Die Geschichte beginnt hier …

Es war einmal die Scheibenwelt. Und es gibt sie noch heute.

Die flache Scheibenwelt wird von einer riesigen Schildkröte durchs All getragen und ist Gegenstand von – bisher – dreiundzwanzig Romanen, vier Karten, einer Enzyklopädie, zwei Trickserien, T-Shirts, Schalen, Modellen, Abzeichen, Bier, Stickereien, Stiften und Postern. Wenn dieses Buch erscheint, dürfte es auch entsprechendes Talkumpuder und Parfüm geben. (Wenn nicht, ist es nur eine Frage der Zeit.)

Mit anderen Worten: Die Scheibenwelt erfreut sich großer Beliebtheit.

Und sie funktioniert mit Magie.

Rundwelt – unser Heimatplanet und das Universum, in dem er sich befindet – funktioniert auf der Grundlage von Naturgesetzen. Genau genommen funktioniert sie einfach. Wir beobachten sie dabei und ziehen Schlußfolgerungen, womit wir bei der Basis der Wissenschaft wären.

Eigentlich sollte man meinen, daß sich Magier und Wissenschaftler stark voneinander unterscheiden. Hier haben wir einige Leute, die sich sonderbar kleiden, ganz offensichtlich in einer eigenen Welt leben, eine besondere Sprache sprechen und häufig Bemerkungen von sich geben, die in krassem Gegensatz zum gesunden Menschenverstand stehen. Dort sehen wir Menschen, die sich seltsam kleiden, eine besondere Sprache sprechen, ganz offensichtlich in einer eigenen Welt leben und … äh …

Vielleicht sollten wir es andersherum versuchen. Existiert eine Verbindung zwischen Magie und Wissenschaft? Ist die Magie der Scheibenwelt mit ihren exzentrischen Zauberern, realistisch denkenden Hexen, dummen Trollen, feuerspeienden Drachen, sprechenden Hunden und einem personifizierten Tod imstande, uns die logische, durch und durch rationale Wissenschaft der Erde näherzubringen?

Wir glauben schon.

Den Grund dafür erklären wir gleich. Zuerst möchten wir darauf hinweisen, was das Buch ›Die Gelehrten der Scheibenwelt‹ nicht ist. Derzeit sind mehrere Bücher in der Art von The Science of the X-Files oder Die Physik von Star Trek erhältlich. Sie berichten von Bereichen der heutigen Wissenschaft, die vielleicht einmal zu betreffenden Ereignissen oder Apparaten führen könnten. Sind bei Roswell Außerirdische abgestürzt? Könnte jemals ein Warptriebwerk entwickelt werden, das die Energie von Antimaterie verwendet? Stehen uns irgendwann einmal die schier unerschöpflichen Batterien zur Verfügung, die offenbar in den Taschenlampen von Scully und Mulder stecken?

Wir hätten auf eine solche Weise vorgehen können. Wir hätten darauf hinweisen können, daß Darwins Evolutionstheorie erklärt, wie sich niedere Lebensformen zu höheren entwickeln. Wenn man von derartigen Voraussetzungen ausgeht, wäre es durchaus möglich, daß aus einem Mensch ein Orang-Utan wird (und dabei Bibliothekar bleibt, weil es keine höheren Lebensformen als Bibliothekare gibt). Wir hätten darüber spekulieren können, welche DNS-Sequenzen Asbestschichten im Innern von Drachen ermöglichen. Vielleicht wären wir sogar in Versuchung geraten, die Entstehung einer zehntausend Kilometer langen Schildkröte zu erklären.

Wir beschlossen aus gutem Grund, auf so etwas zu verzichten. Nun, eigentlich aus zwei guten Gründen.

Der erste Grund ist: So etwas wäre dumm gewesen.

Und zwar wegen des zweiten Grunds. Auf der Scheibenwelt spielt die Wissenschaft keine Rolle. Warum also sollten wir von einer solchen Annahme ausgehen? Drachen speien kein Feuer, weil sie Asbestlungen haben, sondern weil alle wissen, daß Drachen Feuer speien.

Der Motor der Scheibenwelt geht über Magie und Wissenschaft hinaus. Ihre Antriebskraft besteht aus dem narrativen Imperativ, aus der Macht einer Geschichte. Ihr kommt eine ähnliche Rolle zu wie dem sogenannten Phlogiston, einer Substanz, die, wie man im achtzehnten Jahrhundert glaubte, allen brennbaren Körpern beim Verbrennungsvorgang entweicht. Im Universum der Scheibenwelt gibt es das Narrativium. Es zeigt sich im Spin eines jeden Atoms und kommt im Dahintreiben aller Wolken zum Ausdruck. Es macht die Bewohner der Scheibenwelt zu dem, was sie sind, und es gibt ihnen die Möglichkeit, auch weiterhin zu existieren und an den Geschichten mitzuwirken.

Auf der Rundwelt geschehen die Dinge, weil sie geschehen möchten.* [* In gewisser Weise. Die Dinge geschehen, weil sie den Naturgesetzen gehorchen. Ein Stein hat keine feststellbare Meinung in Hinsicht auf Gravitation.] Das Universum nimmt kaum Rücksicht auf die Wünsche seiner Bewohner und ist auch nicht da, um eine Geschichte zu erzählen.

Mit Magie kann man einen Prinzen in einen Frosch verwandeln. Mit Wissenschaft kann man einen Frosch in einen Doktor der Philosophie verwandeln – und behält den Frosch, mit dem man begonnen hat.

Das ist die übliche Ansicht in bezug auf die Wissenschaft von Rundwelt. Allerdings bleibt dabei vieles unberücksichtigt, was die Wissenschaft eigentlich ausmacht. Sie existiert nicht in einem abstrakten Sinn. Man könnte das ganze Universum in seine Einzelteile zerlegen, ohne eine Spur von Wissenschaft zu finden. Bei der Wissenschaft handelt es sich um eine Struktur, die von Menschen geschaffen und entwickelt wurde. Menschen wählen Dinge, die sie interessieren oder für wichtig halten. Oft geht es in diesem Zusammenhang auch um ihre Phantasie.

Narrativium ist überaus wirkungsvoll. Wir haben immer dazu geneigt, dem Universum Geschichten aufzuzwingen. Als die Menschen zum erstenmal zu den Sternen emporblickten, sahen sie keine unvorstellbar weit entfernten Sonnen, sondern riesige Stiere, Drachen und mythische Helden.

Diese menschliche Eigenschaft nimmt keinen Einfluß auf die Beschaffenheit der Naturgesetze – zumindest keinen großen –, aber sie bestimmt, welche Naturgesetze wir überhaupt untersuchen möchten. Außerdem müssen die Naturgesetze des Universums imstande sein, all jene Dinge hervorzubringen, die wir beobachten, wodurch auch die Wissenschaft eine Art narrativen Imperativ bekommt. Menschen denken in Geschichten.* [* Es dauerte drei Jahre, bis uns die Bedeutung dieses Satzes aufging. Dann schrieben wir Die Philosophen der Rundwelt: Mehr von den Gelehrten der Scheibenwelt.] Zumindest in einem klassischen Sinn lief die Wissenschaft auf das Entdecken von ›Geschichten‹ hinaus. Man denke an Bücher mit Titeln wie Die Geschichte der Menschheit (The Story of Mankind), Die Abstammung des Menschen oder Stephen Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit.

Unter den Geschichten der Wissenschaft könnte die Scheibenwelt eine sehr wichtige Funktion ausüben: Was wäre wenn? Die Scheibenwelt ermöglicht Gedankenexperimente: Wie sähe die Wissenschaft aus, wenn das Universum anders beschaffen wäre oder sich die Wissenschaft in einer anderen Richtung entwickelt hätte? Wir können die Wissenschaft von außen betrachten.

Für einen Wissenschaftler besteht ein Gedankenexperiment aus einer Art geistigen Diskussion. Anschließend versteht man die Dinge so gut, daß man keine echten Experimente durchführen muß, was nicht nur Zeit und Geld spart, sondern einen auch davor bewahrt, peinliche Resultate zu erzielen. Auf der Scheibenwelt geht man praktischer an diese Sache heran. Dort geht es bei Gedankenexperimenten um Dinge, die nicht möglich sind und auch gar nicht funktionieren würden, wenn sie möglich wären. Das von uns geplante Gedankenexperiment ist vielen Wissenschaftlern vertraut, obwohl sie es vielleicht gar nicht wissen. Man braucht es auch gar nicht in die Praxis umzusetzen, denn es dreht sich ja gerade um etwas, das nicht funktionieren würde. Viele der wichtigsten Fragen der Wissenschaft – und unserer Auffassung von ihr – betreffen nicht die wahre Natur des Universums. Wir fragen uns vielmehr, was geschähe, wenn das Universum anders beschaffen wäre.

Jemand fragt: »Warum bilden Zebras Herden?« Man könnte nach einer Antwort suchen, indem man Soziologie und Psychologie von Zebras untersucht. Oder man stellt eine ganz andere Frage: »Was geschieht, wenn sie keine Herden bilden?« Eine der offensichtlichsten Antworten lautet: »Dann wäre die Wahrscheinlichkeit viel größer, daß sie von Löwen gefressen werden.« Dies läßt sofort den Schluß zu, daß Zebras Herden bilden, um sich zu schützen. Wir haben eine wichtige Erkenntnis in Hinsicht auf Zebras gewonnen, indem wir die Möglichkeit in Erwägung zogen, daß sie sich anders verhalten.

Ein weiteres und ernsteres Beispiel dafür bietet die Frage »Ist das Sonnensystem stabil?« oder »Könnte es sich dramatisch verändern, wenn es zu einer geringfügigen Störung käme?« Im Jahr 1887 bot der schwedische König Oskar II. 2500 Kronen für die Antwort. Hundert Jahre brauchten die Mathematiker der Erde, um eine eindeutige Antwort zu finden. Sie lautet: »Vielleicht.« (Es war eine gute Antwort, aber sie wurde nicht bezahlt. Das Geld hatte jemand bekommen, der es versäumte, die richtige Antwort zu liefern und dessen prämierter Artikel im interessantesten Abschnitt einen großen Fehler aufwies. Die Korrektur dieses Fehlers führte zur Chaostheorie, die wiederum den Weg für das ›Vielleicht‹ bereitete. Manchmal besteht die beste Antwort aus einer noch interessanteren Frage.) Bei Stabilität geht es nicht um die aktuelle Verhaltensweise eines Systems, sondern um die Frage, wie es auf Störungen reagiert. Mit anderen Worten: Stabilität und Was-wäre-wenn-Situationen stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang.

Da ein großer Teil der Wissenschaft die substanzlose Welt der Gedankenexperimente betrifft, muß sich unser Verständnis der Wissenschaft sowohl mit imaginären als auch mit realen Welten befassen. Die wahrhaft menschliche Qualität besteht nicht daher aus Intelligenz, sondern aus Phantasie. Und in dieser Hinsicht bildet die Scheibenwelt einen besonders geeigneten Ausgangspunkt. Sie bietet ein konsistentes, gut entwickeltes Universum mit eigenen Regeln, und es leben überzeugend reale Personen darin, trotz der großen Unterschiede zwischen den dortigen ›Naturgesetzen‹ und unseren. Viele von ihnen wurzeln im ›gesunden Menschenverstand‹, einem natürlichen Feind der Wissenschaft.

In den Scheibenwelt-Geschichten ist immer wieder die Rede von der Unsichtbaren Universität, dem wichtigsten magischen Bildungsinstitut weit und breit. Die Zauberer* [* Wie die Bewohner einer beliebigen Rundwelt-Universität haben sie unbegrenzte Zeit für Forschung, verfügen über unbegrenzte finanzielle Mittel und brauchen sich keine Sorgen über die Amtszeit machen.
Darüber hinaus sind sie sprunghaft, beweisen bei ihrer Boshaftigkeit großen Einfallsreichtum, widersetzen sich neuen Ideen, bis alte daraus werden, sind in den seltsamsten Momenten äußerst kreativ und streiten dauernd – in dieser Hinsicht haben sie
überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihren wissenschaftlichen Kollegen in Rundwelt.] sind ein recht lebhafter Haufen, immer dazu bereit, eine Tür mit der Aufschrift ›Unbedingt geschlossen lassen‹ zu öffnen oder nach einem zischenden Gegenstand zu greifen. Sie machten einen recht nützlichen Eindruck auf uns …

Wenn wir – oder sie – die Magie der Scheibenwelt mit Rundwelts Wissenschaft vergleichen, so finden wir erstaunlich viele Parallelen und Gemeinsamkeiten. Den Zauberern der Unsichtbaren Universität muß Rundwelt natürlich wie eine Parodie ihrer eigenen Welt erscheinen. Auch die Unterschiede zwischen den beiden Welten erwiesen sich als sehr aufschlußreich. Die Wissenschaft erscheint in einem ganz neuen Licht, wenn man auf Fragen in der Art von ›Wie sieht Molch-DNS aus?‹ verzichtet und statt dessen fragt: ›Wie würden die Zauberer wohl reagieren, wenn man so über Molche nachdenkt?‹

Es gibt keine Wissenschaft als solche auf der Scheibenwelt, und deshalb mußten wir diese Lücke füllen. Die Zauberer sollten mit magischen Mitteln die Möglichkeit erhalten, eine eigene Form der Wissenschaft zu entwickeln, ein kleines ›Universum‹, in dem Naturgesetze die Magie ablösen. Und während die Zauberer herausfinden, wie aufgrund der Naturgesetze interessante Dinge geschehen, die Steine, Bakterien und Zivilisationen betreffen, beobachten wir sie dabei, wie sie … nun, uns beobachten. Es ist eine Art rekursives Gedankenexperiment oder eine russische Matrjoschka-Puppe, bei der das kleinste Exemplar das größte enthält.

Und dann fanden wir heraus, daß … Oh, das ist eine andere Geschichte.

TP, IS & JC IM DEZEMBER 1998

PS. Auf den nachfolgenden Seiten kamen wir nicht umhin, Schrödingers Katze, das Zwillingsparadoxon und die Sache mit der Taschenlampe zu erwähnen, die vor einem Raumschiff leuchtet, das mit Lichtgeschwindigkeit fliegt. Die Regeln der Gilde wissenschaftlicher Autoren verlangten von uns, diese Dinge zu erwähnen. Wir haben uns allerdings bemüht, uns an den betreffenden Stellen möglichst kurz zu fassen.

Es ist uns auch gelungen, außerordentlich wenige Worte über die Hose der Zeit zu verlieren.

PPS. Manchmal ändern Wissenschaftler ihre Meinung. Neue Entwicklungen führen dazu, daß sie ihren Standpunkt neu überdenken. Wenn Sie das beunruhigt, bedenken Sie, wieviel Schaden der Welt von Leuten zugefügt wird, für die neue Entwicklungen kein Grund zum Überdenken sind.

Die Änderungen in dieser neuen Auflage widerspiegeln drei Jahre wissenschaftlichen Fortschritts … vorwärts und rückwärts. (Sie werden beides finden.) Wir haben zwei völlig neue Kapitel eingefügt: eins über das Leben der Dinosaurier, da das vorhandene Kapitel über den Tod der Dinosaurier uns etwa deprimierend erschien, und eins über kosmische Katastrophen, denn in vielerlei Hinsicht ist das Universum deprimierend.

Die Scheibenwelt-Geschichte hat sich im Vergleich zur Wissenschaft als robuster erwiesen. Wie zu erwarten war. Die Scheibenwelt hat eben viel mehr Sinn als die Rundwelt.

TP, IS & JC IM JANUAR 2002