ich werd’s überleben.«

»Freut mich zu hören, Daniel. Mach’s gut.«

Das Eßzimmer, das offene Fenster und das unaufhörliche Anrollen des Pazifischen Ozeans waren im Nu verschwunden.