ZWEI

Qaisariyeh, Mandatsgebiet Palästina

Die Burg stand auf einem Vorgebirge, das wie ein Finger ins ruhige Mittelmeer hinausragte. Erbaut worden war sie vor über achthundert Jahren von französischen Kreuzrittern, zur Abwehr vor Angreifern, die von der flachen Küste und den ruhigen Gewässern angelockt wurden. Letzten Endes waren sie gescheitert, die Burg jedoch blieb bestehen: ein steinernes Zeugnis der außergewöhnlichen Kriegskünste der Kreuzfahrer, durch Jahrhunderte dem langsamen Verfall preisgegeben.

Jetzt hatte eine neue Generation von Kolonialherren sie wiederbelebt und das mittelalterliche Bollwerk mit Neuerungen ausgestattet, von denen sich die Erbauer noch nichts hatten träumen lassen. Stacheldraht verlief längs der gewaltigen Mauern, und die Bogenschützen in den Türmen waren durch Bren-Maschinengewehrposten ersetzt worden. Diese dienten allerdings nicht mehr der Abwehr von Feinden. Die Burg wurde jetzt als Gefängnis genutzt, und ihre starken Befestigungen schützten das Reich, indem sie Männer nicht am Eindringen, sondern am Entkommen hinderten.

Der Wagen machte kurz vor Mitternacht vor dem Eingangstor halt. Ohne den Motor abzustellen, sprang der Fahrer hinaus und öffnete hastig die hintere Tür. Wenn er auf der langen Fahrt von Jerusalem eines gelernt hatte, dann, dass sein Fahrgast sehr ungeduldig war und keinerlei Verzögerung duldete.

«Warten Sie hier», lautete die knappe Anweisung. «Es wird nicht lange dauern.»

Ein Lichtstrahl huschte durch die Finsternis, und gleich darauf tauchte aus dem gewölbten Eingangstor ein blonder Mann in Offiziersuniform auf, der eine Taschenlampe in der Hand trug. «Lieutenant Cargill, Sir.»

«Guten Abend.» Der Besucher stellte sich nicht vor und ergriff auch nicht die Hand, die ihm unsicher entgegengestreckt wurde, als wisse sie nicht recht, ob sie nicht besser salutieren sollte. «Haben Sie hier keinen Strom?»

«Der Generator hat heute Nachmittag leider den Geist aufgegeben.» Cargill schien eifrig bemüht, einen guten Eindruck zu machen; er konnte noch nicht wissen, dass dies bei Muir ein nutzloses Unterfangen war. «Wie war Ihre Reise, Sir?»

«Einfach hundsmiserabel.» Muir folgte Cargill durch den Torbogen in einen gewölbten Durchgang und dann in einen Innenhof, der jetzt eine Ansammlung von Nissenhütten beherbergte. «Waren Sie in letzter Zeit mal in Jerusalem? Unsere geschätzte Regierung hat den Stadtkern in eine Art KZ verwandelt und sich darin verschanzt. Alles ist mit Stacheldraht abgeriegelt. Und trotzdem können sie sich nicht gegen diese Scheißterroristen vom Irgun schützen.» Er schüttelte angewidert den Kopf. «Na, was soll’s. Unser Mann ist noch hier?»

Ganz überrumpelt von dem plötzlichen Themenwechsel, fand Cargill erst mit Verzögerung seine Stimme wieder. «Ich habe ihn in Erwartung Ihrer Ankunft schon mal in die Verhörzelle bringen lassen. Leider wussten wir nicht genau, wann Sie kommen würden – er sitzt da jetzt schon seit einigen Stunden.»

«Gut. Das dürfte ihn schon ein bisschen mürbe gemacht haben. Der Kerl ist zäh, ein ganz harter Hund, seiner Akte nach. Alle möglichen Heldentaten im Krieg. Wurde mit dem DSO für herausragende Dienste ausgezeichnet, und den bekam man nicht fürs Latrinenschaufeln.»

«Tatsächlich?» Cargill klang verblüfft. «Nicht gerade die Sorte Mann, der man Waffenschmuggel für die Zionisten zutrauen sollte.»

Muir gluckste. «Drei Monate nachdem man ihm den Orden an die Brust geheftet hatte, ist er verschwunden. Von der Fahne gegangen. Ein vielschichtiger Bursche, unser Mr. Grant.»

Sie kamen in der hinteren Ecke des Hofes an, bei einem alten Stall, der mit einem Wellblechdach und einer Tür aus Stahl versehen worden war. Cargill schloss auf.

«Werden Sie Hilfe benötigen, Sir? Ich könnte ein paar Unteroffiziere holen …»

«Nicht nötig. Warten Sie hier – für den Fall, dass es Ärger geben sollte. Sie sind bewaffnet?»

Cargill tippte an sein Halfter.

«Dann halten Sie sich bereit. Sollte einer durch diese Tür kommen, ohne vorher zweimal geklopft zu haben, erschießen Sie ihn.»

«Halten Sie das wirklich für …» Cargill schien bestürzt.

«Wie schon gesagt: Er ist ein vielschichtiger Bursche.»


Die Stahltür fiel schwer hinter ihm ins Schloss, als Muir in die Zelle trat. Wie auch die übrige Festung war sie eine seltsame Mischung aus Alt und Neu: mittelalterliche Steinmauern, ergänzt durch ein Wellblechdach und einen hastig gegossenen Zementboden. Wie im Mittelalter wurde sie durch eine Flamme beleuchtet: in diesem Fall eine an einem Querbalken hängende Petroleumlampe. In der Mitte des Raums standen sich zwei Holzstühle an einem Stahltisch gegenüber, und dort saß, mit einer Handschelle am rechten Arm ans Tischbein gefesselt, Grant.

Muir musterte ihn einen Augenblick lang. Das Foto in der Akte war knapp zehn Jahre alt, doch ob die verstrichene Zeit ihn mit Nachsicht behandelt hatte oder nicht, war kaum zu sagen. Natürlich war er gealtert – aber so ging es den meisten Männern, die den Krieg überlebt hatten. In Grants Fall fiel die Veränderung weder zum Besseren noch zum Schlechteren aus. Er hatte Narben – eine auf dem linken Unterarm, die sich vom Ellbogen bis fast zum Handgelenk hinabzog – und Falten um die Mundwinkel und Augen, die das Gesicht selbst jedoch nicht verändert hatten. Es war, als hätten die Jahre den jungen Mann auf dem Foto einfach schärfer konturiert, in gewisser Weise deutlicher gemacht. Trotz der Fesselung an den Tisch brachte er es fertig, sich lässig auf dem Stuhl zurückzulehnen und Muir mit einem spöttischen Lächeln zu begegnen.

Muir schlug ein Notizbuch auf und begann vorzulesen. «Grant, C. S. Geboren Oktober 1917, County Durham. Schüler an der … kein maßgebliches Institut. Schulabschluss im Jahr 1934. Nach Südafrika ausgewandert, dann Rhodesien. Ausgedehnte Reisen im südlichen Afrika als Prospektor der Kimberley Diamond Company. Gerüchteweise Kontakt zu eingeborenen antibelgischen Elementen im Kongo. 1938 Rückkehr nach England, vom militärischen Geheimdienst angeworben, später versetzt in die Special Operation Executive. Aktiver Dienst in Griechenland, Nordafrika, auf dem Balkan und in der Sowjetunion. Im Juli 1944 Verleihung des Distinguished Service Order; ab Oktober 1944, nach einem Vorfall bei Impros auf Kreta, vermisst, Verdacht auf Fahnenflucht. In der Folgezeit Verwicklung in Schwarzmarktgeschäfte in London; später Gerüchten zufolge im östlichen Mittelmeerraum aktiv, als Waffenschmuggler für die sogenannte Demokratische Armee Griechenlands, den Irgun, die Haganah und andere Elemente im zionistischen Untergrund. Derzeitiger Aufenthalt unbekannt. Berichtige: Derzeitiger Aufenthalt: gefesselt an einen Tisch in einer miesen kleinen Zelle am Arsch der Welt, mit Aussicht auf eine verdammt lange Haftstrafe dafür, die Feinde des Empire mit Waffen beliefert zu haben.»

Muir klappte das Notizbuch zu und ließ es auf den freien Stuhl fallen. Grant sah ihn ungerührt an, mit vor gespielter Ehrfurcht aufgerissenen Augen. «Sonst noch was?»

Seine Stimme entsprach nicht Muirs Erwartungen. Ganz schwach ließen sich noch die derben Vokale eines Jungen aus dem englischen Norden erahnen, dazu kamen jedoch noch so viele Akzente und Einflüsse, dass sie sich unmöglich verorten ließ: ein wirklicher Bastard.

«Nur noch, dass die Waffen, die Sie geschmuggelt haben, offenbar aus Geheimlagern geplündert wurden, die eigentlich für den griechischen Widerstand im Krieg bestimmt waren.»

Grant zuckte die Achseln. «Niemand hat sie benutzt. Die Juden haben den Großteil der letzten zehn Jahre in die Mündungen von Gewehren schauen müssen. Da hielt ich es für das Mindeste, sie mit Waffen auszurüsten, damit sie zurückschießen können.»

«Aber das sind unsere Waffen, verdammt nochmal. Und die schießen damit auf uns.»

Wieder zuckte Grant die Achseln. «Uns? Ich dachte, ich gehöre dem Club nicht mehr an.»

«Dann hielten Sie es also für eine angemessene Rache, unsere Waffen an unsere Feinde zu verkaufen?» Muir stieß verächtlich den Rauch durch die Nasenlöcher aus.

«Es ging mir nur ums Geld.»

«Das ist wohl der Vorteil, wenn man für Juden arbeitet.»

Grant gab keine Antwort, blickte aber Muir über den Tisch unverwandt an.

Muir klopfte mit einer neuen Zigarette auf seinem Elfenbeinetui herum. «Aber lassen wir das, es ist mir wirklich piepegal, was Sie derzeit so treiben. Ich bin hier, um mit Ihnen über Kreta zu reden. Und einen gewissen Mr. John Pemberton.» Ein Streichholz flammte auf. «Sie kannten ihn.»

«Tatsächlich?»

Grant gab sich unbeteiligt, verzog keine Miene, aber Muir hatte schon genug Verhöre geführt, um die Fassade zu durchschauen.

«Kreta – am Tag, als die Nazis kamen. Wir hatten Sie losgeschickt, um den König in der Umgebung von Knossos zu suchen. Stattdessen sind Sie auf Pemberton gestoßen. Sie waren der Letzte, der ihn lebend gesehen hat.»

«Und der Erste, der ihn tot gesehen hat. Und?»

«Ihrem Bericht zufolge hat er Ihnen vor seinem Tod noch sein Notizbuch ausgehändigt.»

«Und?»

Muir beugte sich über den Tisch. Die Glut seiner Zigarette befand sich nur wenige Zentimeter vor Grants Gesicht, und Rauch stieg ihm in die Augen. «Ich will wissen, was Sie damit gemacht haben.»

«Ich habe es seiner Witwe ausgehändigt.»

«Pemberton hat keine Witwe hinterlassen, Sie Armleuchter. Seine Frau ist vor ihm gestorben.»

«Vielleicht war es auch seine Schwester.» Vom Rauch tränten Grant die Augen, aber er beherrschte sich und blinzelte nicht. Lange sah er Muir direkt in die Augen – und pustete seinem Gegenüber die Rauchwolke dann mitten ins Gesicht, so unvermittelt, dass Muir zurückwich. «Was glauben Sie, was ich damit gemacht habe? Für einen Besuch in der Bücherei hatte ich keine Zeit. Ich habe das Buch weggeworfen und mich dann auf die Suche nach Nazis gemacht, um sie umzubringen. Wenn Sie meinen Bericht gelesen haben, dürfte Ihnen bekannt sein, dass ich dabei auch ziemlich erfolgreich war.»

Muir lehnte sich auf dem Stuhl zurück. «Ich glaube Ihnen nicht.»

«Sie haben wohl nicht viel Zeit an der Front verbracht, nehme ich an.»

«Ich glaube einfach nicht, dass Sie ein Notizbuch, das Ihnen ein Sterbender kurz vor seinem Tod anvertraut hat, einfach so wegwerfen. Hat es Sie nicht interessiert, warum ihm so viel daran lag?»

«Er hätte mir auch seine glückbringende Streichholzschachtel und ein Medaillon mit der Locke seiner Liebsten geben können – ich hätte damit dasselbe gemacht.» Grant schüttelte den Kopf. «Ich habe in dem Buch geblättert, aber da standen nur Kauderwelsch und Hokuspokus drin. Ich musste längere Entfernungen zurücklegen, da konnte ich keinen Ballast gebrauchen. Also habe ich es weggeworfen.»

Muir starrte ihn noch einen Augenblick lang an und stand dann unvermittelt auf. «Wie schade. Wenn Sie es behalten hätten oder mir sagen könnten, wo es zu finden ist, wäre ich in der Lage gewesen, Ihnen vielleicht hier rauszuhelfen. Womöglich wäre sogar etwas Geld dabei herausgesprungen. Denn hier werden die Juden Sie doch wohl nicht bezahlen.» Er sah gespannt zu ihm herunter. «Nun?»

«Scheren Sie sich zum Teufel», sagte Grant.


Der Wagen bog in das Wäldchen ein und machte kurz darauf halt. Seine Scheinwerferkegel tauchten die Lichtung in gelbes Licht und beleuchteten einen verbeulten Lastwagen der Marke Humber mit heruntergelassenen Baumwollplanen. Daneben lungerte ein Grüppchen junger Männer in bunt zusammengewürfelten Kampfuniformen, teils rauchend, teils ihre Waffen überprüfend. Sie boten einen furchterregenden Anblick – doch falls die Insassen des Autos Angst hatten, ließen sie sich das nicht anmerken. Niemand stieg aus. Nur ein Quietschen war zu vernehmen, als ein Insasse auf der Rückbank sein Fenster herunterkurbelte.

Einer der Männer kam herüber und bückte sich leicht, um in den Wagen zu schauen. Obwohl die Nacht lau war, trug er einen langen Mantel und eine schwarze Baskenmütze auf dem kurzen grauen Stoppelhaar. Er war mit einer Maschinenpistole bewaffnet.

«Seid ihr bereit?» Auf dem Rücksitz glomm eine Zigarette, aber das Gesicht dahinter war im Schatten nicht zu erkennen. «Habt ihr gefunden, was ihr braucht?»

Der Mann mit der Mütze nickte. «Es war alles in dem Laster – wie von Ihnen versprochen. Wir sind bereit.»

«Dann vermasselt es nicht. Und achtet darauf, dass er lebend herauskommt.»


Man führte Grant in seine Zelle zurück, ein Kellergewölbe der Kreuzfahrerburg, in das drei Holzpritschen gezwängt waren. In der pechschwarzen Finsternis musste er sich zu seinem Bett durchtasten. Dort ließ er sich auf die Matratze fallen, ohne seine Schuhe auszuziehen.

Auf der Nachbarpritsche flammte ein Streichholz auf, und ein olivenfarbenes, junges Gesicht mit einer schwarzen Haartolle darüber wurde sichtbar. Der Junge zündete zwei Zigaretten zwischen seinen Lippen an, reichte eine an Grant weiter und pustete dann das Streichholz aus, ehe es ihm die Finger versengte.

Dankbar nahm Grant das Geschenk an. «Danke, Ephraim.»

«Haben sie dich geschlagen?» Älter als fünfzehn, sechzehn konnte der Junge nicht sein, doch seine Stimme war ganz sachlich. Und warum auch nicht?, überlegte Grant. Ephraim war schon viel länger hier eingesperrt als er, seit fast drei Monaten jetzt, verurteilt, weil er in Haifa britische Polizisten mit Steinen beworfen hatte.

«Nein, sie haben mich nicht geschlagen.»

«Wollten sie wissen, wo sie Begin aufspüren können?»

«Nein.» Grant schob einen Arm hinter den Kopf und pustete eine Rauchwolke zur Decke hoch. «Es waren nicht die üblichen Schläger. Irgendein Agent aus London. War nicht am Irgun interessiert – wollte bloß eine uralte Geschichte ausgraben.»

«Hast du ihm was erzählt?»

«Ich …»

Sie spürten die Explosion selbst durch die meterdicken Mauern. Die Pritschen wackelten, Geröllstaub kam von der Decke geregnet. Grant schwang herum und sprang auf den Boden, zerrte den jungen Ephraim mit herunter, und so kauerten sie Seite an Seite im Dunkeln. Schüsse waren zu hören – panisch und vereinzelt zunächst, dann regelmäßig, als die Maschinengewehre in Betrieb genommen wurden.

«Sie kommen näher.» Grant legte Ephraim die Hand auf die Schulter und schob ihn durch die Zelle, bis er das kalte Metall der Tür ertastete – unverändert abgesperrt. Er drückte sich mit dem Rücken an die Wand und schob Ephraim auf die andere Seite des Türrahmens.

«Halt dich bereit – irgendjemand kommt da.»


Lieutenant Cargill kehrte in sein Büro zurück und goss sich einen großzügigen Schluck aus der Flasche ein, die er in seinem Schreibtisch aufbewahrte. Ihm waren im Krieg schon viele unangenehme Zeitgenossen begegnet, und auch später hier in Palästina, aber nur wenige, die so viel vorsätzliche Unfreundlichkeit zur Schau trugen wie sein namenloser Besucher.

Jemand klopfte an die Tür. Whisky schwappte über den Rand des Glases. Hatte der Besucher noch irgendetwas vergessen?

«Der Ingenieur, Sir. Wegen der Reparatur des Generators.»

Cargill seufzte erleichtert auf. «Herein.»

Der Ingenieur war ein kleiner Mann mit Nickelbrille, in einer schlechtsitzenden Uniform, die aussah, als wäre sie ursprünglich für einen Größeren bestimmt gewesen.

«Ziemlich spät, um jetzt noch den Generator zu reparieren, finden Sie nicht?» Cargill tupfte den Whisky mit seinem Taschentuch vom Tisch. «Wäre es nicht zweckmäßiger, bis Tagesanbruch zu warten?»

Der Ingenieur zuckte mit den Schultern. Er schien stark zu schwitzen. «Befehl, Sir.» Er kam weiter auf Cargill zu, eine große Tasche in der linken Hand. «Also, Sir, wenn Sie mir jetzt Ihre Schlüssel geben könnten.»

«Um an den Generator zu kommen, brauchen Sie meine Schlüssel nicht. Sie finden ihn …»

Cargill hob den Blick und schaute in die Mündung einer Luger, die ihm direkt vor die Nase gehalten wurde. «Was zum Teufel?»

«Ihre Schlüssel.»

Als der Mann die Hand ausstreckte, rutschte der Ärmel seines schlechtsitzenden Hemdes hoch. Auf seinen Unterarm war, in blauvioletter Tinte, die niemals verblassen würde, eine Reihe winziger Zahlen tätowiert.

«Sie wären nicht der erste Mensch, den ich sterben sehe. Geben Sie mir die Schlüssel.»

Während der Mann ihn weiter mit der Luger in Schach hielt, hakte Cargill den Schlüsselbund von seinem Gürtel los und legte ihn auf den Tisch. Dann nahm der Ingenieur – der Jude, berichtigte sich Cargill im Stillen – ein Elektrokabel aus seiner Tasche, mit dem er Cargills Handgelenke an die Rückenlehne des Stuhls und seine Knöchel an die Tischbeine fesselte. Cargill ließ diese Erniedrigung mit stoischem Schweigen über sich ergehen.

«Mit diesen Schlüsseln können Sie vielleicht die Zellen aufsperren, aber durchs Tor kommen Sie damit nicht. Da können Sie nicht einfach so mit Ihren Freunden vom Irgun im Schlepptau hinausmarschieren.»

«Wir finden schon einen Weg.»

Im nächsten Moment erschütterte eine gewaltige Explosion die Festung bis in die Grundmauern. Offenbar hatte sie sich ganz in der Nähe ereignet. Cargill geriet auf seinem Stuhl ins Wanken, konnte das Gleichgewicht nicht halten und kippte um, was ihm einen Schmerzensschrei entlockte, da seine Beine weiter an den Tisch gefesselt waren. Durch die Wolke aus Staub und Qualm, die den Raum erfüllte, sah er, wie der Jude die Schlüssel an sich nahm und sich dann zum Abschied an die Mütze tippte.

«Schalom.»


Die Schritte kamen jetzt näher. Sie folgten einem bestimmten Rhythmus: rückten vor, hielten inne, rückten vor, hielten inne. Jedes Mal, wenn es still wurde, konnte Grant Schreie und das Klappern von Metall hören. Kurz übertönte eine weitere Salve Maschinengewehrfeuer von draußen die Geräusche; als sie aufhörte, war direkt vor der Tür das Rasseln von Schlüsseln zu hören. Grant spannte sich in der Finsternis. Innen besaß die Tür keinen Griff – er konnte also nur warten, während der Schlüssel ins Schloss geschoben wurde, sich drehte, das Schloss aufsprang …

«Rak kach.»

Die Tür schwang auf, doch das Quietschen der Angeln ging im Freudengeschrei Ephraims unter. «Rak kach!», gab er den Wahlspruch des Irgun aufgeregt zurück. «Rak kach. Gepriesen sei Gott, dass ihr gekommen seid.»

«Gepriesen sei Gott, wenn wir hier rauskommen», brummte Grant.

Als sie die Zelle verließen, war ihr Retter bereits weitergehastet, aber im Gang wimmelte es von befreiten Häftlingen. Am hinteren Ende stand ein Irgun-Kämpfer und verteilte Schusswaffen, die er aus einem Sack holte.

«Wie ein verdammter hebräischer Weihnachtsmann», sagte Grant.

Ephraim sah ihn verwirrt an. «Wer ist das, der Weihnachtsmann?»

Sie drängten sich den Gang hinunter, an dem Kämpfer vorbei – der keine Waffen mehr zu verteilen hatte – und hinaus in den Innenhof der Festung. Nach achthundert Jahren war das Bodenniveau fast einen Meter höher als die ursprünglichen Fundamente, deshalb war vor dem Gebäude ein Graben ausgehoben worden, um Zugang zu ermöglichen. Jetzt drängten sich darin die Exhäftlinge und ihre Befreier und lieferten sich ein wildes Feuergefecht mit der englischen Besatzung am Pförtnerhaus. Am jenseitigen Ende des Hofs zeugten ein Haufen rauchender Trümmer und ein großes Loch in der Mauer davon, wie sich der Irgun mit Sprengstoff einen Weg in die Festung gebahnt hatte.

«Wer hat hier das Kommando?»

Er hatte die Frage dem Kämpfer neben sich ins Ohr gebrüllt, einem hageren jungen Mann, der, wie es schien, aus einem Karabiner aus dem Ersten Weltkrieg feuerte. Während er den Bolzen zurückriss, wieder einrasten ließ und zielte, gelang es ihm irgendwie, auf einen großen Mann mit schwarzer Baskenmütze in einem Mantel zu deuten, etwa in der Mitte des Grabens. Grant kroch zu ihm hinüber.

«Wo ist Ihr Fluchtweg? Durch das Loch in der Mauer?»

Der Irgun-Kommandeur schüttelte den Kopf. «Da sind wir nur hereingekommen», erwiderte er auf Englisch. «Hinaus nehmen wir den Hintereingang.» Er deutete mit dem Kopf nach links, dorthin, wo die Westmauer ins Meer hinausragte. Grant starrte hinüber und sah Männer, die im Schatten an der Mauer entlangschlichen, den Blicken der britischen Soldaten entzogen, die sich voll und ganz auf den Beschuss des Gefängnisblocks konzentrierten.

«Schwimmen wir?»

«Nicht, wenn Sie sich beeilen.»

Grant schaute wieder zum Pförtnerhaus. Aus einer der alten Schießscharten oben auf dem Turm blitzte das Mündungsfeuer eines Maschinengewehrs auf. Solange sie in dem Graben hockten, waren sie sicher, doch sobald sie ihren Posten räumten, würden sie auf dem offenen Gelände leichte Ziele abgeben.

«Bevor wir gehen, müssen Sie erst mal den da oben ausschalten.»

Der Kommandeur sah ihn an. «Wollen Sie das übernehmen?»

«Warum nicht?»


Seit der Ankunft des geheimnisvollen Besuchers war es mit Lieutenant Cargills Abend steil bergab gegangen. Bei seinem Sturz hatte er sich einen Knöchel verdreht, in dem es jetzt schmerzhaft pochte, doch das war nichts gegen die Qual, an das Büromobiliar gefesselt am Boden liegen und hilflos zuhören zu müssen, wie draußen die Schlacht tobte. Er konnte nicht einmal sagen, wer die Oberhand hatte. Und er machte sich auch nicht vor, dass sich seine Lage entscheidend verbessern würde, wenn der Kampf vorüber war.

Die Tür flog auf. Hinter seinem Schreibtisch sah Cargill, wie zwei abgetragene braune Stiefel durch den Raum gespurtet kamen. Er reckte den Kopf hoch, und genau in dem Moment tauchte ein schmutziges, unrasiertes Gesicht über dem Schreibtisch auf und sah ihn verblüfft an. Eine Bitte um Hilfe erstarb auf Cargills Lippen.

«Sie sind der Waffenschmuggler.» Ein grauenhafter Gedanke schoss ihm durch den Kopf. «Das hat doch wohl nichts mit Ihrem Besucher zu tun, oder?»

Grant antwortete nicht: Er zerrte die Schubladen aus Cargills Schreibtisch und leerte eine nach der anderen auf den Tisch aus. Am Ende holte er ein braunes Lederhalfter aus der untersten. Aus der Lederklappe lugte der Walnussholzgriff eines Webley-Revolvers. Grant zog ihn heraus und prüfte die Trommel.

Trotz seiner Hilf- und Wehrlosigkeit gab Cargill sich unerschrocken. «Wollen Sie mich jetzt kaltblütig abknallen?»

Grant schüttelte den Kopf. «Unnötig. Das überlasse ich der Army, wenn man erst feststellt, was Sie hier für einen Murks gebaut haben.» Er überlegte kurz. «Was für eine Hutgröße haben Sie?»


Von dem Gang vor Cargills Büro führte eine abgenutzte Treppe zu den Befestigungen hinauf. Grant hastete sie hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend, und rannte längs der Mauer auf den Turm des Pförtnerhauses zu. Im allgemeinen Durcheinander hatte man vergessen, die Tür zuzusperren. Grant huschte hinein. Dieser Teil des Turms war entkernt worden, bis auf die vier Stahlpfeiler, auf denen der Posten auf dem Dach ruhte. Sie schimmerten im Dunkel, blitzten immer wieder im Licht des draußen tobenden Feuergefechts auf, während der zugige Innenraum dumpf widerhallte vom Knattern des Maschinengewehrs oberhalb. Grant stülpte sich Cargills Schirmmütze auf das zerzauste Haar, berührte den Webley, der jetzt wieder um seine Hüfte geschnallt war, und kletterte dann die an der Wand befestigte Holzleiter empor.

Der MG-Schütze auf dem Dach konnte Grant kaum gehört haben, hatte aber wohl die Bewegung aus dem Augenwinkel mitbekommen. Er stellte das Feuer kurz ein und drehte sich um.

«Was fällt Ihnen denn ein, Mann?», herrschte Grant ihn in ruppigem Befehlston an. «Halten Sie diese Juden weiter in Schach!»

Dieser Anpfiff und der vertraute Umriss der Offiziersmütze beruhigten den Schützen im Nu. Er drückte sich das Maschinengewehr an die Schulter und feuerte eine weitere Salve in die Runde. Mehr Zeit benötigte Grant nicht. Er überquerte das Dach und schickte den Schützen mit einem Tritt auf den Holzboden, wo dieser sich vor Schmerz krümmte. Zwei weitere wohlplatzierte Fausthiebe genügten, und der Schütze lag bewusslos da.

Grant zog dem Mann den Gürtel aus der Hose und fesselte ihm damit die Hände auf den Rücken. Danach kehrte er zum Maschinengewehr zurück, schwenkte es herum und gab eine längere Salve in Richtung der britischen Soldaten ab. Grinsend verfolgte er, wie sich unter ihnen Verwirrung breitmachte. Einige feuerten geistesgegenwärtig ein paar Schüsse zurück, die Splitter aus dem Mauerwerk herausbrachen, doch die meisten liefen planlos durcheinander. Drüben beim Gefängnisblock nahm die Frequenz der Schüsse unterdessen rapide ab, während der Irgun die Gelegenheit nutzte, aus der Festung zu entkommen.

Grant feuerte eine weitere Salve ab, hob dann das schwere Maschinengewehr an und schleifte es zur hinteren Mauer hinüber, wobei er darauf achtete, nicht an den glühend heißen Lauf zu kommen. Dort ließ er es in den wasserlosen Burggraben fallen. Bis es dort jemand fand, hoffte Grant längst über alle Berge zu sein.


In dem Graben befand sich mittlerweile nur noch ein halbes Dutzend Kämpfer. Ein paar lagen leblos auf dem Boden, die meisten aber schienen entkommen zu sein. Grant kehrte zu dem Kommandeur mit der schwarzen Baskenmütze zurück. «Gerade noch rechtzeitig», brummte dieser. Er hielt inne, um ein neues Magazin in seine Maschinenpistole zu stecken. «Wir müssen jetzt zum Boot.» Er wandte sich nach rechts und reichte die Waffe an den Kämpfer neben ihm weiter. «Halt diese Engländer in Schach, bis wir über die Mauer sind.»

Die Arme des Kämpfers sackten sichtlich nach unten, als er die schwere Pistole in Empfang nahm, aber sein junges Gesicht leuchtete vor Entschlossenheit.

Grant riss die Augen auf. «Ephraim?»

Der Junge wuchtete die MP auf den Erdwall und blickte mit äußerster Konzentration den Lauf hinab. Grant wandte sich an den Kommandeur. «Sie können ihn doch nicht hierlassen.»

«Irgendeiner muss die Briten in Schach halten, bis wir fort sind.»

«Das übernehme ich», sagte Grant spontan.

Der Kommandeur zuckte die Achseln. «Tun Sie, was Sie wollen, Engländer. Wenn Sie bleiben, wird man Sie hängen.»

«Und wenn ich gehe, wird der Junge gehängt.»

Ephraim schüttelte den Kopf und zeigte ein strahlendes Lächeln. «Das können sie nicht – ich bin noch zu jung. Bis ich alt genug für den Galgen bin, ist Israel frei.»

Grant blickte auf den Jungen herunter. Das Haar hing ihm ins Gesicht, und aus seinen Augen blitzte der Wunsch, es den verhassten Kolonialherren heimzuzahlen. Vielleicht hatte Grant in dem Alter ja genauso ausgesehen, an jenem Tag, als er mit einem einzigen Koffer in Port Elizabeth an Land gegangen war. Ein Teil von ihm – der junge Mann, der einst nach Südafrika ausgerissen war – wollte bei dem Jungen bleiben und seinen Traum vom Heldentum teilen. Doch ein anderer, kälterer Teil wusste, was er tun musste.

Grant streckte die Hand aus und wuschelte Ephraim durchs Haar. «Wechsle öfter mal den Standort», riet er ihm. «Dann glauben die, es wären noch mehr hier.»

Ephraim lächelte, beugte sich dann über die Waffe und betätigte den Abzug. Die MP wäre ihm fast aus den Händen gesprungen, doch dann bekam er sie in den Griff.

Der Irgun-Kommandeur zog Grant am Ärmel. «Wir müssen gehen.»

Sie rannten an der Mauer entlang. Grant kam sich fürchterlich schutzlos vor, aber Ephraims vereinzelte MP-Salven hielten die Besatzung weiter in Schach. Am Fuß des hintersten Turms fand er eine Strickleiter, die er rasch hinaufkletterte, bis er auf der Brustwehr stand und vor sich das mondbeschienene Meer sah. Neben den Felsen, wo die Mauer in die Wellen mündete, hockten etwa dreißig Mann zusammengedrängt in einer Motorbarkasse.

«Also, dann mal runter.» Von einer der uralten Zinnen baumelte ein Seil in die Tiefe. Grant ergriff es, schwang sich nach vorn und ließ sich hinuntergleiten – so schnell, dass er sich die Handteller an dem groben Seil versengte. Zwei Schritte über die schlüpfrigen Felsen, und er sah das Boot direkt unter sich. Noch ein Schritt, dann ein beherzter Sprung, und er landete unsanft im Kielraum. Ganz in der Nähe hörte er den dumpfen Aufprall, als auch der Irgun-Kommandeur ins Boot hechtete. Dann sprang der große Motor an, und Grant wurde zurückgekippt, als die Barkasse auf der ruhigen See an Fahrt gewann. Niemand sagte etwas. Alle Bootsinsassen schienen mit angehaltenem Atem auf die Schüsse zu warten, die die Barkasse zerfetzen würden.

Doch es blieb still.

Grant zwängte sich mit auf die Bank, die längs der Bootswand verlief. Nach etwa einer Viertelstunde entzündete einer seiner Gefährten ein Streichholz, und gleich darauf glühten ringsum im Boot Zigaretten, und gedämpfter Jubel machte sich breit. Grant bahnte sich einen Weg ans Heck, wo der Kommandeur saß. «Wo fahren wir hin?»

«Vor der Küste erwartet uns ein Frachter. Er wird uns die Küste hinauf nach Tyros bringen.» Er breitete die Hände aus. «Von dort aus, wohin Sie wollen.»

Grant dachte kurz nach. Muirs Besuch hatte ihn auf einen Einfall gebracht – obwohl er nie gedacht hätte, dass er ihn so rasch in die Tat würde umsetzen können. Er nahm einen Zug von seiner Zigarette und pustete den Rauch ins Mondlicht. «Können Sie mich nach Kreta bringen?»

Der vergessene Tempel
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