ZWEIUNDDREISSIG
«Das ist er also?»
Nach all den Anstrengungen und Strapazen konnten sie es nicht recht fassen, den Schild nun endlich mit eigenen Augen zu sehen. Er war vollkommen rund, auch wenn die Jahrtausende die Ränder hatten schartig werden lassen, etwa einen Meter im Durchmesser und gekrümmt wie eine Linse. Durch die Schmutzschicht hindurch verliehen die Prägearbeiten der Oberfläche ein scheckiges, beinahe organisches Aussehen, ähnlich der Borke eines Baumes. Grant fragte sich, ob dieser Schild jemals wirklich in einer Schlacht zum Einsatz gekommen war.
«Wie bringen wir ihn hier raus? Wir werden ihn nicht durch den Eingangsschacht bekommen.»
Jackson starrte erst Grant an, dann wieder den Schild. «Wir müssen. Irgendwann muss er doch auch mal hier runtergekommen sein, oder nicht?»
«Vielleicht sollten wir ihn nicht von hier fortbringen.»
«Was?» Jackson fuhr zu Reed herum. «Haben Sie die letzten drei Wochen verschlafen? Wir sind nicht bloß hier, um eine Theorie zu beweisen, ein paar Fotos zu machen, die wir dann zu Hause rumzeigen können, und wieder zu verschwinden. Wir sind einzig und allein hergekommen, um dieses Ding mitzunehmen und das Metall daraus zu gewinnen.»
«Und wegen Marina», erinnerte Grant ihn.
Jackson stutzte kurz. «Stimmt – Marina.» Dann packte er den Schild mit beiden Händen und versuchte, ihn anzuheben. Halb trug, halb schleifte er ihn in Richtung der Tür.
«Schwerlich vielleicht wohl trüg ihn mit beiden Händen ein Mann, auch in blühender Jugend, wie nun Sterbliche sind», murmelte Reed. Dann wandte er sich an Grant. «Haben Sie Ihre Pistole dabei?»
Grant zog den Webley und zeigte ihn Reed. «Warum?»
«Wenn Mr. Jackson noch einen Schritt weitergeht, schießen Sie bitte.»
Grant glaubte nicht recht gehört zu haben. «Wie bitte?»
«Fragen Sie ihn, was er mit dem Metall des Schildes vorhat – sofern wir ihn jemals hier hinausbringen.»
Jackson funkelte die beiden mit unverhohlener Wut an. «Sind Sie verrückt? Stecken Sie die Waffe weg.»
Grant zögerte. «Worauf zum Teufel wollen Sie hinaus, Professor?»
«Er vergeudet nur unsere Zeit», fauchte Jackson. «Er ist mit den Russen im Bunde.»
Reed schaute gelassen zwischen den beiden hin und her. «Soweit ich informiert bin, hat dieses mysteriöse Element 61 inzwischen einen Namen. Sie nennen es Prometheum.»
«Woher wissen Sie das?», fragte Jackson scharf. «Das unterliegt strengster Geheimhaltung.»
«Sie sollten Ihre verschlüsselten Nachrichten nicht in Ihrem Hotelzimmer herumliegen lassen. Haben Sie schon einmal von Prometheus gehört, Grant? Er war einer der Titanen. Er hat das Feuer aus dem Himmel gestohlen und es den Menschen gebracht.»
Grant starrte Reed an, dann Jackson. Dessen Beine waren hinter dem Schild verborgen, und sein Gesicht lag im Schatten. «Wollen Sie damit sagen –»
Ein Geräusch von draußen ließ ihn verstummen. Grant vergaß augenblicklich Jackson, drehte sich um und lief in die große Hauptkammer. Dort war es jetzt viel heller als vorhin. Ein senfgelbes Licht erfüllte die Kuppel und beleuchtete die gemalten Krieger und die Schätze zu ihren Füßen. Grant achtete kaum darauf.
Sie stand wenige Schritte vor dem Eingang und hielt eine Laterne hoch, sodass er ihr Gesicht sehen konnte. Es war verschrammt und dreckverkrustet, das rechte Auge lila unterlaufen – offenbar hatte man sie geschlagen. Sie trug dieselbe Kleidung, in der Grant sie zuletzt gesehen hatte: eine weiße Bluse und einen schwarzen, hüftbetonten Rock, der jetzt schmutzig und zerrissen war.
«Marina!» Er rannte auf sie zu. Sie hob den Kopf und lächelte müde, ohne einen Hauch von Freude.
«Stehen bleiben.»
Eine schroffe, kalte Stimme erscholl aus dem Gang hinter ihr. Grant erstarrte mitten im Raum, als habe ihm jemand einen Tritt in den Magen versetzt.
«Lassen Sie auf der Stelle Ihre Waffen fallen. Lassen Sie sie fallen, sonst ist sie sofort tot.»
Eine hochgewachsene, hagere Gestalt trat durch die Tür. Die Stiefel des Mannes knallten auf dem Steinboden. Er trug eine grüne Uniform mit den goldenen Streifen eines Obersts auf den Schulterklappen. Sein Gesicht war hohlwangig, das dünne graue Haar glatt zurückgekämmt, ein Auge so eingesunken, dass es völlig im Schatten lag. Das andere bedeckte eine dreieckige schwarze Augenklappe. In den Armen hielt er eine Maschinenpistole, die er auf Marina richtete. «Lassen Sie sie fallen», verlangte er noch einmal und machte eine ruckartige Bewegung mit der Waffe. «Sie und der Amerikaner.»
«Vergessen Sie’s», sagte Jackson. «Sie ist eine von ihnen.»
Grant beachtete ihn nicht. Er sah Marina an und erkannte den Trotz in ihren Augen.
«Du weißt, was wir im Krieg immer gesagt haben», sagte sie auf Griechisch. «Keine Kompromisse, keine Sentimentalitäten.»
«Das war unser Krieg. Dies hier …» Grant war wie betäubt. Seine Muskeln gehorchten ihm nicht. Hinter Kurchosow kamen weitere Männer im Laufschritt herein und verteilten sich im Raum – zu viele, um etwas gegen sie auszurichten. Und sie alle waren bewaffnet.
«Okay», sagte Grant tonlos. «Sie haben gewonnen.» Er bückte sich und legte den Webley auf den Boden.
Jackson hinter ihm zögerte noch immer. Kurchosow richtete die Maschinenpistole jetzt direkt auf ihn. «Ich zähle bis drei, Mr. Jackson. Dann werde ich Sie erschießen. Odin … dwa …»
Grant hörte den Colt scheppernd zu Boden fallen.
Er sah sich um – und stutzte. Im hinteren Bereich der Kammer, an der Wand rechts neben der Tür, bewegte sich jemand in der Dunkelheit. Grant starrte ihn ungläubig an. «Muir?»
Muir trat aus dem Schatten. Ein gehässiges Grinsen huschte über sein Gesicht. Er zog eine Zigarette hervor und steckte sie an. «Wenn Sie erwarten, dass ich Ihnen zu Hilfe komme, dann muss ich Sie leider enttäuschen.»
Kurchosow wandte sich Muir zu und schüttelte ihm die Hand. «Gute Arbeit, mein Freund. Genosse Stalin wird sehr erfreut sein.»
«Warten wir ab, bis wir den Schild in Moskau haben. Dann gibt es Kaviar für alle.»
«Herrgott, Muir.» Jackson rammte seinen Stiefelabsatz in den Boden. «Es gibt ein Wort für Männer wie Sie.»
Muir grinste ihn voller Verachtung an. «Ich war schon immer ein hoffnungsloser Romantiker.»
«Haben Sie eine Ahnung, was die mit dem Schild vorhaben?»
«Was sie damit vorhaben? Ja, was zum Teufel glauben Sie denn, weshalb wir uns all diese verdammten Scherereien angetan haben?»
Muir drehte sich zum Eingang um, durch den gerade ein weiterer Mann hereinkam. Als er ins Lampenlicht trat, erkannte Grant Belzigs schmächtige Gestalt und das strohblonde Haar. Er schien denselben braunen Anzug zu tragen wie neulich in der Bibliothek in Athen. Aber schließlich, so nahm Grant an, war ja auch er ein Gefangener.
«Ist er hier?» Selbst in seiner unangenehmen Stimme lag ein Anflug kindlicher Ehrfurcht, als er sich in der geräumigen Kammer mit der Kuppeldecke umsah. «Mein Gott, ist das schön», flüsterte er auf Deutsch. Dann fragte er auf Englisch: «Haben Sie den Schild gefunden?»
«Er ist da drin.» Muir wies auf die angrenzende Kammer. Der Russe, der Deutsche und der Schotte schienen sich untereinander auf Englisch als gemeinsame Sprache geeinigt zu haben. «Wenn Sie reingehen, passen Sie auf, wo Sie hintreten.»
Belzig eilte auf den Durchgang zu und riss Marina im Vorbeigehen die Laterne aus der Hand. Dann verschwand er im Nebenraum, und im nächsten Moment ertönte von drinnen ein Ausruf staunender Bewunderung, der von der Deckenkuppel widerhallte.
«Und das ist noch nicht alles.» Muir nahm einem der russischen Soldaten eine Laterne ab und leuchtete damit die geschwärzten Schätze auf dem Boden an. Er hob einen Becher auf und wog ihn in der Hand. «Das hier mag aussehen wie ein Haufen Schrott, aber in diesem Raum liegt mehr Gold gehortet als in der Bank von England. Ein netter Bonus für die Party.»
«Allerdings. Es wird jedoch einige Zeit dauern, das alles hier wegzuschaffen. Die Amerikaner haben uns schwer zugesetzt – wir mussten einen hohen Preis dafür zahlen, das Tal einzunehmen.»
«Gibt es Überlebende?»
Kurchosow schüttelte mit einer wegwerfenden Geste den Kopf. «Nicht mal diejenigen, die sich ergeben haben.» Er wandte sich wieder Grant, Marina, Jackson und Reed zu, die zusammengedrängt in der Mitte des Raumes standen. «Was ist mit unseren Gefangenen?»
Muir zuckte die Schultern. «Sie alle haben für den britischen Geheimdienst gearbeitet – sogar der Professor. Sollen die Verhörexperten in der Lubjanka sie in die Mangel nehmen, wenn wir wieder in Moskau sind. Vielleicht wissen sie ja noch mehr Interessantes.»
Kurchosow schürzte die Lippen, dann nickte er. «Da. Aber zuerst den Schild.» Er rief ein paar barsche Worte auf Russisch, und sofort legten zwei seiner Männer ihre Waffen ab und liefen zur anderen Seite der Kammer. Grant warf einen verstohlenen Blick auf die Waffen. Zu weit entfernt.
Als die Männer zurückkamen, trugen sie gemeinsam den Schild. Belzig folgte ihnen. Sie hielten die gewaltige Scheibe hoch wie eine Trophäe, damit Kurchosow sie in Augenschein nehmen konnte.
«Dies war also der Schild des göttlichen Achill. Der erste Held des großen Krieges zwischen Ost und West. Nur dass diesmal der Osten gesiegt hat.» Er strich mit den Fingerspitzen über das Metall, dann zuckte er zurück, als habe er sich verbrannt, und warf Muir einen fragenden Blick zu. «Ist das gefährlich?»
«Das weiß der Himmel.» Er blies den Rauch aus und beobachtete, wie er sich über dem Schild kringelte. «Das Ding muss im Labor untersucht werden.»
«Dazu müssen wir es erst mal hier rausschaffen.»
Die Soldaten brachten zwei bleigefütterte Decken. Sie legten den Schild auf die eine, breiteten die zweite darüber und verschnürten das Ganze mit Seilen. Dann trugen sie den Schild zur Tür und in den Gang hinaus. Grant blickte ihm gleichmütig nach; Jackson neben ihm bebte vor Zorn.
«Schaffen Sie die Gefangenen aus dem Weg, bis wir hier fertig sind.»
Die übrigen Wachposten trieben ihre vier Gefangenen zu der Nebenkammer, wobei sie darauf achteten, ihnen nicht zu nahe zu kommen. Sie hatten den Durchgang fast erreicht, als ein Tumult beim Eingang sie innehalten ließ. Alle sahen sich um. Belzig und die beiden Soldaten waren zurückgekehrt. Sie trugen noch immer den Schild.
«Er passt nicht durch die Öffnung», erklärte Belzig.
Kurchosows Gesicht verdüsterte sich vor Wut. «Er muss. Wie sonst sollte er hier reingekommen sein?»
Belzig zog ein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Vielleicht gab es noch einen zweiten Eingang. Oder vielleicht haben sie den Tempel um den Schild herum gebaut, damit ihn niemand wegnehmen kann. Jedenfalls bekommen wir ihn jetzt nicht raus.»
«Können wir bohren? Die Öffnung erweitern?»
«Das ist fast ein Meter massiver Fels», sagte Muir. «Da bohren Sie nicht mal so eben durch, nicht einmal mit Spezialausrüstung.»
«Dann zerschneiden wir eben den Schild.»
Belzig schrie entgeistert auf. «Das können Sie nicht tun! Er ist von unermesslichem Wert, der kostbarste Schatz der Welt – der Beweis für den größten Mythos der Menschheitsgeschichte. Er muss erhalten bleiben und von Wissenschaftlern untersucht werden.»
«Warum? Sobald Genosse Stalin ihn untersucht hat, wird er ohnehin eingeschmolzen. Das eigentlich Kostbare daran ist das Material, aus dem er besteht.» Kurchosow stieß ein grausames Lachen aus, als er Belzigs Entsetzen sah. «Möchten Sie etwas einwenden, Genosse? Beten Sie lieber, dass wir Sie nicht auch liquidieren.»
Muir kicherte. «Die entscheidende Frage ist allerdings: Können Sie ihn zerteilen? Unter all dem Dreck da liegt ein Kern aus massivem Eisen. Haben Sie einen Schneidbrenner mitgebracht?»
Kurchosow verzog frustriert den Mund. «Njet.» Er überlegte kurz. «Also, wenn wir den Schild nicht kleiner machen können, dann müssen wir eben das Loch größer machen.»
«Ich habe Ihnen doch schon gesagt: Durch eine solche Felsschicht zu bohren –»
«Mit Sprengstoff.»
Die Soldaten begannen Stücke vom Seil abzuschneiden und den Gefangenen damit die Hände hinter dem Rücken zu fesseln. Dann stießen sie die Gruppe in die Nebenkammer und ließen sie dort zurück. Durch den Türrahmen sah Grant, dass die Russen sich systematisch durch die Hauptkammer arbeiteten und die dort aufgehäuften Schätze in Segeltuchsäcke packten. Er ertrug es nicht, noch länger zuzuschauen. Stattdessen wandte er sich Jackson zu, der an der gegenüberliegenden Wand lehnte.
«Nachdem uns allen jetzt ohnehin eine Reise nach Moskau ohne Rückfahrkarte bevorsteht – wie wäre es, wenn Sie uns endlich erzählen, worum es hier eigentlich geht?»
Jackson seufzte. «Okay, Sie wollen eine Geschichte hören? Von Helden und Waffen und all dem Scheiß? Wie viel wissen Sie über die Atombombe?»
«Ich weiß, dass ich nicht in der Nähe sein will, wenn eine explodiert.»
«Genau. Tja, im Augenblick brauchen Sie sich darum genauso wenig Sorgen zu machen wie vor zehn Jahren. Es gibt keine.»
«Ich dachte, die Amerikaner bauen sie dutzendweise.»
«Tun wir auch – das heißt, wir haben es getan. Das Problem ist nur, sie liegen alle in einem Bunker in New Mexico, und das Schlimmste, was sie ausrichten können, ist, dass Ihnen der Schwanz abfällt.» Er beugte sich vor, um den Druck von seinen gefesselten Händen zu nehmen. «Ich bin kein Wissenschaftler, ich weiß nur, dass es Probleme gibt. Da ist so ein Phänomen, das sich Reaktorvergiftung nennt: Wenn die Fabriken, in denen das Zeug für die Bomben hergestellt wird, zu lange in Betrieb sind, funktionieren sie irgendwann nicht mehr richtig. Gleichzeitig haben wir festgestellt, dass die Bomben, die wir bereits gebaut haben, sich nicht so verhalten wie edler Wein: Sie altern nicht so gut. Das heißt, von den Bomben, die wir zu haben glaubten, weiß kein Mensch, ob sie überhaupt noch funktionieren, und wir können keine neuen bauen, weil die Fabrik wegen Reparaturen geschlossen ist. Truman pokert mit den Sowjets, und das Einzige, was Onkel Josef daran hindert, mit seinen Panzern bis nach Paris vorzurücken, ist die Tatsache, dass er überzeugt ist, wir hätten haufenweise Bomben, die wir auf Moskau werfen könnten, sobald er eine falsche Bewegung macht. Nur dass wir eben momentan keine haben.»
Grant atmete tief durch und bemühte sich, diese Information zu verarbeiten. Er hatte Bilder von Hiroshima und Nagasaki in den Nachrichten gesehen, aber nicht wirklich begriffen. «Und aus diesem Element 61 – Prometheum – kann man also Atombomben machen?»
«Tja, das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, weil es bisher noch niemand in die Hände bekommen hat. Aber unsere Wissenschaftler haben entsprechende Berechnungen angestellt. So funktioniert das heutzutage.» Er schüttelte den Kopf, weil ihm ein Schweißtropfen ins Auge gelaufen war. «Ein paar Superhirne sitzen drei Jahre lang mit ihren Rechenschiebern in einem Büro, und am Ende bauen sie eine Waffe. Verdammt, bei der Hiroshima-Bombe haben sie sich nicht mal die Mühe gemacht, sie vor dem Abwurf zu testen. Hauptsache, die Zahlen auf dem Papier stimmten.»
«Und hat Muir das alles gewusst?»
«Muir wusste, was das Zeug bewirken kann. Er wusste allerdings nicht, warum wir es so dringend brauchen. Glaube ich jedenfalls. Scheiße.» Jackson schlug mit dem Stiefelabsatz auf den Boden. «Dieser elende Bastard. Er hat uns alle verarscht.»
Reed, der an der Wand gegenüber saß, schaltete sich überraschend in das Gespräch ein. «Spielt das jetzt eine Rolle?»
«Ob das eine Rolle spielt? Haben Sie überhaupt zugehört, was ich gerade gesagt habe?»
«Durchaus. Sie sagten, Stalin wird dadurch abgeschreckt, dass er an das mächtige Atomwaffenarsenal Ihres Landes glaubt.»
«Das wir nicht haben.»
«Aber das weiß er nicht. Ihre Eskapaden hier werden allenfalls dazu geführt haben, dass er sich wundert, weshalb Sie so verzweifelt versuchen, diese recht abwegige Materialquelle in die Hände zu bekommen.»
Ein Schatten fiel durch den Türrahmen. «Ich dachte, ich schaue mal rein, um Hallo zu sagen.» Es war Muir. Das Hemd klebte ihm feucht am Leib, sodass er noch hagerer als sonst wirkte, beinahe raubtierhaft. Jacksons Gesichtsausdruck war ebenso animalisch: Er schien sich jeden Moment auf Muir stürzen und ihn in Stücke reißen zu wollen. Nur der stählerne Lauf einer Maschinenpistole, der hinter Muirs Schulter hervorragte, hielt ihn zurück.
«Sind Sie wieder mal gekommen, um uns auszuspionieren?»
«Nein, eigentlich bin ich in den Ruhestand getreten. Ich freue mich auf ein sonniges kleines Häuschen im Arbeiterparadies.»
«Wie lange war diese Sache schon im Gange?» Jacksons Wut verrauchte so schnell, wie sie gekommen war. Was blieb, war nichts als ein Gefühl bitterer Niederlage.
«Schon seit einiger Zeit. Ich habe mich an der Universität mit gewissen Leuten angefreundet. Schon damals haben manche von uns erkannt, dass die Sowjets die Einzigen waren, die wirklich den Mumm hatten, sich den Faschisten entgegenzustellen. Ein paar junge Idioten sind hingegangen und haben in Spanien ihr Leben weggeworfen für nichts und wieder nichts – hoffnungslose Romantiker. Wir wollten wirklich etwas bewirken. Wir wollten ihnen helfen.»
«Wobei helfen? Bei den Gulags? Den Schauprozessen? Den Exekutionen?»
«Sie haben die Welt gerettet», versetzte Muir barsch. «Wir und die Amis, wir waren immer nur Randfiguren. Die haben den Krieg an der Ostfront gewonnen, jeden kleinen Schritt zum Sieg mit einem Menschenleben bezahlt. Haben Sie eine Ahnung, wie viele von ihnen da gefallen sind? Millionen. Und jetzt sehen Sie doch nur, was Sie versuchen, ihnen anzutun. Wissen Sie eigentlich, warum die Amerikaner so verzweifelt hinter Element 61 herjagen?»
Muir fixierte Jackson mit einem kühlen, forschenden Blick. Jackson schlug die Augen nieder und tat, als sei er mit den Fesseln hinter seinem Rücken beschäftigt.
«Die Männer in Washington wollen an ihren ehemaligen Verbündeten ein Exempel statuieren. Den Sowjets einen Denkzettel verpassen. Nicht gleich Moskau oder Berlin – aber vielleicht Stalingrad. Um zu beweisen, dass sie können, was die Nazis nie geschafft haben.»
«Das wäre ein lehrreiches Spektakel», murmelte Reed. «Und was haben Sie mit dem Element vor?»
Muir zuckte die Schultern. «Ist das nicht offensichtlich?»
Grant fühlte sich plötzlich taub – dieselbe Empfindung wie damals in den Weißen Bergen, als er seine Pistole auf Alexei richtete und versuchte abzudrücken. Er sah erst Jackson an, der den Blick mit kaltem Trotz erwiderte, dann Muir. «Ich weiß nicht, wer schlimmer ist, Sie oder er.»
Jacksons Gesicht war hart und leblos. «Ich schätze, das werden Sie erfahren, jetzt, nachdem die es in die Hände bekommen haben.»
«Es ändert sich nichts», bemerkte Reed mit einer Kopfbewegung zu den Fresken an der Wand, den Abbildungen winziger Männer, Pferde, Streitwagen und Waffen. Auf einer der Steintafeln standen zwei Krieger zwischen einem Berg aufgehäufter Rüstungsteile und einem Stapel nackter Leichen. Auf einem anderen zerrte ein Mann mehrere aneinandergefesselte Frauen zu einem offenen Zelteingang.
«Mag sein», entgegnete Muir. «Aber ich bezweifle, dass es im nächsten Krieg noch viele Helden geben wird, die die Dichter besingen können.»
Der Wachmann hinter ihm sagte leise etwas zu ihm. Muir nickte und wandte sich zum Gehen. «Wir sehen uns vielleicht später noch. Ich wollte Sie nur ein wenig aufklären, schließlich sind wir doch alte Freunde. Ich hoffe, es war keine zu große Überraschung für Sie.»
«Eigentlich nicht», sagte Reed völlig unerwartet. «Sie waren schon immer ein Stück Scheiße.»
Schweigen breitete sich über den kleinen Raum wie Staub, der sich setzte. Draußen in der Hauptkammer hörten sie die Soldaten unter Klappern und Scheppern die Tempelschätze einpacken. Zwischendurch riefen die Männer einander gelegentlich etwas zu. Jackson rückte in eine Ecke, abseits von den anderen, und stellte sich schlafend. Reed betrachtete gedankenverloren die Reliefs an der Wand.
Grant rutschte näher an Marina heran. «Haben Sie dir wehgetan?»
«Etwas. Nicht sehr – das war nicht mehr nötig. Muir hatte ihnen schon alles erzählt.»
«Wenn wir jemals hier rauskommen, bringe ich ihn um.»
Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber er wusste, dass sie lächelte. «Jacksons Miene, als sich herausstellte, dass Muir einer von ihnen ist … Das war die Sache beinahe wert.»
«Und Muir reibt sich die Hände.» Grant wandte sich Marina zu. «Das hier hat nichts mit dir zu tun. Vielleicht könntest du mit ihnen reden – die Sache mit deinem Bruder und so …»
«Nein.» Sie ließ den Kopf nach hinten gegen die Wand sinken. «Selbst wenn ich es könnte, ich würde dich nicht verlassen.»
«Wir werden irgendwie hier rauskommen.»
«Das würde Ihre Lage nicht unbedingt verbessern», sagte eine Stimme von der Tür her.
Alle vier blickten auf. Belzig stand im Eingang. Er war nicht länger der stolze arische Archäologen-Eroberer, den sie auf der Fotografie gesehen hatten. Sein Rücken war gebeugt, und der schlechtsitzende Anzug betonte nur den ausgezehrten Körper darunter. Um die Augen hatte er tiefe Ringe.
«Sind Sie hergekommen, um Ihren Sieg auszukosten?»
Belzig sagte leise etwas zu dem Wachposten, dann betrat er die Kammer, ging zur hinteren Wand und hob den stumpf angelaufenen Helm aus seiner Nische. Er hielt ihn vor sich und starrte hinein, als könne er darin den Geist des Trägers aus vergangener Zeit sehen. Dabei murmelte er etwas.
Grant versteifte sich. «Was?»
«Ich bin gekommen, um Ihnen Hilfe anzubieten.»
«Warum?»
Er wies mit einer Kopfbewegung zum Türrahmen. «Denken Sie vielleicht, ich bin einer von denen? Das sind Barbaren, Monster. Die wissen gar nicht, womit sie es da zu tun haben. Sie werden diesen Schild zerstören, dieses unermesslich kostbare Artefakt, und das nur, um eine Bombe zu bauen. Er wurde von einem Gott geschmiedet; jetzt wollen sie sich seine Macht zunutze machen, um sich selbst zu Göttern aufzuschwingen.» Wieder starrte Belzig in das dunkle Innere des Helms. «Außerdem – jetzt, wo sie ihn haben, werden sie mich wieder nach Sibirien zurückschicken. Oder Schlimmeres.» Ihn schauderte, als schüttelte es ihn von innen heraus. «Das überstehe ich nicht noch einmal.»
Jackson richtete sich auf. «Was schlagen Sie vor?»
«Es sind nur wenige. Ihre Soldaten haben tapfer gekämpft und viele von denen getötet. Jetzt sind nur noch vier Wachen übrig, Oberst Kurchosow und der englische Spion.» Er griff in die Taschen seines Anzugs und zog zwei Revolver heraus, den Webley und Jacksons Colt. «Wenn ich Sie befreie, können Sie sie erschießen.»
«Und das tun Sie wohl aus reiner Herzensgüte?»
Ein Lächeln huschte über Belzigs Mund. «Nicht nur – eine Bedingung gibt es. Wenn Sie entkommen, müssen Sie mich nach Amerika mitnehmen und dafür sorgen, dass ich begnadigt werde. Wissen Sie, wie man das in Deutschland nennt? Einen Persilschein.»
«Wäscht weißer», murmelte Grant. Er starrte Belzig an. Er erinnerte sich an Molhos fehlende Hand und die grauenhaft zugerichtete Leiche, die sie im Nachtclub in Piräus vorgefunden hatten. Er erinnerte sich an Marinas Erzählungen über Belzigs Machenschaften auf Kreta. Und vor allem dachte er an das Grinsen auf der Fotografie. Die Monster, die die alten Griechen in die Unterwelt zu bannen versucht hatten – die Hydra, die Gorgonen, Basilisken und Zyklopen –, wandelten noch immer auf der Erde. Der Mann vor ihm, mit dem Ausschlag im Gesicht und dem schlechtsitzenden Anzug, war eines von ihnen.
«Klar», sagte Jackson. «Wozu die Vergangenheit wieder ans Licht zerren. Wenn Sie uns helfen, hier rauszukommen, verspreche ich Ihnen ein Ticket erster Klasse in die USA. Vielleicht finden wir sogar einen Job im Smithsonian für Sie.»
«Und der Schild – werden Sie ihn schützen?»
«Beim Grab meiner Mutter.»
Das schien Belzig zufriedenzustellen. Er zog ein Taschenmesser hervor und ging hinter Jackson in die Hocke. Augenblicke später waren Jacksons Hände frei. Er rieb sich die Handgelenke, dann griff er nach dem Colt, während Belzig die Übrigen losschnitt. Grant nahm den Webley. Es war ein gutes Gefühl, sein Gewicht wieder in der Hand zu spüren.
«Also, wir gehen folgendermaßen vor.»
Korporal Iwan Serotow lehnte sich an die Wand, seine Maschinenpistole fest im Griff. Er schmachtete nach einer Zigarette, widerstand jedoch der Versuchung, denn er wusste, was ihm blühte, wenn der Oberst ihn jetzt beim Rauchen erwischte. Er konnte es noch aushalten. Sie hatten den Tempel beinahe fertig ausgeräumt: Gerade schleppten seine Kameraden den letzten Sack mit Schätzen zur Tür hinaus. Dann stand ihnen noch ein kurzer Flug nach Odessa bevor, um ihre Fracht abzuliefern, und anschließend zwei Wochen am Sandstrand von Jewpatorija. Er fragte sich, ob all der schwarze Schrott, den sie hier rausgeschafft hatten, wirklich Gold war. Musste wohl so sein, wenn der Oberst wertvolle Zeit dafür opferte, die Sachen zusammenzusammeln. Es war eine gewaltige Menge. Bestimmt würde niemand einen einzelnen Becher vermissen, wenn er beim Transport verloren ginge. Dafür würde er in Odessa ein paar Rubel bekommen, die er wiederum in Wodka oder Frauen investieren konnte. Die Aussicht entlockte ihm ein Grinsen.
Er hörte Schritte und drehte sich halb um. Belzig kam aus der Kammer, in der sie die Gefangenen untergebracht hatten. Er trug etwas in den Händen, das aussah wie ein rostiger Helm. Serotow runzelte die Stirn. Er war nicht den weiten Weg nach Berlin marschiert, um sich am Ende von diesem Faschisten herumkommandieren zu lassen. Wenigstens würde er sie auf dem Rückflug nicht mehr belasten. Kurchosow hatte unmissverständlich klargemacht, wie mit ihm zu verfahren war.
Belzig blieb stehen und wies mit einer Kopfbewegung hinter sich. «Da sind noch mehr Schätze», sagte er in gebrochenem Russisch. «Sie sollten Kurchosow Bescheid sagen.»
In Serotows Kopf entwickelte sich ein höchst unmarxistischer Gedanke. Er drehte sich um und warf einen Blick durch den Türrahmen. Drei der Gefangenen – der Amerikaner, der alte Mann und die Frau – saßen an der hinteren Wand, die Hände hinter dem Rücken. Der Vierte …
Ohne Vorwarnung bekam er einen heftigen Stoß in den Rücken, sodass er in die Kammer taumelte. Er stolperte über etwas und stürzte nach vorn. Dabei ließ er seine Waffe fallen und streckte die Arme aus, um sich abzufangen – doch da war kein Boden. Er fiel mit dem Gesicht voran in die Grube und landete mit einem Aufschrei auf den Knochen, die wie spitze Pfähle vom Grund aufragten. Das Letzte, was er sah, war ein Paar gewaltiger Hörner dicht vor seinen Augen. Dann prallte etwas Schweres auf ihn, ein Arm umklammerte seinen Hals – dann wurde es finster.
Grant stieg aus der Grube und wischte das Messer an seiner Hose ab. Seine Hände waren blutverschmiert. Er warf einen Blick durch die Tür zu Belzig. «Ist die Luft rein?»
Irritiert blickte er in die kleinen, müden Augen, die vor Verwirrung geweitet waren. «Ja – nein.» Belzig schüttelte den Kopf. «Sie sind weg.»
«Was?» Grant hob die Maschinenpistole auf und drückte sie Marina in die Hände. «Gib mir Feuerschutz.» Tief geduckt sprang er durch die Tür, rollte sich nach links ab und richtete den Webley in die Hauptkammer.
Der Raum war leer. In der Mitte stand auf einer Holzkiste eine Kerosinlaterne, und der in Decken verpackte Schild lehnte neben dem Eingang an der Wand, doch es war kein Mensch zu sehen. Grant blieb einen Moment lang im Staub liegen und sah sich noch einmal genau um, aber der Raum hatte keine Ecken, keine dunklen Winkel.
Grant stand auf und klopfte seine Kleidung ab. Jackson und Marina waren ihm gefolgt; weiter hinten spähte Reed um den Türpfosten.
«Sie sind weg.»
«Aber der Schild ist noch hier.» Die Maschinenpistole auf den Haupteingang gerichtet, durchquerte Marina vorsichtig den Raum bis zu der Stelle, wo er an der Wand lehnte. «Sie können ihn doch nicht einfach zurückgelassen haben.»
«Vielleicht machen sie eine Zigarettenpause.»
Niemand wusste, wie es jetzt weitergehen sollte. Es gab keine Versteckmöglichkeit – aber auch niemanden, vor dem sie sich hätten verstecken müssen. Nach und nach kamen sie in der Mitte der Kammer unter der Kuppeldecke zusammen, die Waffen halb erhoben, um eine nicht vorhandene Gefahr abzuwehren.
Plötzlich kam Grant ein furchtbarer Gedanke. «Womöglich sind sie gerade im Begriff, die Spreng–»
«Iwan? Bystro poidjom!»
Eine bleiche Gestalt war am Eingang erschienen und vor dem Tor stehen geblieben, das Grant vorhin eingetreten hatte. Der Mann hielt eine Maschinenpistole in den Händen, jedoch nicht schussbereit. Er stand einen Moment lang da und starrte die vier verwirrt an – und sie starrten ebenso verwirrt zurück. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und rannte los.
«Nein!» Belzig, der ihm am nächsten stand, ließ den Helm fallen und stürzte in den Gang hinaus. Grant hörte seine hastigen Schritte auf den Steinstufen, gefolgt von wütenden Schreien und einem Schuss.
«Nein – warten Sie.»
Grant warf sich zur Seite, an die Wand des Raumes, nur einen Sekundenbruchteil bevor der Sprengsatz explodierte. Von draußen ertönte ein tiefer, grollender Lärm, der das gesamte Tempelgewölbe erschütterte; er dröhnte durch den Gang und drang in die Kammer wie eine Woge im Ozean. Die bronzenen Torflügel bebten auf dem Steinboden, die Laterne kippte um und erlosch, sodass der Raum in Dunkelheit versank. Eine gewaltige Wolke aus Staub und Schuttteilchen drang durch die Toröffnung und erfüllte das hohe Gewölbe. Jackson, der vor dem Eingang gestanden hatte, wurde durch die Druckwelle gegen die Wand geschleudert. Steinbrocken flogen nach allen Seiten und prasselten auf sie nieder. Grant hielt schützend die Arme über den Kopf, während Marina unter dem Schild Deckung suchte. Nur Reed in der Nebenkammer blieb von der Wucht der Explosion verschont.
Grant hörte nicht, wie der Lärm nachließ – ihm klingelten noch die Ohren –, aber als der Boden zu beben aufhörte, war ihm klar, dass das Schlimmste vorbei sein musste. Er spähte erst vorsichtig durch die Finger, dann hob er den Kopf. Staub und Rauch waren noch immer so dicht, dass man kaum atmen konnte, doch wenigstens fielen keine Steine mehr herab.
Er rappelte sich auf und stolperte zu Marina hinüber. Vom Eingang her breitete sich eine Wasserlache aus. «Alles in Ordnung mit dir?»
Marina konnte ihn nicht hören – er konnte sich nicht einmal selbst hören –, doch sie verstand. Sie nickte, dann tastete sie nach ihrem Bein und verzog das Gesicht. Anscheinend war sie doch verletzt.
«Wir müssen hier raus.» Grant fand die Maschinenpistole, die Marina hatte fallen lassen, aber der Lauf war völlig verbogen. Er stieß sie mit dem Fuß beiseite und lief, so schnell er konnte, zum Eingang, wo sich inzwischen eine flache Pfütze gebildet hatte. Es sagte viel über die Fähigkeit der antiken Baumeister aus, dass der Rahmen des gewaltigen Tores die Sprengung unversehrt überstanden hatte. Allein der Torsturz musste hundert Tonnen wiegen.
Grant schaute vorsichtig um die Ecke und blinzelte verblüfft. Das obere Ende der Treppe war aufgesprengt worden, sodass sich dort statt des Schachtes nun ein tiefer Graben befand, über dem der Himmel zu sehen war. Auch das Dach des Tunnels war eingestürzt. Gewaltige Steinplatten bildeten eine steile Rampe hinauf in die Oberwelt. Wasser lief über die Kante und die Schräge hinunter, ein neuer Fluss, der zwischen geborstenen Felsen und Schutt hindurch in den Tempel strömte. Irgendwo unter diesen Trümmern musste Belzig liegen.
Grant wartete einen Moment lang und hielt Ausschau, ob sich etwas bewegte. Es war niemand zu sehen, doch die Sicht war ohnehin sehr schlecht. Staub wölkte in der Luft, sodass die Sonne nur als schmuddeliges Zwielicht hindurchdrang. Er musste es riskieren. Aber nicht ohne Deckung.
Er lief zurück zu der Stelle, wo Marina lag, und zerrte die Decken von dem Schild herunter. Seitlich an der Wand lehnend, war er vor dem Schutthagel der Explosion verhältnismäßig geschützt gewesen. Grant drehte ihn herum. Der Lederriemen, sofern es einen gegeben hatte, war längst verrottet, doch aus der Rückseite des Schildes ragten zwei Messingringe. Er schob den Arm hindurch und versuchte den Schild anzuheben.
Das Gewicht war enorm. Grant fragte sich, wie es möglich war, dass jemals ein Mann damit in die Schlacht gezogen war und gleichzeitig noch ein Schwert oder eine Lanze geführt hatte. Vielleicht hatte Achilles seinen Ruf ja tatsächlich verdient. Sich einen Bruch zu heben war immer noch besser, als sich erschießen zu lassen. Grant ging zurück zum Eingang, stützte den Schild mit dem Oberschenkel ab und blickte noch einmal prüfend nach draußen. Immer noch war nichts als Rauch und Staub zu sehen. Er trat vorsichtig durch das Tor und begann über den Schutt hinaufzuklettern. Es war ein mühseliger Aufstieg, und er kam nur langsam voran, immer darauf bedacht, den Schild vor sich zu halten, während er sich durch die Trümmer vorarbeitete. Die Felsbrocken wurden größer, die Spalten dazwischen breiter. Aber wenigstens lichtete sich der Staub allmählich, und es wurde heller. Grant kletterte die letzte Steigung hinauf, wobei seine Füße immer wieder auf dem nassen Stein abglitten, und stolperte ins Licht hinaus.
Das Erste, was er sah, waren die Leichen. Ob es eine verirrte Kugel gewesen war oder ob die Russen die Nerven verloren hatten, als sie sahen, dass Belzig zu fliehen versuchte – die Sprengladungen mussten zu früh explodiert sein. Zwei russische Soldaten lagen ausgestreckt am Boden wie weggeworfene Spielzeuge, leblos und blutig. Staub sammelte sich in den Falten ihrer zerfetzten Uniformen.
Grant hörte ein Geräusch hinter sich. Er fuhr herum und hob den Schild, um seine Brust zu schützen. Das rettete ihm das Leben. Der Schild zitterte unter dem Aufprall so heftig, dass sich das Beben auf Grants Körper übertrug; aus der Patina aus Schmutz und Korrosion wurden Bröckchen herausgeschlagen, sodass darunter Gold und Bronze zum Vorschein kamen. Doch der Schild hielt.
Grant spähte vorsichtig über den Rand. Ein paar Meter entfernt, neben einer der monolithischen Statuen, stand Kurchosow. Die Explosion musste auch ihn überrascht haben: Seine Uniform war zerrissen, sein Gesicht schmutzig und blutverschmiert. Er hatte seine Augenklappe verloren, sodass die Narbe darunter zu sehen war: wulstig zusammengezogene Haut, die sich an der Stelle zu einem Knoten verdickte, an der das Auge hätte sein sollen. Er wirkte benommen.
Grant hob den Webley und schoss auf Kurchosows gesundes Auge. Die Patrone Kaliber .455 traf genau ins Ziel. Später hätte Grant geschworen, er habe für einen Sekundenbruchteil das Zischen des heißen Bleis hören können, als es in den Augapfel eindrang. Im nächsten Moment spritzte Blut aus der Augenhöhle, und von den umgebenden Felswänden hallte ein schauriger Aufschrei wider. Grant schoss noch zwei weitere Male, und der Schrei verstummte.
Hinter der Leiche, am Fuß der Statue, bewegte sich etwas. Grant blickte auf und sah gerade noch einen Schatten dahinter verschwinden. Muir. Er kauerte sich hinter den Schild, froh, seine Last auf dem Boden abstützen zu können. Dann richtete er den Webley auf die Säule, zielte mal auf die rechte, mal auf die linke Seite und wartete ab, auf welcher Muir wieder zum Vorschein kommen würde.
«Geben Sie auf», rief er. Nach all dem Getöse klang seine Stimme in der dunstigen Stille seltsam dünn. «Kurchosow ist tot.»
Keine Reaktion. Grant zog den linken Arm aus den Ringen des Schildes. Er lehnte ihn an sein Knie, hob einen kleinen Stein auf und warf ihn in Richtung der Säule. Der Stein rollte ein Stück weit über den Schutt und blieb am Fuß der Statue liegen. Noch immer keine Reaktion.
«Muir?»
Hinter ihm auf dem Stein scharrte etwas. Er fuhr herum; der Schild geriet aus dem Gleichgewicht und fiel mit einem metallischen Dröhnen auf den Boden. Grant hob den Webley – und hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück. Es war Jackson. Allerdings nicht der Jackson, der mit seinen weißen Tennisschuhen in das Hotel in Athen spaziert war, nur Pomade und Sonnenschein. Jetzt war sein Haar wirr, seine Kleidung zerrissen und sein Gesicht unter dem Blut und den Schrammen gespenstisch weiß. Er kletterte aus dem Graben und starrte dumpf auf die Waffe, die auf ihn zielte.
«Scheiße.» Seine Stimme war tonlos, gleichgültig. «Nicht auch noch Sie.»
«Ich dachte, es wäre Muir. Er ist –»
In diesem Moment hörte Grant aus der Richtung der Säule schnelle Schritte. Er fuhr herum und sprang auf. Durch den Staub, der noch immer die Sicht trübte, sah er undeutlich eine Gestalt davonrennen. Er gab einen Schuss ab. Als die Gestalt weiterlief, sprintete auch er los.
Tiefer im Tal wurde die Luft klarer, sodass er Muir jetzt deutlich sehen konnte. Die Schöße seines Jacketts flatterten, und seine drahtigen Arme ruckten krampfhaft, während er auf die Oberkante der Klippe und den Wasserfall zurannte. Er war immer noch bewaffnet. Grant sah, dass er sich umdrehen wollte, und feuerte den Webley sofort noch einmal ab. Es war ein Schuss ins Blaue, denn im vollen Lauf hatte er kaum eine Chance zu treffen, doch Muir überlegte es sich daraufhin anders. Den Kopf zurückgelegt, sprintete er weiter.
Weit konnte er allerdings nicht mehr laufen. Nach kurzer Zeit erreichte er die Felskante und blieb stehen. Grant fiel in Schritttempo und ging auf ihn zu. Muir drehte sich um. Hätte er seine Pistole auch nur einen Zentimeter gehoben, dann hätte Grant ihn auf der Stelle erschossen. Stattdessen streckte Muir den Arm zur Seite aus und ließ die Waffe über die Felskante fallen. Die beiden Männer standen einen Moment lang da, Auge in Auge, und atmeten schwer.
«Ist es okay, wenn ich rauche?»
Grant nickte.
Muir griff in sein Jackett, zog langsam das elfenbeinerne Zigarettenetui heraus und klappte es auf. Nachdem er die Zigarette angezündet hatte, warf er das Streichholz in den Fluss. Die Strömung erfasste es und trieb es auf den Wasserfall zu. Muir sah ihm nach. «Sie haben sich für die falsche Seite entschieden», sagte er ohne Bitterkeit. «Sie werden sehen. Die Amis werden alles verderben.»
«Ich habe mich für gar keine Seite entschieden. Sie haben sich für mich entschieden.»
Muir zog tief an seiner Zigarette. Der Rauch schien ihn zu stärken: Er richtete sich auf, hob das Kinn. «Ich gehe davon aus, dass man mich hängen wird, wenn wir zurückkommen.»
Grant zuckte die Schultern. «Wir sind nicht mehr im Krieg – jedenfalls nicht offiziell.»
«Es wäre besser, dann könnten Sie mich erschießen. So würde ich wenigstens mit einer verdammten Zigarette im Mund sterben …»
«Du rotes Verräterarschloch, du Hurensohn.»
Grant nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Einen Sekundenbruchteil später stürmte jemand an ihm vorbei auf Muir zu. Der hob abwehrend die Fäuste, doch es war nur eine kraftlose Geste. Jackson stürzte sich aus vollem Lauf geradewegs auf Muir. Einen Moment lang rangen die beiden Männer am Rand der Klippe miteinander, dann stürzten sie, noch immer aneinandergeklammert, in die Tiefe.
Grant lief zur Felskante und blickte nach unten. Er sah gerade noch die Fontäne aufstieben – dann nichts mehr. Das schwarze Wasser schloss sich über ihnen. Ein paar Minuten später sah er ihre Leichen an die Oberfläche treiben, nahe der Stelle, wo sich der See in den Fluss ergoss. Sie blieben kurz an der Kante hängen, und gleich darauf waren sie verschwunden.
Grant wandte sich ab. Dabei stieß er mit dem Fuß gegen etwas. Es schlitterte über den feuchten Felsboden und blieb auf einem Flecken Moos liegen. Muirs Zigarettenetui. Das mattweiße Elfenbein starrte ihm aus dem schwarzen Moos entgegen wie ein Augapfel, weiß wie der Tod.