EINUNDDREISSIG
Ein großer Sprung seitwärts
Rincewind saß in seinem neuen Büro und führte ein Verzeichnis über Steine. Er hatte ein recht gutes System entwickelt, basierend auf Größe, Form, Farbe und siebenundzwanzig anderen Eigenschaften, darunter die Frage, ob er den Stein für freundlich oder nicht hielt.
Wenn er Querverweisen die nötige Aufmerksamkeit schenkte, dann sollten ihm mindestens drei ruhige Jahre in diesem Zimmer bevorstehen.
Deshalb war er ziemlich überrascht, als man ihn plötzlich packte und zum Forschungstrakt für hochenergetische Magie trug, während er in der einen Hand einen harten, quadratischen, hellgrauen Stein hielt, in der anderen ein Exemplar, das Menschen zu mögen schien.
»Gehört das dir?« donnerte Ridcully und trat zur Seite. Hinter ihm kam das Omniskop zum Vorschein.
Die Truhe schwamm einige Meter vor dem Ufer und wirkte recht zufrieden.
»Äh …«, sagte Rincewind. »Ich denke schon.«
»Wie kam das Ding dort hinein?«
»Äh … wahrscheinlich sucht es mich«, erwiderte Rincewind. »Manchmal verliert es die Orientierung.«
»Aber das ist ein anderes Universum!« entfuhr es dem Dekan.
»Tut mir leid.«
»Kannst du die Truhe zurückrufen?«
»Lieber Himmel, nein. Wenn ich sie zurückrufen könnte, würde ich sie fortschicken.«
»Intelligentes Birnbaumholz ist metamagisch und folgt seinem Besitzer zu jedem beliebigen Ort in Raum und Zeit«, erklärte Ponder.
»Ja, aber dieser Ort ist eine Ausnahme!« sagte Ridcully.
»Ich kann mich nicht daran erinnern, daß ›dieser Ort ist eine Ausnahme‹ jemals als eine anerkannte Teilmenge von Raum und Zeit galt, Herr«, meinte Ponder. »Bemerkungen wie ›dieser Ort ist eine Ausnahme‹ und ›dieses Stück nicht‹ sind meines Wissens nie Teil einer magischen Beschwörung gewesen, erst recht nicht seit der verstorbene Vergeßliche Funnit versuchte, solche Worte im letzten Augenblick einer sehr erfolgreichen Zauberformel hinzuzufügen – sie zerstörte den ganzen Baum, in dem er saß.«
»Die Truhe könnte eine Teilmenge aus mindestens n Dimensionen beinhalten, die vielleicht neben einer anderen Struktur aus n Dimensionen koexistiert«, sagte der Quästor.
»Achte nicht auf ihn, Stibbons«, meinte Ridcully und seufzte. »Solch einen Unsinn gibt er von sich, seit er versucht hat, HEX Ausschriebe zu verstehen. Was meinst du mit n, alter Knabe?«
»Ente«, sagte der Quästor.
»Ich bin sicher, daß irgendwelches Federvieh kaum etwas damit zu tun hat«, ließ sich der Dekan vernehmen. »Vermutlich meint er imaginäre Zahlen. Liegen seiner Ansicht nach zwischen drei und vier.«
»Zwischen drei und vier gibt es keine Zahlen«, sagte Ridcully.
»Er stellt sich welche vor«, erwiderte der Dekan. »Deshalb nennt er sie ja auch ›imaginäre‹ Zahlen.«
»Wenn wir uns von der Truhe aufnehmen lassen«, fragte Ponder, »könnten wir dann physisch ins andere Universum gelangen?«
»Wenn du einen solchen Versuch wagen willst …« Rincewind schüttelte sich. »Ich persönlich schnitte mir lieber die Nase ab.«
»Ach, tatsächlich?«
»Aber vielleicht«, sagte Ridcully, »läßt sich die Truhe verwenden, um Dinge aus dem anderen Universum hierher zu uns zu bringen, nicht wahr?«
Unten im Wasser stürzte die sonderbare Steinkonstruktion des Wesens zum wiederholten Male ein.
Eine Woche verging. Am Dienstag fiel ein übriggebliebener Schneeball auf den Planeten, was die Zauberer sehr ärgerte und eine ganze Spezies von netzewebenden Quallen vernichtete, in die der Oberste Hirte große Hoffnungen gesetzt hatte. Wenigstens konnte Truhe wirklich verwendet werden, um Dinge aus dem anderen Universum zu holen. Dabei handelte es sich vor allem um Geschöpfe, die dumm genug waren, in etwas hineinzuschwimmen, das mit geöffneter Klappe im Wasser hockte – diese Beschreibung traf derzeit auf die meisten Bewohner des Meeres zu.
Das Leben in der runden Welt schien eine so dominante Eigenschaft zu besitzen, daß sich die Zauberer sogar fragten, ob es sich dabei um ein begriffliches Element handelte, das vielleicht versuchte, die durch das Fehlen von Göttlichem entstandene Lücke zu füllen.
»Allerdings halte ich Verdammtesturheit nicht für einen guten Namen«, sagte Ridcully.
»Vielleicht klingt es besser, wenn wir die Betonung verändern«, meinte der Dozent für neue Runen. »Ver-damm-te-stur-heit – na?«
»Wie immer du es auch nennst – das Leben in der Rundwelt hat jede Menge davon«, sagte der Dekan. »Es läßt sich nicht einmal von einer großen Katastrophe entmutigen.«
Dinge erschienen. Schalentiere schienen plötzlich sehr populär zu sein. Eine rasch an Boden gewinnende Theorie ging davon aus, daß die Welt selbst zumindest einige von ihnen erzeugte, mit irgendeiner Art von automatischen Produktion.
»Nun, wenn es zu viele Kaninchen gibt, muß man Füchse erfinden«, sagte der Dekan bei einem der regelmäßig stattfindenden Treffen. »Wenn man Fische hat und sich Phosphat wünscht, braucht man Möwen.«
»Das klappt nur in der Präsenz von Narrativium«, warf Ponder ein. »Herr, es fehlt jeder Hinweis darauf, daß es auf dem Planeten irgend etwas mit einer Vorstellung von Kausalität gibt. Die Lebensformen … leben einfach und sterben.«
Und dann, am Donnerstag, entdeckte der Oberste Hirte einen Fisch. Einen echten, schwimmenden Fisch.
»Na bitte«, sagte er triumphierend. »Der Ozean ist das natürliche Heim des Lebens. Seht euch das Land an. Da gibt es nur irgendwelchen Kram, ehrlich gesagt.«
»Aber das Leben im Meer erreicht nichts«, meinte Ridcully. »Nimm nur die mit Tentakeln ausgestatteten Schalentiere, denen du gestern etwas beibringen wolltest. Es genügte schon eine plötzliche Bewegung, um sie zu veranlassen, Tinte nach dir zu spritzen und zu fliehen.«
»Nein, nein, sie versuchten zu kommunizieren«, beharrte der Oberste Hirte. »Immerhin ist Tinte ein natürliches Medium. Hast du nicht den Eindruck, daß sich alle Lebensformen Mühe geben? Man sieht direkt, wie sie nachdenken, findest du nicht?«
Der wassergefüllte Behälter hinter ihm enthielt einige Geschöpfe, die aus ihren spiralförmigen großen Schalen blickten. Der Oberste Hirte glaubte, daß man ihnen einfache Dinge beibringen konnte, die sie anschließend an andere Ammoniten weitergeben sollten. Sie erwiesen sich als große Enttäuschung. Sie mochten gut sein, wenn es allein ums Denken ging, aber nichts deutete auf die Bereitschaft hin, irgendwelche Ergebnisse ihres Denkens in die Tat umzusetzen.
»Welchen Sinn hat das Denken, wenn es gar keine Dinge gibt, über die es nachzudenken lohnt?« fragte der Dekan. »Bietet das Meer in dieser Hinsicht große Anreize? Die Flut kommt, die Flut wird von der Ebbe abgelöst, alles ist naß, Ende der philosophischen Überlegungen.«
»Hier sieht die Sache vielversprechender aus«, fuhr der Dekan fort und schritt zu einem anderen Behälter. Die Truhe leistete gute Sammlerdienste, vorausgesetzt, die betreffenden Geschöpfe stellten keine Gefahr für Rincewind dar.
»Hmpf«, schniefte der Oberste Hirte. »Im Wasser lebende Bohrasseln.«
»Aber es gibt ziemlich viele davon«, sagte der Dekan. »Und sie haben Beine. Ich habe sie am Ufer gesehen.«
»Reiner Zufall. Und ihnen fehlt etwas, das sie als Hände benutzen könnten.«
»Oh, freut mich, daß du darauf hinweist.« Der Dekan ging zum nächsten Aquarium.
Es enthielt Krabben.
Der Oberste Hirte mußte zugeben, daß Krabben gute Kandidaten für den Status der höchsten Lebensform zu sein schienen. Auf der anderen Seite des Planeten hatte HEX welche entdeckt, die tatsächlich Erstaunliches leisteten: Sie hatten kleine Unterwasserstädte gebaut, bewacht von speziell angepflanzten Seeanemonen, und es gab auch so etwas wie Schalentierfarmen. Darüber hinaus führten die Krabben gelegentlich Krieg und errichteten Statuen aus Sand und Spucke, wahrscheinlich Denkmäler für berühmte, im Kampf gefallene Krabben.
Fünfzigtausend Jahre später, nach dem Kaffee, sahen die Zauberer noch einmal nach. Zur großen Freude des Dekans hatte der Bevölkerungsdruck die Krabben gezwungen, sich auch an Land auszubreiten. Die Architektur wies kaum Verbesserungen auf, aber in den Lagunen erstreckten sich jetzt Algenfarmen, und einige ganz offensichtlich dümmere Krabben waren versklavt worden: Sie wurden für den Transport und auch bei Konflikten zwischen einzelnen Clans eingesetzt. In einer Bucht schwammen große Flöße mit einfach gewobenen Segeln. Auf ihnen wimmelte es von Krabben. Allem Anschein nach bereitete sich die Krabbenheit auf einen großen Sprung seitwärts vor.
»Nun, wir haben das Ziel noch nicht ganz erreicht«, sagte Ridcully. »Aber diese Sache ist vielversprechend, Dekan.«
»Wißt ihr, im Wasser ist alles zu leicht«, erwiderte der Dekan. »Nahrung schwimmt vorbei, es gibt kein nennenswertes Wetter, echte Herausforderungen fehlen … Das Land ist meiner Ansicht nach genau der richtige Ort, um ein wenig Rückgrat zu schaffen …«
Ein Klappern und Rasseln kam von HEX. Der Fokus des Omniskops wich rasch zurück, bis die Welt zu einer im Raums schwebenden Kugel wurde.
»Meine Güte«, stöhnte der Erzkanzler und deutete auf einen Gasschweif. »Es geht schon wieder los.«
Die Zauberer beobachteten bedrückt, wie sich ein großer Teil der einen Hemisphäre in ein brodelndes Chaos aus Dampf und Feuer verwandelte.
»Geschieht so etwas jedesmal?« fragte der Dekan, als sich die Rauchschwaden ein wenig lichteten und übers Meer ausbreiteten.
»Ich schätze, es liegt an der viel zu großen Sonne und den ganzen Planeten«, sagte Ridcully. »Und ihr hättet die vielen Schneebälle fortbringen sollen. Früher oder später fallen sie herab.«
»Es wäre nett, wenn eine Spezies wenigstens fünf Minuten lang irgend etwas ausprobieren könnte, ohne zu erfrieren oder zu braten«, meinte der Oberste Hirte.
»So ist das Leben«, sagte Ridcully.
»Aber nicht lange«, fügte der Oberste Hirte hinzu.
Hinter ihnen wimmerte jemand.
Rincewind hing in der Luft. Um ihn herum schimmerten die Konturen des Virtuell-da-Anzugs.
»Was ist los mit ihm?« fragte Ridcully.
»Äh … Ich habe ihn gebeten, die Zivilisation der Krabben zu untersuchen, Herr.«
»Die gerade vom Kometen vernichtet wurde?«
»Ja, Herr. Über ihm sind eine Milliarde Tonnen Felsgestein verdampft, Herr.«
»Er ist doch nicht verletzt, oder?«
»Nun, ich denke, er ist zusammengezuckt, Herr.«