ZWANZIG
Ein gewaltiger Sprung für die Mondheit
Die Menschheit hat immer gewußt, daß der Mond wichtig ist. Oft scheint er nachts, was nützlich ist; an einem Himmel, wo Veränderung selten ist, wandelt er sich; manche von uns glauben, daß unsere Ahnen dort leben. Letzteres läßt sich vielleicht nicht experimentell nachweisen, nichtsdestoweniger hat es die Menschheit im allgemeinen richtig erfaßt. Der Mond streckt geisterhafte Fühler aus, Schwerkraft und Licht; vielleicht ist er sogar unser Beschützer.
Die Zauberer machen sich zu Recht Sorgen, daß sie vergessen haben, der Rundwelt einen Mond zu geben, wenngleich sie sich wie üblich aus den falschen Gründen Sorgen machen.
Der Mond ist ein Satellit der Erde; wir umkreisen die Sonne, aber der Mond umkreist uns. Er ist schon seit langer Zeit dort oben, und auf seine stille Art ist er die ganze Zeit über ausgesprochem emsig. Der Mond beeinflußt Menschen nicht minder als Schildkrötenjunge. Am stärksten beeinflußt er uns, indem er Gezeiten hervorruft. Er kann uns auf andere, weniger offensichtliche Arten beeinflussen, obwohl das meiste, was über den Mond geglaubt wird, vorsichtig ausgedrückt, wissenschaftlich umstritten ist. Der weibliche Menstruationszyklus wiederholt sich etwa alle vier Wochen, ziemlich genau in derselben Zeit, die der Mond braucht, um die Erde zu umrunden – einen Monat, das Wort kommt denn auch von ›Mond‹. Im Volksglauben ist diese Übereinstimmung kein Zufall, wie zum Beispiel ›die falsche Zeit im Monat‹ besagt. Andererseits ist der Mond das Sinnbild der Regelmäßigkeit, so genau vorherzusagen wie das Datum von Weihnachten, was man vom Menstruationszyklus nicht sagen kann.* [* Überdies hatten bis auf die letzten paar Jahrzehnte der menschlichen Geschichte die meisten Frauen so gut wie keinen Zyklus. Fast die ganze Zeit über waren sie entweder schwanger oder stillten. Und bei den großen Menschenaffen ist der Zyklus rund eine Woche länger als beim Menschen, und bei den Gibbons ist er kürzer. Es sieht also ganz so aus, daß die Übereinstimmung mit dem Mond Zufall ist.] Für Liebesleute freilich wirkt der Mond anregend (wenn es nicht gerade kalt ist oder regnet) … Weit verbreitet ist auch die Ansicht, daß Menschen bei Vollmond verrückt werden oder – eine extremere Art Wahnsinn – sich bei entsprechender Veranlagung für eine Nacht in Wölfe verwandeln.
Die Werwolflegende spielt eine Hauptrolle in Helle Barden. Die meiste Zeit ist Obergefreite Angua in der Wache von Ankh-Morpork eine gut gebaute aschblonde Frau, doch bei Vollmond verwandelt sie sich in eine Wölfin, die Gerüche farbig sehen und Menschen die Hauptschlagadern aufreißen kann. Doch ihr Privatleben bringt das ziemlich durcheinander: »Das Leben brachte gewisse Probleme mit sich, wenn einem bei Vollmond Haare und Reißzähne wuchsen. Aus einigen unliebsamen Erfahrungen hatte sie erkannt, daß Männer es nicht mochten, wenn ihre Partnerin plötzlich ein Fell bekam.« Zum Glück stört sich Korporal Karotte nicht an diesen gelegentlichen Veränderungen. Er mag eine Freundin, die gern ausgedehnte Streifzüge durch die Stadt unternimmt.
Der Mond ist ungewöhnlich, und ziemlich wahrscheinlich würde es uns ohne ihn nicht geben. Nicht wegen der ihm zugeschriebenen Wirkung auf Liebende, die schon einen Weg finden, mit oder ohne Mond, sondern weil der Mond die Erde vor einigen widerwärtigen Einflüssen beschützt, die es erschwert hätten, daß Leben entsteht oder zumindest daß es sich über die rudimentärsten Formen hinausentwickelt. Was den Mond ungewöhnlich macht, ist nicht die Tatsache, daß er einen Planeten begleitet: Alle Planeten außer Merkur und Venus haben Monde. Bemerkenswert ist er vielmehr deshalb, weil er im Vergleich zu seinem Planeten ein derart großer Begleiter ist. Nur Pluto hat einen Satelliten – den 1978 von Jim Christy entdeckten Charon –, der der relativen Größe nach mit unserem Mond zu vergleichen ist. Es ist keine besonders große Übertreibung, wenn wir sagen, daß wir auf einer Hälfte eines Doppelplaneten leben.
Wir wissen, daß sich der Mond in jeder Weise von der Erde unterscheidet. Seine Schwerkraft ist geringer, so daß er keine Atmosphäre längere Zeit halten könnte, selbst wenn er eine hätte, die er in jedem vernünftigen Sinn des Wortes nicht hat. Die Mondoberfläche besteht aus Gestein und Gesteinsstaub ohne jedes Meer (auch Wasser entweicht leicht) – allerdings haben 1997 Raumsonden der NASA erhebliche Mengen von Wassereis an den Polen des Mondes entdeckt, wo sie im dauernden Schatten von Kraterwänden vor der Wärme der Sonne geschützt sind. Das sind gute Neuigkeiten für künftige Mondkolonien, die als Basen für die Erforschung des Sonnensystems dienen könnten. Der Mond ist als Startplatz gut geeignet, weil ein Raumschiff nicht viel Treibstoff benötigt, um die Mondanziehung zu überwinden; die Erde eignet sich dafür natürlich viel schlechter, weil hier unten die Gravitation viel stärker ist. Es ist wieder einmal typisch für die Menschen, daß sie sich am falschen Ort entwickelt haben …
Wie ist der Mond entstanden? Kondensierte er aus den Urstaubwolken zusammen mit der Erde? Bildete er sich gesondert und wurde später eingefangen? Sind die Krater ehemalige Vulkane, oder sind sie die Narben, die auf den Mond stürzende Felsbrocken hinterlassen haben? Wir wissen über den Mond eine Menge mehr als über die meisten anderen Körper im Sonnensystem, weil wir da waren. Im April 1969 stieg Neil Armstrong auf die Mondoberfläche hinab, sagte sein Verslein auf und machte Geschichte. Von 1968 bis 1972 schickten die Vereinigten Staaten zehn Apollo-Missionen zum Mond und zurück. Davon sollten Apollo 8, 9 und 10 von Anfang an nicht landen; Apollo 11 vollbrachte die historische erste Landung; und Apollo 13 schaffte keine Landung, nachdem eine verheerende Explosion in einer frühen Flugphase aus dem Unternehmen einen erstklassigen Filmstoff gemacht hatte.
Die übrigen Apollos 11 bis 17 landeten und brachten insgesamt 400 kg Mondgestein zurück. Das meiste davon ist in der Lunar Curatorial Facility des Johnson Space Center der NASA in Clear Lake, Houston, gelagert; ein großer Teil davon ist niemals ernsthaft untersucht worden, doch aus dem, was tatsächlich analysiert wurde, haben wir eine Menge über Ursprung und Natur des Mondes erfahren.
Der Mond befindet sich etwa 400 000 Kilometer von der Erde entfernt. Er ist im Schnitt weniger dicht als die Erde, doch seine Dichte kommt der des Erdmantels sehr nahe, ein merkwürdiger Umstand, der vielleicht kein Zufall ist. Der Mond wendet der Erde immer dieselbe Seite zu, schwankt allerdings ein wenig hin und her. Die dunklen Gebiete auf dem Mond werden Mare genannt, vom lateinischen Wort für Meer, doch sie sind keine Meere. Sie sind flache Ebenen von Gestein, das einmal geschmolzen war und über die Mondoberfläche floß wie Lava von einem Vulkan. Fast alle Krater sind Einschlagkrater, wo Meteoriten auf dem Mond aufgetroffen sind. Es gibt viele davon, weil es viele Gesteinsbrocken gibt, die durch den Weltraum fliegen, da der Mond keine schützende Atmosphäre hat, in der die Steine verglühen könnten, und kein Wetter, das sie abtragen könnte, bis sie verschwunden sind. Die Erdatmosphäre ist ein ziemlich guter Schild, doch als die Geologen erst einmal zu suchen begannen, fanden sie hier unten die Überreste von 160 Einschlagkratern, was unter dem Gesichtspunkt interessant ist, daß die meisten davon in Wind und Regen erodiert worden sein müssen. Doch davon mehr, wenn wir zu den Dinosauriern kommen.
Heute wendet der Mond der Erde immer dieselbe Seite zu, das heißt, er rotiert in einem Monat einmal um seine Achse, in derselben Zeit, die er zu einem Umlauf um die Erde benötigt. (Wenn er gar nicht rotieren würde, würde er immer in dieselbe Richtung zeigen – nicht in dieselbe Richtung in bezug auf die Erde, sondern in dieselbe Richtung, Punkt. Stellen Sie sich jemanden vor, der im Kreis um Sie herumgeht, aber dabei immer nach, sagen wir, Norden schaut. Dann schaut er nicht immerzu Sie an. Vielmehr sehen Sie ihn von allen Seiten.) Es ist nicht immer so gewesen. Hunderte von Jahrmillionen lang haben die Gezeiten bewirkt, daß sich die Umdrehungsgeschwindigkeiten sowohl des Mondes als auch der Erde verringerten. Als sich die Mondrotation mit seinem Umlauf um die Erde synchronisiert hatte, wurde das System stabil. Der Mond war der Erde auch ein gutes Stück näher, doch über lange Zeiträume hinweg hat er sich immer weiter entfernt.
Zwischen 1600 und 1900 kamen drei Theorien über die Entstehung des Mondes in und wieder aus der Mode. Eine Theorie besagte, daß der Mond zur selben Zeit wie die Erde entstanden sei, als die Staubwolke kondensierte und das Sonnensystem – Sonne, Planeten, Monde – bildete. Wie die frühen Theorien über die Entstehung des Sonnensystems versagt auch diese angesichts des Drehimpulses. Die Erde dreht sich zu schnell, und der Mond läuft zu schnell um, als daß der Mond aus einer Staubwolke kondensiert sein könnte. (Wir haben Sie früher irregeführt, als wir sagten, die Staubwolkentheorie erkläre auch die Monde. Größtenteils tut sie das, aber nicht für unseren rätselhaften Mond. Lügen-für-Kinder eben – jetzt sind Sie bereit für die nächste, kompliziertere Ebene.)
Theorie zwei hielt den Mond für ein Stück der Erde, das sich abtrennte, vielleicht zu der Zeit, als die Erde noch vollständig geschmolzen war und ein gutes Stück schneller rotierte. Diese Theorie kam in den Mülleimer, weil niemand eine plausible Erklärung dafür finden konnte, wieso die rotierende geschmolzene Erde irgend etwas ausstoßen sollte, das auch nur im entferntesten an den Mond erinnerte, selbst wenn man eine Weile wartete, bis sich die Dinge etwas abgekühlt hätten.
Nach Theorie drei entstand der Mond anderswo im Sonnensystem und zog seine Bahn, bis er zufällig in die Schwerkraftfänge der Erde geriet, ohne wieder loskommen zu können. Diese Theorie war sehr beliebt, obwohl ein Einfangen im Gravitationsfeld ausgesprochen schwierig zu bewerkstelligen ist. Es ist ungefähr das gleiche, als wolle man einen Golfball so in ein Loch werfen, daß er gerade immer am Rande herumläuft. Für gewöhnlich fällt er einfach in das Loch (stößt mit der Erde zusammen) oder tut, was jeder Golfspieler zu seinem blanken Entsetzen erlebt hat: Er verschwindet für den Bruchteil einer Sekunde im Loch und springt wieder heraus (entweicht, ohne eingefangen zu werden).
Die Gesteinsproben von den Apollomissionen machten den Ursprung des Mondes noch rätselhafter. In mancherlei Beziehung ist Mondgestein dem irdischen Gestein erstaunlich ähnlich. Wenn sie in den meisten Beziehungen ähnlich wären, so wäre das ein Indiz für gemeinsamen Ursprung, und wir müßten uns die Theorie, nach der sie beide aus derselben Staubwolke entstanden sind, noch einmal genauer ansehen. Doch Mondgestein ähnelt nicht dem gesamten Erdgestein, sondern nur dem Erdmantel. Die gegenwärtige Theorie, die aus den frühen achtziger Jahren stammt, besagt, daß der Mond einmal Teil des Erdmantels war. Er löste sich nicht im Ergebnis der Erdumdrehung ab: Er wurde vor etwa vier Milliarden Jahren in den Weltraum geschleudert, als ein riesiger Himmelskörper etwa von der Größe des Mars die Erde streifte. Computerberechnungen zeigen, daß solch ein Hieb unter geeigneten Bedingungen ein großes Stück vom Erdmantel herausschlagen und sozusagen im Raum verteilen kann. Das dauert 13 Minuten (sind Computer nicht gut?). Dann beginnt die herausgeschlagene Mantelmaterie, die geschmolzen ist, zu einem Ring von Gesteinsbrocken unterschiedlicher Größe zu kondensieren. Ein Teil davon bildet einen großen Klumpen, den Proto-Mond, und der schluckt ziemlich schnell den größten Teil der anderen. Was übrigbleibt, verschwindet freilich nicht ganz so schnell, aber im Laufe von 100 Millionen Jahren stürzt fast alles davon infolge der Schwerkraft entweder auf den Mond oder auf die Erde.
Die ersten Computersimulationen, mit denen diese Theorie von der Entstehung des Mondes zu stützen wäre, wiesen etliche Probleme auf; insbesondere datierten sie den Aufschlag sehr früh in die Entstehungsgeschichte der Erde, um auf das richtige Drehmoment für den Mond zu kommen. Wenn der Zusammenstoß aber so früh erfolgte, dann hätte der Mond aufgrund späterer Einschläge eine Menge Eisen angesammelt, ebenso wie es die Erde getan hat. Es gibt jedoch wenig Eisen auf dem (oder im) Mond. Neuere Arbeiten zeigen, daß ein deutlich späterer Aufschlag dem Mond ebenfalls das richtige Drehmoment geben konnte, und sie vermeiden diese Schwierigkeit. Sie besagen jedoch, daß etwa 80% des aufschlagenden Körpers auf den Mond gelangt wären. Damit der Mond dem Erdmantel so sehr ähnelt, wie es der Fall ist, müßte auch der aufschlagende Körper dem Erdmantel ähnlich gewesen sein.
Diese Richtung der theoretischen Überlegungen könnte jedoch von der Fragestellung abirren, denn es war ja gerade diese Ähnlichkeit, die zunächst nach einer Erklärung verlangte und die Theorie aufbrachte, daß der Mond durch den Aufschlag eines riesigen Körpers entstanden ist. Alles, was die Ähnlichkeit dieses auftreffenden Körpers mit dem Mantel zu erklären vermag – etwa ›er entstand in derselben Entfernung von der Sonne wie die Erde‹ –, kann wahrscheinlich auch die Ähnlichkeit des Mondes mit dem Erdmantel erklären, ohne daß überhaupt ein aufschlagender Körper benötigt wird. Vielleicht wurden bei einem Aufschlag sowohl der Mond als auch der Erdmantel von etwas anderem abgeschlagen.
Da die Erde Wetter hat – vor allem seinerzeit, Junge, hatte die damals ein Wetter! –, sind die resultierenden Einschlagkrater alle von der Erosion ausgelöscht worden, doch da der Mond kein Wetter hat, sind die Einschlagkrater auf dem Mond nicht erodiert worden, und viele von ihnen sind noch da. Das Schöne an dieser Theorie ist die Tatsache, daß sie viele verschiedene Eigenschaften des Mondes in einem Aufwasch erklärt – seine Ähnlichkeit mit dem Erdmantel, die Tatsache, daß seine Oberfläche vor etwa vier Milliarden Jahre eine plötzliche und extreme Erwärmung durchgemacht zu haben scheint, seine Krater, seine Größe, seine Rotation – sogar die meerähnlichen Mare, die freigesetzt wurden, als der Proto-Mond sich langsam abkühlte. Im frühen Sonnensystem ging es ziemlich gewaltsam zu.
Im Grunde könnte uns die mißratene Sonne des Dekans doch einen guten Dienst erwiesen haben …
Der Mond beeinflußt das Leben auf der Erde auf mindestens zwei oder drei Weisen, die wir kennen, und wahrscheinlich Dutzende weitere, die wir noch nicht bemerkt haben.
Die offensichtlichste Wirkung des Mondes auf die Erde sind die Gezeiten – eine Tatsache, auf die die Zauberer zu stolpern. Wie meistens in der Wissenschaft verläuft die Geschichte mit den Gezeiten nicht ganz geradlinig und hängt nur lose mit dem zusammen, was der gesunde Menschenverstand, wenn er sich selbst überlassen bleibt, uns vermuten ließe. Der gesunde Menschenverstand sagt, daß die Schwerkraft des Mondes an der Erde zieht, und am stärksten an dem Stück, das dem Mond am nächsten liegt. Wenn dieses Stück Land ist, passiert weiter nichts, ist es aber Wasser – und über die Hälfte der Oberfläche unseres Planeten besteht aus Ozean –, kann es sich auftürmen. Diese Erklärung ist eine Lüge-für-Kinder und stimmt nicht mit dem tatsächlichen Geschehen überein. Sie drängt uns zu der Annahme, an jedem Ort der Erde trete das Hochwasser ein, wenn sich der Mond am höchsten Punkt seiner Bahn am Himmel befindet. Das würde zu einem Hochwasser pro Tag führen – oder mit Rücksicht auf eine gewisse Komplexität des Erde-Mond-Systems zu einem Hochwasser alle 24 Stunden und 50 Minuten.
In Wahrheit tritt das Hochwasser zweimal täglich auf, im Abstand von 12 Stunden und 25 Minuten. Genau doppelt so oft.
Nicht nur dies: Der Gravitationszug des Mondes an der Erdoberfläche beträgt nur ein Zehnmillionstel der Erdanziehung, der Gravitationszug der Sonne etwa die Hälfte davon. Sogar zusammen sind die beiden Kräfte nicht stark genug, um Wassermassen zu Höhen bis zu 21 m anzuheben – das ist der größte Tidenhub auf der Erde, der in der Fundy-Bucht zwischen Nova Scotia und New Brunswick vorkommt.
Eine annehmbare Erklärung der Gezeiten verschloß sich der Menschheit, bis Isaac Newton das Gravitationsgesetz fand und die notwendigen Berechnungen anstellte. Seine Vorstellungen sind seither verfeinert und verbessert worden, doch er verfügte über die Grundlagen.
Der Einfachheit halber wollen wir alles außer Erde und Mond außer acht lassen und annehmen, die Erde bestünde vollständig aus Wasser. Die Wasser-Erde dreht sich um ihre Achse, also unterliegt sie der Zentrifugalkraft und baucht sich am Äquator leicht aus. Zwei weitere Kräfte wirken auf sie ein: die Gravitation der Erde und die des Mondes. Die Gestalt, die das Wasser unter dem Einfluß dieser Kräfte annimmt, hängt von der Tatsache ab, daß es eine Flüssigkeit ist. Unter normalen Bedingungen ist die Oberfläche einer ruhenden Wassermasse horizontal, denn sonst würde das Wasser von den höheren Stellen seitwärts zu den niedrigeren laufen. Dasselbe geschieht, wenn zusätzliche Kräfte am Werk sind: Die Oberfläche des Wassers richtet sich senkrecht zur Richtung der resultierenden Gesamtkraft aus.
Wenn man die Einzelheiten für die drei eben erwähnten Kräfte ermittelt, stellt man fest, daß das Wasser ein Ellipsoid bildet, eine Form, die einer Kugel ähnelt, aber ganz schwach gestreckt ist. Die Streckrichtung zeigt zum Mond. Der Mittelpunkt des Ellipsoids fällt aber mit dem Mittelpunkt der Erde zusammen, so daß sich das Wasser auf der vom Mond abgewandten Seite ebenso ›auftürmt‹ wie auf der ihm zugewandten. Diese Formänderung wird nur teilweise dadurch hervorgerufen, daß die Schwerkraft des Mondes das ihm nächstgelegene Wasser ›anhebt‹. Der größte Teil der Bewegung erfolgt nämlich eher seitwärts als aufwärts. Die seitlichen Kräfte drücken mehr Wasser in gewisse Bereiche des Ozeans und ziehen sie aus anderen ab. Die Gesamtwirkung ist winzig – die Oberfläche des Meeres hebt und senkt sich in einem Bereich von einem halben Meter.
Es ist die Küste, wo sich Land und Meer begegnen, die die großen Gezeitenbewegungen hervorbringt. Der größte Teil des Wassers bewegt sich seitwärts (nicht aufwärts), und seine Bewegung wird von der Gestalt der Küstenlinie beeinflußt. An manchen Stellen fließt das Wasser in einen engen Trichter, und dann steigt es wesentlich höher als anderswo. Ebendas geschieht in der Fundy-Bucht. Der Effekt wird noch verstärkt, da Küstengewässer flach sind, so daß die Energie des sich bewegenden Wassers auf eine dünne Schicht konzentriert wird und größere und schnellere Bewegungen erzeugt.
Bringen wir nun die Sonne wieder ins Spiel. Das hat dieselbe Wirkung wie beim Mond, nur geringer. Wenn Sonne und Mond in einer Linie mit der Erde stehen – entweder beide auf derselben Seite der Erde, so daß wir einen Neumond sehen, oder auf verschiedenen Seiten (Vollmond) –, verstärken sich ihre Gravitationskräfte und führen zu sogenannten ›Springfluten‹, bei denen das Hochwasser höher als normal und das Niedrigwasser niedriger ist. Wenn Sonne und Mond von der Erde aus gesehen im rechten Winkel zueinander stehen, bei Halbmond, hebt die Anziehungskraft der Sonne die des Mondes teilweise auf, und es kommt zu sogenannten ›Nippfluten‹.
Indem man alle diese Effekte zusammenfaßt und gute Aufzeichnungen über vergangene Gezeiten führt, kann man die Zeitpunkte von Ebbe und Flut und die Ausmaße der senkrechten Bewegung an jedem Ort der Erde vorhersagen.
Es gibt ähnliche Gezeitenwirkungen (große) auf die Erdatmosphäre und (kleine) auf die Landmassen des Planeten. Gezeitenwirkungen kommen auf anderen Himmelskörpern im Sonnensystem und außerhalb vor. Man ist der Ansicht, daß der Jupitermond Io, dessen Oberfläche größtenteils aus Schwefel besteht und der zahlreiche aktive Vulkane besitzt, dadurch aufgeheizt wird, daß ihn die vom Jupiter ausgehende Gezeitenwirkung immer wieder ›quetscht‹.
Eine andere Wirkung des Mondes auf die Erde, die Mitte der neunziger Jahre von Jacques Laskar entdeckt wurde, besteht darin, die Erdachse zu stabilisieren. Die Erde dreht sich wie ein Kreisel, und zu jedem gegebenen Zeitpunkt gibt es eine Gerade durch den Erdmittelpunkt, um die alles andere kreist. Das ist die Achse. Die Erdachse ist gegenüber der Ebene der Erdumlaufbahn um die Sonne geneigt, und diese Neigung ruft die Jahreszeiten hervor. Manchmal ist der Nordpol der Sonne näher als der Südpol, und sechs Monate später ist es umgekehrt. Wenn das nördliche Ende der Achse zur Sonne hin geneigt ist, fällt mehr Sonnenlicht auf die nördliche Hälfte des Planeten als auf die südliche, also ist im Norden Sommer und im Süden Winter. Sechs Monate später, wenn die Achse in bezug auf die Sonne anders ausgerichtet ist, ist es umgekehrt.
Über lange Zeiträume hinweg ändert die Achse ihre Richtung. So wie ein Kreisel trudelt, während er sich dreht, tut es auch die Erde, und in 26 000 Jahren trudelt die Achse einmal im Kreis herum. Die Achse ist aber jederzeit im selben Winkel (23°) gegen die Senkrechte zur Erdumlaufbahn geneigt. Diese Bewegung wird Präzession genannt, und sie hat eine geringfügige Wirkung auf den zeitlichen Ablauf der Jahreszeiten – sie verschieben sich allmählich um ein Jahr in 26 000 Jahren. Im Großen und Ganzen harmlos. Die Achsen der anderen Planeten tun jedoch etwas weitaus Drastischeres: Sie ändern ihren Neigungswinkel gegen die Ebene der Umlaufbahn. Mars beispielsweise ändert diesen Winkel in einem Zeitraum von zehn bis zwanzig Millionen Jahren um 90°. Das hat dramatische Auswirkungen auf das Klima.
Nehmen wir an, die Achse eines Planeten steht im rechten Winkel zur Ebene seiner Umlaufbahn. Dann gibt es überhaupt keine jahreszeitlichen Schwankungen, aber überall außer an den Polen gibt es einen Tag-Nacht-Zyklus, wobei Tag und Nacht gleich lang sind. Wenn man jetzt die Achse ein wenig neigt, erscheinen Jahreszeiten, und die Tage sind im Sommer länger und im Winter kürzer. Nehmen wir nun an, die Achsenneigung beträgt 90°, so daß an einem bestimmten Punkt der Umlaufbahn der Nordpol genau zur Sonne hin zeigt. Ein halbes Jahr später zeigt der Südpol zur Sonne. An beiden Polen ist es ein halbes Jahr lang ›Tag‹ und das andere halbe Jahr hindurch ›Nacht‹. Die Jahreszeiten fallen mit dem Tag-Nacht-Zyklus zusammen. Teile des Planeten werden ein halbes Jahr lang in großer Hitze geröstet, um die andere Hälfte über zu gefrieren. Obwohl Leben unter solchen Bedingungen durchaus überleben kann, kann es wahrscheinlich schwerer entstehen und verwundbarer durch Klimaextreme, Vulkanismus und Meteoriteneinschläge sein.
Die Erdachse kann ihre Neigung über sehr lange Zeiträume – weitaus größere als der Präzessionszyklus von 26 000 Jahren – hinweg ändern, doch selbst in Hunderten von Jahrmillionen ändert sich der Winkel nicht sehr. Warum? Weil, wie Laskar bei seinen Berechnungen entdeckte, der Mond dazu beiträgt, die Erdachse stabil zu halten. Zumindest damit wird deutlich, daß das Leben auf der Erde dem beschwichtigenden Einfluß unserer Schwesterwelt eine Menge verdankt, wie sehr uns der Mond im Einzelfall auch verrückt machen mag.
Ein dritter Einfluß des Mondes wurde 1998 entdeckt: Ein deutlicher Zusammenhang zwischen den Gezeiten und der Wachstumsrate von Bäumen. Ernst Zürcher und Maria-Giulia Cantiani maßen die Durchmesser junger Fichten, die in Behältern im Dunkeln gewachsen waren. Über Zeiträume von mehreren Tage änderten sich die Umfänge im Rhythmus der Gezeiten. Die Wissenschaftler interpretieren das als eine Auswirkung der Mondgravitation auf den Wassertransport im Baum. Es können keine Änderungen im Mondlicht sein, die vielleicht die Photosynthese beeinflussen würden, da man die Bäume im Dunkeln wachsen ließ. Doch es kann ein ähnlicher Effekt wie bei Wesen sein, die am Meeresufer leben. Da sie sich an das Leben dort angepaßt haben, müssen sie auf die Gezeiten reagieren, und die Evolution erreicht das manchmal, indem sie eine innere Dynamik hervorbringt, die im Einklang mit den Gezeiten steht. Wenn man die Wesen in ein Laboratorium bringt, läßt diese innere Dynamik sie weiterhin den Gezeiten ›folgen‹.
Der Mond ist noch auf eine weitere Weise von Bedeutung gewesen. Die Babylonier und die Griechen wußten, daß der Mond eine Kugel ist; die Phasen sind offensichtlich, und es gibt auch eine leichte Taumelbewegung, durch die man nach und nach etwa mehr als die Hälfte der Mondoberfläche sieht. Da stand er am Himmel – eine große Kugel, keine Scheibe wie die Sonne, und ein Hinweis, daß ›große Kugeln im Raum‹ vielleicht eine bessere Art war, von der Erde und ihren Nachbarn zu denken, als ›Lichter am Himmel‹.
Das alles hat ziemlich wenig mit der Obergefreiten Angua zu tun, nicht einmal mit dem weiblichen Menstruationszyklus. Doch es zeigt, in welch großem Maße wir Geschöpfe des Weltalls sind. Die Dinge Da Oben haben wirklich Auswirkungen auf uns Hier Unten, jeden Tag unseres Lebens.