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Die schönste Straße der Welt
NETFEED/SITCOM-LIVE:
Reisen mit dem unsichtbaren Hund »Sprootie«!
(Bild: Wengweng Chos Wohnzimmer)
Cho: O nein! Jemand hat meinen Bericht an den Bezirksgouverneur kaputt gemacht! Er ist völlig zerrissen! Aber dieses Zimmer war den ganzen Tag über abgeschlossen!
Shuo (flüstert): Sprootie! Du bist ein böser Hund! Ich sollte dir deine kleinen unsichtbaren Eier abschneiden!
(Off: Lachen)
Cho: Dafür wird man mich hinrichten! Meine Familie wird nicht einmal meine Lebensversicherung ausgezahlt bekommen. Oh, das ist schrecklich!
Shuo: Ich werde mir etwas einfallen lassen, um dir zu helfen, Verehrter Cho. (Flüstert:) Aber der schlaue Sprootie wird bestimmt wieder für einiges Durcheinander sorgen!
(Off: Lachen und Applaus)
> Das blaue Neonflimmern verblaßte. Die Funken flackerten und gingen aus. Flach auf dem Rücken unter einem sternenlosen Nachthimmel liegend versuchte Paul, das alles zu verstehen – Nandis Enthüllungen, den plötzlichen Angriff, die Flucht vor den Kriegern des Khans, das ganze unbegreifliche Kuddelmuddel. Und jetzt hatte der Fluß ihn wieder erfaßt, ihn ein weiteres Mal von einer Realität in die nächste befördert, von Xanadu nach…?
Von dort aus, wo er langgestreckt auf dem Boden des Bootes lag, konnte er nur den dicken weißen Vollmond sehen, beruhigend gewöhnlich zwar, aber was hatte das schon zu besagen? Welche neue Schreckensszene mochte wohl diesmal dran sein? Der von Krokodilen wimmelnde Amazonas? Die Belagerung von Khartum? Oder etwas noch Abwegigeres, etwas, das er nicht einmal vermuten konnte, die Ausgeburt der Fieberträume eines reichen alten Teufels? Ein überwältigendes Heimwehgefühl bemächtigte sich seiner.
Und es ist Felix Jongleur, der mir das angetan hat.
Bei dem Namen, dem letzten, was Nandi ihm noch mitgeteilt hatte, klang etwas in ihm an. Er hatte ihn schon einmal gehört, da war er sicher – vielleicht hatte der Mann, der sich in der abenteuerlichen Marswelt aus alten Groschenromanen Professor Bagwalter genannt hatte, ihn erwähnt. Aber es war mehr daran, es gab eine Resonanz, die tiefer ging und eigenartig losgelöste Bilder mit sich brachte – einen Kessel, ein Fenster, einen Raum voller Vögel. Die Bilder waren so flüchtig wie vage; wenn er versuchte, sie festzuhalten, ihnen eine sinnvolle Form zu geben, zerfielen sie und hinterließen nur einen stumpfen Schmerz, der sich nicht sehr vom Heimweh unterschied.
Jongleur. Es war immerhin etwas, ein Name, mit dem er arbeiten konnte, sowohl innen in seinem Kopf als auch außen in diesen aneinandergereihten Welten. Ein Werkzeug, vielleicht sogar ein Kompaß. Etwas, womit er anfangen konnte, sich zu orientieren.
Aber diese neue Simulation ist keine von denen Jongleurs. Jedenfalls hat Nandi das gesagt.
Der Gedanke gab ihm die Kraft, sich mit den Ellbogen auf den Bootsrand zu stemmen und sich umzuschauen. Die Luft war kühl an seinen Wangen, die Nacht frisch, aber nicht ungemütlich. Er schien warm bekleidet zu sein (die orientalische Tracht war offenbar in der Xanadu-Simulation zurückgeblieben), aber viel mehr interessierte ihn, was vor ihm lag: Aus irgendeinem Grund sah man nicht sehr klar, aber das dort am Ufer waren eindeutig verstreute Lichter, eine bescheidene Anzahl, aber immerhin.
Wenigstens bin ich nicht in der Wildnis gelandet, sagte er sich, in einem menschenfernen Nirgendwo… Doch selbst wenn er in die lebendigste und quirligste virtuelle Stadt kam, die man sich vorstellen konnte, so beschrieb »nirgendwo« trotzdem ziemlich genau, wo er sich befand. In einer elektronischen Illusion. Bis über beide Augen in Code. Dennoch hatte der Gedanke, einmal die zivilisiertere Seite der Virtualität zu kosten, seinen Reiz. Nach der Eiszeit und der Invasion vom Mars war er es leid, unbequem im Freien zu schlafen.
Die Lichter schienen sich zu entfernen; Paul erkannte, daß er abtrieb. Als er gerade nach dem Paddel tastete, schwamm sein Boot aus der Nebelbank heraus, deren Existenz er gar nicht bemerkt hatte, und die Lichter der Stadt flammten jählings vor ihm auf wie der Kronleuchter Gottes.
Es war eine der schönsten Szenen, die er je gesehen hatte.
Während er in den Anblick versunken vor sich hin staunte, das Paddel nutzlos über dem Wasser schleifend, zogen auf einmal dunkle Formen durch den lichter werdenden Nebel an ihm vorbei, Schatten, die über die Stadtbeleuchtung streiften wie die Spur eines in Tusche getunkten Pinsels. Als das erste Boot vorbeiglitt, zu weit weg für ihn, um Details zu erkennen, bevor es verschwand, meinte er, munteres Lachen über das Wasser murmeln zu hören. Sekunden später waren fünf, sechs weitere erschienen, wie direkt aus dem Dunst gebildet. Laternen schaukelten an ihren geschwungenen Bügen, und noch nachdem ihre schattenhaften Gestalten an ihm vorbeigestrichen und wieder in den Nebel eingetaucht waren, konnte er ihre schwankenden Lampen wie Glühwürmchen tanzen sehen.
Ein kleineres, unbeleuchtetes Boot schnitt plötzlich so dicht an seinem Bug vorbei, daß Paul mit ausgestrecktem Paddel beinahe den glänzenden schwarzen Rumpf hätte anstoßen können. Er erhaschte einen kurzen Blick auf monströse und verzerrte Gesichter am Rand, und einen Moment lang stockte ihm das Herz: Es sah so aus, als wäre er auf den Wasserstraßen des nächsten fremden Planeten gelandet, wieder auf dem Mars oder noch schlimmer. Ein Ruf scholl zu ihm hinüber, der nach betrunkener Überraschung klang, dann wurde das auf die Stadtlichter zusausende schwarze Boot vom Nebel verschluckt. Erst als es ganz verschwunden war und er in seinem sanft schaukelnden Boot wieder allein war, ging ihm auf, daß alle Insassen Masken getragen hatten.
Die inzwischen näher gekommenen Lichter erstreckten sich vor ihm wie eine ganz aus Edelsteinen bestehende Gebirgskette, aber diese Juwelen verwandelten sich nach und nach in prosaischere, doch nicht minder erfreuliche Dinge – Fackeln, Straßenlaternen, erleuchtete Fenster –, und alle lächelten sie ihn durch die Dunkelheit an. Auch auf der anderen Seite des Wassers brannten Lichter, trotz der Entfernung genauso hell und genauso fröhlich. Die Vergnügungsboote voll maskierter Feiernder, die mit erhobenen Stimmen lachten oder nahen Booten etwas zuriefen, umschwärmten ihn jetzt an allen Seiten. Musikalische Klänge schwebten auf der Nachtluft, gezupfte Saiten, singende Stimmen und schrille Flöten, nicht immer in Harmonie miteinander. Er hatte den Eindruck, in den Fetzen, die er aufschnappte, etwas deutlich Altmodisches zu hören, aber es war schwer, sich zu konzentrieren, wenn man durch einen Traum glitt.
Ein viel größeres Fahrzeug, das an einem Pier am Ufer lag, tauchte jetzt vor ihm auf, ein Galaboot, überdacht mit Baldachinen und erleuchtet von zahlreichen Ampeln. Er hörte heiseres Singen und paddelte nahe genug heran, um drei Gestalten mit weißen Masken an der Reling stehen zu sehen.
»Ich habe mich verirrt«, rief er zu ihnen hoch. »Wo bin ich?«
Die Zecher brauchten ein Weilchen, um die Herkunft der Stimme aus dem Dunkeln unter ihnen ausfindig zu machen. »Nicht weit vom Arsenal«, rief einer von ihnen schließlich zurück.
»Arsenal?« Einen Augenblick lang dachte Paul, er wäre in die nächste entstellte Version von London versetzt worden.
»Ja doch, das Arsenal. Seid Ihr ein Türke?« fragte ein anderer. »Ein Spion?« Er drehte sich um und sagte zu der dritten schweigsamen Maske: »Er ist ein Türke.«
Paul dachte, der Mann scherze, aber er war sich nicht sicher. »Ich bin kein Türke. Nicht weit von welchem Arsenal? Wie gesagt, ich weiß nicht, wo ich bin.«
»Falls Ihr das Dalmatinische Ufer sucht, seid Ihr so gut wie da.« Während der erste Mann das sagte, fiel ihm etwas aus der Hand und klatschte in der Nähe von Pauls Boot ins Wasser. »Hoppla«, sagte er. »Jetzt hab ich die Flasche fallenlassen.«
»Idiot«, versetzte der zweite. »Heda! Seid ein guter Türke, und werft sie uns bitte schön wieder hoch.«
»Ist er wirklich ein Türke?« fragte die dritte Maske plötzlich. Der Mann klang noch betrunkener als die anderen beiden.
»Nein«, sagte Paul mit Nachdruck, denn sie schienen auf Türken nicht besonders gut zu sprechen zu sein. Er beschloß, ein Risiko einzugehen. »Ich bin Engländer.«
»Ein Engländer!« Der erste lachte. »Aber Ihr sprecht wie ein echter Venezianer. Ich dachte, die Engländer könnten nichts anderes sprechen als ihr Gesäge und Geknarre.«
»Die Promenade ist gleich da vorn, sagt Ihr?« rief Paul und stieß sich von dem Schiffsrumpf ab. Seine Gedanken sprudelten. »Vielen Dank für die freundliche Auskunft.«
»He, Engländer!« schrie einer von ihnen, als er davonpaddelte. »Was ist mit unserer Flasche?«
Das Dalmatinische Ufer war ein langer Kai, an dem Hunderte von Booten in allen Größen dermaßen dicht an dicht lagen, daß sie mit den Seiten aneinanderscheuerten. In dieser Nacht wenigstens erstrahlte das ganze Ufer im Glanz von Fackeln und Laternen; die hohen, bogenreichen Fassaden der Häuser waren wie für eine extravagante Filmpremiere beleuchtet. Paul machte sein kleines Boot am dunklen Ende eines der Piere an einem Poller fest. Im Vergleich zu den Booten, die um ihn her gegen die Hafenmauer stießen, war seines ein armseliger Nachen. Er bezweifelte, daß jemand es stehlen würde.
Also Venedig, dachte er, während er sich einen Weg durch die ausgelassen feiernde Menge bahnte, einen farbenprächtigen Rausch von Masken und fliegenden Gewändern. Er freute sich. Hier konnte ihm seine kunsthistorische Bildung tatsächlich einmal von Nutzen sein. Genau datieren kann ich es nicht, zumal alle kostümiert sind, aber es sieht nach Renaissance aus, entschied er. Wurde Venedig nicht la Serenissima genannt, die durchlauchtigste Republik?
Er selbst war mit einer dunklen Hose und einem Oberteil bekleidet, Wams genannt, wie er sich düster zu erinnern meinte – nicht von bester Qualität, aber auch nicht so abgetragen, daß er sich schämen mußte. Um die Schultern hatte er ein schweres Cape, dessen Saum dicht über den schlammigen Boden strich. Ein schlankes, in einer Scheide steckendes Schwert mit einem schlichten Korbgriff klapperte an seiner Seite, und damit wäre er eigentlich hinreichend ausgestattet gewesen, aber irgend etwas stupste ihn ab und zu im Genick. Als er das Ding herumzog, um zu sehen, was es war, stellte es sich als eine Maske heraus, ein ausdrucksloses Gesicht mit einer kühlen Oberfläche wie Porzellan, dessen hervorstechendes Merkmal ein großer Schnabel anstelle der Nase war. Er starrte sie einen Moment lang an und überlegte, ob er die dargestellte Figur erkennen sollte. Schließlich besann er sich darauf, daß er in diesem nach wie vor rätselhaften virtuellen Dasein, das er führte, offenbar nicht wenige Feinde hatte, und so zog er sich die Maske über und band sie hinter dem Kopf richtig fest. Sogleich fühlte er sich viel weniger auffällig und ging weiter, ohne fürs erste einen anderen Plan zu haben, als wenigstens eine Zeitlang Teil der Menge zu sein.
Eine Frau in einem Kleid, dessen Oberteil ihre Brüste weitgehend freiließ, stolperte und langte Halt suchend nach seinem Arm; er hielt sie fest, bis sie wieder sicher stand. Auch sie trug eine Maske, ein übertriebenes Mädchengesicht mit rosigen Wangen und roten, vollen Lippen. Ihr männlicher Begleiter riß sie roh von ihm weg, aber im Umdrehen streifte sie mit der Vorderseite gegen Paul und zwinkerte ihm durch den Augenschlitz ihrer Maske zu, ein langsames, betontes Wimpernklimpern, subtil wie ein fallendes Klavier. Trotz des leicht säuerlichen Weingeruchs, der ihr nachhing, war er plötzlich erregt, ein Gefühl, das Angst und Verwirrung lange Zeit fast völlig erstickt hatten.
Aber was ist sie? ging es ihm durch den Kopf. Mit einiger Wahrscheinlichkeit ein Replikant. Wie das wohl wäre?
Er hatte einmal in einer Ausstellung über die Alltagskultur des zwanzigsten Jahrhunderts im Victoria and Albert Museum eine aufblasbare Sexpuppe gesehen. Er und Niles und die anderen hatten über die Primitivität des Dings gelacht, über die traurige Öde, die es gehabt haben mußte, das Ding wie vorgesehen in Gebrauch zu nehmen, sich diesem verwunderten Glotzen und diesem unmenschlichen Rundmaul von Angesicht zu Angesicht gegenüberzusehen. Aber wäre es wirklich etwas anderes, sich mit einer imaginären venezianischen Karnevalsschönen zu verlustieren?
»Hallo, Signore, he, hallo.« Er blickte nach unten und sah einen kleinen, unmaskierten Jungen, der ihn am Umhang zupfte. »Schöne Frauen gefällig? Ich kann Euch zu einem guten Haus führen, einem erstklassigen Haus, nur das beste Fleisch. Zypriotinnen? Oder vielleicht mögt Ihr Blonde von der Donau, hä?« Obwohl der Junge nicht älter war als sieben oder acht und sehr schmutzig wirkte, hatte er das harte professionelle Lächeln eines Immobilienmaklers. »Schwarze Mädchen? Araberjungen?«
»Nein.« Paul war schon im Begriff, den Bengel nach einem Lokal zu fragen, wo er sich hinsetzen und etwas trinken konnte, aber er sah ein, daß er sich damit einen Führer für den Rest des Abends einhandeln würde, ob er wollte oder nicht, und er wußte noch nicht einmal, ob er überhaupt Geld in den Taschen hatte. »Nein«, wiederholte er, ein bißchen lauter diesmal, und machte die Hand des Jungen von seinem Umhang los. »Kein Bedarf. Sei brav und troll dich.«
Der Junge musterte ihn einen Moment lang abschätzend, dann trat er ihm vors Schienbein und entschlüpfte in die Menge. Kurz darauf hörte Paul, wie er sich mit seiner piepsenden Stimme an den nächsten potentiellen Kunden heranmachte.
Paul wurde noch von mehreren anderen kleinen Jungen von unterschiedlicher Schmuddeligkeit und Hartnäckigkeit, von ein paar Männern und von einem guten Dutzend Frauen angegangen, von denen ihn die älteste trotz ihrer nackten Schultern und ihres rosa gepuderten Dekolletes unangenehm an seine eigene Oma Jonas erinnerte. Trotzdem deprimierte ihn die Parade der vielen Schnorrer nicht, die ihn um seine Dukaten erleichtern wollten (er entdeckte, daß er tatsächlich ein paar in einer Börse am Gürtel hatte), sie bereicherten lediglich das bunte Spektakel, gehörten mit hinein in das Schauspiel der Jongleure, Feuerschlucker und Akrobaten, der Quacksalber mit ihren Wundermitteln, der grauenhaft bis göttlich spielenden Musikanten (deren Einzelleistungen aber unabhängig von ihren Fähigkeiten im allgemeinen Gelärme untergingen), der Fahnen, der flackernden Lichter und der ihr Vergnügen suchenden venezianischen Bürger, einen nicht abreißenden Zug maskierter Gestalten in Gewändern aus glitzernden, edelsteinbesetzten Brokat- oder farbenprächtigen Samtstoffen.
Er ging weiter das ganze Dalmatinische Ufer hinunter – benannt nach den dort anlegenden Schiffen von der anderen Adriaseite, wie er sich dunkel erinnerte – und wollte gerade die berühmte Ponte della Paglia überqueren, die Strohbrücke, als er abermals jemanden an seinem Ärmel zupfen fühlte.
»Nettes Amüsement gefällig, Signore?« fragte eine kleine dunkle Figur, die unversehens an Pauls Seite aufgetaucht war. »Frauen?«
Paul blickte ihn kaum an – er hatte gelernt, daß es Zeitverschwendung war, auch nur zu antworten –, aber als ein Quartett weinseliger Soldaten über die Brücke getorkelt kam und Paul auf die Seite gedrängt wurde, spürte er ein Ziehen an seiner Börse. Er fuhr herum, stieß mit der Hand nach unten und klemmte das Handgelenk des Jungen mit seinem Arm ein. Der verhinderte Taschendieb wollte sich losreißen, aber Paul bekam auch seinen anderen Arm zu fassen, und eingedenk der Lektion von vorher hielt er den zappelnden und strampelnden Jungen außer Trittweite von seinen Schienbeinen weg.
»Laßt mich los!« Sein Gefangener verdrehte sich und versuchte, ihn ins Handgelenk zu beißen. »Ich hab doch gar nichts gemacht!«
Er riß den Jungen zurück und schüttelte ihn gründlich durch; als er aufhörte, hing der kleine Ganove schlaff in seinem Griff, mit finsterem Blick, aber leise schniefend.
Paul wollte ihn schon laufen lassen – und ihm vielleicht zu Erziehungszwecken noch einen Tritt in den Arsch geben –, als etwas in dem Gesicht ihn stutzen ließ. Ein Moment verging. Mehr Volk drängte vorbei, schob sich die Stufen der Brücke empor.
»Gally …?« Paul zerrte den widerstrebenden Jungen in den Lichtkreis einer Straßenlaterne. Die Kleidung war anders, aber das Gesicht war genau das gleiche. »Gally, bist du das?«
In dem Blick, den der Junge ihm zuwarf, verbanden sich Furcht und wieselflinke Berechnung: Seine Augen schossen hin und her, während er nach einer Ablenkung suchte, die ihm vielleicht zur Flucht verhelfen konnte. »Keine Ahnung, wen Ihr meint. Laßt mich laufen, Signore – bitte! Meine Mutter ist krank.«
»Gally, erkennst du mich denn nicht?« Da fiel Paul seine Maske ein. Er nahm sie ab, doch diese Sekunde, in der er das Handgelenk des Jungen losließ, nützte dieser aus, um abermals einen Fluchtversuch zu unternehmen. Paul ließ die Maske in den Schlamm fallen, erwischte den Jungen am Hemdzipfel und zog ihn wieder heran wie einen Fisch an der Angel. »Verdammt nochmal, bleib da! Ich bin’s – Paul! Gally, erinnerst du dich nicht mehr an mich?«
Sein Gefangener starrte ihn mit wilden, entsetzten Augen an, und Paul wurde auf einmal das Herz schwer. Es war ein Irrtum. Oder schlimmer noch, genau wie bei der geflügelten Frau war es ein Phantom, das ihn nur zusätzlich verwirrte und das Rätsel noch undurchdringlicher machte. Doch dann veränderte sich etwas in der Miene des Kindes.
»Wer seid Ihr?« fragte der Junge langsam. »Kenne ich Euch?« Sein träumerischer Ton klang, als ob ein Schlafwandler von Dingen erzählte, die er allein sehen konnte.
»Paul. Ich bin Paul Jonas!« Er merkte, daß er fast schrie, und blickte sich besorgt und betreten um, doch die feuchtfröhlich umtreibende Menge schien das kleine Drama, das sich am Fuß der Strohbrücke entspann, gar nicht zu bemerken. »Ich habe dich im Achtfeldplan getroffen. Dich und die andern Austernhausjungen – erinnerst du dich nicht?«
»Ich glaube … ich hab Euch schon mal gesehen. Irgendwo.« Gally beäugte ihn kritisch. »Aber an das, was Ihr sagt, kann ich mich nicht erinnern – na ja, ein klein wenig vielleicht. Und ich heiße nicht so, wie Ihr sagt.« Er zog versuchsweise gegen Pauls Griff an, doch der hielt eisern fest. »Ich werde hier Mohrchen genannt, weil ich aus Korfu bin.« Dieser Aussage folgte eine weitere Pause. »›Austernhaus‹, habt Ihr gesagt…?«
»Ja«, bestätigte Paul, ermutigt von der betroffenen, nachdenklichen Miene des Jungen. »Du sagtest, du und die andern, ihr wärt über den Schwarzen Ozean gekommen. Und du hast in diesem Wirtshaus gearbeitet – wie hieß es noch gleich? ›Traum des roten Königs‹ oder so ähnlich.« Paul fühlte sich plötzlich unwohl – es fielen zu viele Namen, die auch jemand anderem etwas sagen konnten, mitten in einem dichten Menschengewühl. »Hör zu, bring mich dorthin, wo du mich ursprünglich hinbringen wolltest – es ist mir egal, ob es ein Bordell ist. Irgendwohin, wo wir reden können. Ich werde dir nichts tun, Gally.«
»Mohrchen heiß ich.« Aber der Junge lief nicht weg, als Paul seine Hand losließ. »Na schön, dann kommt.« Er drehte sich um, trabte von der Brücke hinunter und huschte durch das Gedränge am Dalmatinischen Ufer wie ein Kaninchen durch hohes Gras. Paul beeilte sich, ihm zu folgen.
Sie bogen von der Uferpromenade ab und folgten einige Minuten lang einem der vielen Kanäle Venedigs tiefer in den Stadtteil Castello hinein, über steinerne Brückchen und durch schmale Straßen und noch schmälere Gassen, von denen manche kaum breiter waren als Pauls Schultern. Der Lärm und die Lichter des Dalmatinischen Ufers blieben hinter ihnen zurück, und bald war der Junge kaum mehr als ein Schatten, außer wenn er den Lichtschein unter einem Fenster oder vor einer offenen Tür passierte und einen Moment lang wieder Farbe und drei Dimensionen gewann. Plötzlich endete der Weg abrupt auf einer Seite des Wassers.
»Zur Zeit ist also Karneval?« fragte Paul atemlos, als er Gally oder Mohrchen eingeholt hatte, der wartend auf dem Pfeiler einer schmucken Brücke saß; das Gesicht eines steinernen Löwen guckte zwischen seinen Beinen hervor.
»Natürlich!« Der Junge legte den Kopf schief. »Wo seid Ihr her, daß Ihr das nicht mal wißt?«
»Nicht aus der Gegend. Aber du auch nicht, wenn du dich bloß erinnern wolltest.«
Der Junge schüttelte den Kopf, aber langsam, wie von Zweifeln geplagt. Gleich darauf wurde er wieder lebendig. »Heut abend geht’s hoch her. Aber Ihr hättet mal hier sein sollen, als die Meldung über die Türken kam. Da ging’s erst richtig rund! Dagegen ist das hier gar nichts.«
»Über die Türken?« Paul war mehr daran interessiert, seine Lungen zu füllen.
»Vor einem halben Jahr. Wißt Ihr nicht mal darüber Bescheid? Es gab eine gewaltige Schlacht auf dem Meer, an einem Ort mit so einem komischen Namen – ›Lepanto‹, glaub ich. Die größte Seeschlacht aller Zeiten! Und wir haben sie gewonnen. Ich glaube, die Spanier und noch ein paar andere haben ein wenig mitgeholfen. Der Befehlshaber Venier und die übrigen haben die türkische Kriegsflotte kurz und klein gehauen. Es heißt, es schwammen so viele Leichen im Wasser, daß man von Schiff zu Schiff hätte gehen können, ohne sich die Füße naß zu machen.« Er bekam vor ehrfürchtigem Staunen ganz runde Augen. »Sie schlugen dem türkischen Pascha den Kopf ab und steckten ihn auf einen Spieß, und als dann die ganze Flotte in die Lagune gesegelt kam, zogen sie die Flagge der Muselmanen und alle ihre Turbane im Wasser hinter sich her, und sie feuerten ihre Kanonen ab, bis alle dachten, die ganze Stadt würde im Meer versinken!« Der Bengel stieß mit den Fersen gegen die steinerne Brust des Löwen und gluckste vor Vergnügen. »Und da gab es das tollste Fest, das Ihr Euch vorstellen könnt, die ganze Stadt sang und tanzte. Sogar die Taschendiebe machten die Nacht blau – aber nur diese eine Nacht. Das Feiern ging viele Wochen lang!«
Pauls Belustigung über die blutdürstige Schilderung des Jungen verging plötzlich. »Vor einem halben Jahr? Aber du kannst noch nicht viel länger als ein paar Tage hier sein, Gally. Selbst wenn ich nicht richtig mitgekriegt hätte, wie die Zeit verging, könnten es höchstens zwei, drei Wochen sein. Ich war mit dir in dem Land hinter den Spiegeln – mit den Rittern und den Königinnen und dem Bischof Humphrey, weißt du noch? Und dann auf dem Mars, wo Brummond und die andern waren. Das ist noch gar nicht so lange her.«
Sein Führer sprang von dem Steinlöwen hinunter. »Ich weiß nicht, wovon Ihr redet, Signore. Die Namen, die Ihr sagt, die kenn ich alle nicht … glaub ich.« Er setzte sich wieder in Bewegung, aber diesmal langsamer. Paul folgte ihm.
»Aber wir waren Freunde, Junge. Weißt du das auch nicht mehr?«
Die kleine, schattenhafte Gestalt verfiel in Trab, als ob Pauls Worte wie ein Peitschenschlag gewirkt hätten. Dann wurde der Junge wieder langsamer und blieb stehen.
»Ihr macht Euch lieber davon, Signore«, sagte er, als Paul ihn einholte. »Geht wieder zurück.«
»Was soll das heißen? Warum?«
»Weil es dort gar keine Frauen gibt.« Er sah Paul nicht in die Augen. »Ich wollte Euch zu so Männern bringen, die ich kenne, nicht weit von der Rialtobrücke. Schlechte Männer. Aber jetzt will ich das nicht mehr. Ihr solltet also zurückgehen.«
Paul schüttelte überrascht den Kopf. »Aber dir war doch so, als könntest du dich erinnern. An die Zeit vorher, als wir zusammen waren.«
»Ich will nichts davon wissen! Geht einfach fort.«
Paul ging in die Hocke und faßte wieder das Handgelenk des Kindes, aber diesmal sanft. »Ich bilde mir das nicht ein. Wir waren Freunde – sind immer noch Freunde, hoffe ich. Ich schere mich nicht um irgendwelche Räuber.«
Der Junge sah schließlich auf. »Mir gefallen die Sachen nicht, die Ihr sagt. Sie … es ist wie ein Traum. Macht mir Angst.« Dies letzte murmelte er: »Wie könnt Ihr mein Freund sein, wenn ich Euch gar nicht kenne?«
Paul erhob sich, ohne das Handgelenk des Jungen loszulassen. »Ich verstehe es selber nicht. Aber es stimmt, und als ich dich voriges Mal verlor, hab ich mir schreckliche Vorwürfe gemacht. Als … als hätte ich besser auf dich aufpassen sollen. Das soll mir nicht nochmal passieren.« Er gab den Arm des Jungen frei. Es stimmte – vieles verstand er selber nicht. Wenn der Junge ein Replikant war, hätte er unmöglich seine ursprüngliche Simulation verlassen können, doch er war mit Paul aus der Welt hinter den Spiegeln zum Mars gekommen – und jetzt war er hier in Venedig. Aber wenn er ein richtiger Mensch war wie Paul, ein … wie war der Ausdruck nochmal? Wenn er ein Bürger war, dann hätte er eigentlich wissen müssen, wer er war. Er hatte seinerzeit beim Übergang zum Mars nicht alles vergessen, warum also jetzt? Wie Paul schien der Junge ein ganzes Stück seiner Vergangenheit verloren zu haben.
Noch eine verlorene Seele, dachte er. Noch ein Gespenst in der Maschine. Das Bild jagte ihm einen Schauder über den Rücken.
Er überlegte, ob er dem Jungen alles erklären sollte, was er wußte, aber ein Blick auf dessen erschrockenes Gesicht brachte ihn von der Idee ab. Es wäre zuviel und viel zu plötzlich. »Ich kenne die Antworten nicht«, sagte er laut. »Aber ich werde sie herausfinden.«
Zum erstenmal seit ihrem Zusammentreffen an der Brücke gewann Gally seinen frechen Gassenton zurück. »Ihr? Wie wollt Ihr hier irgendwas rausfinden? Ihr wußtet ja nicht mal, daß Karneval ist.« Er zog die Stirn kraus und lutschte an seiner Lippe. »Wir könnten die gute Frau in der Kirche fragen. Sie weiß viele Dinge.«
»Welche Frau?« Paul fragte sich, ob der Junge mit ihm zur Madonna beten wollte. Für das Venedig des fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhunderts wäre das eine ziemlich logische Art, das Problem anzugehen.
»Die Angebetete«, sagte Gally/Mohrchen, dann drehte er sich um und schlug wieder die Richtung ein, aus der sie gekommen waren.
»Wer?«
Der Junge schaute sich um. »Die Angebetete des Kardinals Zen. Kommt jetzt.«
Zu Pauls Überraschung führte der Junge ihn den ganzen Weg zurück bis zur Ponte della Paglia und dann über diese hinweg zu den berühmten Arkadengalerien des Dogenpalastes und des Markusplatzes. Die Karnevalsscharen drängten sich immer noch dicht am Kai und noch dichter auf dem Platz selbst.
Paul war überrascht, wie sehr ihn alles berührte: Die Piazza San Marco war ihm dermaßen vertraut von Urlaubsreisen, darunter eine Woche auf der Biennale mit einer Freundin gleich nach dem Studium (als er zum erstenmal im Leben gemeint hatte, auch er könne einmal ein romantisches Abenteuer von der Art haben, wie alle anderen sie offenbar ständig erlebten), daß die Illusion des Venedig von einst auf einmal nicht mehr wirkte. Es war fast unmöglich, den Palast, den Campanile und die Zwiebelkuppeln von San Marco anzuschauen – alle Gegenstand von tausend Kalendern und Postkarten und von ihm selbst bei seinem ersten Besuch ausgiebig fotografiert – und sich nicht in sein eigenes Jahrhundert versetzt zu fühlen, in dem Venedig ein beliebtes, aber belangloses Touristenmekka war, eher eine Art Vergnügungspark als eine einstige Reichshauptstadt.
Der Junge hatte offensichtlich nicht mit solchen Konflikten zu kämpfen. Leichtfüßig schlüpfte er zwischen den Feiernden hindurch, so daß Paul kaum hinterherkam und ihn einmal beinahe verloren hätte, als er einen scharfen Haken schlug, um nicht zwischen den beiden am Eingang zum Platz stehenden großen Säulen hindurchzumüssen.
Die Leiche eines Gehenkten, die zwischen den Säulen an einem Galgen baumelte – das Opfer einer öffentlichen Hinrichtung, die immer noch ein erbauliches Schauspiel für die Massen war –, holte Paul schlagartig wieder in diese Epoche der Repubblica Serenissima zurück. Selbst der Lichterglanz am Kai konnte das Gesicht des Mannes nicht erhellen, das ganz schwarz angeschwollen war. Paul erinnerte sich daran, wie kurios ihm auf seinem Stadtrundgang Dinge wie die Seufzerbrücke erschienen waren, eine geschlossene Brücke hoch über einem Kanal, über die einst Verbrecher aus den Zellen in die Gerichtssäle und wieder zurück geführt worden waren. Dieses Venedig hier war nicht kurios; es war real und rauh. Er nahm sich vor, das nicht zu vergessen.
»Wohin gehen wir, Gally?« fragte er, als er seinen Führer eingeholt hatte.
»Nennt mich nicht so – ich mag es nicht. Mein Name ist Mohrchen.« Der Junge verzog nachdenklich das Gesicht. »Zu dieser Nachtstunde dürfte es nicht allzu schwer sein reinzukommen.« Er trabte weiter, so daß Paul sein flatterndes Cape zusammenraffen und hinter ihm hereilen mußte.
Bewaffnete Wächter mit Piken und scharfgratigen Helmen standen vor dem Haupteingang zum Dogenpalast. Trotz des tollen Trubels ringsumher fand Paul, daß sie sehr wachsam aussahen, nicht im geringsten von ihren Pflichten abgelenkt. Der Junge lief an ihnen vorbei in den Schatten der Basilika und verschwand plötzlich hinter einer Säule. Als Paul vorbeikam, packte ihn eine kleine Hand und zerrte ihn in die Dunkelheit.
»Jetzt kommt der brenzlige Teil«, flüsterte der Junge. »Bleibt dicht bei mir, und macht keinen Lärm.«
Erst als sein kleiner Führer sich zwischen den Säulen davonstahl, begriff Paul, daß er vorhatte, in die Markusbasilika einzubrechen, das bedeutendste religiöse Bauwerk Venedigs.
»Lieber Gott«, murmelte er leise vor sich hin, eine hilflose Blasphemie.
Am Ende war es nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Der Junge führte ihn zu einer Treppe an einer Ecke der Kirche abseits der Piazza und der Menge. Mit Hilfe des von unten schiebenden Paul kletterte Gally an der Mauer neben der Treppe zu einem Fenster empor, das er aufstemmte; wenige Minuten später machte er wie ein Zauberlehrling unter der Treppe eine Tür auf, die Paul gar nicht bemerkt hatte.
Obwohl er sich der Gefahr, in der sie schwebten, deutlich bewußt war, hatte Paul sich noch genug Touristenerwartung bewahrt, um von dem dunklen Innern der Basilika enttäuscht zu sein. Gally führte ihn hastigen Schritts über lange Umwege durch die reichgeschmückten Nischen und Winkel der großen Kirche. Das Kerzenlicht reichte aus, um den Mosaiken auf den Fußböden und an den Wänden einen schwachen goldenen Glanz zu verleihen, aber ansonsten hätten sie genausogut in einem Lagerhaus oder einer Flugzeughalle sein können, wo haufenweise unkenntliche, seltsam geformte Dinge gehortet wurden.
Schließlich standen sie vor einem Bogen mit einem Behang davor. Der Junge gab ihm ein Zeichen, keinen Laut von sich zu geben, und steckte dann rasch den Kopf hindurch, um die Lage zu peilen. Zufrieden signalisierte er Paul, daß es sicher sei.
Die düstere Kapelle war ziemlich groß, aber nach dem gewaltigen, hallenden Hauptschiff davor wirkte sie recht intim. Der Altar, der unter einer Monumentalfigur der Madonna stand, war fast völlig mit Blumen und Votivkerzen zugedeckt. Vor dem Altar zeichnete sich gegen den flackernden Kerzenschein das Standbild einer vermummten Gestalt ab, etwas kleiner als lebensgroß.
»Hallo, Signora«, rief der Junge leise. Die kleinere Statue schaute sich nach ihnen um; Paul fuhr zusammen.
»Mohrchen!« Die Gestalt kam die Altarstufen herunter auf sie zu. Als sie vor ihnen stand und die Kapuze zurückwarf, reichte der Scheitel ihres Kopfes gerade an Pauls Brustbein. Sie trug ihre weißen Haare in einem festen Knoten am Hinterkopf, und ihre Nase war so krumm und vorstehend wie ein Vogelschnabel; nach dem, was Paul erkennen konnte, mochte sie ebensogut sechzig wie neunzig Jahre alt sein. »Welch glücklicher Wind?« fragte sie, was ein venezianischer Gruß zu sein schien, der keiner Antwort bedurfte, denn sie fügte sofort hinzu: »Wer ist dein Freund, Mohrchen?«
Paul nannte ihr seinen Namen, allerdings nur den Vornamen. Die Frau stellte sich ihrerseits nicht vor, aber lächelte und sagte: »Ich habe für heute meine Pflicht gegenüber dem Kardinal erfüllt. Laßt uns einen Wein trinken gehen – mit viel Wasser in deinem, Junge – und reden.«
Paul fiel ein, daß der Junge vorher etwas von einem Kardinal erwähnt hatte, und er fragte sich, für welche Pflichten dieser ihrer wohl bedürfe. Es war, als spürte sie seine Ratlosigkeit, denn als sie durch einen Seiteneingang der Kapelle in einen schmalen Gang hinaustraten, erklärte sie es ihm.
»Ich betreue die Kapelle des Kardinals Zen, müßt Ihr wissen, seine Gedenkkapelle. Normalerweise würde man das einer Frau nicht gestatten, doch ich habe … nun ja, ich habe Freunde, wichtige Freunde. Aber Mohrchen und seine Kumpane machen sich einen Witz daraus, mich Kardinal Zens Angebetete zu nennen.«
»Das ist kein Witz, Signora«, sagte der Junge verwirrt. »Alle nennen Euch so.«
Sie lächelte. Eine Weile und mehrere Ecken später öffnete sie eine von dem Gang abgehende Tür und ließ sie in eine Privatwohnung ein. Der Raum war überraschend groß und gemütlich. An den Wänden hingen Teppiche, die hohe Decke war kunstvoll mit religiösen Darstellungen bemalt, fein bestickte Kissen verbargen die niedrigen Liegen fast völlig, und in allen Vasen standen verblühende Rosen, deren abfallende Blütenblätter eben anfingen, sich auf den Tischen zu sammeln. Öllampen tauchten den Raum in ein weiches gelbes Licht. Auf Paul machte er den Eindruck eines erstaunlich üppigen, sehr weiblichen Refugiums.
Seine Reaktion mußte ihm anzusehen sein. Kardinal Zens Angebetete blickte ihn wissend an, dann verzog sie sich in ein Nebenzimmer und erschien gleich darauf wieder mit Wein, einem Krug Wasser und drei Pokalen. Sie hatte ihren Kapuzenumhang abgelegt und trug jetzt ein schlichtes, bodenlanges Kleid aus dunkelgrünem Samt.
»Habt Ihr einen Namen, mit dem ich Euch anreden kann, Signora?« fragte Paul.
»Ja, ich nehme an, die ständige Erwähnung des verstorbenen Kardinals wird langsam ein wenig lästig, nicht wahr? Nennt mich einfach Eleanora.« Sie schenkte allen Wein ein, den des Jungen reichlich mit Wasser verdünnt, wie sie angekündigt hatte. »Erzähl mir, was es Neues gibt, Mohrchen«, sagte sie, als das getan war. »Von allen meinen jungen Freunden«, erklärte sie Paul, »ist er der aufmerksamste Beobachter. Ich kenne ihn noch gar nicht lange, aber schon jetzt ist er es, der mich mit den besten Klatschgeschichten versorgt.«
Obwohl der Junge sich alle Mühe gab, ihrem Wunsch nachzukommen, und stockend ein paar Geschichten von Duellen und überraschenden Verlobungen und Gerüchten über das Treiben des einen oder anderen Senators zum Besten gab, gebot ihm Eleanora bald mit erhobener Hand zu schweigen.
»Du bist heute abend nicht bei der Sache. Sag mir, was los ist, Junge.«
»Er … er kennt mich.« Gally deutete auf Paul. »Aber ich kann mich nicht an ihn erinnern. Na ja, nicht so richtig. Und er redet von Orten, an die ich mich auch nicht erinnere.«
Sie richtete ihren klugen, festen Blick auf Paul. »Aha. Wer seid Ihr? Wieso meint Ihr ihn zu kennen?«
»Ich kenne ihn von woanders her. Nicht aus Venedig. Aber mit seinem Gedächtnis stimmt etwas nicht.« Ihre Augen machten ihn ein wenig beklommen. »Ich will ihm nichts Böses. Wir waren einst Freunde.«
»Mohrchen«, sagte sie, ohne den Blick von Paul zu nehmen, »geh in die Vorratskammer und hole noch eine Flasche Wein. Ich möchte die haben, auf die ein S gemalt ist – der Buchstabe, der wie eine Schlange aussieht.« Sie zeichnete ein S in die Luft.
Als der Junge in eines der anderen Zimmer der Wohnung fortgehuscht war, seufzte Eleanora und lehnte sich auf dem Diwan zurück. »Du bist also ein Bürger, nicht wahr?«
Paul war sich nicht sicher, wie sie den Ausdruck gebrauchte. »Möglicherweise.«
»Bitte.« Sie hob die Hand. »Keine Spielchen. Du bist ein richtiger Mensch. Ein Gast in der Simulation.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich ein Gast bin«, sagte er langsam. »Aber ich bin nicht bloß ein Stück Code, wenn du das meinst.«
»Ich auch nicht.« Ihr Lächeln war hart und kurz. »Und der Junge übrigens genausowenig, aber was er sonst sein mag, weiß ich nicht so recht. Erzähle mir, warum du ihm gefolgt bist. Mach rasch – ich will nicht, daß er es hört, und obwohl die Flasche, die ich ihn holen geschickt habe, ganz unten im Regal steht, wird er nicht ewig brauchen, bis er sie gefunden hat.«
Paul erwog die Risiken. Er wollte mehr über die sogenannte Angebetete des Kardinals wissen, aber er hatte keinen Spielraum, um zu taktieren. Sie konnte ein Mitglied der Gralsbruderschaft sein, wie Nandi die Gruppe genannt hatte, ja sie konnte gut und gern Jongleur selbst in anderer Gestalt sein, aber er hatte sich hierherbringen lassen, und das ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Wenn sie die Herrin dieser Simulation war, dann konnte sie wahrscheinlich mit ihm machen, was sie wollte, ob er vor ihr nun seine Karten offenlegte oder nicht. Einerlei von wie vielen Seiten er es betrachtete, letzten Endes war alles doch bloß ein Glücksspiel.
Aber ich treibe nicht mehr willenlos vor mich hin, erinnerte er sich.
»Na schön«, sagte er laut. »Ich gebe mich in deine Hände.« Er erzählte ihr, was er bereits Nandi Paradivasch erzählt hatte, aber in noch geraffterer Form. Er wurde einmal von dem völlig eingestaubten Gally unterbrochen, der sich von Eleanora bestätigen lassen wollte, daß es tatsächlich einen Wein mit einem S außen drauf gab und daß es eine der anderen ganz tadellosen Flaschen mit blauen Punkten oder gelben Ixen nicht genausogut täte. Als der Junge grummelnd wieder abgezogen war, schilderte Paul der Frau sein Zusammentreffen mit Nandi; er gab den Namen des Schivaiten nicht preis, aber berichtete ihr alles, was der Mann über den Gral und den Kreis gesagt hatte.
»… Wenn ich dächte, der Junge wäre nicht in Gefahr, würde ich ihn in Ruhe lassen«, schloß Paul. »Ich will ihm nicht noch mehr Leid zufügen. Aber irgendwelche Leute scheinen hinter mir her zu sein – glaub mir, ich habe keine Ahnung, warum –, und ich denke, wenn sie ihn statt meiner finden, werden sie … werden sie …«
»Dann werden sie ihn quälen, bis er ihnen alles sagt.« Sie zog verächtlich die Lippen kraus. »Mit Sicherheit werden sie das. Ich kenne diese Leute, oder wenigstens die Sorte.«
»Du glaubst mir also?«
»Ich glaube, daß alles, was du sagst, wahr sein könnte. Ob es tatsächlich wahr ist, muß ich erst überdenken. Wo würdest du den Jungen hinbringen, wenn er sich bereitfände, mit dir zu gehen?«
»Nach Ithaka – oder wenigstens meinte das der Mann vom Kreis. Dort würde ich das Haus des Irrfahrers finden.« Paul schwenkte den Bodensatz des Weines in seinem Becher. »Und wie, wenn ich fragen darf, hat es dich hierher verschlagen?«
Bevor sie antworten konnte, erschien Gally wieder, noch staubiger als vorher, und hielt triumphierend die Flasche mit dem Schlangenzeichen hoch.
»Gehen wir doch zur Kuppel hinauf«, schlug Eleanora plötzlich vor. »Es ist zwar ein ziemlicher Aufstieg, aber man hat dort einen herrlichen Ausblick.«
»Aber ich hab Euch doch grade den Wein gebracht!« Gally stotterte fast vor Entrüstung.
»Den nehmen wir mit und stoßen dort oben auf unser schönes Venedig an, mein liebes Mohrchen. Ich bin sicher, dein Freund Paul hat nichts dagegen, die Flasche zu tragen.«
Wenn es eine unauffällige Art gegeben hätte, eine große Flasche Wein eine steinerne Treppe hinunterzuwerfen, hätte Paul sich ungefähr bei der hundertsten Stufe liebend gern ihrer entledigt. Er war froh, daß er wenigstens sein Schwertgehänge unten gelassen hatte und nicht auch noch die lange Scheide von den Wänden abhalten mußte, während er die schmalen Stufen emporkeuchte. Gally sprang munter wie eine Bergziege voraus, und sogar Eleanora, die doppelt so alt sein mußte wie Paul, schien das Treppensteigen kaum etwas auszumachen. Paul fühlte sich an die Geländeläufe seiner Schulzeit erinnert – er strampelte sich als letzter ab, und keiner nahm auf ihn Rücksicht.
Von mir aus, schließlich ist es ihre Welt, dachte er grimmig, während er sich unter den immer niedriger werdenden Bögen duckte, die seinen beiden kleinen Gefährten keine Probleme bereiteten. Sie hat wahrscheinlich einen Antischwerkrafteffekt oder einen anderen Trick in ihren Sim eingebaut – oder wie diese Leute sonst dazu sagen.
Am Ende eines Aufstieges, der Stunden zu dauern schien, taumelte Paul auf einen schmalen Laufsteg hinaus. Kalte Luft wehte ihm um die Nase, als er unter sich auf die Wölbung der Himmelfahrtskuppel der Basilika blickte und ganz Venedig – im Augenblick kam es ihm vor wie die ganze Schöpfung – zu seinen Füßen funkeln sah.
»Auf der echten gibt es hier keinen Laufsteg«, flüsterte Eleanora ihm zu und klopfte kichernd auf das bauchhohe Geländer wie ein überaltertes Schulmädchen, das einen Streich eingestand. »Aber dafür lohnt es sich, ein klein wenig Authentizität zu opfern, nicht wahr? Schaut!« Sie deutete auf die am Kai an ihren Pfählen festgemachten Boote. »Da seht Ihr, warum ein französischer Gesandter den Großen Kanal einst ›die schönste Straße der Welt‹ nannte. Und geschäftig ist sie auch – das ganze Seereich der Republik nimmt hier von Sankt Markus seinen Ausgang. Wo ist diese Flasche?« Sie zog die Bleikapsel ab und tat einen herzhaften Schluck. »Schiffe fahren nach Alexandria, Naxos, Modon, Konstantinopel und Zypern und kommen zurück aus Aleppo, Damaskus und Kreta, den Laderaum voll mit unvorstellbar reichen Waren: Gewürze, Seide, Sklaven, Weihrauch und Orangen, Felle, exotische Tiere, Kunstschmiedearbeiten, Porzellan, Wein – Wein!« Sie hob abermals die Flasche. »Auf die durchlauchtigste Republik und ihren Meeresstaat!«
Als sie getrunken hatte, gab sie die Flasche an Paul weiter, der sich ihrem Trinkspruch anschloß, zwar nicht ganz mit ihrer Begeisterung, aber doch mit einer gewissen unwillkürlichen Ergriffenheit. Er ließ sogar Gally einen kleinen Schluck trinken, den dieser zum größten Teil wieder aushustete und -nieste, als er etwas davon in die Nase bekam.
»Als der blinde Doge Dandolo die Zerschlagung von Byzanz betrieb«, sagte Eleanora, »nahm er sich als Venedigs Anteil ›ein Viertel und ein halbes Viertel des ganzen Römischen Reiches‹. Ihr oder ich würden es vielleicht nicht ganz so steif ausdrücken, aber bedenkt einmal! Drei Achtel des größten Reiches, das die Welt bis dahin je gesehen hatte, in der Hand eines winzigen Staates von Kaufleuten und Seefahrern.«
»Hört sich an wie Großbritannien«, meinte Paul.
»Ha, aber das hier ist Venedig.« Eleanora schwankte ein ganz klein wenig. »Wir sind nicht wie Großbritannien, überhaupt nicht. Wir wissen, wie man sich anzieht, wir wissen, wie man liebt… und wir wissen, wie man kocht.«
Um der freundschaftlichen Beziehungen willen schluckte Paul den letzten Rest seines Nationalstolzes hinunter und spülte mit Wein nach. Eleanora wurde schweigsam, während sie die Flasche hin- und hergehen ließen, und ergötzte sich an dem Anblick. Obwohl es gegen Mitternacht ging, schaukelten immer noch die Laternen von etlichen hundert Booten auf dem Canal Grande wie im Wind tanzende Glutfünkchen. Jenseits des Kanals hatte jede der Inseln ihre eigenen Karnevalslichter brennen, aber dahinter lag nur noch das dunkle Meer.
Als sie wieder die Treppe hinuntermarschierten, blieb Eleanora vor einem der Fensterschlitze stehen, die einen Blick in das Innere der Basilika gewährten.
»Es sind ziemlich viele Leute da unten«, sagte sie nachdenklich. »Jemand aus der Familie des Dogen muß eine Messe lesen lassen.«
Paul war sofort beunruhigt. Er preßte sein Auge an die schmale Öffnung, aber außer ein paar schattenhaften Umrissen, die in einer der Kapellen verschwanden, konnte er nichts erkennen. »Ist das normal?«
»Aber ja doch. Ich hatte lediglich nichts davon gehört, aber das kommt vor.«
Nach einer halben Flasche oder mehr guten toskanischen Weines (und einer entsprechenden Wirkung, die nicht bloß virtuell zu sein schien) fühlte Paul sich kühn genug, um endlich zu fragen: »Welche Position bekleidet Ihr hier eigentlich?«
»Später.« Sie deutete mit einem Nicken auf Gally, der mehrere Schritte vor ihnen ging. »Wenn er schläft.«
Sie waren erst wenige Minuten wieder unten in Eleanoras Gemächern, als der Junge, der mit dem Rücken gegen den Diwan auf dem Fußboden saß, einzunicken begann. »Komm, Junge«, sagte die Frau. »Du schläfst heute nacht hier. Geh in das Zimmer dort hinten. Du kannst dich auf dem Bett langmachen.«
»Auf Eurem Bett?« Trotz seiner Müdigkeit war ihm bei dem Gedanken deutlich unwohl. »O nein, Signora. Das ist nichts für einen wie mich.«
Sie seufzte. »Dann kannst du dir in der Ecke ein Lager richten. Nimm dir ein paar Decken aus der Truhe.« Als er hinausgestolpert war, wandte sie sich Paul zu. »Ich wünschte, ich könnte dir Kaffee anbieten. Möchtest du Tee?«
»Information wäre mehr nach meinem Geschmack. Ich habe dir meine Geschichte erzählt. Wer bist du? Wirst du mich den Leuten ausliefern, die dies alles gebaut haben?«
»Ich kenne sie kaum.« Sie kreuzte auf dem Diwan mit beeindruckender Gelenkigkeit ihre Beine. »Und nach dem, was ich von ihnen weiß, würde ich nicht einmal meinen schlimmsten Feind in ihre Hände geben.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber du hast recht – ich sollte dir fairerweise etwas über mich erzählen.
Zum einen bin ich Venezianerin. Das ist wichtiger als das Jahrhundert, in dem ich geboren bin. Ich würde lieber in diesem Venedig leben und wissen, daß es nur schöner Schein ist, als in irgendeiner andern Stadt in der sogenannten wirklichen Welt. Wenn ich dies hier hätte bauen können, mit meinem eigenen Geld, dann hätte ich es auf der Stelle getan. Aber ich hatte kein Geld. Mein Vater war ein Stubengelehrter. Ich wuchs im Dorsoduro auf und kellnerte für Touristen, schwachsinnige Touristen. Dann lernte ich einen älteren Mann kennen, und er wurde mein Liebhaber. Er war sehr, sehr reich.«
Nachdem die Pause eine Weile gedauert hatte, beschlich Paul das Gefühl, daß er etwas fragen sollte. »Was hat er gemacht?«
»Ach.« Eleanora lächelte. »Er war ein sehr hohes Tier bei der Camorra, einer bekannten neapolitanischen kriminellen Vereinigung, wie es in den Nachrichtennetzen heißt. Drogen, Charge, Prostitution, Sklaverei, das war und ist ihr Geschäft. Und Tinto war einer der Bosse.«
»Klingt nicht gerade nach einem sehr angenehmen Zeitgenossen.«
»Spar dir deine Urteile!« sagte sie scharf, dann faßte sie sich wieder. »Man macht Kompromisse. Das tun wir alle. Meiner sah so aus, daß ich mich ahnungslos hielt, solange ich konnte. Aber nach einer Weile steckt man natürlich zu tief drin, um noch was zu ändern. Als Tinto der Gralsbruderschaft beitrat und ich sah, was für erstaunliche Dinge dort gemacht wurden, ließ ich mir von ihm diese Stadt bauen. Er tat es – bei seinem Reichtum war das ein Klacks für ihn. Für sich selbst bevölkerte er Pompeji aufs neue und baute einen Großteil des römischen Reiches wieder auf, von ein paar gräßlichen Abenteuerurlaubsparadiesen mit Spionen und Schnellbooten gar nicht zu reden. Aber sein sehnlichster Wunsch war es, ewig zu leben – Jupiter Ammon auf einem ehernen Thron zu werden, nehme ich an. Es machte ihm nichts aus, mir ein kleines Geschenk zu machen. Er zahlte hundertmal soviel, wie dieses Venedig kostete, an die Gralsbruderschaft, damit sie ihre Unsterblichkeitsmaschinen bauen konnten. Das alte Sprichwort lügt: Verbrechen zahlt sich doch aus.«
»Unsterblichkeitsmaschinen«, murmelte Paul. Nandi hatte also recht gehabt: Diese Leute wollten Götter werden. Er fand den Gedanken leicht widerlich, aber auch erregend – und beängstigend obendrein. Doch wie auch immer, was hatte er getan, daß derart mächtige und wahnsinnige Leute hinter ihm her waren?
»Aber spätestens da fing der Irrsinn an«, fuhr Eleanora fort. »Er tat alles, um sich so lange am Leben zu erhalten, bis die Sache perfekt lief – er war schon alt, als er auf die Bruderschaft stieß. Er bekam ein Organ nach dem andern ausgetaucht, Apparate zur Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen eingepflanzt, Flüssigkeiten aus einem Dutzend Laboren durch die Adern gepumpt, Bestrahlungen, künstliche Heilungszellen, alles. Er wollte um jeden Preis überleben, bis die Maschinen funktionierten und seine Investition sich auszahlte. Da bestach einer der andern Camorrabosse einen von Tintos ärztlichen Betreuern, und der schleuste eine besondere Rekombinante in sein System ein, einen speziell angefertigten Killervirus mit verzögerter Wirkung. Er erstickte an seinem eigenen Blut. Sein Körper verzehrte sich selbst. Ich war fünfzig Jahre lang seine Geliebte gewesen, aber ich kann nicht sagen, daß ich geweint habe.«
Sie stand auf und schenkte sich noch einen Wein ein. »Jetzt wohne ich hier wie ein Gast in einer Wohnung, deren Besitzer gestorben ist. Die Rechnungen sind bezahlt, auch wenn ich nicht weiß, für wie lange. Die Bruderschaft erhielt Milliarden von meinem Liebhaber, aber da er ihre Dienste nicht mehr in Anspruch nehmen kann, haben die Gralsleute bei dem Spiel die Nase vorn. Wenn es nach ihnen geht, können seine Verwandten sich ewig über den Nachlaß streiten. Mein Gott! Seine letzte Frau, die ganze Brut seiner Kinder – sie sind wie ein Schlangennest.«
Paul ließ diese Informationen in sich einsinken, während Eleanora ihren Wein mit ein wenig Wasser versetzte. »Weißt du irgendwas über einen Mann namens Jongleur – Felix Jongleur?« fragte er. »Er scheint es auf mich abgesehen zu haben.«
»Dann hast du nichts zu lachen, mein Freund. Er ist der Mächtigste von dem ganzen Klüngel, ein Mann, neben dem mein Tinto wie ein kleiner Schulhofschläger aussieht. Angeblich ist er an die zweihundert Jahre alt.«
»Das hat der Mann vom Kreis auch gesagt.« Er schloß die Augen, kurzzeitig überwältigt von der Aussichtslosigkeit seiner Lage. »Aber ich weiß nicht, warum er hinter mir her ist. Und ich komme einfach nicht aus diesen Simulationen raus.« Er machte die Augen wieder auf. »Du hast gesagt, daß Gally – Mohrchen – ebenfalls ein richtiger Mensch ist, aber du hast auch gesagt, darüber hinaus wärst du dir bei ihm nicht ganz sicher. Was sollte das heißen?«
Die Angebetete des Kardinals saugte an ihrer Unterlippe und überlegte. »Ich kann es schwer erklären, woher ich weiß, daß er ein Bürger ist. Ich weiß es einfach. Nachdem ich so viele Jahre schon in einer Simulation lebe, kann ich es, glaube ich, fast immer erkennen. Aber obwohl ich Mohrchen bis vor kurzem noch nie gesehen hatte, hat er voll ausgeprägte Erinnerungen an sein Leben hier.«
Paul runzelte nachdenklich die Stirn. »Wie kannst du dann sicher sein, daß er nicht wirklich von hier ist, das heißt, daß er nicht ein Rep ist, dem du vorher einfach noch nie begegnet warst? Gibt es eine Liste von Bürgern und Replikanten?«
»Ach, nein.« Eleanora lachte. »Nichts dergleichen. Aber er interessierte mich, deshalb zog ich ein paar Erkundigungen ein. Die Replikanten hier, nicht wahr, sind innerhalb dieser Simulation entstanden. Sie sind auf ihre Art wie richtige Menschen – sie haben Eltern und ein Zuhause und Vorfahren. Hebammen und Priester haben ihre Geburt mitbekommen, selbst wenn alles virtuell ist. Einiges von dem, was Mohrchen über seine Vergangenheit sagt, paßt, könnte also wahr sein. Aber andere Sachen halten der Nachprüfung nicht stand. Auf einer bestimmten Ebene weiß er genug über mein Venedig, um hier hingehörig zu erscheinen, aber er hat an diesem Ort keine wirklichen Wurzeln.« Sie leerte ihren Wein mit einem Schluck. »Aber was er auch sein mag, er ist ein guter Junge. Er ist in meinem Haus willkommen.«
»Wenn dein … wenn dein Liebhaber tot ist, dann mußt du doch hier befehlen.« Ein Gedanke nahm in ihm Gestalt an.
»Niemand befiehlt hier. Befiehlt ein Wildhüter über den Wald, bloß weil er vielleicht einen Hirsch schießt oder einen Wilderer vertreibt? Er läßt nicht die Bäume wachsen. Er bringt nicht den Vögeln das Nestbauen bei.«
Paul wedelte ungeduldig mit der Hand. »Ja, aber du mußt in der Lage sein, online und offline zu gehen, um nur ein Beispiel zu nennen. Könntest du mich dorthin zurückversetzen, wo … in das System, das mich hier eingespeist hat?«
Sie überlegte einen Moment. »Nein. Ich kann dich nicht in dein eigenes System zurückversetzen. Aber ich könnte dich aus der Simulation hinausbefördern. Soviel vermag ich.«
»Wo würde ich hinkommen?«
»Auf die Einsprungebene – die Plattformebene sagten Tintos Ingenieure glaube ich dazu. Das ist eine graue Leere, in der du unter verschiedenen Optionen wählen kannst.«
Pauls Herz klopfte sehr schnell. »Bring mich dorthin. Bitte. Vielleicht finde ich von dort irgendwie nach draußen oder bekomme wenigstens ein paar wirkliche Aufschlüsse.«
Eleanora blickte ihn eindringlich an. »Na gut. Aber ich komme mit.« Sie setzte sich in gerader Haltung auf ihrem Diwan hin und legte die Hand auf den Smaragdanhänger, den sie am Hals trug. Als ihre Finger die Kehle berührten, erstarrte ihr Körper. Paul blickte auf die unbewegte Gestalt; lange Sekunden vergingen. Sein Optimismus wich einer tiefen Niedergeschlagenheit.
Als beinahe eine Minute verstrichen war, erwachte Eleanora mit einem Zucken wieder zum Leben. »Es klappt nicht.« Sie war deutlich überrascht. »Du bist nicht mitgekommen.«
»Das hab ich gemerkt«, sagte er traurig. »Aber du warst da?«
»Natürlich.« Sie setzte sich vor. »Wir werden Tinto fragen. Aber laß mich zuerst nach dem Jungen schauen.« Sie erhob sich und schlüpfte durch einen Türbehang in das hintere Zimmer. Paul blieb ziemlich verdattert sitzen.
»Was meinst du damit, du willst Tinto fragen?« platzte er heraus, als sie wiederkam. »Ich dachte, er ist tot.«
»Ist er. Folge mir.« Sie führte Paul, der sich jetzt gar nicht mehr auskannte, aus ihren Gemächern und durch den dunklen Gang zurück, wobei sie ihm mit einem Finger auf den Lippen Schweigen gebot. Leises Stimmengemurmel drang aus der Kapelle auf der anderen Seite der Basilika, undeutliche Gesprächsfetzen, die durch den riesigen, hallenden Raum trieben. Pauls Gefühl der Niederlage hatte sich verschlimmert. Die würgende Gewißheit, daß er niemals entkommen würde, stieg in ihm auf, und er mußte sich zusammenreißen, um nicht in Panik zu verfallen.
Eleanoras kleine, schattenhafte Gestalt betrat vor ihm den Raum, in dem er sie zum erstenmal gesehen hatte, Kardinal Zens Kapelle. »Er ist ein fieser, alter Mistkerl, mein Tinto«, sagte sie leise. »Das ist einer der Gründe, weshalb ich nicht möchte, daß der Junge zufällig hereingeschneit kommt.«
Paul versuchte, die Angst lange genug zurückzudrängen, um sich zu konzentrieren. »Könntest du mir bitte erklären …?«
Ihr Lächeln war sardonisch. »Tinto ist tot. Aber in seinem letzten Jahr wollten sie ihn so präparieren, daß er die ganze Zeit über im System leben konnte. Frag mich nicht, wie – ich wollte mit solcher Leichenfledderei nichts zu tun haben. Sie machten, was weiß ich, sowas wie eine Kopie von ihm. Aber sie war fehlerhaft. Die Anlage funktionierte nicht richtig, oder sie wurden mit der Kopie nicht fertig. Nochmal, frag mich nicht, denn ich weiß es nicht. Aber man kann über sein System darauf zugreifen. Ich lasse sie hier nur … erscheinen oder so.« Sie machte eine ausladende Handbewegung. »Der Gedanke, sie hier frei herumlaufen zu haben, wäre mir unerträglich. Du wirst gleich sehen, was ich meine.«
»Ist sie … er … es eine Person?«
»Gleich.« Sie trat vor und wies auf die vor dem Altar stehenden Stühle. »Setz dich dorthin. Es ist besser, wenn er dich nicht bemerkt.«
Paul setzte sich. Er erwartete, daß Eleanora etwas Kompliziertes machen würde – eine Beschwörung singen oder vielleicht sogar, wenn es moderner sein sollte, ein paar verborgene Knöpfe drücken –, aber statt dessen bestieg sie lediglich die Stufen vor dem Altar und sagte: »Tinto, ich will mit dir reden.«
Es gab ein Flackern auf dem Altar, dann murmelte eine leise Stimme Worte, die Paul nicht verstehen konnte. Die Lautstärke schwoll unvermittelt an, aber aus dem, was gesagt wurde, wurde er immer noch nicht schlau.
»Ach, das habe ich vergessen.« Eleanora wandte sich Paul mit einem eigenartig angestrengten Lächeln zu. »Außer Tinto läuft hier alles durch Übersetzungssoftware. Ich nehme an, du bist kein Spezialist für neapolitanische Dialekte, nicht wahr?« Sie bewegte die Hand, und gleich darauf krächzte verständliches Englisch aus dem flackernden Licht auf dem Altar.
»Wie lange lieg ich hier schon auf diesem Tisch? Verdammt nochmal, ich hab euch Idioten doch gesagt, daß ich heute noch was zu tun hab. Holt mich hier runter, oder ich reiß euch die Eier ab.«
»Tinto.« Eleanora hob wieder die Hand. »Tinto, kannst du mich hören?«
Der Lichtschein auf dem Altar wurde stärker, bis Paul den Kopf und die Schultern des toten Mannes sehen konnte, der Eleanoras Liebhaber gewesen war. Seine groben Züge waren altersschlaff; sein Kopf wackelte. Unter einer Nase, die offensichtlich mehrmals gebrochen war, hing ein dichter, schmieriger Schnurrbart, der unnatürlich schwarz gefärbt war, wie die Haare auch. Die untere Hälfte seines virtuellen Körpers war völlig von dem sargförmigen Altar verborgen, so daß er wie eine Leiche wirkte, die sich mitten in ihrer eigenen Totenfeier aufgesetzt hatte.
Tinto flimmerte ein wenig, seine Auflösung war schlecht. Paul konnte durch seine Brust hindurch die Kerzen sehen. »Eleanora? Was machst du denn hier? Hat Maccino dich angerufen?«
»Ich wollte dir bloß ein paar Fragen stellen.« Eleanoras leicht zittrige Stimme deutete darauf hin, daß sie bei der ganzen Angelegenheit nicht so kaltblütig war, wie sie Paul glauben gemacht hatte. »Kannst du mir ein paar Fragen beantworten?«
»Wo zum Teufel bin ich?« Der Geist, oder was es sonst war, hob zwei schwielige Fäuste hoch und rieb sich die Augen. Einen Moment lang verzerrte er sich und wurde so schmal, daß er fast verschwand, dann sprang er in seine ursprüngliche Form zurück. »Meine Beine tun weh. Ich fühl mich beschissen. Diese Ärzte – die taugen nichts, eh? Hat Maccino dich angerufen? Ich hab ihm gesagt, er soll dir Blumen schicken, schöne Rosen, wie du sie magst. Hat er dich angerufen?«
»Ja, Tinto. Ich habe die Blumen bekommen.« Eleanora blickte einen Moment weg, dann wandte sie sich wieder dem Altar zu. »Erinnerst du dich an mein Venedig? Die Simulation, die du für mich bauen ließt?«
»Wie nicht? Hat ja genug gekostet.« Er zupfte an seinem Schnurrbart und schaute sich um. »Wo bin ich? Irgendwas… irgendwas stimmt nicht mit diesem Raum.«
»Was muß ich tun, wenn ich nicht offline gehen kann, Tinto? Was mache ich, wenn es nicht funktioniert und ich nicht rauskomme?«
»Haben diese Saftärsche Scheiße gebaut?« Er blickte grollend, ein zahnloser Tiger. »Ich reiß ihnen die Eier ab. Was soll das heißen, du kannst nicht offline gehen?«
»Sag’s mir einfach. Was kann ich tun?«
»Ich versteh’s nicht.« Plötzlich sah er aus, als wollte er weinen. Sein knochiges Gesicht wurde um Augen und Mund herum runzlig, und er schüttelte den Kopf wie einer, der wach zu werden versucht. »Verdammt, meine Beine tun weh. Wenn du auf dem normalen Weg nicht rauskommst, Eleanora, gehst du einfach zu Fuß raus. Sieh zu, daß du auf das Territorium von jemand anders kommst und sein Gear benutzt. Fahr den Kanal runter – du kannst immer auf dem Fluß in die nächste Welt gelangen. Entweder das oder… laß mich nachdenken, Venedig … klar, du gehst zu den Kreuzherren oder zu den Juden.«
»Eine andere Art, offline zu gehen, fällt dir nicht ein? Eine direktere?«
Er fixierte sie, um sie besser erkennen zu können. »Eleanora? Hast du die Blumen bekommen? Tut mir leid, daß ich nicht selber kommen konnte, Mädel. Sie halten mich in diesem Scheißkrankenhaus fest.«
»Ja«, sagte sie langsam. »Ich habe die Blumen bekommen.« Sie tat einen langen, tiefen Atemzug, dann hob sie die Hand. »Gute Nacht, Tinto.«
Das Bild wackelte einmal, dann verschwand es.
Als Eleanora sich zu Paul umdrehte, waren ihre Kiefernmuskeln angespannt, ihr Mund ein dünner Strich. »Er fragt immer nach den Blumen. Er muß an sie gedacht haben, als die Kopie gemacht wurde.«
»Aber du hast sie bekommen – die Blumen?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht mehr.« Sie zuckte mit den Achseln, dann wandte sie sich ab, als wollte sie nicht mehr von Paul angeguckt werden. »Gehen wir zurück. Manchmal ist er brauchbarer als zu andern Zeiten – heute abend war er leider keine große Hilfe.«
Im Gang blieb Eleanora plötzlich stehen und zog Paul in den Schatten an der hinteren Wand. Durch den Bogen gegenüber auf der anderen Seite der Basilika kam gerade eine ernst blickende Gruppe von Männern aus einer der Kapellen, einer hinter dem anderen. Sie hatten schwere Gewänder an, und jeder trug eine Kette um den Hals, in der Paul eine Art Amtszeichen vermutete.
»Das ist der Rat der Zehn!« Trotz ihres fast unhörbaren Flüsterns klang sie sehr überrascht. »Ich kann mir nicht vorstellen, was die Ratsherren zu dieser Nachtstunde hier machen.« Sie nahm seinen Arm und zog ihn den Gang entlang. Wenige lautlose Schritte, und sie hatten einen anderen Bogen erreicht, der mit einem Teppich verhängt und vom Hauptschiff aus nicht einzusehen war. Sie lugte hinter dem Behang hervor und winkte dann Paul. »Das sind die eigentlichen Regenten von Venedig – die Männer, die jedes Vergehen verfolgen«, wisperte Eleanora.
Paul beobachtete mit wachsendem Unbehagen, wie die Gruppe vor dem Kapelleneingang stehenblieb und sich leise unterredete. Seine Panik von vorher kehrte zurück, jetzt noch stärker. Wie konnte Eleanora über etwas nicht Bescheid wissen, das sich in ihrer eigenen Simulation abspielte? Sein Magen verkrampfte sich, und seine Haut wurde kalt. Er hatte plötzlich das Gefühl, daß er weglaufen sollte, so schnell er konnte, ganz gleich in welche Richtung.
Der letzte des Zehnerrats trat aus der Kapelle, gefolgt von Nummer elf und zwölf. Im Unterschied zu den anderen waren diese beiden in schlichte dunkle Kapuzengewänder gekleidet. Einer war außerordentlich groß und breit. Der andere wirkte ungewöhnlich dünn, auch wenn das wegen des lockeren Gewandes schwer zu erkennen war.
Der Schmächtige sagte etwas, und die ihm am nächsten stehenden Ratsherren schüttelten die Köpfe; es sah mehr nach einem ängstlichen Beschwichtigungsversuch als nach echtem Einvernehmen aus.
»O Gott.« Paul zitterten die Knie. Er hielt sich an der Wand fest, um nicht umzufallen. »O Gott, sie sind da.« Die Worte waren kaum mehr als ein Murmeln – womöglich hatte nicht einmal Eleanora neben ihm sie gehört –, aber Paul in seiner Angst kam es so vor, als schrillten und hallten sie durch das hohe, düstere Gewölbe. Sein pochendes Herz fühlte sich in seiner Brust wie eine Trommel an, die verkündete: Hier bin ich!
Im Hauptschiff drehten sich zwei vermummte Köpfe gleichzeitig in seine Richtung und spähten in die Dunkelheit wie Bluthunde, die die Witterung der Beute aufnehmen. Jetzt sah er, daß sie beide Karnevalsmasken aufhatten, nackte weiße Gesichter, die wie Totenschädel aus den dunklen Kapuzen herausschauten. Der Dünne trug die Maske der Tragödie, und sein dicker Gefährte zeigte das leere grinsende Gesicht der Komödie.
Der Puls klopfte so heftig in seinem Kopf, daß Paul ohnmächtig zu werden meinte. Er streckte die Hand nach der Frau neben sich aus, aber sie war nicht da. Die Angebetete des Kardinals hatte ihn alleingelassen.
»Ja, wir wissen, daß du hier bist, Jonas«, rief die Stimme, die einmal Finch gehört hatte. Die Worte wehten ihn an wie Giftgas. »O ja. Wir können dich riechen, und wir können dich hören – und jetzt werden wir dich fressen.«