DREIZEHN

«Zum Verständnis dieser Geschichte müssen Sie sich über manche Sachverhalte im Klaren sein.» Reed richtete seine Taschenlampe wieder auf den Fries, auf die steinerne Armee unterhalb der Stadtmauern. «Die Griechen, die sich nach Troja aufmachten, bildeten die Elite ihrer Zeit. Menelaos, König von Sparta und Gemahl der schönen Helena. Agamemnon, sein Bruder, der Großkönig von Mykene. Odysseus, der geniale Stratege, und Ajax, stark wie ein Stier. Größer als sie alle jedoch und für die Griechen ganz und gar unersetzlich war Achilles.

Nun ist die Annahme weit verbreitet, in der Ilias werde die gesamte Geschichte des Trojanischen Krieges erzählt: die tausend Schiffe, die zehnjährige Belagerung, der Tod des Achill und schließlich die Plünderung und Zerstörung der Stadt.» Reed spitzte die Lippen, trug die müde Miene eines Mannes zur Schau, der sein Leben lang einen zähen Krieg gegen die Unwissenheit geführt hatte. «Tatsächlich erzählt die Ilias jedoch nur von etwa zwei Wochen dieses Krieges, im letzten Jahr der Belagerung. Zwischen Agamemnon und Achilles kommt es wegen der Aufteilung der Beute – in diesem Fall einer Frau – zu einem Zerwürfnis, und Achilles zieht sich wutentbrannt zurück, damit die Armee der Griechen sehen kann, wie sie ohne ihn zurechtkommt. Nicht sonderlich gut, wie sich herausstellt: Unter der Führung des Prinzen Hektor nutzen die Trojaner den Rückzug des verstimmten Achilles dazu, die Griechen fast völlig aufzureiben. Achilles lässt sich weiter nicht erweichen, sein Gefährte Patroklos aber zieht, angetan mit der Rüstung des Achill, in die Schlacht. Alle halten ihn für Achilles; das Blatt wendet sich, und für die Griechen läuft alles glänzend, bis Hektor auftaucht, die Illusion zerstört, indem er Patroklos tötet und anschließend die Rüstung an sich nimmt.»

Der Lichtstrahl der Taschenlampe wanderte weiter zur nächsten Bildtafel. Jetzt standen sich die Armeen an einem breiten Fluss gegenüber, schleuderten Speere hinüber, während im Hintergrund auf Streitwagen Verstärkung anrückte.

«Damit gerät Achilles ein wenig in eine Zwickmühle. Zwar brennt er darauf, Rache an Hektor zu nehmen, hat aber keine Rüstung mehr. Also begibt sich seine Mutter – die Meeresnymphe Thetis – zur Schmiede des Hephaistos auf Lemnos und beauftragt ihn, eine neue Rüstung zu schmieden. Der Schild ist fraglos das Meisterwerk, zu der Rüstung gehören aber auch noch Beinschienen, ein Brustpanzer und ein Helm. Standesgemäß ausgerüstet, macht Achilles Hektor auf dem Schlachtfeld ausfindig, ficht einen Zweikampf mit ihm aus und tötet ihn. Dann bindet er den Leichnam an den Füßen an seinem Streitwagen fest und schleift ihn um die Stadt herum, bis der trojanische König Priamos, der Vater Hektors, Achilles in seinem Zelt aufsucht und um den Leichnam seines Sohnes bittet. Der Gram des alten Mannes rührt Achilles so sehr, dass er sich schließlich erweichen lässt und ihm den Toten überlässt. Ende der Geschichte – und alle leben glücklich bis an ihr Lebensende. Nur auf die meisten von ihnen trifft das natürlich nicht zu.»

«Ich dachte, Achilles wäre durch einen Giftpfeil in seiner Ferse getötet worden.»

«An diese Geschichte», sagte Reed, «glauben viele irrtümlicherweise. Achilles und seine Ferse sind aber eher ein Mythos.»

«Das ist doch alles ein Mythos, verdammt», sagte Muir abschätzig.

Reed warf ihm einen verärgerten Blick zu. «Darauf komme ich noch zu sprechen. Was ich zu erklären versuchte, ist, dass Achilles’ Ferse in der ursprünglichen Legende nicht vorkommt. In den ältesten Quellen wird nichts davon erwähnt, dass er in der Ferse getroffen worden oder dort auch nur besonders verwundbar gewesen wäre. In einer schriftlichen Quelle taucht das erst während unserer Zeitrechnung auf – sieben- oder achthundert Jahre nach Homer. Über Achilles’ Tod berichtet Homer nichts. Die Ilias endet, bevor er stirbt, und die Odyssee greift den Faden der Geschichte einige Zeit danach auf.»

«Nun, wenn Homer nichts darüber berichtet, wer tut es dann?»

Reed beugte sich vor. «Am Ende der klassischen Epoche war Homer zu einem unumstrittenen Grundpfeiler der griechischen Kultur geworden. Seine Gedichte waren so etwas wie die Bibel, Shakespeare und die Legenden um König Artus in einem. Aber Homer hat sich die Geschichten nicht ausgedacht – er hat sie für seine Dichtung adaptiert. Die Erzählungen um Troja existierten bereits, in einander überlappenden, mitunter widersprüchlichen Fassungen, als mündlich überlieferte Gesänge und Volkssagen, Mythen und Legenden. Anfangs dürfte seine Fassung nur eine unter vielen gewesen sein. Nach und nach mauserte sie sich zur weithin bevorzugten, am Ende dann zur letztgültigen, maßgeblichen Fassung. So stark war die Kraft seiner Poesie.

Aber auch die anderen Überlieferungen überdauerten: Homers Gedichte würden ansonsten keinen Sinn ergeben. Es gibt eine riesige Fülle Literatur von anderen Dichtern, Schriftstellern und Dramatikern, die den Trojanischen Krieg als Stoff verarbeitet haben: Sophokles, Aischylos, Vergil – ganz zu schweigen von Shakespeare, Tennyson, Chaucer … Die Liste ist praktisch endlos, weil sie noch heute fortgesetzt wird, über zweieinhalbtausend Jahre nachdem Homer erstmals die Feder aufs Papier setzte.»

«Und, wie ist Achilles denn nun zu Tode gekommen?»

«Die Überlieferung berichtet, dass er von Paris getötet wurde – womöglich durch einen Pfeil, der ihn ins Bein traf –, während er an den Toren Trojas kämpfte. Einer Zusammenfassung in der Odyssee zufolge verbrannten ihn die Griechen danach und beerdigten seine Asche in einer goldenen Urne unweit der Mündung der Dardanellen.»

Und das heilige Heer der sieggewohnten Achaier
Häufte darüber ein großes und weitbewundertes Denkmal
Auf der Spitze des Landes am breiten Hellespontos,
Dass es fern im Meere vorüberschiffende Männer
Sähen, die jetzo leben, und spät in kommenden Jahren.

Grant blickte hoch. «Stimmt das? Befindet sich das Grab noch dort?»

«An den Küsten des Bosporus gibt es Hügelgräber», antwortete Marina. «Archäologen haben sie ausgegraben, aber nie etwas Bedeutendes zutage gefördert. Keinen Schild auf jeden Fall.»

«Außerdem», fügte Reed hinzu, «kam die Verbrennung von Toten erst in der Eisenzeit auf. Die Mykener in Troja hätten ihre Toten eher in Gräbern beigesetzt. Hier handelt es sich um einen Anachronismus in dem Gedicht.»

Muir stand auf. «Ein Anachronismus? Verdammt, das ist doch alles anachronistisch. Wir versuchen hier etwas von höchster nationaler Bedeutung zu finden, und alles, was Sie mir liefern, ist Hokuspokus und eine dreitausend Jahre alte Gespensterspur. Ob Achilles einen Pfeil in die Ferse oder in den Kopf bekommen hat, ob er verbrannt oder begraben wurde, wen kratzt das schon. Es hat ihn doch gar nicht gegeben, verflucht.»

«Aber irgendjemanden hat es gegeben.» Reed ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. «Womöglich war sein Name nicht Achilles, seine Ferse war vermutlich nicht verwundbarer als sein restlicher Körper, und ich bezweifle auch, dass seine Mutter eine Meeresnymphe war – aber jemanden hat es gegeben. Falls die Schmiede hier auf Lemnos diesen Schild gefertigt haben, hat ihn auch jemand bekommen. Jemand Außergewöhnliches – würdig, ein so wertvolles und heiliges Stück Rüstung zu führen. Jemand, der Stoff für Geschichten und Legenden geliefert hat, mögen sie am Ende noch so verfälscht und verworren gewesen sein. Jemand, dessen Leben in der Geschichte unauslöschliche Spuren hinterlassen hat.»

«Geschichte? Ich dachte, es geht hier um Literatur. Um Mythen und Sagen.»

«Vor hundert Jahren dachte alle Welt, der Trojanische Krieg sei ein bloßer Mythos, reine Erfindung. Dann begann Schliemann zu graben. Und zwar ohne lange zu suchen oder herumzuprobieren. Er begab sich schnurstracks nach Troja und stieß seine Schaufel in die Erde. Dann begab er sich weiter nach Mykene, der Hauptstadt Agamemnons, und ging dort ganz genauso vor.»

Grant schaltete sich ein. «Woher wusste er, wo er hinmusste?»

«Das war allen bekannt.» Reed war in die Mitte der Kammer geschlendert, wo ihn das Licht der Gasflamme wie ein Schein einhüllte. «Das ist ja das Unwahrscheinliche. Das Wissen ging nie verloren. Wir verfügen noch über zweitausend Jahre alte Reiseführer, in denen diese Orte für Touristen der Antike beschrieben werden. Was uns verloren ging, war der Glaube – das Vertrauen, dass in diesen Geschichten auch Wahrheit steckte. Schliemann brauchte bloß wieder zu glauben, das war alles.»

Muir drückte seine Zigarette am Altar aus und warf sie in die lodernden Flammen. «Na schön.» Seine Stimme klang ebenso hart wie spöttisch. «Was also soll ich Ihrer Meinung nach tun? In die Türkei fahren und dort jeden einzelnen Erdhügel aufbuddeln, um zu sehen, ob sich darin vielleicht ein Schild befindet?»

«Das ist nicht nötig.» Reeds Tonfall war jetzt wieder freundlicher. «Falls die Geschichten stimmen, befindet sich der Schild nicht mehr dort.»

«Sie haben gesagt, Achilles sei in Troja beerdigt worden.»

«So war es auch. Aber seine Rüstung wurde nicht mit ihm zusammen begraben. Die Griechen hielten einen Wettkampf ab, um zu bestimmen, wer sie erben sollte, und dabei hat Odysseus gewonnen.»

«Herr im Himmel – hört das denn gar nicht auf? Was hat er damit angestellt?»

«Das weiß niemand. Hier verschwindet der Schild des Achill vollständig aus der Legende. Auf Odysseus trifft das natürlich nicht zu – seine zehnjährige Irrfahrt heim nach Ithaka bildet das Thema der Odyssee. Soweit ich weiß, ist aber von der Rüstung des Achill in der Odyssee nie die Rede, bis auf eine kurze Anspielung darauf, dass Odysseus sie gewonnen hat. Und so häufig, wie Odysseus auf seiner Irrfahrt Schiffbruch erlitten hat, erscheint es undenkbar, dass er sie mit nach Hause gebracht hat.»

Muir klappte sein elfenbeinbesetztes Zigarettenetui auf; seine Finger suchten darin herum, aber es war leer. Er hob den Blick und sah Reed direkt in die Augen. «Lassen wir mal den ganzen Mist und faulen Zauber beiseite. Haben Sie irgendeine Ahnung, wo wir diesen Schild finden können, oder soll ich nach London telegrafieren und denen Bescheid geben, dass die Jagd beendet ist?»

Einen Moment lang erwiderte Reed wortlos Muirs Blick.

«Wo sich der Schild befindet, weiß ich nicht.»

Das Etui schnappte zu. Muir wandte sich zum Gehen.

«Aber ich weiß, wo ich mit der Suche anfangen würde.»

Der vergessene Tempel
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