Kapitel

 

Im Zentrum des Labyrinths

 

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Eleusis

(Bild: fröhliche, gutgekleidete Menschen auf einer Party, in Zeitlupe)

Off-Stimme: »Eleusis ist der exklusivste Club der Welt. Wer bei uns Mitglied ist, für den gibt es keine verschlossenen Türen mehr.«

(Bild: ein schimmernder, breitbartiger Schlüssel auf einem Samtkissen, von einem Lichtstrahl beschienen)

»Der Besitzer eines Eleusis-Schlüssels wird mit Speisen und Getränken, Diensten und Vergnügungen verwöhnt, von denen normale Sterbliche nur träumen können. Und alles kostenlos. Wie du dem Club beitreten kannst? Gar nicht. Wenn du jetzt gerade zum erstenmal von Eleusis hörst, kannst du mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß du es niemals zum Mitglied bringen wirst. Unsere Standorte sind geheim und exklusiv, und unsere Mitgliedschaft ebenso. Warum wir werben? Weil es nur halb soviel Spaß macht, das Allerbeste vom Besten zu haben, wenn niemand anders etwas davon weiß …«

 

 

> Während er sich einmal mehr an die Oberfläche eines Flusses emporarbeitete, war sein erster Gedanke: Langsam habe ich das satt.

Sein zweiter, als sein Kopf durch das Wasser stieß, war: Wenigstens ist es hier wärmer.

Wasser tretend stellte Paul fest, daß ein dunkelgrauer Himmel über ihm hing. Das ferne Flußufer war nebelverschleiert, aber nur wenige Meter entfernt, wie vom Drehbuchautor einer Abenteuerserie für Kinder dort hingesetzt, schaukelte ein leeres Ruderboot. Er schwamm gegen die Strömung darauf zu, die trotz ihrer Sanftheit für seine erschöpften Muskeln schon beinahe zu stark war. Als er das Boot erreichte, klammerte er sich an der Seite fest, bis er zu Atem gekommen war, und kraxelte dann mühsam hinein, wobei er es zweimal fast zum Kentern brachte. Als er es endlich geschafft hatte, legte er sich in die flache Pfütze auf dem Boden und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.

 

Er träumte von einer Feder, die im Schlamm glitzerte, tief unten im Wasser. Er schwamm darauf zu, aber der Grund wich zurück, so daß die Feder immer qualvoll unerreichbar blieb. Der Druck wurde stärker, preßte seine Brust wie mit Riesenhänden zusammen, und jetzt merkte er auf einmal, daß, während er die Feder suchte, jemand anders ihn suchte – zwei Jemande, deren Augen selbst in den trüben Tiefen funkelten und die ihn unerbittlich jagten, und dabei entschwand ihm die Feder immer mehr und wurde das Wasser immer dunkler und dichter…

 

Stöhnend wachte Paul auf. Der Kopf tat ihm weh. Eigentlich nicht verwunderlich, wenn er bedachte, daß er sich gerade einen Weg durch einen verschneiten eiszeitlichen Wald gebahnt und eine Hyäne von der Größe eines jungen Kaltblutpferdes abgewehrt hatte. Er suchte seine Hände nach Anzeichen von Erfrierungen ab, fand aber keine. Noch erstaunlicher war, daß er auch keine Spur seiner eiszeitlichen Bekleidung fand. Er war modern gekleidet, wenn auch schwer festzustellen war, wie modern genau, da seine dunkle Hose und Weste und sein kragenloses weißes Hemd noch triefend naß waren.

Paul richtete seinen schmerzenden Körper auf, und dabei stieß seine Hand an ein Ruder. Er nahm es und sah sich nach dem zweiten um, damit er in beide leere Dollen eines stecken konnte, aber es gab nur das eine. Er zuckte mit den Achseln. Immer noch besser als gar kein Ruder…

Die Sonne hatte den Nebel ein wenig vertrieben, aber war weiterhin nur ein ortloses Licht irgendwo hinter dem Dunstschleier. Paul konnte jetzt die undeutlichen Umrisse von Gebäuden auf beiden Seiten erkennen und vor allen Dingen die schattenhafte Gestalt einer Brücke, die ein kurzes Stück vor ihm den Fluß überspannte. Er starrte sie an, und sein Herz begann schneller zu schlagen, diesmal jedoch nicht aus Furcht.

Das gibt’s nicht… Er kniff die Augen zusammen, stemmte sich mit beiden Händen auf den Bug des Bootes und beugte sich so weit vor, wie er sich traute. Das ist sie… aber das gibt’s nicht… Er paddelte mit seinem einen Ruder los, zuerst noch ungelenk, dann immer geschickter werdend, so daß das Boot nach einem Weilchen aufhörte, hin und her zu schaukeln.

O lieber Gott. Paul brachte es fast nicht über sich hinzuschauen, weil er Angst hatte, die Brücke könne jeden Moment vor seinen Augen verzittern und sich in etwas anderes verwandeln. Aber sie ist es wirklich. Die Westminster Bridge!

Ich bin zuhause!

 

Die Erinnerung an das Gespräch erfüllte ihn heute noch mit Peinlichkeit. Er und Niles und Niles’ damalige Freundin Portia, eine dünne junge Frau mit einem scharfen Lachen und wachen Augen, die Jura studierte, hatten in einem der Pubs in der Nähe der Uni einen getrunken. Dann war noch jemand zu ihnen gestoßen, einer aus Niles’ unüberschaubarer Heerschar von Freunden. (Niles sammelte Freunde, wie andere Leute Gummibänder oder Briefmarken auf Reserve legten, schließlich, pflegte er zu bemerken, wisse man nie, wann man mal einen brauche.) Der neu Hinzugekommene, dessen Gesicht und Namen Paul längst vergessen hatte, war eben von einer Reise nach Indien zurückgekehrt und verbreitete sich ausführlich über die wahnsinnige Schönheit des Tadsch Mahal bei Nacht: Es sei das vollkommenste Bauwerk aller Zeiten, und überhaupt sei seine architektonische Vollkommenheit mittlerweile auch wissenschaftlich bewiesen.

Portia ihrerseits erklärte, der schönste Fleck auf Erden sei ohne Zweifel die Dordogne in Frankreich, und wenn sie bei diesen gräßlichen Familien in elektrischen Campingwagen mit PSATs auf dem Dach nicht so beliebt geworden wäre, würde niemand es wagen, diese Tatsache in Frage zu stellen.

Niles, in dessen Familie von jeher viel gereist wurde – so viel, daß sie das Wort »reisen« so wenig gebrauchten, wie ein Fisch es nötig hätte, von »schwimmen« zu reden –, vertrat die Ansicht, daß es völlig witzlos sei, das Gespräch fortzuführen, solange nicht alle Anwesenden das karge Hochland des Jemen gesehen und die ehrfurchtgebietende, herbe Schönheit der Gegend erlebt hätten.

Paul hatte einen Gin Tonic geschlürft, nicht seinen ersten, und nach Gründen dafür geforscht, warum die Limone manchmal oben blieb und manchmal auf den Grund sank, und ebensosehr nach Gründen dafür, warum er sich im Zusammensein mit Niles, einem der nettesten Menschen, die er kannte, immer wie ein Hochstapler fühlte, als der Fremde (der vermutlich damals einen Namen besessen hatte) ihn nach seiner Meinung gefragt hatte.

Paul hatte einen Schluck der schwach bläulichen Flüssigkeit genommen und geantwortet: »Der schönste Fleck auf Erden ist meiner Meinung nach die Westminster Bridge bei Sonnenuntergang.«

Nach dem Ausbruch ungläubigen Gelächters hatte Niles, wohl um seinem Freund aus der peinlichen Lage zu helfen, nach Kräften den Eindruck zu erwecken versucht, daß Paul sich einen köstlichen Scherz auf ihrer aller Kosten mache. Und peinlich war seine Lage in der Tat gewesen: Portia und der andere junge Mann hielten ihn offensichtlich für einen Trottel. Er hätte genausogut das Wort »Hinterwäldler« auf der Stirn tätowiert haben können. Aber es war ihm ernst gewesen, und statt geheimnisvoll zu lächeln und den Mund zu halten, hatte er sich bemüht, Gründe dafür anzuführen, und es damit natürlich nur noch schlimmer gemacht.

Niles hätte dasselbe sagen können und es entweder als einen brillanten Witz hingestellt oder die These so klug vertreten, daß die anderen am Schluß heiße Tränen in ihren Merlot vergossen und ewige Vaterlandstreue gelobt hätten, aber Paul hatte noch nie so geschickt mit Worten jonglieren können, schon gar nicht, wenn ihm etwas wichtig war. Er hatte zunächst gestottert, dann konfuses Zeug geredet und war zum Schluß so wütend geworden, daß er abrupt aufstand – und dabei unabsichtlicherweise sein Glas umstieß – und unter den schockierten Blicken der anderen aus dem Pub stürmte.

Niles zog ihn noch hin und wieder mit dem Vorfall auf, aber sein Gewitzel war harmlos, als spürte er, auch wenn er es nie wirklich verstehen konnte, wie qualvoll die Sache für Paul gewesen war.

Aber es stimmte, hatte er damals gedacht und dachte er jetzt wieder, daß die Brücke das Schönste war, was er kannte. Wenn die Sonne tief stand, schienen die Gebäude am Nordufer der Themse von innen her feurig zu leuchten, und es erstrahlten selbst diejenigen, die in den gelegentlichen und für viele der neueren Londoner Baumaßnahmen typischen Anwandlungen von Geschmacklosigkeit in die Höhe geschossen waren, im Glanz der Ewigkeit. Das war England, genau das, alles, was es jemals war, alles, was es jemals sein konnte. Die Brücke, die Parlamentsgebäude, die gerade noch sichtbare Westminster Abbey, sogar Cleopatra’s Needle und die kauzigen viktorianischen Lampen am Embankment – alle waren so lächerlich, wie es nur ging, so hohl und aufgeblasen, wie die menschliche Phantasie sie nur aushecken konnte, aber zugleich auch das Zentrum von etwas, das Paul zutiefst bewunderte, aber nie ganz definieren konnte. Und obwohl nationalistische Gefühlsduseligkeit das Bild weitgehend entwertet hatte, besaß sogar der berühmte Glockenturm von Big Ben eine Schönheit, die ebenso zierlich wie atemberaubend schroff war.

Aber so etwas konnte man nicht nach dem dritten Gin Tonic Leuten wie Niles’ Freunden erklären, die bewaffnet mit der unerschütterlichen Ironie einer Privatschulbildung durch eine Erwachsenenwelt sausten, die ihnen noch keinerlei bremsende Verantwortung aufgebürdet hatte.

Doch wenn Niles dort gewesen wäre, wo Paul gerade herkam, erlebt hätte, was Paul erlebt hatte, und in diesem Moment die Brücke sehen könnte – das liebe, alte Ding, wie es da völlig unverhofft dem Nebel entstieg –, dann würde gewiß selbst Niles (Sohn eines Abgeordneten und inzwischen selbst ein aufsteigender Stern im diplomatischen Dienst, ein Weltmann vom Scheitel bis zur Sohle) auf die Knie sinken und ihre steinernen Pfeiler küssen.

 

Das Schicksal gab sich mit der Wunscherfüllung doch nicht so großzügig, wie es zunächst den Anschein machte. Die erste Enttäuschung – und die kleinste, wie sich herausstellte – war, daß die Sonne in Wirklichkeit gar nicht unterging. Während Paul wie besessen von der Idee, am Victoria Embankment anzulegen, weiterpaddelte, statt gleich das Ufer an einer weniger verheißungsvollen Stelle anzusteuern, wurde die Sonne schließlich sichtbar, oder wenigstens wurde die Himmelsrichtung, aus der sie schien, ein wenig konkreter: Sie stand im Osten und war am Aufgehen.

Früher Morgen also. Egal. Er würde wie geplant am Embankment an Land klettern, bestimmt von gaffenden Touristen umringt, und zum Charing Cross spazieren. Er hatte kein Geld in den Taschen, deshalb mußte er es wohl als Bettler versuchen, einer der Leute mit einer obligatorischen Leidensgeschichte, der die Angebettelten kaum zuhörten; sie entrichteten ihren Tribut, um so schnell wie möglich zu entkommen. Wenn er das Geld für eine U-Bahn-Fahrt beisammen hatte, wollte er heimfahren nach Canonbury. Eine Dusche bei sich zuhause, mehrere Stunden wohlverdienten Schlaf, und dann konnte er zur Westminster Bridge zurückkehren und den richtigen Sonnenuntergang betrachten und dem Himmel danken, daß er durch das chaotische Universum zurückgefunden hatte ins herrliche, vernünftige London.

Die Sonne stieg ein wenig höher. Mit ihr kam ein Wind von Osten auf, der einen höchst unangenehmen Geruch mit sich brachte. Paul rümpfte die Nase. Seit zweitausend Jahren war dieser Fluß das Lebensblut Londons, und die Leute behandelten ihn immer noch mit der gleichen ignoranten Achtlosigkeit wie ihre primitivsten Vorfahren. Es roch nach Kloake und Industrieabwässern – dem säuerlichen Fleischgestank nach zu urteilen, gab es sogar Einleitungen aus der Lebensmittelproduktion –, doch selbst die widerlichsten Ausdünstungen änderten nichts an seiner unendlichen Erleichterung. Dort zur Rechten stand der Cleopatra’s Needle genannte Obelisk, eine schwarze Silhouette im Nebel, der immer noch am Flußufer hing, hervorgehoben von einem großflächigen Beet knallroter Blumen, die in der Brise flatterten. Das überall leuchtende Scharlachrot deutete darauf hin, daß die Gärtner tüchtig zu arbeiten gehabt hatten. Paul war beruhigt. Vielleicht war heute ein Feiertag, und es gab irgendeine Zeremonie am Trafalgar Square oder am Cenotaph, dem Ehrenmal für die Gefallenen der Weltkriege – er hatte schließlich keine Ahnung, wie lange er fort gewesen war. Vielleicht war das Gebiet um das Parlament herum abgesperrt worden, das Ufer machte wirklich einen sehr stillen Eindruck.

Dieser Gedanke, der, kaum gefaßt, schon einen düsteren Ton annahm, zog sogleich eine zweite Überlegung nach sich. Wo war der Schiffsverkehr? Selbst am Volkstrauertag oder einem ähnlich bedeutenden Feiertag würden auf dem Fluß Frachter fahren, oder etwa nicht?

Er blickte nach vorn auf den fernen, aber langsam größer werdenden Umriß der Westminster Bridge, trotz des Nebelschleiers unverkennbar, und auf einmal kam ihm eine noch erschreckendere Erkenntnis. Wo war die Hungerford Bridge? Wenn das, was da rechts von ihm in Sicht kam, das Victoria Embankment war, dann mußte die alte Eisenbahnbrücke eigentlich unmittelbar vor ihm sein. Er hätte genau jetzt direkt darauf schauen müssen.

Er lenkte das Ruderboot aufs Nordufer zu und spähte angestrengt. Er konnte die Kontur eines der berühmten delphinumwundenen Laternenpfähle aus dem Nebel auftauchen sehen, und abermals fiel ihm ein Stein vom Herzen: Es war das Embankment, keine Frage.

Der nächste Laternenpfahl war umgebogen wie eine Haarnadel. Alle übrigen waren fort.

Zwanzig Meter vor ihm ragte das, was auf dieser Seite von der Hungerford Bridge übriggeblieben war, aus einem Haufen von Betontrümmern hervor. Die Eisenträger waren verdreht worden, bis sie sich wie Lakritzstangen gedehnt hatten und dann gerissen waren. Darüber stand ein abgebrochener Gleisstreifen heraus, verkrumpelt wie ein Stück Bonbonpapier.

Pauls Kopf fühlte sich an wie ein dunkler Strudel, in dem kein Gedanke sich länger als einen Sekundenbruchteil halten konnte, da ließ die erste große Welle das Ruderboot in die Höhe steigen und wieder sinken. Erst als die zweite, dritte und vierte Welle kam, jede größer als die davor, riß Paul schließlich die Augen von dem erbarmungswürdigen Nordstumpf der Brücke los und blickte flußabwärts. Etwas war soeben unter der Westminster Bridge durchgekommen, eine haushohe Gestalt, die jedoch in Bewegung war und sich gerade wieder zu ihrer vollen Höhe aufrichtete, so daß sie die Brücke noch ein Stück überragte.

Paul konnte sich die ungeheure Erscheinung nicht erklären. Sie ähnelte einem absurden modernistischen Möbelstück, einer mobilen Version des Lloyds Building. Als sie auf ihrem Gang durch die Themse Richtung Osten platschend näher kam, erkannte er, daß sie drei gigantische Beine hatte, die ein außerordentlich komplexes Gefüge von Verstrebungen und Plattformen trugen. Darüber wölbte sich eine breite metallene Haube.

Er war wie vom Donner gerührt. Auf einmal unterbrach das Ding seinen Marsch und blieb mitten in der Themse stehen wie die grauenhafte Parodie eines Badenden von Seurat. Mit einem hydraulischen Zischen, das Paul selbst bei dieser Entfernung deutlich hören konnte, ging das mechanische Monstrum ein wenig nach unten, beinahe in die Hocke, und drehte dann die große Haube hin und her, als ob sie ein Kopf wäre und das Riesenkonstrukt nach etwas Ausschau hielte. Stahlkabel, die von den Aufbauten über den Beinen herabhingen, wurden eingezogen, fielen dann wieder herunter und rührten im Fluß Schaumkronen auf. Gleich darauf richtete sich das Ding wieder auf und stakste abermals zischend und surrend flußaufwärts auf ihn zu. Da es mit jedem Schritt etliche Dutzend Meter zurücklegte, kam es erstaunlich rasch voran: Während Paul es noch wie gelähmt anstarrte, nachdem seine Freude sich binnen Sekunden in blankes Entsetzen verwandelt hatte, patschte das Ding an ihm vorbei und bewegte sich weiter den Fluß hinunter. Die von ihm aufgeworfenen Wellen ließen das kleine Boot heftig schaukeln und stießen es so hart gegen die Kaimauer, daß Paul förmlich der Atem aus dem Leib gequetscht wurde, doch das mächtige Maschinenwesen beachtete Paul und seinen Nachen so wenig, wie er selbst einen Holzsplitter in einer Pfütze beachtet hätte.

Zu Tode erschrocken lag Paul über der Ruderbank. Der Tag wurde heller, die Nebel lichteten sich. Zum erstenmal konnte er Big Ben deutlich erkennen, gleich hinter der Brücke. Er hatte gedacht, seine Spitze wäre in Dunst gehüllt, aber sie war fort. Nur ein verbrannter Stumpf ragte über die zerschmetterten Dächer des Parlaments hinaus.

Die Wellen legten sich. Er hielt sich am Bootsrand fest und sah dem weitermarschierenden metallischen Ungetüm hinterher. Es blieb kurz stehen, um mit seinen stählernen Tentakeln irgendwelche Trümmer von den einstigen Pfeilern der Waterloo Bridge aus dem Grund zu reißen, dann ließ es die schlammige Masse aus Beton und Eisen wie ein gelangweiltes Kind wieder fallen und verschwand in Richtung Greenwich und Meer im Nebel.

 

 

> Es gab noch andere mechanische Monster, wie Paul in den Tagen danach entdeckte, aber er entdeckte auch, daß er sich nicht besonders anstrengen mußte, ihnen zu entkommen. Mit einzelnen Menschen hielten sie sich so wenig auf, wie ein Kammerjäger, der seine Arbeit getan hatte, Zeit damit vergeudet hätte, eine einsame Ameise auf dem Bürgersteig zu zertreten. Doch in den ersten Stunden rechnete er jeden Moment damit, von einer der gigantischen Maschinen gepackt und zermatscht zu werden.

Ihre Zerstörungskraft hatten sie jedenfalls reichlich unter Beweis gestellt. London oder das, was er vom Fluß aus davon sehen konnte, war eine Wüste, die Schäden waren schlimmer als alles, was der Stadt seit den Tagen der Fürstin Boudicca zugestoßen war. Aus einem anscheinend völlig blindwütigen Vernichtungstrieb heraus hatten die riesigen Maschinen ganze Straßenzüge zertrümmert und verbrannt, ganze Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht. Und er wußte, daß er das Schlimmste noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte. An den Flußufern sah er hier und da an freien Stellen Leichen herumliegen, und noch mehr trieben in den folgenden Tagen mit der Strömung an ihm vorbei, doch wenn der Wind sich plötzlich in seine Richtung drehte, wurde der Geruch des Todes wahrhaft grauenerregend, und er begriff, daß es Tausende und Abertausende Leichen mehr geben mußte, als er sehen konnte, eingesperrt in U-Bahnhöfen, die zu riesigen Gräbern geworden waren, oder zermalmt unter dem Schutt eingestürzter Häuser.

Andere Invasionen waren subtiler gewesen. Was er in der ersten Stunde für rote Blumen auf dem Victoria Embankment gehalten hatte, stellte sich in Wirklichkeit als fremdartiger Pflanzenbewuchs heraus. Die schwankenden scharlachroten Stengel waren überall, sie okkupierten die Grasstreifen und die Verkehrsinseln, überwucherten verlassene Gärten, rankten sich um die noch stehenden Brücken und Laternenpfähle; auf viele Meilen hin waren die einzigen Dinge, die sich außer Paul und dem Fluß bewegten, die sich in dem fauligen Wind wiegenden Thalien der roten Pflanzen.

Doch so erschütternd der Anblick von London im Todeskampf auch war, erwarteten ihn doch noch andere und absonderlichere Überraschungen.

Wenige Stunden nach seiner Begegnung mit dem ersten Metallriesen ging Paul allmählich auf, daß dies nicht sein London war, sondern die Stadt, wie sie vielleicht Generationen vor seiner Geburt gewesen war. Die Ladenschilder, die er von seinem Boot aus sah, waren mit komischen, schnörkeligen Lettern beschriftet und hielten die wunderlichsten Dinge feil: »Putzwaren«, »Kurzwaren«, »Kolonialwaren«. Die wenigen noch als solche erkennbaren Autos waren skurril und altmodisch, und selbst die auf der Straße verwesenden menschlichen Leichen wirkten seltsam antik – am auffälligsten die der Frauen, die Schultertücher und knöchellange Kleider anhatten. Einige dieser namenlosen Toten trugen sogar Hüte und Handschuhe, als ob der Tod ein feierlicher Anlaß wäre, zu dem man förmlich gekleidet erscheinen mußte.

 

Nach dem Schock beim Anblick des ersten Aggressors vergingen Stunden, bis Paul begriff, an welchem Ort er tatsächlich gelandet war.

Er hatte mit dem Boot an einem verlassenen Pier gegenüber von Battersea angelegt, um seinen schmerzenden Armen eine Erholungspause zu gönnen. In einem anderen London – in seinem London – war das berühmte Elektrizitätswerk, das diesen Teil des Flußufers beherrscht hatte, längst verschwunden und baute die Stadt an seiner Stelle himmelhohe Bürotürme aus Fibramic, aber in diesem London würde der Bau des E-Werks offenbar noch Jahrzehnte auf sich warten lassen. Doch da anscheinend fast alle Bewohner in irgendeinem gräßlichen Kampf abgeschlachtet worden waren, würde es das E-Werk wahrscheinlich niemals geben. Alles war so verwirrend!

Im Westen sank die Sonne dem Untergang entgegen, und das weiche Licht ließ die Stadtsilhouette nicht ganz so zerbombt und die Zerstörung ein klein wenig erträglicher erscheinen. Eine ganze Weile saß Paul einfach so ruhig da, wie es ihm möglich war, und versuchte nicht darüber nachzudenken, was ihn umgab. Er schloß die Augen, um noch ruhiger zu werden, aber das Gefühl drohenden Unheils war so stark, daß er sie nicht geschlossen halten konnte. Jeden Moment konnte eine dieser grotesken haushohen Maschinen am Horizont erscheinen, ein Dreifuß, der gnadenlos wie eine räuberische Bestie so lange seine Haube rotieren ließ, bis er ihn erspäht hatte …

Dreifüße. Paul starrte auf das um den Pier strudelnde braune Wasser der Themse, doch er sah es nicht mehr. Dreifüße, riesige Kriegsmaschinen, rote Pflanzen, die überall wuchsen. Gab es nicht eine Geschichte, in der sowas vorkam …?

Die Klarheit kam wie ein kalter Windstoß, doch nicht als befriedigende Antwort auf eine Frage, sondern als unerfreuliche Eröffnung eines noch erschreckenderen Problems.

O Gott. H.G. Wells, nicht wahr? Krieg der Welten oder so ähnlich hieß es …

Es war eines der Werke, das er ziemlich gut zu kennen meinte, obwohl er in Wirklichkeit weder das Buch gelesen noch eine der zahlreichen Filmbearbeitungen gesehen hatte (mehrere Versionen, interaktive wie passive, standen im Netz zur Verfügung). Aber eine Version wie dies hier gab es nicht, da war er sich ganz sicher. Weil dies hier keine Version war. Es war furchtbare Realität.

Aber wie kann ich an einem Ort in Zeit und Raum sein, der einer erfundenen Geschichte entstammt?

Schon ein kurzes Nachdenken darüber bereitete ihm Kopfschmerzen. Es gab viel zu viele Möglichkeiten, und alle waren vollkommen irrsinnig. War es eine Scheinwelt, basierend auf einem berühmten Roman, aber eigens für ihn gebaut? Aber das war unmöglich – er hatte die Vorstellung, jemand könnte eine ganze Eiszeitszenerie erschaffen, bereits absurd gefunden, und wie unfaßbar viel teurer wäre erst diese Londonkulisse gewesen? Und wenn er bedachte, wie viele verschiedene Orte er schon gesehen hatte… nein. Es war unmöglich. Aber was für Antworten kamen sonst noch in Frage? Konnte dies hier irgendwie real sein, ein London in einer anderen Dimension, in der Außerirdische aus dem Weltraum eine Invasion durchgeführt hatten und in die Wells sich irgendwie eingeklinkt hatte? War die Erfindung dieses alten Schriftstellers, das andere Universum, Wirklichkeit?

Oder stand noch etwas Merkwürdigeres dahinter, eine von diesen Quantengeschichten, von denen Muckler im Museum ständig schwadronierte? Hatte Wells’ Erfindung diesen Ort irgendwie ins Leben gerufen und eine Aufspaltung der Wirklichkeit verursacht, die erst damit entstand, daß der Mann aus Bromley den Schreibstift aufs Papier setzte?

Das führte nur zu weiteren Fragen, jede einzelne bestürzender als die davor. Hatte jede erfundene Geschichte ihr eigenes Universum? Oder bloß die guten? Und wer befand darüber?

Und war er selbst, dem bereits ein Teil seiner Vergangenheit fehlte, auf einer immer weiter ausufernden Reise wider Willen, die in immer weiter entfernte Dimensionen führte?

Zu einer anderen Zeit hätte er über die Vorstellung eines Viele-Welten-Universums, das von den Entscheidungen unbekannter Lektoren abhing, vielleicht gelacht, aber nichts an seiner Situation war im geringsten komisch. Er irrte durch ein verrücktes Universum, er war unvorstellbar weit von zuhause weg, und er war allein.

 

Er legte sich den Abend in einem verlassenen Restaurant in der Nähe des Cheyne Walk schlafen. Alles, was auch nur im entferntesten eßbar aussah, war geplündert worden, aber er war nicht besonders hungrig, nicht zuletzt deshalb, weil mit jedem Windwechsel der Verwesungsgeruch aus einer neuen Richtung wehte. Überhaupt konnte er sich nicht erinnern, wann er zum letztenmal wirklich hungrig gewesen war, und nur undeutlich daran, wann er zum letztenmal etwas gegessen hatte, doch dieser Gedanke warf nur weitere Fragen auf, und er hatte von Fragen fürs erste genug. Er riß die Vorhänge von den Fenstern und wickelte sich gegen die Kälte vom Fluß darin ein, dann sank er in einen schweren, traumlosen Schlaf.

Am nächsten Tag konnte er seinen Weg themseaufwärts mit erhöhter Geschwindigkeit fortsetzen, weil er sich aus einem anderen verlassenen Boot ein Paar Ruder geholt hatte, und dabei stellte er fest, daß er nicht der einzige Mensch in diesem verwüsteten London war. Vom Fluß aus und bei einigen vorsichtigen Landgängen im Laufe des Tages erblickte er fast ein Dutzend anderer Leute, doch sie waren kontaktscheu wie Ratten: Alle ignorierten seinen Zuruf entweder, oder sie flohen sogar bei seinem Anblick. Bei dem Gedanken an das Restaurant, aus dem alles Eßbare geraubt worden war, und an die Geschäfte, die er beiderseits davon durchstöbert hatte, fragte er sich, ob diese Leute nicht gute Gründe hatten, anderen Überlebenden aus dem Weg zu gehen. Und Überlebende waren sie offensichtlich alle, denn sie waren so zerlumpt und schwarz vor Schmutz und Ruß, daß er aus der Entfernung von keinem die Volkszugehörigkeit hätte angeben können.

Am Tag darauf stieß er in Kew auf eine ganze Gruppe, mehrere Dutzend Menschen in abgerissener Kleidung, die im königlichen Garten hausten. Paul ging nicht an Land, sondern rief ihnen vom Fluß aus zu und fragte nach Neuigkeiten. Eine kleine Abordnung kam ans Ufer und berichtete, daß die Außerirdischen – die »Maschinenwesen«, wie diese Überlebenden sie nannten – zum größten Teil aus London abgezogen seien und weiter im Norden ihre unerforschlichen Ziele verfolgten, aber daß noch genügend zurückgeblieben seien, um das Leben in der Stadt zu einer sehr riskanten Angelegenheit zu machen. Sie selbst seien erst vor einer Woche aus dem beinahe völlig zerstörten Lambeth nach Kew Gardens gekommen und hätten schon einige aus ihrer Schar verloren, die gerade über eine offene Wiese gegangen seien, als ein Dreifuß erschienen und auf sie getreten sei, allem Anschein nach zufällig. Wenn sie die letzten der hiesigen Eichhörnchen und Vögel gefangen und verzehrt hätten, erzählten die Leute aus Kew Paul, wollten sie weiterziehen.

Es tat wohl, mit anderen Menschen zu reden, aber etwas an der Art, wie sie ihn inspizierten, flößte Paul ein unbehagliches Gefühl ein. Einer der Männer lud ihn ein, sich ihnen anzuschließen, aber er bedankte sich und ruderte lieber weiter.

Am merkwürdigsten fand er, als er seinen Weg flußaufwärts Richtung Richmond fortsetzte, daß so, wie er den Krieg der Welten in Erinnerung hatte, die Marsianer anfällig für irdische Krankheiten gewesen und binnen weniger Wochen nach Beginn ihres Vernichtungsfeldzuges gestorben waren. Aber die Überlebenden in Kew hatten erzählt, das erste der Marsschiffe sei vor über einem halben Jahr in Surrey gelandet. Paul wunderte sich über diese Abweichung von der Wellsschen Geschichte, und wenn er Fetzen von Zeitungen aus den letzten Tagen vor der Invasion fand, hob er sie auf, aber natürlich gab es nichts, dem er das aktuelle Datum hätte entnehmen können. Die Zivilisation war am Tag, als die Marsianer kamen, mit einem Schlag abgebrochen.

Im Grunde war dies das Merkwürdige an der ganzen Situation. Im Unterschied zu den anderen Stationen auf seiner unfreiwilligen Pilgerfahrt schien dieses Nachkriegsengland eine Art Stasis erreicht zu haben, als ob jemand nach einem beendeten Spiel fortgegangen wäre, ohne die Figuren vom Brett zu räumen. Wenn London in irgendeiner Weise typisch war, dann war das Land, vielleicht sogar die ganze Welt, vollkommen in den Händen der Eroberer. Die Wesen selbst hatten nur eine minimale Besatzungsmacht zurückgelassen. Das winzige Häuflein verbliebener Menschen kämpfte ums nackte Überleben. Es war alles so … leer.

Dies gab den Anstoß zu einem anderen Gedanken, der sich zusehends verdichtete, während Paul im Laufe des Tages noch eine gute Handvoll herumfleddernder Menschen passierte und ergebnislos anrief. Alle Orte, an denen er gewesen war, seit er irgendwie sein normales Leben verloren hatte, waren so … so alt. Es waren Situationen oder Szenarien aus einer völlig anderen Zeit der H.-G.-Wells-Roman von der vorletzten Jahrhundertwende, die absonderliche Marswelt alter Groschenromane – ganz anders als der Mars, der diese Invasoren ausgesandt hatte, was überhaupt ein recht interessanter Gedanke war – und das Land hinter den Spiegeln, wo er Gally getroffen hatte. Selbst seine trübsten Erinnerungen schienen sich auf einen uralten und längst beendeten Krieg zu beziehen. Und die Eiszeit – das war so alt, älter ging’s kaum mehr. Doch es schien noch ein anderes gemeinsames Element zu geben, etwas, das ihn beunruhigte, das er aber nicht recht benennen konnte.

 

Es war der vierte Tag, und er war knapp östlich von Twickenham, als er ihnen begegnete.

Er war gerade an einer kleinen Insel mitten im Fluß vorbeigekommen und arbeitete sich an einer grünen Lichtung auf der Nordseite des Flusses vorbei, einem Park, wie es den Anschein hatte, als er am Ufer einen Mann ziellos auf und ab gehen sah. Paul hielt ihn zunächst für einen von denen, die durch die Invasion den Verstand verloren hatten, denn als er ihn anrief, blickte der Mann auf und starrte ihn an, als ob Paul ein Geist wäre. Gleich darauf begann der Mann auf der Stelle zu hüpfen und die Arme zu schwenken wie ein spastischer Signalgeber, wobei er immer wieder schrie: »Gott sei Dank! Lieber Himmel! Gott sei Dank!«

Paul steuerte näher an das Flußufer heran, und der Fremde lief zu ihm herunter. Da die Vorsicht längst schon über seinen Wunsch nach Gemeinschaft mit lebendigen Menschen die Oberhand gewonnen hatte, hielt Paul sich ein Stückchen weit draußen auf dem Wasser und nahm dabei eine rasche Begutachtung vor. Der nicht mehr junge Mann war dünn und sehr klein, vielleicht nicht viel größer als einen Meter fünfundfünfzig. Er trug eine Brille und einen kleinen Schnurrbart von der Art, den eine spätere Generation mit deutschen Diktatoren identifizieren sollte. Aber abgesehen von dem abgerissenen Zustand seines schwarzen Anzugs und den Tränen der Dankbarkeit in den Augen hätte er gerade von seinem Schreibtisch in einem kleinen, muffigen Versicherungsbüro kommen können.

»Oh, dem Herrgott sei Dank! Bitte helfen Sie mir!« Der Mann zog ein Taschentuch aus der Westentasche und tupfte sich damit das Gesicht ab. Es war unmöglich zu sagen, welche Farbe der Stoff einmal gehabt hatte. »Meine Schwester. Meine arme Schwester ist gestürzt, und sie kommt nicht mehr hoch. Bitte!«

Paul musterte ihn scharf. Wenn er ein Räuber war, hatte er seinen Beruf schlecht gewählt. Wenn er der Lockvogel einer Räuber- und Mörderbande war, mußten sie viel Geduld haben, um den äußerst spärlichen Flußreisenden aufzulauern. Dennoch war übereiltes Handeln derzeit nicht angebracht. »Was ist ihr passiert?«

»Sie ist gestürzt und hat sich verletzt. Ach, bitte, Sir, tun Sie ein christliches gutes Werk und helfen Sie mir. Ich würde es Ihnen bezahlen, wenn ich könnte.« Sein Lächeln war kläglich. »Wenn Geld noch etwas zu bedeuten hätte. Aber was wir haben, werden wir mit Ihnen teilen.«

An der Aufrichtigkeit des Mannes ließ sich kaum zweifeln, und um den Größenunterschied zwischen ihnen wettzumachen, hätte er eine Pistole gebraucht. Er hatte noch keine gezogen, und Paul war schon eine ganze Weile in Schußweite. »Na schön. Laß mich bloß noch mein Boot festmachen.«

»Gott segne Sie, guter Herr.«

Während Paul an Land watete und sein Ruderboot festband, sprang der kleine Mann von einem Fuß auf den anderen wie ein Kind, das darauf wartete, aufs Klo zu dürfen. Der Mann winkte ihm zu folgen und lief in einem merkwürdigen, linkischen Trott die Uferböschung hinan auf die Bäume zu. Paul bezweifelte, daß der Mann vor der Invasion je schneller als im Spazierschritt gegangen war, jedenfalls seit seiner Schulzeit.

Als ob ihm im Beisein eines Fremden plötzlich die Erinnerung an seine einstige Würde zurückkehrte, verlangsamte der Mann im schwarzen Anzug abrupt den Schritt und drehte sich um. »Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen. Mein Name ist übrigens Sefton Pankie.« Rückwärts gehend und in großer Gefahr, jeden Moment über eine Wurzel zu stolpern, streckte er eine Hand aus.

Paul, der schon vor einiger Zeit beschlossen hatte, daß er nicht einmal seinem eigenen Verstand trauen konnte und somit ganz sicher auch sonst niemandem, dem er begegnete, gab dem Mann die Hand und nannte ihm einen falschen Namen. »Ich heiße … Peter Johnson.«

»Sehr erfreut, Herr Johnson. Gut, wo wir uns jetzt ordentlich bekannt gemacht haben, sollten wir uns beeilen.«

Pankie führte ihn den Hügel hinauf, über ein Feld mit dem allgegenwärtigen roten Marsgras, das den Hügel beherrschte wie die Flagge eines Eroberers, und zur anderen Seite wieder hinunter in ein Buchengehölz. Als Paul sich gerade wieder zu fragen begann, ob der Fremde ihn vielleicht doch in einen Hinterhalt lockte, blieb der kleine Mann am Rand eines tiefen Grabens stehen und beugte sich vor.

»Ich bin wieder da, meine Liebe. Hast du dir auch nichts getan? Um Gottes willen nicht, hoffe ich doch.«

»Sefton?« Die Stimme war ein kräftiger Alt und eher durchdringend als wohlklingend. »Ich dachte, du wärst weggelaufen und hättest mich verlassen.«

»Niemals, meine Liebe.« Pankie machte sich an den Abstieg in den Graben und hielt sich dazu an Wurzeln fest, wobei seine mangelhafte Koordination wieder deutlich wurde. Paul erblickte auf dem Grund eine zusammengekrümmte Gestalt und schwang sich hinter ihm her.

Die unten im Graben in einer Spalte festgeklemmte Frau befand sich in einer schwierigen und peinlichen Lage: Die Beine ragten in die Luft, und die dunkel getönten Haare hatten sich samt Strohhut in einem Gewirr loser Zweige verfangen. Sie war außerdem extrem füllig. Als Paul nahe genug war, um ihr gerötetes, schweißglänzendes Gesicht zu sehen, schätzte er sie mindestens auf Pankies Alter, wenn nicht älter.

»Oh, liebe Güte, wer ist das?« rief sie mit ungespieltem Entsetzen aus, als Paul unten ankam. »Was müssen Sie von mir denken, Sir? Das ist so fürchterlich, so beschämend!«

»Das ist Herr Johnson, meine Liebe, und er ist gekommen, um dir zu helfen.« Pankie kauerte sich neben sie und strich über die Ausbuchtung ihres voluminösen grauen Kleides wie über das Fell einer preisgekrönten Kuh.

»Kein Grund zur Verlegenheit, gnädige Frau.« Paul erfaßte das Problem sofort – Pankies Schwester wog etwa dreimal soviel wie dieser. Allein sie loszubekommen, würde schon eine Quälerei werden, ganz zu schweigen davon, sie den steilen Hang hinaufzubugsieren. Aber er fühlte Mitleid mit der Frau und ihrer peinlichen Lage, die wegen ihrer Unschicklichkeit noch einmal so schlimm war – genau wie die alte Höflichkeitsanrede machte er sich bereits das antiquierte Anstandsempfinden der Zeit zu eigen, auch wenn der Überfall der Marsianer es völlig sinnentleert hatte. Er nahm die Sache in Angriff.

Es dauerte beinahe eine halbe Stunde, die Frau aus den Zweigen unten im Graben herauszuholen, da sie jedesmal vor Schmerz aufkreischte, wenn ihre Haare gezogen wurden, einerlei wie behutsam. Als sie endlich befreit war, machten sich Paul und Sefton Pankie an die Schwerstarbeit, sie die Steigung hinaufzubefördern. Es war schon fast dunkel, als schließlich alle aufgelöst, schmutzig und schweißnaß oben auf ebenes Terrain stolperten.

Die Frau sank zu Boden wie ein einbrechendes Zelt und war erst nach längerem Zureden zu bewegen, sich aufzusetzen. Paul sammelte trockene Zweige für ein Feuer, während Pankie sie umflatterte wie ein Madenhacker ein Nilpferd und sie mit seinem Taschentuch vom schlimmsten Schmutz zu säubern versuchte (womit er, fand Paul, in einem Sinnlosigkeitswettbewerb den ersten Preis gewonnen hätte). Als Paul fertig war, zog Pankie ein paar Streichhölzer aus der Tasche, in dieser Zeit zweifellos ein hochgeschätztes Gut. Mit äußerster Vorsicht führten sie eines seiner Bestimmung zu, und als die Sonne schließlich hinter der zerklüfteten Stadtsilhouette auf der anderen Flußseite verschwunden war, stiegen die Flammen hoch in die Luft, womit auch die allgemeine Stimmung stieg.

»Ich kann Ihnen gar nicht genug danken«, sagte die Frau. Ihr rundes Gesicht war zerkratzt und beschmiert, aber sie schenkte ihm ein deutlich einnehmend gemeintes Lächeln. »Es mag Ihnen komisch vorkommen nach allem, was passiert ist, aber ich finde, eine ordentliche Begrüßung muß sein. Ich heiße Undine Pankie.« Sie hielt ihm die Hand hin wie eine köstliche Süßigkeit, die er genießen durfte. Paul überlegte, ob sie womöglich einen Handkuß erwartete, fand dann aber, daß irgendwo eine Grenze gezogen werden mußte. Er ergriff die Hand und stellte sich der Frau mit seinem eilig gewählten falschen Namen vor.

»Meine Dankbarkeit ist gar nicht in Worte zu fassen«, erklärte sie. »Als mein Mann so lange ausblieb, befürchtete ich, er wäre in die Hände von Plünderern geraten. Sie können sich vorstellen, wie entsetzt ich war, so mutterseelenallein in diesem schrecklichen Graben festzusitzen.«

Paul legte die Stirn in Falten. »Wie bitte – Ihr Mann?« Er wandte sich Pankie zu. »Sie sagten, Sie brauchten Hilfe für Ihre Schwester.« Er blickte wieder die Frau an, aber sie schaute vollkommen unschuldig drein, auch wenn eine kaum zu verhehlende Ungehaltenheit zu erkennen war.

»Schwester? Sefton, wie konntest du nur so etwas Seltsames sagen?«

Der kleine Mann, der sich vergebens damit abgemüht hatte, ihre Haare einigermaßen zu richten, ließ ein verlegenes Kichern hören. »Ja, nicht wahr? Ich habe keine Ahnung, was in mich gefahren ist. Daran muß diese ganze Invasion schuld sein. Ich bin völlig durcheinander.«

Paul gab sich mit ihrer Erklärung zufrieden – Undine Pankie machte gewiß nicht den Eindruck, bei einem Betrugsmanöver ertappt worden zu sein –, aber er hatte irgendwie ein ungutes Gefühl.

 

Frau Pankie erholte sich recht rasch und verbreitete sich den Rest des Abends ausführlich darüber, wie grauenhaft die Invasion vom Mars war und wie schrecklich das Leben im offenen Park, ohne schützendes Dach überm Kopf. Beide Schicksalsschläge schienen sie ungefähr gleich hart zu treffen.

Undine Pankie war eine geschwätzige Person, und bevor Paul sich entschuldigte und schließlich schlafen legte, hatte sie ihm mehr über das Kleinbürgerdasein in Shepperton vor und nach der Invasion erzählt, als er je hatte wissen wollen. Herr Pankie, stellte sich heraus, war Oberkanzlist im Katasteramt der Grafschaft, obwohl er, daran ließ seine Frau keinen Zweifel, eigentlich eine deutlich höhere Stellung verdient hätte. Paul hatte den Eindruck, daß sie der Meinung war, diesem Mißstand könne eines Tages mit Fleiß und geschicktem Taktieren abgeholfen werden – was ihm ziemlich unwahrscheinlich vorkam, solange die Marsianer nicht das Katasteramt wieder aufmachten. Aber er verstand das Bedürfnis, sich in unnormalen Situationen an Normalitäten zu klammern, und als Frau Pankie die Gemeinheit des ungerechten Vorgesetzten ihres Mannes beschrieb, gab er sich daher alle Mühe, gebührend betrübt und dabei doch optimistisch im Hinblick auf Herrn Pankies berufliches Fortkommen zu wirken.

Frau Pankie selbst war Hausfrau, und sie bemerkte mehr als einmal, daß dies nicht nur ihrer unmaßgeblichen Meinung nach die höchste Position sei, nach der eine Frau streben könne oder solle. Und, erklärte sie, sie führe ihr Haus so straff wie ein ordentliches Schiff: Selbst ihr guter Sefton, machte sie sehr deutlich, wisse genau, wo er »spuren« müsse.

Paul konnte Herrn Pankies unwillkürliches Zucken nicht übersehen.

Aber einen großen Kummer gab es in Undine Pankies Leben, nämlich daß der Herr nicht geruht hatte, ihr das Glück der Mutterschaft zu gewähren, das herrlichste aller Geschenke, die eine Frau ihrem Mann machen könne. Sie hätten einen Foxterrier namens Dandy – und an dem Punkt kam sie einen Moment lang durcheinander, als ihr einfiel, daß sie den Foxterrier ja gar nicht mehr hatten, so wenig wie ihr Haus: beide seien von einem furchtbaren marsianischen Hitzestrahl verbrannt worden, der ihren gesamten Straßenzug vernichtet habe und dem die Pankies nur deshalb entkommen seien, weil sie bei einem Nachbarn vorbeigeschaut hätten, um Neuigkeiten in Erfahrung zu bringen.

Frau Pankie unterbrach ihren Bericht, um ein paar Tränen für den tapferen kleinen Dandy zu vergießen. Paul erschien es geradezu grotesk, daß diese dicke, weichherzige Frau angesichts von soviel Leid und Zerstörung einen Hund beweinte und ihm dabei verstohlene Blicke zuwarf, um sich zu vergewissern, daß er ja mitbekam, wie hilflos sentimental sie war. Aber er, der kein Zuhause hatte und nicht einmal wußte, ob er je wieder eines haben würde, wie sollte er über andere und ihre Verluste urteilen?

»Dandy war für uns wie Kind, Herr Johnson. Wirklich! Stimmt das nicht, Sefton?«

Herr Pankie hatte schon angefangen zu nicken, bevor sie sich an ihn gewandt hatte. Für Pauls Empfinden hatte er nicht sehr genau zugehört – er hatte im Feuer gestochert und zu den rot angeleuchteten Ästen hinaufgestarrt –, aber der Mann hatte deutlich Übung darin, die Fingerzeige mitzukriegen, die ihm sagten, daß sein Einsatz erwartet wurde.

»Nichts auf der Welt wünschten wir uns mehr als ein Kind, Herr Johnson. Aber Gott hat es nicht so gewollt. Trotzdem, es wird schon zu unserem Besten sein. Wir müssen über seine Weisheit frohlocken, auch wenn wir seinen Plan nicht begreifen.«

Als Paul später dalag und auf den Schlaf wartete, während die Pankies neben ihm im Duett schnarchten – sie tief und rauh, er hoch und flötend –, ging es ihm durch den Kopf, daß sie sich angehört hatte, als könnte sie durchaus etwas weniger duldsam sein, falls sie jemals Gott von Angesicht zu Angesicht begegnete. Ja, Undine Pankie klang wie eine Frau, die selbst die Langmut des Herrn auf eine ziemlich harte Probe stellen konnte.

Sie war Paul richtig unheimlich.

 

Es war eigenartig, dachte er am nächsten Morgen, während das Boot die Themse hinauffuhr, wie die winzigste Andeutung von Normalität die schlimmsten und unergründlichsten Greuel verdrängen und den Tag mit Banalitäten anfüllen konnte. Der menschliche Geist mochte sich nicht zu lange mit Schemen beschäftigen – er brauchte festen Brennstoff, die einfachen tierischen Dinge, das Fassen, Halten, Bearbeiten.

Es war noch keinen Tag her, seit er den Pankies begegnet war, und schon jetzt hatten sie aus seiner einsamen Odyssee eine Art geselliger Bootspartie gemacht. Just in diesem Moment stritten sie sich darüber, ob Herr Pankie mit einem Faden und einer Sicherheitsnadel einen Fisch fangen könne. Seine Frau vertrat nachdrücklich die Auffassung, daß er viel zu ungeschickt sei und solche Kunststücke dem »gescheiten Herrn Johnson« überlassen solle – letzteres mit einem gewinnenden Lächeln gesagt, das in Pauls Augen mehr mit dem Lockversuch einer fleischfressenden Pflanze gemein hatte als mit einem menschlichen Gesichtsausdruck.

Aber Tatsache war, sie waren hier, und er hatte sich von ihrem unablässigen kleinlichen Getue derart vereinnahmen lassen, daß ihm seine eigene Not völlig entfallen war. Was einerseits gut und andererseits schlecht war.

Als er an dem Morgen aufgestanden war, hatte er mit keinem geringen Verdruß feststellen müssen, daß die Pankies sich so herausgeputzt hatten, wie es ihre bescheidenen Möglichkeiten erlaubten, und »reisefertig« waren, wie sie es ausdrückten. Irgendwie war, ohne jede Mitwirkung von Paul, die Idee aufgekommen, er habe sich erboten, sie flußaufwärts mitzunehmen und gemeinsam mit ihnen nach Gefilden Ausschau zu halten, die mehr Ähnlichkeit mit der Zivilisation hatten als dieser Park am Rande von Twickenham.

Frau Pankies Versuche, ihn von den Vorzügen ihrer Gesellschaft zu überzeugen – »es wird fast wie ein Sonntagsausflug sein, nicht war, wie ein lustiges Kinderabenteuer« –, reichten allein schon beinahe aus, ihn in die Flucht zu schlagen, aber die Bedürftigkeit der beiden war so nackt, daß er sie einfach nicht zurückweisen konnte.

Doch auf dem Weg zu seinem Boot, das glücklicherweise noch dort lag, wo er es gelassen hatte, war etwas Merkwürdiges geschehen. Er war vorausgegangen, um es ganz an Land zu ziehen – der Gedanke, Undine durch das Wasser zu manövrieren und sie in ein schaukelndes Boot zu befördern, war zuviel für ihn –, und als er sich umschaute und sie die Uferböschung hinunterkommen sah, durchzuckte ihn beim Anblick der beiden Gestalten, einer großen dicken und einer kleinen, ein jäher Schreck, ein derart heftiger Angststoß, daß er einen Augenblick lang meinte, er hätte einen Herzanfall.

Die Bestien im Schloß! Er sah sie deutlich in diesen Umrissen am Flußufer, die beiden gräßlichen Kreaturen, die ihn so lange schon hetzten, den großen und den kleinen Jäger, beide herzlos, beide gnadenlos, beide schrecklicher, als menschliche Verfolger jemals sein konnten. Und jetzt hatten sie ihn gefaßt – nein, er hatte sich ihnen ausgeliefert.

Er blinzelte, und da hatte er die Pankies wieder in ihrer alten Erscheinung vor sich: zwei unglückliche Bewohner dieser unglücklichen Welt. Er starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an und hielt sich am Bootsrand fest. Jetzt, wo die Panik abgeklungen war, hatte er ein anderes Gefühl als in den Situationen vorher, in denen seine beiden Häscher dicht an ihn herangekommen waren: Bei den Gelegenheiten hatte ihre bloße Nähe ihm nackte Angst eingejagt, ein so unverkennbares Gefühl wie Kälte oder Schwindel. Hier jedoch hatte er bis zu dem Zeitpunkt, wo ihm die Ähnlichkeit der Silhouetten aufgefallen war, keine Furcht vor irgend etwas anderem verspürt als vor der Möglichkeit, daß Undine Pankie die ganze Nacht hindurch redete.

Und wenn diese Leute wirklich seine Feinde wären, hätten sie ihn ohne weiteres packen können, als er geschlafen hatte …

Frau Pankie stützte sich auf ihren sich abmühenden kleinen Mann und winkte, doch als der Wind auffrischte, mußte sie ihren zerdrückten Hut auf dem Kopf festhalten. »Oh, sieh doch, Sefton! Was für ein prachtvolles kleines Boot!«

Es war Zufall, beschloß er, weiter nichts. Einer, der ihn an einer sehr empfindlichen Stelle getroffen hatte, aber dennoch nur ein Zufall.

Aber auch wenn die Pankies nicht seine Feinde waren, dachte er, während das Grün von Hampton Wick am Nordufer vorbeiglitt, hatten sie es doch fertiggebracht, ihn abzulenken, und das konnte auf lange Sicht schädlich sein. Immerhin hatte er so etwas wie ein Ziel, und soweit er sagen konnte, war er dem seit seinem Eintritt in dieses andere England kein bißchen näher gekommen.

Ihre Stimme, die Stimme der Vogelfrau in seinen Träumen, hatte durch das Neandertalerkind zu ihm gesprochen und ihm gesagt, was er tun müsse. »Du hast gesagt, du würdest zu mir kommen«, hatte sie ihn getadelt. »Das Haus des Irrfahrers. Du mußt es finden und die Weberin befreien.«

Aber wer oder was war die Weberin? Und wo in dieser oder irgendeiner anderen Welt konnte er etwas derart Vages finden wie »das Haus des Irrfahrers«? Es war, als wäre er auf die obskurste Schnitzeljagd geschickt worden, die man sich vorstellen konnte.

Vielleicht bin ich ja der Irrfahrer, dachte er plötzlich. Aber wenn dem so wäre und ich mein Haus finden würde, dann bräuchte ich sonst nichts mehr, nicht wahr? Ich wäre zuhause.

Oder soll ich vielleicht mein Haus hier in diesem anderen London finden?

Die Aussicht, tatsächlich etwas zu unternehmen, war verlockend. Einen Moment lang war er versucht, kehrtzumachen und in den verwüsteten Stadtkern von London zurückzurudern. Das Haus in Canonbury, in dem er seine Wohnung hatte, war zu diesem Zeitpunkt bestimmt schon gebaut – die Häuser in seiner Straße waren zum größten Teil georgianisch –, aber es war höchst fraglich, ob noch etwas davon übrig war. Und allen Schilderungen zufolge gab es im Zentrum der Stadt sehr viel mehr Tote.

Je mehr er darüber nachdachte, um so unsinniger erschien ihm ein solches Wagnis – »Irrfahrer« konnte alles mögliche bedeuten. Aber was hatte er sonst für Ideen …?

»Er hat sie schon wieder verheddert, Herr Johnson. Hör auf, Liebling, du zerreißt bloß die Schnur! Wirklich, Herr Johnson, Sie müssen kommen und meinem Sefton helfen.«

Paul seufzte still, als seine Gedanken abermals zerstreut wurden wie das auf dem braunen Fluß tanzende Treibgut.

 

Die Themse wurde schmaler, als sie sich Hampton Court näherten, und zum erstenmal sah Paul beinahe so etwas wie das normale englische Leben. Wie er bald herausfand, waren die Leute hier vom ursprünglichen Marsch der Dreifüße aufgescheucht worden, und wenige Monate nach der Invasion hatte sich eine Gemeinschaft der Vertriebenen gebildet. Diese Flüchtlingsdörfer kündigten sich von weitem schon durch den ungewöhnlichen Anblick von Rauch an; die Bewohner ließen kühn ihre Lagerfeuer brennen und wickelten ihre Tauschgeschäfte im Freien ab, geschützt im Umkreis von einer Meile von Wachposten mit Signalspiegeln und einigen wenigen kostbaren Gewehren. Doch Paul vermutete, daß sie Verstecke angelegt hatten, damit sie beim ersten Anzeichen von Gefahr wie an einem offenen Hang äsende Kaninchen in Deckung gehen konnten.

Frau Pankie war hocherfreut, zu guter Letzt ein paar kleine Ansiedlungen zu Gesicht zu bekommen, und als sie bei einer anhielten, stieg sie so rasch aus dem Boot, daß es beinahe gekentert wäre.

Ein Mann mit einem knurrenden Hund an der Leine war bereit, ihnen für Nachrichten aus dem Osten einen Brotkanten zu geben. Als Paul ihm erzählt hatte, was er nur Tage zuvor mitten in London gesehen hatte, schüttelte der Mann traurig den Kopf. »Unser Pfarrer in Chiswick hat gesagt, die Stadt würd wegen ihrer Gottlosigkeit brennen. Aber sowas von gottlos kann doch ’ne Stadt gar nicht sein, möcht ich mal meinen.«

Der Mann berichtete ihm des weiteren, daß es in Hampton Court selbst sogar eine Art Markt gebe, der der beste Umschlagplatz für Neuigkeiten sei und wo die Pankies Gelegenheit hätten, sich einer der dortigen Gemeinschaften anzuschließen. »Freilich, wer nicht einigermaßen rüstig ist, den will keiner haben«, sagte der Mann und warf dabei Undine Pankie einen zweifelnden Blick zu. »Die Zeiten sind halt hart, gelt?«

Verzückt schon bei dem bloßen Gedanken, wieder ihrer hausfraulichen Berufung nachgehen zu können, beachtete Frau Pankie ihn gar nicht. Sefton nickte kurz und knapp, als sie von dem Mann schieden, als begriffe er, daß man seine Frau beleidigt hatte, aber wäre zu sehr Gentleman, um es zu zeigen.

Hinter einer scharfen Flußbiegung tauchte kurz darauf Hampton Court Palace mit seinen vielen Türmen auf, die im fahlen Sonnenschein aufragten. Auf den Rasenflächen über der Themse hielt sich eine enttäuschend kleine Zahl von Menschen auf, doch als Paul das Boot anlegte und Frau Pankie an Land befördern half, erzählte ihm eine auf einem Wagen sitzende Frau, daß der Markt sich in der »Wildnis« hinter dem Palast befinde.

»Denn das da ist passiert, als wir vorher vom Fluß aus zu sehen waren und eins von den marsianischen Schlachtschiffen vorbeikam«, sagte sie und deutete auf das Große Torhaus, von dem nur noch schwarze Trümmer übrig waren. Vor den eingestürzten Mauern war der Boden meterweit glatt und glänzend wie ein glasierter Topf.

Frau Pankie eilte durch die Parkanlagen voraus. Ihr Mann bemühte sich, mit ihr Schritt zu halten – nicht nur in ihrer Gestalt, sondern auch in ihrer erstaunlichen Flinkheit glich sie einer Bärin –, aber Paul entschied sich für eine gemütlichere Gangart. Er kam an mehreren Dutzend Leuten vorbei, von denen einige anscheinend ihre ganze Familie auf Heuwagen geladen hatten. Andere fuhren flotte kleine Gigs und Buggys, die vielleicht einmal Wahrzeichen des Wohlstands gewesen, aber jetzt nur noch weniger belastbare Beförderungsmittel waren als die Bauernwagen. Niemand lächelte oder erwiderte seinen Gruß mit mehr als einem Nicken, und dennoch wirkten diese Marktfahrer weitaus alltäglicher als die anderen Überlebenden, denen er bisher begegnet war. Die schlichte Tatsache, daß es nach den vielen schwarzen Monaten einen Markt gab, zu dem man fahren konnte, reichte aus, um die Laune zu heben. Die Marsianer waren gekommen und hatten sich die Menschheit unterworfen, doch das Leben ging weiter.

Während er über den kopfsteingepflasterten Parkplatz auf Tiltyard Gardens und die dort versammelte Menschenmenge zuschritt, ging es ihm durch den Kopf, daß er hier wenigstens in irgendeinem England war, auch wenn die Traumfrau vielleicht einen anderen Ort gemeint hatte, und er sehnte sich nach England. Ein schreckliches Schicksal schwebte immer noch über den Häuptern dieser Leute, und die hier Versammelten hatten bereits Furchtbares gelitten – jedesmal wenn er wieder im Begriff war, die außergewöhnlichen Umstände zu vergessen, fiel sein Blick auf den nächsten Marktbesucher mit fehlenden Gliedmaßen oder gräßlichen Brandwunden –, aber aus der Vernichtung, die er gesehen hatte, ein Leben aufzubauen, war wenigstens ein greifbares Ziel. Das war mehr, als er bisher von seiner Reise behaupten konnte.

Im Grunde, erkannte er, war er müde – denkmüde, reisemüde, beinahe dieses ganzen Lebens müde.

Als er die roten Backsteinmauern hinter sich ließ und in das Grün der sogenannten Wildnis (eigentlich ein Garten mit strengen Hecken und Eibenreihen) eintrat, besserte sich seine Stimmung ein wenig, obwohl auch hier das außerirdische scharlachrote Gras an manchen Stellen Wurzeln geschlagen hatte. Der Markt war in vollem Gange. Auf den Anhängern lagen landwirtschaftliche Produkte zuhauf, und es wurde lebhaft gehandelt. Überall, wohin er schaute, widersprach jemand energisch den Anpreisungen, die jemand anders von sich gab. Wenn er die Augen zusammenkniff, sah das Ganze beinahe wie eine ländliche Marktszene auf einem alten Stich aus. Er konnte die Pankies nirgends entdecken, was er nicht besonders tragisch fand.

Während er seinen Blick über die Menge schweifen ließ, die vielleicht zwei- bis dreihundert Personen zählte, fiel ihm ein dunkelhaariger und dunkelhäutiger Mann auf, der ihn, wie es schien, seinerseits mit mehr als müßiger Neugier musterte. Als sich ihre Blicke begegneten, schlug der andere die Augen nieder und wandte sich ab, doch Paul wurde den Eindruck nicht los, daß der Mann ihn schon eine ganze Weile beobachtet hatte. Der dunkle Fremde drückte sich an zwei Frauen vorbei, die um einen Hund in einem Korb feilschten – Paul war sich nicht ganz sicher, zu welchem Zweck der Hund verkauft wurde, doch er meinte es zu ahnen und hoffte, daß Undine Pankie nichts davon mitkriegte –, und tauchte in der Menge unter.

Paul zuckte mit den Achseln und schlenderte weiter. Außer den asiatischen Gesichtszügen, die selbst in dieser weit zurückliegenden Zeit nicht über die Maßen selten waren, hatte sich der Mann nicht wesentlich von den anderen unterschieden, und auf jeden Fall hatte er nicht die Panikreaktion ausgelöst, die Paul bisher jedesmal bei Gefahr von seinen Verfolgern gehabt hatte.

Seine Gedanken wurden durch das plötzliche Erscheinen der Pankies unterbrochen. Frau Pankie war in Tränen aufgelöst, und ihr Mann bemühte sich, wenn auch ohne großen Erfolg, sie zu beruhigen. Einen Moment lang dachte Paul, sie hätte womöglich den Hundehandel mit angesehen und wäre an den armen gebratenen Dandy erinnert worden.

»Ach, Herr Johnson, ist das grausam!« Sie krallte sich in seinen Ärmel und hob flehend ihr breites Gesicht zu ihm auf.

»Vielleicht wollen sie ihn ja bloß als Wachhund haben …«, begann er, aber die Frau hörte gar nicht zu.

»Ich habe sie gerade gesehen – genau das Alter, in dem unsere Viola gewesen wäre, wenn sie nicht… Ach, ist das grausam, ist das grausam!«

»Na, na, Frau Pankie.« Sefton schaute sich nervös um. »Mach doch nicht so eine Szene.«

»Viola?«

»Unser kleines Mädchen. Sie war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten! Ich wollte hingehen und mit ihr reden, aber Herr Pankie ließ mich nicht. Ach, mein armes kleines Mädchen!«

Paul schüttelte den Kopf. »Ihr kleines Mädchen? Aber Sie sagten doch, Sie hätten keine …«

»Erfunden«, sagte Sefton Pankie mit fester Stimme, aber Paul meinte, eine Spur von Panik darin zu hören. »Als Trost sozusagen. Wir haben uns ein Kind ausgedacht, wissen Sie, ein Mädchen, und es Viola getauft. War es nicht so, Frau Pankie?«

Undine schniefte und wischte sich mit ihren Ärmeln die Nase. »Meine liebe Viola.«

»… Und dieses Mädchen da drüben bei den Hecken, na ja, sie sah so aus, wie wir … wie wir uns diese Tochter vorgestellt hatten. Verstehen Sie?« Er rang sich ein derart klägliches Lächeln ab, daß Paul am liebsten weggeguckt hätte. Einerlei was das hier war, Wahnsinn oder Schwindel, er hatte das Gefühl, in etwas Einblick zu nehmen, das er nicht sehen sollte.

Frau Pankie hatte aufgehört zu weinen und schien erkannt zu haben, daß sie zu weit gegangen war. »Es tut mir furchtbar leid, Herr Johnson.« Ihr Lächeln war nicht glaubwürdiger als das ihres Gatten. »Sie müssen mich für eine dumme Gans halten. Und das bin ich auch – eine dumme alte Gans.«

»Keineswegs …«, begann Paul, aber Sefton Pankie war bereits dabei, seine Frau fortzuschieben.

»Sie braucht einfach etwas frische Luft«, sagte er über die Schulter, ungeachtet der Tatsache, daß es in dem offenen Garten gar nichts anderes gab. »Dies alles hat sie furchtbar mitgenommen … furchtbar mitgenommen.«

Paul konnte nur zusehen, wie sie schwankend in der Menge entschwanden, die große Gestalt auf die kleine gestützt.

 

Er stand vor den hohen Hecken, die den äußeren Rand des berühmten Labyrinths bildeten, und kaute an einem Stück Fleisch vom Spieß, Ziegenfleisch, wie der Mann, der es verkaufte, hoch und heilig geschworen hatte. Der Verkäufer hatte das Essen und einen Humpen Bier gegen Pauls Weste eingetauscht, ein Preis, der zwar hoch war, aber unter den Umständen nicht exorbitant. Paul hatte den Humpen auf einen Zug geleert. Eine kleine Stärkung konnte er jetzt gut gebrauchen.

Seine Gedanken gingen wild durcheinander, und er konnte einfach keine Ordnung hineinbringen. Konnte es so simpel sein, wie es sich darstellte – daß die Pankies in ihrer Einsamkeit ein Märchenkind erfunden hatten, um damit ihr kinderloses Dasein zu erfüllen? Doch was hatten sie mit der Bemerkung gemeint, das Mädchen sei genau in dem Alter, in dem ihre Viola gewesen wäre, wenn sie nicht…? Wenn sie nicht was? Wie konnte man ein Kind verlieren – vermutlich durch Tod –, das man nur erfunden hatte?

»Sie sind hier fremd.«

Paul fuhr auf. Der dunkelhäutige Mann stand mit ernstem Gesicht und durchdringend blickenden braunen Augen in dem Bogen, der den Eingang zum Labyrinth bildete.

»Ich … ja, das bin ich. Ein Haufen anderer bestimmt auch. Einen Markt wie diesen hier gibt es weit und breit nicht.«

»Da haben Sie recht.« Der Fremde verzog den Mund zu einem kurzen, flüchtigen Lächeln. »Ich würde mich sehr gern einmal mit Ihnen unterhalten, Herr…?«

»Johnson. Warum? Und wer sind Sie?«

Der Mann beantwortete nur die erste Frage. »Sagen wir, daß ich über gewisse Informationen verfüge, die Ihnen von Nutzen sein könnten, Sir. Jedenfalls jemandem in … besonderen Umständen.«

Pauls Puls hatte sich nicht wieder normalisiert, seit der Fremde ihn angesprochen hatte, und die sorgfältig gewählten Worte des Mannes trugen nicht dazu bei, ihn zu verlangsamen. »Dann reden Sie.«

»Nicht hier.« Der Fremde blickte streng. »Aber wir werden nicht weit gehen.« Er drehte sich um und deutete auf das Labyrinth. »Kommen Sie mit.«

Paul mußte sich entscheiden. Er traute dem Mann durchaus nicht, aber wie er schon vorher bemerkt hatte, reagierte er auch nicht mit instinktiver Furcht auf ihn. Und wie Herr Pankie, wenn auch nicht so extrem, war der Fremde zu klein, um sehr bedrohlich zu wirken. »Na schön. Aber Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wie Sie heißen.«

»Nein«, erwiderte der Fremde, wobei er ihn mit einer Geste aufforderte, durch das Drehkreuz zu gehen, »das habe ich nicht.«

Wie um Pauls Befürchtungen zu zerstreuen, wahrte der vorausschreitende Fremde zwischen den Heckenwänden des Labyrinths mindestens einen Meter Abstand. Doch statt ihm irgendwelche Enthüllungen zu machen, plauderte er über allerlei Belanglosigkeiten, befragte Paul nach dem Stand der Dinge andernorts – er wußte angeblich nicht, aus welchem Teil Englands Paul gekommen war – und berichtete ihm seinerseits über den Wiederaufbau der Gegend um Hampton Court nach der Invasion.

»Ja, ja, die Menschen, immer wieder fangen sie neu zu bauen an«, bemerkte der Fremde. »Bewundernswert, finden Sie nicht?«

»Wahrscheinlich.« Paul blieb stehen. »Hören Sie, möchten Sie mir vielleicht langsam sagen, worum es geht? Oder wollten Sie mich einfach hier hereinlotsen, um mich auszurauben oder sowas in der Art?«

»Wenn ich nur Leute ausrauben wollte, würde ich dann von besonderen Umständen sprechen?« fragte der Mann. »Denn sehr wenigen können diese Worte soviel sagen wie Ihnen, möchte ich meinen.«

Noch während ihm ein warnender Schauder den Rücken hinunterlief, erkannte Paul plötzlich den Akzent, der die Aussprache des Fremden ganz schwach färbte: Er mußte Inder oder Pakistani sein, auch wenn er tadellos Englisch sprach. Paul beschloß, daß es an der Zeit war, klare Verhältnisse zu schaffen.

»Nehmen wir an, Sie haben recht. Was folgt daraus?«

Statt auf den Köder anzubeißen, drehte der Fremde sich um und ging weiter. Nach kurzem Zögern eilte Paul hinterher. »Nur noch ein kleines Stück«, sagte der Mann. »Dann können wir reden.«

»Reden Sie jetzt.«

Der Fremde lächelte. »Na gut. Zuerst möchte ich Ihnen sagen, daß Ihre Reisegefährten nicht sind, was sie zu sein scheinen.«

»Tatsächlich? Was sind sie denn? Satanisten? Vampire?«

Der dunkle Mann schürzte die Lippen. »Genau kann ich es Ihnen nicht sagen. Aber ich weiß, daß sie etwas anderes sind als ein nettes, gemütliches Ehepaar aus England.« Er breitete seine Arme aus, als sie um die nächste Ecke bogen und sich im Herzen des Labyrinths befanden. »Wir sind da.«

»Das ist doch lächerlich.« In Paul kämpfte der Zorn gegen eine immer stärker werdende Furcht an. »Sie haben mir nicht das geringste erzählt. Sie haben mich bloß hierhergelockt, und weshalb?«

»Leider deshalb.« Der Fremde sprang vor, umschlang Pauls Taille und hielt damit seine beiden Arme fest. Paul wehrte sich, aber der Mann war überraschend stark. Das Licht im Zentrum des Labyrinths veränderte sich jäh, als ob die Sonne plötzlich die Richtung gewechselt hätte.

»Halloo!« Frau Pankies schriller Schrei erscholl ein paar Gänge weiter. »Halloo, Herr Johnson? Sind Sie da? Haben Sie die Mitte gefunden, Sie gescheiter Mann?«

Paul bekam nicht genug Luft, um Hilfe rufen zu können. Rings um ihn herum breitete sich ein gelbes Leuchten aus, das den Bänken und Hecken und dem Kiespfad eine butterig-trübe Durchsichtigkeit verlieh. Als er das goldene Licht erkannte, verstärkte Paul seinen Widerstand. Er bekam kurz eine Hand frei und griff dem dunklen Mann in die dichten schwarzen Haare, aber da zog ihm der andere ein Bein weg und versetzte ihm einen Stoß, so daß er rückwärts durch das Licht stürzte und schlagartig im Nichts war.