Kapitel

 

Kleine Gespenster

 

NETFEED/SPORT:

Tiger an der Leine

(Bild: Castro beim Training mit anderen Tiger-Spielern)

Off-Stimme: Elbatross Castro ist nur der bislang letzte Spieler mit einer nicht ganz vorstrafenfreien Vergangenheit, der sich im Rahmen seines äußerst lukrativen Vertrages mit einem Kontrollimplantat einverstanden erklärt hat — wodurch sein Team jederzeit feststellen kann, wo Castro sich gerade aufhält und sogar was er gerade ißt, trinkt, raucht oder inhaliert. Aber er dürfte der erste sein, der das Implantat mit einem Störgerät beeinträchtigt und damit ein kompliziertes rechtliches Problem für die IBA und sein Team aufgeworfen hat, die Baton Rouge GenFoods Bayou Tigers, Vorjahresmeister in der nordamerikanischen Basketballkonferenz …

 

 

> Während ihre Mutter mit irgendeiner falschen Frau beschäftigt war, wandte Christabel sich von ihr ab und drückte sich an den Spiegel. Mit ihrer dunklen Brille hier im Laden sah sie ihrer Meinung nach ein bißchen wie Hannah Mankiller aus der Sendung Inner Spies aus. »Rumpelstilzchen«, sagte sie so laut, wie sie sich traute. »Rumpelstilzchen!«

»Christabel, was murmelst du da in den Spiegel? Ich verstehe kein Wort, was du sagst.« Ihre Mutter blickte sie an, während die falsche Frau weiterredete. Jemand anders, der es eilig hatte, ging mitten durch die falsche Frau hindurch, die einen Moment lang verzitterte wie eine Pfütze, wenn man hineintrat, aber trotzdem nicht aufhörte zu reden.

»Nichts.« Christabel schob ihre Unterlippe vor. Ihre Mutter schnitt eine Grimasse zurück und wandte sich ab, um dem Hallogrammdings weiter zuzuhören.

»Ich finde es nicht gut, wenn du die im Laden aufhast«, sagte ihre Mutter über die Schulter. »Diese dunkle Brille. Du läufst noch wo gegen.«

»Gar nicht.«

»Schon gut, schon gut.« Ihre Mutter nahm sie bei der Hand und führte sie weiter in den Laden hinein. »Du wirst wohl gerade eines von diesen schwierigen Stadien durchlaufen.«

Christabel vermutete, daß die Bemerkung mißbilligend gemeint war und sich darauf bezog, was sie sich gerade in ihrer MärchenBrille anschaute. Herr Sellars hatte gesagt, daß ihre Eltern das mit der besonderen Brille nicht entdecken durften. »Ich hör mir bloß den Froschkönig an«, sagte sie begütigend. »Der läuft gar nicht durch ein schwieriges Stadion.«

Mami lachte. »Na schön, du hast gewonnen.«

 

Normalerweise ging Christabel sehr gern ins Seawall Center. Es machte immer Spaß, ins Auto zu steigen und den Stützpunkt zu verlassen, aber das Seawall Center war beinahe ihr liebstes Ziel auf der ganzen Welt. Nur das erste Mal, als sie noch richtig klein gewesen war, hatte ihr es nicht so gut gefallen. Damals hatte sie gedacht, sie würden ins »See Wol Center« fahren. »Wol« war der Name, den Owl in Christabels Lieblingsgeschichten, denen von Winnie-the-Pooh, für sich selbst gebrauchte, und sie hatte den ganzen Tag darauf gewartet, Wol zu sehen. Erst als sie auf dem Rückweg zu weinen anfing, weil sie die Eule nicht gesehen hatte, erklärte ihr Mami, wie der Name richtig hieß.

Beim nächsten Mal war es viel besser, und die ganzen anderen Male auch. Papi fand immer, es sei dumm, den ganzen Weg mit dem Auto zu fahren, hin und zurück je eine Dreiviertelstunde – er sagte das auch immer: »Es ist hin und zurück je eine Dreiviertelstunde!« –, wo man doch alles, was man haben wolle, entweder beim PX bekommen oder einfach bestellen könne, aber Mami meinte, das sei nicht so. »Nur ein Mann bringt es fertig, durchs Leben zu gehen, ohne je ein Stück Stoff zu fühlen oder sich die Nähte anzuschauen, bevor man etwas kauft«, erklärte sie ihm. Und jedesmal, wenn sie das sagte, zog Papi ein Gesicht, als müßte er durch ein schwieriges Stadion laufen.

Christabel liebte ihren Papi, aber sie wußte, daß ihre Mutter recht hatte. Das Seawall Center war besser als der PX oder selbst das Netz. Es war fast wie ein Freizeitpark – ja, es gab darin sogar einen Freizeitpark. Und ein rundes Theater, wo man Netzsendungen in größer sehen konnte, als ihr ganzes Haus war. Und Comicfiguren, die neben einem hergingen oder -flogen, Witze erzählten und Lieder sangen, und falsche Leute, die auftauchten und verschwanden, und aufregende Shows, die in den Ladenfenstern spielten, und alle möglichen anderen Sachen. Und es gab mehr Läden im Seawall Center, als Christabel je geglaubt hätte, daß es auf der ganzen Welt gab. Es gab Läden, die nur Lippenstifte verkauften, und Läden, die nur Nanoo-Kleider verkauften, wie Ophelia Weiner eins hatte, und sogar einen Laden, der nichts als altmodische Puppen verkaufte. Die Puppen bewegten sich nicht, redeten nicht und machten auch sonst nichts, aber sie waren auf eine ganz besondere Art schön. Den Laden mit den Puppen hatte Christabel überhaupt am liebsten, obwohl er irgendwie auch ein bißchen gruselig war – all die vielen Augen, die einen beobachteten, wenn man zur Tür hereinkam, all die vielen stillen Gesichter. Zu ihrem nächsten Geburtstag, hatte Mami gesagt, durfte sie sich sogar eine von diesen altmodischen Puppen aussuchen, die dann ihr ganz allein gehören würde, und obwohl ihr Geburtstag noch lange hin war, wäre normalerweise schon allein der Besuch im Seawall Center, das Schauen und Überlegen, welche Puppe sie sich aussuchen sollte, der fraglose Höhepunkt der ganzen Woche gewesen und sie so aufgeregt, daß sie letzte Nacht kaum geschlafen hätte. Aber heute war sie sehr unglücklich, und Herr Sellars meldete sich nicht, und sie hatte ganz doll Angst vor diesem fremden Jungen, den sie gestern nacht wieder draußen vor ihrem Fenster gesehen hatte.

 

Christabel und ihre Mutter waren in einem Laden, der nichts anderes verkaufte als Sachen zum Grillen, als der Froschkönig aufhörte zu reden und statt dessen die Stimme von Herrn Sellars ertönte. Mami schaute gerade nach etwas für Papi. Christabel schlenderte ein bißchen weiter in den Laden hinein, wo ihre Mutter sie noch sehen konnte, und tat so, als betrachtete sie ein großes Metallding, das mehr wie eine Rakete aus einem Cartoon als wie ein Grill aussah.

»Christabel? Kannst du mich hören?«

»Mm-hm. Ich bin in einem Laden.«

»Kannst du jetzt mit mir reden?«

»Mm-hm. Kurz.«

»Wie ich sehe, hast du ein paarmal versucht, mich zu erreichen. Ist es wichtig?«

»Ja.« Sie wollte ihm alles erzählen. Die Worte fühlten sich in ihrem Mund an wie krabbelige Ameisen, und sie wollte sie alle ausspucken, ihm erzählen, daß der Junge sie beobachtet hatte und daß sie Herrn Sellars nichts davon gesagt hatte, weil es ihre Schuld war, daß sie den Zaun nicht alleine durchbekommen hatte. Sie wollte ihm alles erzählen, aber da kam ein Mann vom Laden auf sie zu. »Ja, wichtig.«

»Na gut. Kann es bis morgen warten? Ich bin im Moment sehr mit einer Sache beschäftigt, kleine Christabel.«

»Okay.«

»Wie wär’s mit fünfzehn Uhr? Du kannst nach der Schule vorbeikommen. Paßt dir die Zeit?«

»Ja. Ich muß aufhören.« Sie setzte die MärchenBrille genau in dem Moment ab, als der Froschkönig seine Stimme wiederbekam.

Der Mann vom Laden, der ziemlich dick war und einen Schnurrbart hatte und wie Papis Freund Captain Parkins aussah, bloß nicht so alt, lächelte sie breit an. »Hallo, kleines Fräulein. Das ist ein ziemlich schicker Apparat, findest du nicht? Der Magna-Jet Admiral, das allerneueste Modell auf dem Markt. Das Essen kommt überhaupt nicht mit dem Grill in Berührung. Willst du den deinem Papi schenken?«

»Ich muß gehen«, sagte sie, drehte sich um und ging zu ihrer Mutter zurück.

»Einen schönen Tag noch«, sagte der Mann.

 

Christabel trat so fest in die Pedale, wie sie konnte. Sie hatte nicht viel Zeit, das wußte sie. Sie hatte ihrer Mutter erzählt, sie müsse nach der Schule noch ihren Baum gießen, und Mami hatte gesagt, das dürfe sie, aber bis halb vier müsse sie zuhause sein.

Alle aus der Klasse von Frau Karman hatten im Chinesisch-Amerikanischen Freundschaftsgarten Bäume gepflanzt. Es waren eigentlich keine richtigen Bäume, noch nicht, bloß kleine grüne Pflanzen, aber Frau Karman meinte, regelmäßig gegossen würden sie eines Tages bestimmt richtige Bäume werden. Christabel hatte ihrem heute auf dem Weg zur Schule eine Sonderration Wasser gegeben, damit sie Herrn Sellars besuchen fahren konnte.

Sie strampelte so fest, daß die Reifen ihres Fahrrads summten. Sie schaute an jeder Ecke nach links und rechts, nicht wegen Autos, wie ihre Eltern es ihr beigebracht hatten (aber nach Autos schaute sie natürlich auch), sondern weil sie sichergehen wollte, daß der böse Junge nicht in der Nähe war. Sie hatte ihm Sachen zu essen bringen sollen, und ein paarmal hatte sie ihm Obst oder Kekse gebracht und sie für ihn hingelegt, und zweimal hatte sie ihr Schulessen aufgehoben, aber sie konnte nicht jeden Tag den ganzen weiten Weg zu den Betonhäuschen machen, sonst hätte Mami viele Fragen gestellt, deshalb war sie sicher, daß er eines Nachts durch ihr Fenster kommen und ihr etwas tun würde. Sie hatte sogar Albträume davon gehabt, daß er sie mit Schmutz beschmierte, und danach hatten Mami und Papi sie nicht mehr erkannt und sie nicht ins Haus gelassen, und sie hatte draußen in der Dunkelheit und Kälte wohnen müssen.

Als sie an die Stelle kam, wo die Betonhäuschen waren, zeigte ihre Otterland-Uhr schon drei Minuten nach 15:00 Uhr. Sie stellte ihr Fahrrad woanders ab, an einer Mauer, die weit von den Häuschen entfernt war, und schlich dann ganz leise zwischen den Bäumen hindurch, damit sie von einer anderen Seite kam. Obwohl Prinz Pikapik 15:09 zwischen den Pfoten hielt, als sie wieder auf die Uhr schaute, blieb sie alle paar Schritte stehen, um sich umzusehen und zu lauschen. Da sie diesem Cho-Cho seit drei Tagen nichts mehr gebracht hatte, hoffte sie, daß er sich woanders etwas zu essen suchte, aber sie guckte trotzdem überall für den Fall, daß er sich in den Bäumen versteckte.

Da sie ihn nicht sah und nichts hörte außer ein paar Vögeln, begab sie sich zur Tür des achten Betonhäuschens, wobei sie wie jedesmal sorgfältig mitzählte. Sie schloß die Tür auf und zog sie dann hinter sich zu, obwohl das Dunkel genauso gruselig war wie ihre Träume von dem schmutzigen Jungen. Es dauerte so lange, bis ihre Hände die andere Tür gefunden hatten, daß sie fast schon weinte, als die Tür plötzlich aufging und rotes Licht hervorströmte.

»Christabel? Da bist du ja, mein Liebes. Du bist spät dran – ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht.«

Herr Sellars saß am Fuß der Metalleiter in seinem Rollstuhl, eine kleine viereckige rote Taschenlampe in der Hand. Er sah genauso aus wie immer: langer dünner Hals, verbrannte Haut, große freundliche Augen. Sie fing an zu weinen.

»Kleine Christabel, was ist denn? Warum weinst du, mein Liebes? Nicht doch, komm herunter und sprich mit mir.« Er streckte seine zittrigen Hände aus, um ihr die Leiter hinunterzuhelfen. Sie umarmte ihn.

Als sie seinen dünnen Körper wie ein Gerippe unter seinen Sachen fühlte, mußte sie noch mehr weinen. Er tätschelte ihr den Kopf und sagte immer wieder: »Na na, na na.«

Als sie wieder Luft bekam, putzte sie sich die Nase. »Tut mir leid«, sagte sie. »Es ist alles meine Schuld.«

Seine Stimme war sehr sanft. »Was ist alles deine Schuld, meine kleine Freundin? Was kannst du denn getan haben, das soviel Kummer wert wäre?«

»Oye, Tussi, was is das?«

Christabel sprang auf und stieß einen kleinen Schrei aus. Sie drehte sich um und sah den schmutzigen Jungen oben an der Leiter knien, und da hatte sie solche Angst, daß sie sich in die Hose machte wie ein Baby.

»Quién es, der alte Krüppel da?« fragte er. »Sag, mija – wer is?«

Christabel konnte nichts sagen. Ihre bösen Träume passierten in der wirklichen Welt. Sie fühlte das Pipi ihre Beine hinunterrinnen und fing abermals an zu weinen. Der Junge hatte auch eine Taschenlampe, und er leuchtete Herrn Sellars damit von Kopf bis Fuß ab. Dieser starrte ihn bloß mit offenhängendem Mund an und bewegte ein wenig die Lippen auf und ab, doch es kam kein Laut heraus.

»Na, egal, mu’chita«, sagte der Junge. Er hatte etwas in der anderen Hand, etwas Scharfes. »No importa, eh? Jetzt ’ab ich dich. Jetzt ’ab ich dich.«

 

 

> »Natürlich sehe ich ein, daß Vorsicht am Platz ist«, sagte Herr Fredericks. Er streckte die Arme aus und starrte den grünen Operationskittel an, den man ihm aufgenötigt hatte. »Aber ich finde es trotzdem ein bißchen übertrieben.« Jaleel Fredericks war ein großer, breiter Mann, und wenn eine finstere Miene auf seinem dunkelhäutigen Gesicht erschien, hatte man den Eindruck einer Schlechtwetterfront.

Catur Ramsey setzte zum Ausgleich eine beflissene Miene auf. Die Fredericks’ waren nicht seine wichtigsten Mandanten, aber beinahe, und zudem noch jung genug, um auf Jahre hinaus gute Geschäfte zu versprechen. »Es ist nicht so viel anders als das, was wir über uns ergehen lassen müssen, um Salome zu besuchen. Das Krankenhaus ist einfach vorsichtig.«

Fredericks blickte abermals finster, vielleicht weil der volle Name seiner Tochter gefallen war. Seine Frau Enrica quittierte seine Miene kopfschüttelnd mit einem Lächeln, als ob ein widerspenstiges Kind soeben beim Essen gekleckert hätte. »Eben«, sagte sie, womit sich ihre Inspiration erschöpft zu haben schien.

»Wo zum Teufel bleiben sie überhaupt?«

»Sie haben angerufen und Bescheid gesagt, daß sie sich ein paar Minuten verspäten«, bemerkte Ramsey rasch und fragte sich gleichzeitig, warum er sich benahm wie der Vermittler eines Gipfeltreffens. »Ich bin sicher…«

Die Tür zum Aufenthaltsraum schwang auf, und zwei Leute kamen herein, ebenfalls in Krankenhauskittel gekleidet. »Entschuldigt bitte die Verspätung«, sagte die Frau. Ramsey fand sie recht hübsch, aber er fand auch, daß sie mit den dunklen Ringen um die Augen und ihrer unsicheren Art so aussah, als wäre sie durch die Hölle gegangen. Ihr schmächtiger, bärtiger Mann hatte nicht das genetische Plus, dessen sich seine Frau erfreute; er sah schlicht erschöpft und elend aus.

»Ich bin Vivien Fennis«, sagte die Frau und strich sich die langen Haare aus dem Gesicht, bevor sie Frau Fredericks die Hand reichte. »Das ist mein Mann Conrad Gardiner. Wir sind euch wirklich sehr dankbar, daß ihr gekommen seid.«

Nachdem alle, Ramsey eingeschlossen, sich die Hand gegeben hatten und die Gardiners – Vivien bestand der Kürze halber auf diesem Namen – sich gesetzt hatten, blieb Jaleel Fredericks weiter stehen. »Ich weiß immer noch nicht genau, warum wir eigentlich hier sind.« Mit einer ungeduldigen Handbewegung schnitt er seiner Frau das Wort ab, bevor sie etwas sagen konnte. »Ich weiß, daß euer Sohn und meine Tochter befreundet sind, und ich weiß, daß ihm etwas Ähnliches zugestoßen ist, euerm… Orlando. Aber was ich nicht verstehe, ist, weshalb wir hier sind. Hätten wir die Sache nicht genausogut übers Netz klären können?«

»Darauf kommen wir gleich.« Conrad Gardiner sprach ein wenig scharf, als fühlte er sich genötigt, seinen Platz in der Hierarchie klarzumachen. Fredericks hatte diese Wirkung auf Menschen, das war Ramsey schon öfter aufgefallen. »Aber nicht hier. Das ist mit ein Grund, weshalb wir euch persönlich sehen wollten. Wir werden irgendwo hingehen.«

»In ein Restaurant. Hier drin möchten wir nichts dazu sagen«, fügte Vivien hinzu.

»Was soll das nun wieder heißen?« Die Gewitterwolken waren abermals in Fredericks’ Gesicht aufgezogen. »Jetzt komm ich überhaupt nicht mehr mit.«

Ramsey, der das Stillschweigen bewahrte, das ihm im allgemeinen nützlich erschien, war neugierig, aber auch besorgt. Die Gardiners hatten in den wenigen Gesprächen, die er mit ihnen geführt hatte, durchaus vernünftig gewirkt, wild entschlossen in ihrer Absicht, mit Herrn und Frau Fredericks persönlich zu reden, aber auch ein wenig geheimnistuerisch. Er hatte sich auf seinen Instinkt verlassen und ihnen vertraut. Wenn sie jetzt mit irgendwelchen Verschwörungstheorien, einem UFO-Kult oder dem Evangelium der sozialen Harmonie ankamen, würde er es bald bereuen, daß er seine Mandanten zu einem Flug von Virginia hierher überredet hatte.

»Ich weiß, das hört sich verrückt an«, sagte Vivien und lachte. »Wir wären euch nicht böse, wenn ihr den Eindruck hättet. Aber wartet bitte, bis wir die Gelegenheit hatten, miteinander zu reden. Wenn ihr dann immer noch der Meinung seid, werden wir euch den Flug bezahlen.«

Herr Fredericks schnaubte wütend. »Es geht mir nicht ums Geld …«

»Jaleel, Schätzchen«, sagte seine Frau. »Hab dich doch nicht so.«

»Aber zunächst«, fuhr Vivien fort, als ob es die kleine Szene nicht gegeben hätte, »möchten wir, daß ihr mitkommt und Orlando seht.«

»Aber …« Enrica Fredericks war betroffen. »Aber ist er… liegt er nicht im Koma?«

»Wenn es denn eins ist.« Conrads Grinsen war bitter. »Wir sind …« Er brach ab und blickte starr in die Ecke, wo die Mäntel in einem Haufen auf dem einen unbenutzten Stuhl lagen. Als er zu lange starrte, wandten sich die anderen um. Ramsey konnte nichts entdecken. Gardiner rieb sich mit dem Handballen die Stirn. »Entschuldigt, ich dachte bloß …« Er atmete lang und tief aus. »Es ist eine lange Geschichte. Ich dachte, ich hätte einen Käfer gesehen. Einen ganz besonderen Käfer. Bitte fragt nicht – es würde zu lange dauern, und ich würde es lieber später erklären. Besser, ihr geht fürs erste weiter davon aus, daß wir verrückt sind.«

Ramsey amüsierte sich. Seine Mandanten wechselten einen stillen Blick, dann lugte Frau Fredericks verstohlen in Ramseys Richtung. Er schüttelte leicht den Kopf, was Keine Sorge bedeuten sollte. Nach seiner nicht unerheblichen Erfahrung mit Geistesgestörten zeichneten sich die echten Irren in der Regel nicht dadurch aus, daß sie erklärten, ihr Tun müsse einen verrückten Eindruck machen.

»Ihr müßt nicht mitkommen, wenn wir Orlando besuchen gehen«, sagte Vivien und erhob sich. »Aber wir würden uns freuen. Wir bleiben nur eine Minute – ich werde hinterher, wenn wir fertig sind, noch den ganzen Abend mit ihm verbringen.«

Als sie in den Krankenhausflur hinaustraten, gesellten sich die Frauen zueinander, die Männer schlossen sich ihnen an, und Ramsey bildete die Nachhut und konnte sich in dieser Eigenschaft erlauben, kurzzeitig seine Würde zu vergessen und in den papierenen Krankenhausschuhen dezente Schlitterversuche zu machen.

Er kam in letzter Zeit nicht genug an die frische Luft, kein Zweifel. Ramsey wußte, wenn er sich nicht ernsthaft bemühte, etwas weniger zu arbeiten, würde er im günstigsten Fall irgendwann einmal einen Mandanten damit schockieren, daß er mitten in einer ernsten Besprechung in ein unpassendes Gelächter ausbrach, wie es ihm in den letzten Wochen ein paarmal um ein Haar passiert wäre, oder im schlimmsten Fall würde er eines Tages tot über seinem Schreibtisch zusammenklappen, wie es seinem Vater passiert war. Noch ein Jahrzehnt – ach was, weniger –, und er war in den Fünfzigern. Männer über fünfzig starben immer noch an Herzinfarkt, einerlei wie viele moderne Medikamente und Zellverpflanzungen und Herztherapien es geben mochte.

Aber so war das nun mal mit der Arbeit, nicht wahr? Es sah immer so aus, als könnte man sie jederzeit hinlegen oder auf ein vernünftiges Maß herunterfahren oder einfach ignorieren, wenn es wirklich sein mußte. Doch aus der Nähe besehen, stellte sich die Sache anders dar. Dann war es nicht einfach Arbeit, es war das heillose Kuddelmuddel des DeClane Estate, aus dem ein grauenhaftes theatralisches Gemetzel geworden war, das drei Generationen paralysiert hatte. Oder es war der Versuch des alten Perlmutter, die Firma zurückzugewinnen, die er aufgebaut und dann durch einen Coup in der Vorstandsetage verloren hatte. Oder Gentian Tsujimoto, eine Witwe, die um eine Entschädigung dafür kämpfte, daß die Krankheit ihres Mannes falsch behandelt worden war. Oder im Fall Fredericks war es der Versuch der Eltern, bei der äußerst mysteriösen Krankheit ihrer Tochter zumindest die Rechtslage irgendwie zu klären, weil jede Klärung besser war als gar keine.

Wenn er sich jetzt also sagte, daß er sein Arbeitspensum reduzieren müsse, welchen Leuten wollte er dann »Tut mir leid« sagen? Welches Vertrauen, das zu verdienen er sich sein ganzes Arbeitsleben über bemüht hatte, welche wichtige Verbindung, welches faszinierende Rätsel, welche herzzerreißende Tragödie wollte er drangeben?

Es war gut und schön, es sich vorzunehmen, und auf keinen Fall wollte er seinem Vater in die Erste Klasse des Bypass-Expresses folgen, aber wie stellte man es an, die wichtigsten Teile seines Lebens abzustoßen, und sei es zu dem Zweck, dieses Leben zu retten? Es wäre etwas anderes, wenn es außerhalb des Büros viel gegeben hätte, wofür eine solche Rettung sich lohnen würde…

Halb hoffte Catur, eigentlich Decatur Ramsey (»Sag bitte Catur zu mir, so hat meine Mutter mich immer genannt«), daß die ominösen Andeutungen der Gardiners zu etwas führten, das so außerordentlich war, wie das kalifornische Paar zu meinen schien. Ein Karrierefall. Eine Sache, mit der man nicht bloß in die juristische Fachliteratur kam, sondern zu einer Erscheinung des öffentlichen Lebens wurde wie Kumelos oder Darrow. Aber der Teil von ihm, der zu viele Nächte lang einen mit Dokumenten überfüllten Wandbildschirm angeglotzt hatte, bis ihm die Augen weh taten, der diktierte, bis er heiser war, und dabei versuchte, an einem hastig dazwischengeschobenen Happen vom Birmanen an der Ecke nicht zu ersticken, dieser Teil konnte nicht anders als hoffen, daß die Gardiners seiner eigenen Einschätzung zum Trotz doch komplette Spinner waren.

 

Als sie den Kopfschutz übergezogen hatten und durch die Ultraschalldesinfektion getreten waren, hatte Herr Fredericks den nächsten Anfall von Verstimmung. »Wenn euer Sohn das gleiche hat wie Sam, wieso ist dann das alles notwendig?«

»Jaleel, sei nicht so störrisch.« Seiner Frau fiel es schwer, ihre Unruhe zu verbergen. Ramsey hatte sie am Bett ihrer Tochter gesehen und wußte, daß sie sich unter der Oberfläche der schicken Kleider und der gefaßten Züge an die Normalität klammerte wie ein Schiffbrüchiger an eine Spiere.

»Schon gut«, sagte Vivien. »Ich nehme dir die Frage nicht übel. Eure Salome ist in einer etwas anderen Situation.«

»Was heißt das?« fragte Frau Fredericks.

»Sam, nicht Salome.« Ihr Mann wartete die Antwort auf ihre Frage nicht ab. »Ich weiß nicht, wieso ich mich von Enrica zu diesem Namen habe überreden lassen. Sie war eine schlechte Frau. In der Bibel, meine ich. Wie kann man ein Kind nur so nennen?«

»Oh, bitte, Schätzchen.« Seine Frau lächelte und verdrehte die Augen. »Die Gardiners möchten ihren Jungen besuchen gehen.«

Fredericks ließ sich durch die Luftschleuse in das Privatzimmer führen, wo Orlando Gardiner unter einem durchsichtigen Sauerstoffzelt lag wie ein alter Pharao in einem Museumsschaukasten.

Enrica Fredericks schnappte nach Luft. »Oh! O mein Gott! Was …« Sie legte sich eine Hand auf den Mund, die Augen schreckensweit aufgerissen. »Wird das … auch mit Sam passieren?«

Conrad, der sich an das Fußende von Orlandos Bett begeben hatte, schüttelte den Kopf, aber sagte nichts.

»Orlando hat eine Krankheit«, erklärte seine Mutter. »Er hatte sie, lange bevor diese andere Sache hinzukam. Deshalb liegt er hier in der Isolierstation. Er ist auch in der besten Verfassung sehr ansteckungsgefährdet.«

Jaleel Fredericks’ Stirnrunzeln hatte sich verändert und gab ihm jetzt das Aussehen eines Mannes, der sich ein furchtbares Unrecht aus sicherer Entfernung anschaut, einen Netfeed-Bericht über eine Hungersnot oder einen terroristischen Bombenanschlag. »Ein Problem mit dem Immunsystem?«

»Zum Teil.« Vivien steckte ihre Hand in den Handschuh in der Zeltwand und streichelte Orlandos beinahe knochendünnen Arm. Seine Augen waren nur weiße Sichelmonde zwischen den Lidern. »Er hat Progerie. Vorzeitige Vergreisung. Irgend jemand muß sich seinerzeit beim Gentest vertan haben. Aber wir konnten es nie beweisen. Wir wußten, daß die Krankheit vor ein paar Generationen in meiner Familie aufgetreten war, aber die Wahrscheinlichkeit war so gering, daß Conrads Seite auch davon betroffen war – na ja, als die Testergebnisse negativ waren, haben wir gar nicht mehr daran gedacht.« Ihre Augen wanderten zu ihrem Sohn zurück. »Wenn ich es gewußt hätte, hätte ich abgetrieben.« Ihre Stimme wurde gepreßt. »Und ich liebe meinen Sohn. Ich hoffe, ihr versteht das. Aber wenn ich die Zeit zurückdrehen und mich noch einmal entscheiden könnte, würde ich die Schwangerschaft abbrechen.«

Das eintretende lange Schweigen wurde von Jaleel Fredericks gebrochen, dessen tiefe Stimme jetzt sanfter klang. »Es tut uns sehr leid.«

Orlandos Vater lachte kurz und hart auf, ein würgender Ton, der ihm ganz offenbar unwillkürlich entfuhr. »Ja, uns auch.«

»Wir wissen, daß auch ihr schwer zu tragen habt«, sagte Vivien. »Und wir wissen, wie schwer es euch gefallen sein muß, Sam auch nur einen Tag allein zu lassen und hierherzufliegen.« Sie zog ihre Finger aus dem Handschuh und richtete sich auf. »Aber wir wollten, daß ihr vor unserem Gespräch Orlando einmal seht.«

Frau Fredericks hatte immer noch eine Hand auf dem Mund; ihre modisch übertriebene Wimperntusche fing in den Augenwinkeln an, ein wenig zu verlaufen. »Ach, der arme Junge.«

»Er ist großartig.« Vivien hatte Mühe weiterzusprechen. »Ich kann euch gar nicht sagen, wie tapfer er es trägt. Er ist… schon immer anders gewesen als die andern. Die Leute starren ihn an, sobald er vor die Tür tritt. Und von klein auf hat er gewußt, daß seine Chancen … auch nur ins Teenageralter zu kommen …« Sie mußte aufhören. Conrad blickte sie vom Fußende des Bettes aus an, aber tat nichts, um sie zu trösten. Es war Enrica Fredericks, die zuletzt zu ihr hintrat und ihr eine Hand auf den Arm legte. Orlandos Mutter unternahm eine sichtliche Anstrengung, sich zusammenzureißen. »Er hat das alles nicht verdient, und er hat sich so wacker geschlagen, daß … daß es euch das Herz brechen würde, wenn ihr es sehen könntet. Es ist so ungerecht. Und jetzt das noch! Deshalb wollte ich … wollten wir, daß ihr Orlandos Situation versteht – wie hart das Leben mit ihm umgesprungen ist. Wenn wir erklären, warum wir uns an euch gewandt haben.«

Catur Ramsey ermannte sich, diesmal das Schweigen zu brechen.

»Es klingt, als wäre es an der Zeit, daß wir alle wo hingehen und reden.«

 

»Na«, sagte Enrica Fredericks, »diese Speisekarte sieht sehr verlockend aus.« Ihre Munterkeit war so brüchig wie altes Glas. »Was kannst du empfehlen, Vivien?«

»Wir sind hier noch nie gewesen. Wir haben das erstbeste Restaurant aus dem Branchenverzeichnis genommen. Ich hoffe, es ist erträglich.«

In der eintretenden Stille war das Flattern der Markise über ihnen recht laut. Ramsey stellte sein Weinglas auf die Serviette, die wegzufliegen drohte, und räusperte sich. »Vielleicht sollten wir direkt in medias res springen, sozusagen.«

»Deshalb haben wir uns auch draußen hingesetzt«, sagte Conrad unvermittelt.

»Ich komm schon wieder nicht mit«, entgegnete Fredericks. Er beäugte die Speisekarte. »Ich denke, ich nehme den Seebarsch.« Er winkte den Kellner herbei, der sich schutzsuchend in eine windstille Ecke drückte. »Bist du sicher, daß das pazifischer Seebarsch ist?«

Als sie bestellt hatten und der Kellner in den warmen inneren Teil des Restaurants zurückgeeilt war, ergriff Vivien das Wort.

»Das Problem«, sagte sie und malte dabei einen fast durchsichtigen Weißweinkreis auf den Tisch, »liegt darin, daß die Kinder heutzutage nichts mehr aufschreiben. Sie reden miteinander – und was sie alles reden! –, und sie suchen zusammen Orte im Netz auf, aber sie halten nichts mehr schriftlich fest.«

»Ja?« sagte Fredericks.

»Es hat uns eine Menge Arbeit gekostet herauszukriegen, was Orlando getrieben hat«, erklärte Conrad Gardiner. »Im Netz. Aber wir glauben, daß da die Ursache für den Zustand der beiden liegt.«

»Das kann nicht sein.« Enrica Fredericks’ Stimme war tonlos. »Das geht gar nicht. Unser Arzt hat uns das erklärt. Es sei denn, jemand … jemand hätte ihnen Charge verpaßt.« Ihr Gesicht war verkniffen und bitter. »So sagt man doch, oder? Jemandem Charge verpassen?«

»Könnte sein«, sagte Vivien. »Aber wenn, dann wäre es eine Art Charge, von der die Ärzte noch nie gehört haben. Jedenfalls müßte man sich jahrelang extreme Überdosen zuführen, damit es diese Wirkung hätte – nein, selbst dann wäre es nicht so. Seht mal, ihr habt es selbst gesagt: Ihr könnt Sam nicht ausstecken – sie schreit, sie schlägt um sich, ihr müßt sie wieder einstecken. Genauso ist es mit Orlando, nur mit dem Unterschied, daß wir bei seiner Krankheit die Reaktion nur an den Anzeigen seiner Lebensfunktionen erkennen können. Wir haben Neurologen, Neuropsychologen, Chargetherapiezentren konsultiert, alles. Niemand hat je von so etwas gehört. Deshalb sind wir an euch herangetreten.«

Die Salate und Vorspeisen kamen. Ramsey blickte stirnrunzelnd auf seine Bruschetta. Vielleicht wurde es langsam Zeit, daß er anfing, ein bißchen auf seine Gesundheit zu achten. Die Warteliste für Herztransplantate war eine ganze Meile lang, selbst bei der neuen Generation geklonter Austauschherzen. Es wäre klüger, wenn er einen grünen Salat bestellte.

Er schob die Bruschetta beiseite.

»Entschuldigt, wenn ich ungeduldig bin«, sagte Jaleel Fredericks, »aber das scheint bei dieser Zusammenkunft meine Rolle zu sein. Worum geht es eigentlich? Das alles ist uns bekannt, wenn auch nicht die Details.«

»Es geht um folgendes: Wir alle wissen, daß eurer Sam und unserem Orlando etwas zugestoßen ist, aber wir unsererseits glauben nicht an einen Unfall.«

Fredericks zog eine Augenbraue hoch. »Weiter.«

»Wir haben uns nach Kräften bemüht, sämtliche Dateien in Orlandos System zu öffnen. Deshalb ist es so frustrierend, daß die Kinder nicht mal mehr mailen, wie wir es noch taten. Es gibt Pfade, aber keine Aufzeichnungen, die der Rede wert wären. Und zu allem Überfluß hat sein Agent auch noch Dateien beseitigt. Das ist eine der Sachen, die uns stutzig machen.«

Ramsey rutschte interessiert auf seinem Stuhl vor. »Warum das?«

»Weil es eigentlich nicht vorkommen dürfte«, sagte Conrad. Er trank nur Wasser, und er nahm erst einmal einen langen Schluck. »Wir haben das Haussystem außer Betrieb gesetzt, als das passierte – das heißt, Orlandos ganzen Teil. Daß sein Agent Dateien gegen unseren Willen bewegt hat, kann nur mit Orlandos Genehmigung geschehen sein, und … na ja, ihr habt ihn gesehen. Warum also entfernt das Ding weiterhin Dateien und zerstört andere? Es hat sich sogar versteckt, so daß wir es nicht abstellen können, ohne das ganze System zu löschen und auch noch den letzten Anhaltspunkt dafür zu verlieren, was Orlando zugestoßen ist. Das Ding hat sich tatsächlich vollkommen verdünnisiert. Der Roboterkörper, den es im Haus benutzt, ist ebenfalls fort. Der war es, den ich vorhin im Krankenhaus gesehen zu haben meinte.« Er schüttelte den Kopf. »Die ganze Geschichte ist unheimlich.«

»Aber ich verstehe das nicht«, sagte Enrica mit wehleidiger Stimme. »Was hätte das für einen Sinn? Wenn jemand Dateien versteckt oder sie zerstört oder was weiß ich, welchen Grund könnte es dafür geben?«

»Das wissen wir nicht.« Vivien spielte mit einem Selleriestengel. »Aber wir haben vor dem Verschwinden der Dateien genug gesehen, um zu wissen, daß Orlando mit einigen merkwürdigen Leuten in Kontakt stand. Er war … er ist ein sehr, sehr intelligenter Junge, der seine ganze freie Zeit im Netz verbringt. Deshalb möchten wir herausfinden, wo im Netz er gewesen ist, was er dort gemacht hat und mit wem er es gemacht hat. Und wir wollen nicht, daß irgendwer erfährt, daß wir das herauszufinden versuchen. Aus diesem Grund sitzen wir auch in einem unbekannten Restaurant im Freien.«

»Und von uns …?« fragte Fredericks langsam.

»Wir wollen eure Dateien haben. Sam und unser Sohn waren zusammen an irgend etwas dran. Irgendwer oder irgendwas hat in unser System eingegriffen, gegen unsere ausdrücklichen Anordnungen. Eures könnte noch intakt sein – und auf jeden Fall seid ihr es euch schuldig, es nachzuprüfen, selbst wenn ihr uns für plemplem haltet. Aber wir wollen eure Dateien haben. Oder Sams, um ganz genau zu sein.« Vivien fixierte ihn mit einem überraschend scharfen Blick. »Wir wollen wissen, wer unserem Sohn das angetan hat.«

Vivien und Jaleel starrten einander an. Ihre Gatten sahen zu und warteten gespannt, aber Ramsey wußte bereits, wie die Sache ausgehen würde. Zwischen Hochstimmung und Verzweiflung hin- und hergerissen setzte er sich zurück. Also doch keine Spinner. Und dazu eine wirklich interessante Nuß zu knacken, die sich als hohl herausstellen konnte, aber die man auf keinen Fall ignorieren durfte. Es würde natürlich jede Menge Recherchen, tonnenweise Details und eine ganze Latte äußerst kniffliger Probleme zu lösen geben.

Wie es aussah, würde er noch viel mehr Zeit mit Arbeit verbringen müssen.

 

 

> Olga Pirofsky steckte die letzte Melone in den Beutel und ging dann mit ihren Einkäufen an die Expreßkasse. Man konnte sich zwar alles liefern lassen, aber es sprach immer noch einiges dafür, ein Stück Obst tatsächlich in die Hand zu nehmen, bevor man es kaufte. Man blieb so mit einem Stück menschlicher Geschichte in Verbindung, das inzwischen beinahe untergegangen war.

Sie ging wie immer die Kinmount Street nach Hause, unter den großen Hochgleisen hindurch, auf denen die Pendelzüge der Magnetschwebebahn nach Toronto im Süden fuhren. Juniper Bay bekam heute ein richtiges Sonnenbad, und die Wärme fühlte sich angenehm in ihrem Nacken an.

Obwohl sie es sich verboten hatte (wohl wissend, daß sie es trotzdem tun würde), blieb sie vor dem Spielwarengeschäft stehen. Eine Schar holographischer Kinder spielte sittsam im Schaufenster, und niedliche Phantombabys führten niedliche Babykleidung vor. Es war früh am Nachmittag, und die meisten richtigen Kinder waren noch in der Schule; nur eine Handvoll Mütter und Väter mit Kinderwagen waren im Laden.

Olga beobachtete durch das Fenster, wie sie vollkommen selbstverständlich von einer Auslage zur anderen schlenderten und nur hin und wieder stehenblieben, um einen quengelnden Säugling zu beruhigen oder sich eine witzige Bemerkung oder eine Überlegung mitzuteilen, ganz und gar im Jetzt lebend, einem Jetzt, in dem das Elternglück ewig so weitergehen würde, mit der einen kleinen Einschränkung, daß alles, was sie vor einem Monat gekauft hatten, schon wieder zu klein war. Sie wollte an die Scheibe hämmern und sie davor warnen, sich in irgendwelchen Sicherheiten zu wiegen. Früher einmal hatte sie gemeint, sie würde eines Tages auch zu diesen Leuten gehören, zu diesen erschreckend unbekümmerten Leuten, doch jetzt fühlte sie sich wie ein heimatloses Gespenst, das neidisch aus der Kälte zuschaute.

Ein Schwebeball – der ständig seine magnetische Ladung wechselte und dadurch schwer mit den dazugehörigen Schlägern in der Luft zu halten war – trudelte zwischen zwei der holographischen Jungen hin und her. Aber ich bin kein Gespenst, begriff sie. Durchaus nicht. Diese imaginären Schaufensterkinder sind Gespenster. Onkel Jingle und seine Freunde sind Gespenster. Ich bin ein lebendiger Mensch, und ich habe soeben Melonen und Tee und zwölf Packungen Hundefutter gekauft. Ich habe etwas zu tun.

Nicht völlig überzeugt, aber wenigstens so weit von Kraft und Entschlossenheit durchdrungen, daß sie sich von dem Spielwarenladen losreißen konnte, setzte sie ihren Heimweg fort.

Eines Tages werde ich nicht mehr davon wegkommen, dachte sie. Ich werde einfach dastehen und in das Fenster starren, bis der Winter kommt. Wie das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen.

Vielleicht war das gar keine so schlechte Art, von hinnen zu gehen.

 

»Später kommen wir wieder und helfen der Prinzessin Aff-i-Katz, Kinder. Aber zuerst möchte Onkel Jingle, daß ihr mit ihm einen Spaziergang ins Spielzeugland macht!«

Die Pawlowschen Jubelrufe dröhnten ihr wieder in den Kopfhörern. Das innere Bild, daß sie ihre Schutzbefohlenen über einen verschneiten Güterbahnhof in fensterlose Waggons führte, stieg in Onkel Jingle auf und wurde rasch verbannt. Solche Gedanken waren albern – dies hier war nichts weiter als Werbung, einfach harmlose kapitalistische Gier. Und wenn es nicht harmlos war, dann war es auf jeden Fall ein Teil der Welt, in der sie alle lebten. Es war der größte Teil der Welt, in der sie lebten, oder wenigstens kam ihr das manchmal so vor.

»Wir singen jetzt das ›Fröhliche Einkaufslied‹«, sagte sie und breitete ihre Arme in einer Geste der Begeisterung aus. »Aber zuerst möchte ich euch mit jemandem bekannt machen. Es ist die Abgedrehte Grete, und sie ist das neueste Mitglied im Verunglückten Verein! Sie ist pädagogisch sehr wertvoll, und sie zeigt euch gleich, warum!«

Die Kinder – beziehungsweise ihre Online-Avatare – sprangen auf und jubelten. Der Verunglückten Verein war eine beliebte Spielzeugserie, und alle seine schauerlichen Mitglieder, Baruch zu Bruch, Dolly Kopflos und andere, noch unappetitlichere Figuren, waren Verkaufsschlager. Die neuen Werbeeinlagen würden in Kürze anfangen, und Onkel Jingle war von der Aussicht alles andere als angetan. Während die Abgedrehte Grete erklärte, daß, wenn man ihr die Glieder abschraubte, lebensähnliches Blut hervorsprudelte, bis Druck ausgeübt wurde, erreichte Onkel Jingle die Vierstundenmauer und hörte auf, Olga Pirofsky zu sein.

 

… Oder nein, ich höre auf, Onkel Jingle zu sein, dachte sie. Manchmal weiß man gar nicht mehr, wo die Grenze ist.

Eine Stimme ertönte in ihren Ohrenstöpseln. »Prima, Frau P., nette Sendung. McDaniel wird dich jetzt ablösen.«

»Sag Roland Hals- und Beinbruch von mir. Aber er soll es nicht vor dieser Gruppe tun, sonst reißen sie ihm vielleicht Hals und Beine ab, um sein lebensähnliches Blut sprudeln zu sehen.«

Der Techniker lachte und schaltete ab. Olga stöpselte sich aus. Mischa saß ihr gegenüber an der Wand, den Kopf schief gelegt. Sie wackelte dicht über dem Fußboden mit den Fingern, und er kam an, um sich an der weißen Stelle unterm Kinn kraulen zu lassen.

Ihre Kopfschmerzen waren in letzter Zeit nicht mehr aufgetreten. Wenigstens dafür sollte sie dankbar sein. Doch als ob sie nur die scharfe Kante eines in ihr Innerstes getriebenen Keils gewesen wären, hatten die geheimnisvollen Schmerzen sie aufgesprengt. Immer öfter stellte sie in diesen letzten Wochen fest, daß die Sendung ihr gegen den Strich ging und daß ihr die grelleren und kommerzielleren Seiten nicht viel anders vorkamen als das Massakrieren von Tieren und Sklaven, womit die alten Römer ihre Spiele aufgepeppt hatten. Aber nicht die Sendung hatte sich verändert, sondern Olga: Die Abmachung, die sie einst mit sich selbst getroffen hatte, daß sie für den Spaß an der Arbeit mit Kindern ihre Unzufriedenheit mit dem Inhalt hinunterschlucken würde, geriet ins Wanken.

Und obwohl die Kopfschmerzen sie derzeit verschonten, konnte sie sie nicht vergessen, genausowenig wie die Erkenntnis, die ihr an jenem Tag gekommen war. Sie hatte ihrem neuen Arzt davon erzählt, auch den medizinischen Betreuern der Sendung, und alle hatten ihr versichert, daß ihre Online-Kopfschmerzen nichts Ungewöhnliches seien. Sie schienen vergessen zu haben, daß sie sie erst wenige Wochen vorher auf Gehirntumor untersucht hatten. Die übliche Geschichte, erzählten sie ihr, sie solle sich freuen, daß die Sache so leicht zu beheben sei. Sie verbringe zuviel Zeit online. Sie solle ernsthaft daran denken, sich mal eine Zeitlang freizunehmen.

Natürlich war der Unterton unmißverständlich: Du wirst ohnehin langsam ein bißchen alt für die Arbeit, nicht wahr, Olga? Die Onkel-Jingle-Nummer ist für jemand Junges gedacht, das ganze Hüpfen und Singen und das anstrengende, übertriebene Cartoongehabe. Wäre es nicht besser für deine Gesundheit, wenn du sie jemand anderem überlassen würdest?

Unter anderen Umständen hätte sie sich gefragt, ob die Mediziner nicht recht hatten. Aber dies waren keine normalen Kopfschmerzen, so wenig wie Baruch zu Bruchs kleine Spezialität ein blauer Fleck am Schienbein war.

Olga stand auf und schlenderte in die Küche, ohne auf das Prickeln und Stechen nach vier Stunden im Gurtsessel zu achten. Die Lebensmittel standen noch im Beutel auf dem Küchentresen. Mischa, der sehr auf einem festen Tagesablauf beharrte, wartete zu ihren Füßen. Sie seufzte und leerte eine Futterpackung in seinen Napf.

Wenn einem die Ärzte nicht glaubten, was dann? Sie hatte natürlich angefangen herumzutelefonieren, Erkundigungen bei verschiedenen anderen ärztlich und sonstwie heilerisch Tätigen sowie beim Berufsverband für Interaktiv-Darsteller einzuziehen. Sie hatte Roland McDaniel gebeten, befreundete Darsteller im Ruhestand zu fragen, ob ihnen je etwas Ähnliches widerfahren sei. Sie hatte sich sogar über ihr eigenes Verbot, in ihrer freien Zeit das Netz zu benutzen, hinweggesetzt und begonnen, Artikel und Monographien über netzbedingte gesundheitliche Störungen durchzuschauen. Ein netter junger Mann in der Neurobiologie der McGill-Universität hatte ihr auf ihre Fragen hin eine Liste mit einer ganzen Palette neuer Möglichkeiten geschickt, anscheinend entlegene Spezialfächer, die für ihr Problem unter Umständen von Belang sein konnten. Bis jetzt hatte sich nichts als brauchbar erwiesen.

Während Mischa über seinem Freßnapf kleine Schnorcheltöne machte, legte sie sich auf die Couch. Ihr Spezialsitz, über und über mit Kabeln behängt wie ein elektrischer Stuhl, stand da wie ein stummer Vorwurf. Sie mußte mehr Nachforschungen anstellen, viel mehr. Aber sie war so müde.

Vielleicht hatten sie alle recht. Vielleicht war es die Arbeit. Vielleicht wäre ein langer Urlaub genau das, was sie brauchte.

Sie grunzte, setzte ihre Beine mit einem Schwung von der Couch auf den Boden und stand auf. An Tagen wie diesen fühlte sie ihr Alter, jedes einzelne Jahr. Sie schritt langsam zum Sessel, bestieg ihn und schloß sich an. Augenblicklich war sie auf der höchsten Ebene ihres Systems. Die Firma stellte ihr die allerbeste technische Ausstattung zur Verfügung – eigentlich schade, daß das für eine, die sich so wenig aus modernen Apparaten machte, reine Verschwendung war.

Chloe Afsani ging nicht gleich dran; als sie sich schließlich meldete, wischte sie sich gerade noch einen Rest Frischkäse von der Oberlippe.

»Oh, entschuldige, Chloe, ich habe dich beim Mittagessen gestört.«

»Gebongt, Olga. Es war ein spätes Frühstück – ich werde schon noch ein Weilchen überleben.«

»Bestimmt? Ich hoffe, ich lade dir zu deiner ganzen Arbeit nicht noch zusätzliche Lasten auf.« Chloe war jetzt Ressortleiterin in der Rechercheabteilung des Netzwerks, wo Reihe um Reihe gesichtsloser Datenbrillenträger saßen, bei deren Anblick Olga mehr als nur ein bißchen nervös geworden war, als sie mit ihrer Bitte vorgesprochen hatte. Chloe war Produktionsassistentin für Onkel Jingle gewesen, als sie bei der Firma anfing – »ein kleines Pixelchen«, wie sie selber sagte –, und Olga war in der Zeit, als die erste Ehe der jüngeren Frau in die Brüche ging, ihre Vertraute gewesen. Trotzdem war es Olga sehr schwergefallen, um den Gefallen zu bitten – dadurch bekam eine Freundschaft immer etwas von einem Tauschgeschäft.

»Laß gut sein. Überhaupt, ich habe eine gute Neuigkeit für dich.«

»Wirklich?« Eine plötzliche Berührung ließ Olga auffahren. Dann erkannte sie, daß es nur Mischa war, der ihr auf den Schoß krabbelte.

»Wirklich. Ich schicke dir alles zu, aber das Wesentliche kann ich dir gleich sagen. Es ist ein ziemlich breiter Themenbereich, weil so viele Dinge über Netzbenutzung geschrieben werden, die vage mit Gesundheit zusammenhängen. Ergonomie allein gab schon Tausende von Treffern. Aber je mehr du es eingrenzt, um so leichter wird’s.

Ich blend gleich zur Sache über. Es gibt eine Tonne angeblich netzbedingter Erkrankungen, chronischer Streß, Desorientiertheit, Überanstrengung der Augen, Pseudo-PTSS – ich hab vergessen, was das eigentlich ist –, aber das einzige, was ungefähr auf deine Beschreibung zutrifft, die einzige andere mögliche Ursache außer Arbeitsüberlastung, mit andern Worten, ist etwas, das sich Tandagoresyndrom nennt.«

»Was ist ein Tandagore, Chloe?«

»So heißt der Mann, der es entdeckt hat. Kommt aus Trinidad, wenn ich mich recht entsinne. Jedenfalls ist es umstritten und als eigenes Krankheitsbild noch nicht allgemein anerkannt, aber einige spezielle Forschungsgruppen beschäftigen sich damit. Die meisten Ärzte und Krankenhäuser verwenden den Begriff nicht. Das liegt zum Teil daran, daß es so viele verschiedene Ausprägungen gibt, von Kopfschmerzen über Anfälle bis hin zum Koma, und es hat sogar ein oder zwei Todesfälle gegeben.« Chloe Afsani sah den Ausdruck im Gesicht der anderen Frau. »Keine Angst, Olga. Es ist nicht progressiv.«

»Ich verstehe nicht, was das heißt.« Mischa stupste sie auf eine sehr ablenkende Art in den Bauch, aber Chloes Worte hatten ihr einen eiskalten Schrecken eingejagt. Sie streichelte den kleinen Hund, um ihn zu beruhigen.

»Es schreitet nicht von einem Symptom zum nächstschlimmeren fort. Wenn du es hast – und kein Mensch behauptet das, Liebes, ich werde dir vielmehr gleich erklären, warum ich es für ziemlich ausgeschlossen halte –, und du kriegst Kopfschmerzen, dann kommt wahrscheinlich nichts Schlimmeres mehr hinterher.«

Der Gedanke, daß sie für den Rest ihres Lebens einen dieser grellen, zerreißenden Schmerzensblitze nach dem anderen haben könnte, war in gewisser Hinsicht erschreckender als die Aussicht darauf, einfach zu sterben. »Ist das die gute Neuigkeit?« fragte sie schwach. »Ist es heilbar?«

»Nein, nicht heilbar, aber das war nicht die gute Neuigkeit.« Chloe lächelte kummervoll. Ihre Zähne schienen weißer geworden zu sein, seit sie in eine höhere Position aufgestiegen war. »Ach, Olga, Liebes, mache ich alles nur noch schlimmer? Hör einfach zu, ich bin noch nicht fertig. Zunächst einmal hast du das höchstwahrscheinlich gar nicht, weil etwa fünfundneunzig Prozent der davon Betroffenen Kinder sind. Und was die Wahrscheinlichkeit noch erhöht, daß du es nicht hast, sondern vielmehr an Urlaubsbedürftigkeit in der allerextremsten Form leidest, ist die Art deiner Arbeit.«

»Was heißt das?«

»Also, jetzt kommt endlich die gute Neuigkeit. Das Tandagoresyndrom scheint netzbedingt zu sein, richtig? Das heißt, der einzige gemeinsame Faktor, abgesehen davon, daß es fast nur Kinder betrifft, ist häufige Netzbenutzung.«

»Aber ich benutze ständig Netzgeräte, Chloe! Das ist mein Beruf, das weißt du doch!«

»Laß mich zu Ende reden, Liebes.« Sie sagte es wie zu einem nörgelnden Kind. »Unter allen Kindern, deren Fälle die Recherchemaschinen finden konnten, war nicht ein einziges, das jemals an Onkel Jingles Dschungel oder einer der Begleitsendungen teilgenommen hat. Ich habe die medizinischen Dateien von WorldReach mit denen des Netzwerks vergleichen lassen und weiß das daher sicher. Denk mal drüber nach. Es haben im Lauf der Jahre Millionen von Kindern mitgemacht, und kein einziges ist jemals auf diese besondere Weise erkrankt.«

»Du willst damit sagen …«

»Daß die Ursache letzten Endes wahrscheinlich eine Art Störimpuls bei den Übertragungssignalen oder so was in der Richtung sein wird – vielleicht irgendwas, das die Hirnwellen beeinträchtigt. Das meint jedenfalls Tandagore, den Artikeln zufolge. Aber was es auch sei, unsere Übertragungssignale sind definitiv frei davon. Ipso facto – ein Ausdruck, den man in meiner Abteilung unbedingt kennen muß, meinst du nicht? – leidest du nicht am Tandagoresyndrom.«

Olga tätschelte Mischa und versuchte aus alledem schlau zu werden. »Du willst damit sagen, daß ich etwas nicht habe, wovon ich bis heute noch gar nichts wußte?«

Chloe lachte, aber eine leise Gereiztheit schwang darin mit. »Ich will sagen, daß dieses Tandagoredings die einzige Möglichkeit außer schlichtem Streß oder sonstigen Sachen ist, die die Ärzte schon ausgeschieden haben. Dein Arzt sagt, daß du gesund bist. Du kannst Tandagore nicht haben, weil niemand es kriegt, der auch nur entfernt mit der Sendung zu tun hat, deshalb muß es schlicht Überarbeitung sein und zu viele Sorgen.« Chloe strahlte. »Also hör auf, dir Sorgen zu machen!«

Olga dankte ihr herzlicher, als ihr zumute war, und schaltete aus. Mischa war eingeschlafen, und so blieb sie im Sessel sitzen, nachdem sie sich abgekabelt hatte. Die Sonne war hinter den Bahngleisen untergegangen, und das Wohnzimmer lag im Schatten. Olga lauschte den Stimmen der Vögel, einer der Gründe, weshalb sie in Juniper Bay wohnte. Groß genug, um Zwischenstationen zu haben, die einen großen Datendurchsatz bewältigen konnten, und klein genug, um noch Vögel zu haben. In Toronto gab es keine mehr außer Tauben und Möwen, und jemand im Nachrichtennetz hatte erklärt, alle noch lebenden Tauben seien ohnehin eine mutierte Abart.

Also war es entweder Streß, oder es war ein Dingsbumssyndrom, das sie nicht haben konnte. Chloe war jung und gescheit und hatte die besten kommerziellen Recherchemaschinen zur Verfügung, und das war ihr Ergebnis. Was bedeutete, daß Olga sich weitere eigene Nachforschungen sparen konnte. Warum fühlte sie sich da nicht besser?

Am anderen Ende des Zimmers blickte die Onkel-Jingle-Figur sie mit schwarzen Knopfaugen und gebleckten Xylophonzähnen an. Sein breites Grinsen war im Grunde hämisch, oder? Wenn man genauer hinschaute.

Es ist merkwürdig, dachte sie. Es soll Millionen Fälle von dieser Sache geben, und kein einziger davon hat sich je in die Sendung eingeschaltet. Dabei ist es bestimmt schwer, auf der Welt ein Kind zu finden, das nicht irgendwann mal bei Onkel Jingle eingestöpselt war.

Das Zimmer fühlte sich kalt an. Olga wünschte plötzlich, die Sonne würde zurückkommen.

Eigentlich ist das mehr als nur ein bißchen merkwürdig. Das ist … äußerst unwahrscheinlich.

Aber was konnte es anderes sein als Zufall, daß viele Kinder Symptome hatten, die vom Netz herrührten, aber keines davon jemals bei ihrer Sendung mitgemacht hatte. Daß an den Anlagen der Firma etwas ganz besonders gut war? Ganz besonders gesund?

Oder… Sie zog Mischa näher zu sich. Der Hund winselte und schlug kurz mit den Pfoten, als ob er in einem Traumfluß paddelte; dann beruhigte er sich wieder. Im Zimmer wurde es jetzt ziemlich dunkel.

Oder genau das Gegenteil? So schlecht, daß jemand andere Leute davon abbringen wollte, eine Verbindung zwischen den beiden herzustellen?

Das ist absurd, Olga. Albern. Das müßte jemand mit Absicht machen. Du bist von den Kopfschmerzen zur Paranoia fortgeschritten.

Aber der ungeheuerliche Gedanke wollte nicht weggehen.