SIEBEN
Dampfschiff Kalisti, nördliche Ägäis. Vier Tage später
«Erklären Sie mir das nochmal.»
Sie saßen draußen auf Deck, während die Fähre quer durch die Ägäis dampfte. Diese Seestraße war immer schon viel befahren worden: Vor langer Zeit hatte sie Helden, Götter und tausend rachedurstige Schiffe vorbeisegeln sehen, ausgezogen, um eine Stadt zu erobern. Manche der Gestalten aus diesen Tagen waren noch immer hier, blickten vom Sternenhimmel herunter: die Zwillinge Kastor und Polydeukes, die mit Jason auf der Argos gesegelt waren; Pegasus, der Perseus und Andromeda übers Meer nach Griechenland getragen hatte; Herakles, der auf diesem Wege gereist war, um seine zwölf Arbeiten zu verrichten. Sie alle schimmerten am Abendhimmel, während der Mond unten aufs Meer einen Pfad aus Silber malte.
«Ich glaube, dass Pemberton die gleiche Vermutung hatte. Jene Zeilen aus der Ilias, die er aufgeschrieben hat – er wird dabei nicht nur an die Deutschen gedacht haben. Er muss sie gelesen haben, weil er eine Verbindung hergestellt hat.» Reed rückte ein wenig auf der harten Holzbank herum und zog sich den Schal enger um den Hals. Um ihn herum saßen Muir, Grant und Marina und warteten wie Studenten in einem Seminar. Auf dem Tisch zwischen ihnen lagen zwei Keramikscherben, das Tontäfelchen und Pembertons Notizbuch.
«Um diese Geschichte zu verstehen, muss man bei den Minoern anfangen. Oder vielmehr bei ihrem Untergang. Um das Jahr 1500 vor Christus befanden sie sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Was sie damals auf den Gebieten der Architektur, Malerei, Bildhauerei und Schrift erreichten, blieb für die nächsten tausend Jahre im gesamten Europa unübertroffen. Dann …»
«Peng.»
Reed warf Grant einen strengen Blick über den Rand seiner Brille zu. «Ist Ihnen diese Geschichte bekannt, Mr. Grant?»
«War nur so eine Vermutung. Gerade wenn alles glattläuft, sollte man auf der Hut sein und seine Waffe laden. Zumindest ist das meine Erfahrung.»
«In diesem Fall ist ‹peng› absolut zutreffend. Ein gigantischer Vulkanausbruch auf der Insel Thera, heute auch als Santorin bekannt – oder was davon noch übrig ist. Wo Thera sich einst befand, gibt es heute nur noch einen Ring kleinerer Inseln um ein sehr großes Loch im Meer herum. Der Ausbruch sprengte den Gipfel – die Erde dürfte dabei bis in ihr Innerstes erschüttert worden sein. Was darauf folgte, können Sie sich vorstellen: Erdbeben; riesige Flutwellen, die durch das Mittelmeer rollten wie durch eine Badewanne; Ascheregen, der wie Schnee auf die Inseln niederging. Alle minoischen Städte wurden zerstört. Die Kultur brach zusammen.»
«Aber das war nicht das Ende der Minoer», wandte Marina ein. «Ihre Städte wurden zwar verwüstet, aber sie wurden nicht völlig von der Landkarte getilgt.»
«Nein, da haben Sie recht.» Reed hielt inne, während ein Steward vier Tassen mit dampfendem Kaffee auf den Tisch stellte. «Als sich die Staubwolken gelegt hatten, rappelten sie sich wieder auf und versuchten, weiterzumachen. Aber ab jetzt wird die Geschichte komplizierter. Auf einmal tauchen überall auf dem griechischen Festland Zeugnisse minoischer Kultur auf.»
«Vielleicht wurden die ja von den Flutwellen angespült», mutmaßte Grant. Reed beachtete ihn nicht weiter.
«In den großen Zentren Griechenlands – Mykene, Tiryns, Argos – gewinnen minoische Kunst und Keramik zunehmend an Einfluss. Unterdessen finden wir auf Kreta von dieser Zeit an alle möglichen exotischen, fremdartigen Objekte. Neue Arten von Schwertern und Speeren, Streitwagen – Waffen, für die die friedliebenden alten Minoer nie eine Verwendung hatten.»
Muir nahm einen Schluck Kaffee. «Klingt für mich ganz so, als hätten die Griechen die Katastrophe ausgenutzt, um den Minoern eins überzubraten.»
«Oder vielleicht war es umgekehrt», widersprach Marina. «Vielleicht haben ja die Minoer angefangen, Kolonien in Griechenland zu gründen.»
«Verdammt unwahrscheinlich.» Muir verdrehte die Augen. «Die Panzer rollen in die eine Richtung und die Lastwagen mit der Beute in die andere. Das war schon immer so.»
«Darüber sind sich die Gelehrten uneins», stellte Reed beflissen fest. «Die Beweislage lässt hier keine eindeutigen Schlüsse zu. Ich persönlich würde eher Mr. Muir zustimmen. Kreta wurde zu einem Zeitpunkt durch den Vulkanausbruch verheert, als die Festlandsgriechen gerade große Fortschritte machten. Da liegt die Vermutung nahe, dass die überlebenden Minoer ganz naturgemäß unter den Einfluss der Mykener gerieten.»
«Genau wie wir und die verfluchten Amis. Ja, wenn ein Land Pech hat, freut sich …»
Grant räusperte sich. «Wer sind die Mykener?»
«Griechen», erklärte Marina. «Aus dem großen Zeitalter der Heroen.»
«Protogriechen», berichtigte Reed. «Das Zeitalter, aus dem die griechischen Mythen schöpfen und das von Homer geschildert wurde. Die Kultur des Agamemnon, Odysseus, Menelaos und Achilles. Wenn man den Sagen Glauben schenken will. Historisch betrachtet dürfte es sich wahrscheinlich um eine Kultur von Kriegern und Seeräubern gehandelt haben, einen losen Bund halb unabhängiger Stadtstaaten, die einem obersten König mit Sitz in der Hauptstadt Mykene untertan waren. Ihre Blütezeit hatten sie in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends vor Christus – dann, ganz plötzlich, so um das Jahr zwölfhundert …» Reed warf Grant einen bedeutsamen Blick zu. «Peng. War alles verloren, und Griechenland versank wieder in ein dunkles Zeitalter, das fünfhundert Jahre dauerte. Eroberer strömten ins Land – die wahren Vorfahren der modernen Griechen, aller Wahrscheinlichkeit nach. Sie bestaunten all das, was von den Mykenern an Hinterlassenschaften zurückgeblieben war – die gewaltigen Mauern, die fein gearbeiteten Schätze, die ausgeklügelten Waffen und Rüstungen … Dass so etwas jemals von Menschenhand erschaffen werden konnte, erschien ihnen in der Finsternis ihrer eigenen Existenz unvorstellbar, deshalb erfanden sie Mythen, um es sich zu erklären. Die mächtigen Grundmauern aus Stein konnten nur von Zyklopen und Riesen angelegt worden sein; der Schmuck von Handwerkern mit Zauberkräften geschmiedet; nur Helden, die von den Göttern selbst abstammten, hätten solche Schwerter führen können. Statt die Kultur als fruchtbare Herausforderung zu begreifen, erfanden sie, wie es bei Barbaren nun mal üblich ist, phantastische Erklärungen für diese Errungenschaften, um so ihre eigene Dürftigkeit zu entschuldigen.»
«Genau diese Menschen legten aber später die Grundlagen für die gesamte Kultur des Abendlandes», bemerkte Marina spitz. Reeds Vortrag schien sie geradezu als persönliche Kränkung aufgefasst zu haben. «Philosophie, Demokratie, Mathematik, Literatur. Und was die Mythen betrifft, gibt es da noch eine andere Theorie.»
Muir stöhnte auf. «Hört das denn nie auf? Dass es bei Ihnen immer noch eine andere Theorie geben muss …»
«Wenn wir erst aufhören, Theorien zu formulieren, haben die Barbaren gewonnen», sagte Reed mit Nachdruck.
Was Marina ihm gegenüber merklich milder zu stimmen schien. «Was wäre, wenn die Mythen gar nicht von den Eroberern stammen?», fragte sie. «Wenn es sich um von den Mykenern selbstverfasste Geschichten handelte, die durch die Generationen hindurch überliefert wurden?»
«Das dürfte eher unwahrscheinlich sein», sagte Reed. «Die Mythen sind so verwickelt und widersprüchlich – sogar die Griechen hatten Mühe, sich darin halbwegs zurechtzufinden, als sie versuchten, sie schriftlich festzuhalten.»
«Was ist mit Homer?»
«Homer war ein Dichter.» Reeds sonst so milder Tonfall gewann auf einmal unerwartet an Schärfe. «Die Mythen waren das Garn, aus dem er seine Schöpfung gewoben hat, aber das Ergebnis ist reine … Dichtung.»
Muir gähnte. «Ist das von Belang?»
Reed brummelte halblaut etwas von Barbaren vor sich hin, während Marina ihren Kaffee trank und säuerlich das Gesicht verzog.
«Grob teleologisch betrachtet, ist für Sie nur von Belang, dass die Mykener – vermutlich – in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends vor Christus nach Kreta gekommen sind. Falls sie nach hergebrachter Eroberersitte verfahren sind, können wir annehmen, dass sie eine Anzahl von Schätzen mit heimgeführt haben. Darunter, möglicherweise, auch den Baityl – den Meteoriten. Von der Keramik, die wir in dem Höhlenheiligtum gefunden haben, scheint einiges mit Sicherheit mykenischen Ursprungs zu sein.»
«Das erklärt auch das Bild auf dem Täfelchen», sagte Grant, froh darüber, sich konstruktiv an dem akademischen Disput beteiligen zu können. «Die Wellen», präzisierte er als Antwort auf die fragenden Blicke, die er erntete. «Die befinden sich im Vordergrund. Es ist so dargestellt, wie man es vom Bug eines Schiffes aus sehen würde. Man sieht sogar …» Er nahm das Täfelchen vom Tisch und betrachtete es eingehend. Die Darstellung des Tals nahm den größten Raum ein, doch in der unteren rechten Ecke – direkt über der schartigen Kante, wo das Täfelchen abgebrochen worden war – konnte er einen dunkelbraunen Fleck erkennen. Auf den ersten Blick hatte er ihn wohl irrtümlich für eine Verunreinigung gehalten, einen Schmutzfleck, doch dafür waren die Umrisse zu sauber. Er zeigte es den anderen. «Das könnte ein Schiffsbug sein.»
«Oder die Spitze eines weiteren Paars heiliger Hörner», sagte Marina zweifelnd. «Oder – alles Mögliche. Du kannst nicht davon ausgehen, dass antike Künstler die Welt so sahen wie du, das habe ich dir schon mal gesagt.»
«Bisher sind wir aber damit ganz gut gefahren.»
«Hoffen wir mal, dass Ihre Glückssträhne anhält.» Muir warf eine Zigarettenkippe über die Schiffsreling. «Na egal – die Mykener kamen also nach Kreta und taten, was siegreiche Invasoren so tun: Sie legten Paläste in Schutt und Asche, bemächtigten sich der Frauen und plünderten die Schätze. Dann haben sie noch unseren heiligen Meteoriten fortgeschafft – vermutlich nach Mykene, oder?»
«Das hätten sie tun können – aber daran glaube ich nicht.» Reed sah sich um. Zu dieser späten Stunde hatten sich die meisten Passagiere ins Schiffsinnere zurückgezogen, doch da das Osterfest in drei Tagen bevorstand, war das Schiff voll mit Inselbewohnern auf dem Nachhauseweg. Dunkle Häuflein waren auf dem Deck zu erkennen, wo sich Männer und Frauen zum Schlafen hingelegt hatten, während weiter vorne ein Grüppchen Wehrpflichtiger um einen Poller herum kniete und Karten spielte, mit Zigaretten als Einsatz. Auf einer Bank saß einsam unter einer nackten Glühbirne ein graubärtiger Pope, der in seiner Hand ein Gebetskettchen aus silbernen Perlen auf und ab schnellen ließ. Klack – gegen seine Knöchel. Klick – gegen seine Handfläche. Es war ein zeitloses Geräusch, so natürlich wie das Knarren des Schiffs oder das Schwappen der Wellen.
Reed beugte sich vor. «Die Mykener hatten nichts gegen die minoische Religion. Kriege im Namen der Religion – gegen jemanden zu kämpfen, weil er zu einem anderen Gott betet, und ihn nach der Niederlage vor die Wahl zu stellen, sich entweder bekehren zu lassen oder umgebracht zu werden – sind eine viel modernere Erfindung. Eine Neuerung, die wir dem Christentum zu verdanken haben. Die Alten waren wesentlich aufgeschlossener und offener, wenn es um Götter ging. Wenn man einen Feind besiegt hatte, schien es nur logisch, ihm seine Reliquien und heiligen Gegenstände zu rauben und für sich selbst zu benutzen. Warum die Macht von Göttern ungenutzt brachliegen lassen.»
Das Signalhorn des Dampfers ließ ein dreimaliges, langgezogenes Tuten vernehmen, als stimmten die Götter selbst lautstark zu. Grant schaute über die Reling. Übers Wasser hinweg blinkte ein rotes Leuchtfeuer aufs Meer hinab; vor ihnen tauchten die ersten vereinzelten Lichter im Dunkel auf. Das Schiffsdeck erwachte zum Leben: Männer rieben sich die Augen, Frauen wickelten sich in ihre Tücher ein und streichelten müde Kinder. Die jungen Uniformierten beendeten ihr Kartenspiel und steckten die gewonnenen Zigaretten ein. Nur der Pope blieb sitzen und spielte weiter mit seinem Gebetskettchen.
«Da wären wir.» Muir trank seinen Kaffee aus. «Lemnos.» «Homer zufolge hatte Zeus eines Tages die ewige Einmischung seiner Gattin satt und hängte sie, mit einem Paar Ambossen an den Füßen, an den Wolken über dem Olymp auf. Ihr Sohn Hephaistos, Gott der Schmiedekunst, eilte ihr zu Hilfe – deshalb schleuderte Zeus ihn vom Olymp in die Tiefe. Er stürzte einen ganzen Tag lang und landete, mit einem ziemlichen Krach, könnte ich mir denken, hier auf Lemnos.»
Reed deutete mit einer ausholenden Armbewegung auf die Insel um sie herum. Sie saßen in einem kaphenion im Hafenviertel, an einer seichten, von den Häusern der Inselhauptstadt Myrina gesäumten Bucht. Früher musste es einmal ein malerischer, bunter Ort gewesen sein, doch auch hier hatte der Krieg seinen Grauschleier hinterlassen. Überall blätterte verblichene Farbe von bröckelndem Putz; Zeitungen flatterten über zerbrochene Fenster, und Möwen nisteten zwischen zerborstenen Dachziegeln. Selbst die Insel schien sich gegen die Einwohner gewendet zu haben: Längs der geschwungenen Bucht ragten zwischen den Häusern immer wieder riesige, schroffe Felsen empor, als würde die Hand eines Riesen aus der Erde greifen, um die Stadt zu zermalmen.
Grant trank schlückchenweise seinen Kaffee – hier gab es zum Glück Nescafé, sodass ihm das übliche griechische Gebräu erspart blieb – und schwieg. Wie schon Generationen von Studenten vor ihm hatte er inzwischen begriffen, dass der Professor seine Vorlesungen nach eigenen Vorstellungen hielt.
«Hephaistos wurde gesund gepflegt und richtete mit seinen beiden Söhnen hier eine Schmiede ein. Nun – diese beiden sind hochinteressant …»
Muir unterdrückte ein Gähnen.
«Man nannte sie die Kabiren. Halbgötter, die von den Griechen auch als Daimones bezeichnet wurden, Dämonen: seltsame Geschöpfe, Bewohner jener Grauzone, in der sich volkstümliche Überlieferung, Mythen, Religion und Magie vermengen. In gewisser Weise sind sie unseren Feen nicht unähnlich – magische Geschöpfe mit besonderen Fähigkeiten, die aber keine vollwertigen Götter sind.»
Muir schlug die Hände vor die Augen. «Jetzt sagen Sie mir bitte nicht, dass wir hier irgendwelchen verfickten Elfen nachjagen wollen.»
Grant hatte lange Jahre seines Lebens unter rauem Volk verbracht, unter Abenteurern auf Diamantensuche, abgebrühten Spezialagenten und Banditen, deshalb fielen ihm Kraftausdrücke sonst ebenso wenig auf wie Bemerkungen übers Wetter. In Reeds Gegenwart aber war ihm Muirs derbe Ausdrucksweise irgendwie peinlich – wie einem Schuljungen, der auf dem Spielplatz von seiner Mutter in Verlegenheit gebracht wird. Reed schien das nicht weiter zu stören, er verdrehte bloß die Augen, als hätte er es mit einem besonders minderbemittelten Studenten zu tun.
«In diesem Fall ist Ihre phantasielose Ausdrucksweise ungewöhnlich passend. Die Kabiren standen im Zentrum eines Mysterienkults, der jahrhundertelang fortbestand.»
«Um welches Mysterium ging es?»
Reed seufzte müde. «Das ist selbstverständlich ein Geheimnis. Nur Angehörige des Kults kannten seine Geheimnisse, und die mussten sich vor ihrer Einweihung allen möglichen Initiationsriten unterziehen. Angefangen hat dieser Kult höchstwahrscheinlich als eine Art Gilde, in der die Fertigkeiten des Schmiedehandwerks vermittelt wurden. Ganz ähnlich wie bei den Freimaurern, möchte ich vermuten. Im Lauf der Zeit entwickelte sich daraus aber ein breiterer Kult mit allen Elementen, die wir auch von anderen Mysterienkulten kennen: Tod und Unterwelt; Leben und Fruchtbarkeit – was fraglos zu gewissen sexualisierten Riten geführt hat. In der Kunst werden die Kabiren oft mit unnatürlich großen Geschlechtsorganen dargestellt. Daher Ihre, ähm, erotisierten Elfen.»
«Scheint aber ein ziemlich großer Sprung», sagte Grant. «Von einer Innung für Schmiede zu einer Art Freudenhaus.»
«Keineswegs.» Reed beugte sich vor. «Die Schmiedekunst gehörte zu den geheimnisumwittertsten Fertigkeiten der Antike. Sie wurde eher als eine Art Magie betrachtet denn als Wissenschaft. Der Schmelzofen war nicht bloß eine Feuerstelle, in der man eine chemische Reaktion kontrollierte. Er war ein Portal, Schauplatz eines heiligen Vorgangs, bei dem unscheinbares Erz in lebenswichtige Werkzeuge verwandelt wurde. Ihn ohne angemessene Vorbereitung in Gebrauch zu nehmen wäre ungefähr so gewesen, als würde man in eine Kirche spazieren und sich die Abendmahlshostie und den Messwein einverleiben, bevor der Priester sie geweiht hat. Es gab festgelegte Rituale, um die Werkzeuge vorzubereiten, den Schmied zu reinigen, die alchemischen Mächte der Götter zu beschwören. Und in den Augen der Alten hatte dieser Vorgang große Ähnlichkeit mit der Fortpflanzung.»
«Weil beides so schweißtreibend ist?»
«Die heilige Verschmelzung der Elemente des Lebens in den geheimnisvollen Tiefen der Gebärmutter sah man als Entsprechung zur Verschmelzung von Kupfer und Zinn im Schmelzofen. Vergessen wir nicht, wir sprechen von der Bronzezeit – die Kunst der Eisenverarbeitung war noch unbekannt. Hitze, Schweiß, Blut – und natürlich eine stets gegebene Lebensgefahr. In der Sage vermählte sich Hephaistos mit Aphrodite, der Göttin der Liebe, um diese Einheit zu versinnbildlichen. Bis heute wird bearbeitetes Metall in vielen primitiven Kulturen als Fruchtbarkeitszauber benutzt.»
Dies schien Grants Interesse zu wecken. «In Afrika gibt es die gleiche Vorstellung. In Rhodesien haben wir Öfen gefunden, die mit Darstellungen gebärender Frauen geschmückt waren.»
«Lebenspendende Schöpfung», stimmte Reed ihm nickend zu. «Metallwerkzeuge bildeten die Grundlage jeglicher Landwirtschaft und Kultur. Ein in der Magie der Metallherstellung bewanderter Mann war mehr als nur ein Techniker oder Handwerker – er war ein Priester, ein Schamane, der Kontakt mit den Göttern unterhielt. Kein Wunder, dass er sich mit Ritualen und Mysterien umgab.» Mit seinen aufgerissenen Augen und den von der Meeresbrise im Hafen zerzausten weißen Haaren ähnelte Reed, der sonst so zurückhaltende Gelehrte, jetzt selbst ein wenig einem Schamanen; so als würden seine blauen Augen in eine alte, magische Vergangenheit starren, um mit ihren Geistern in Kontakt zu treten.
«Faszinierend», bemerkte Muir und zündete sich eine Zigarette an. «Aber was ist jetzt mit dem verflixten Meteoriten?»
Kurz schien es, als hätte Reed ihn gar nicht gehört. Dann schüttelte er sich unvermittelt, blickte sich etwas überrascht um und strich sich das zerzauste Haar glatt. «Nun, den wird man natürlich hierher gebracht haben.»
«Natürlich.»
«Der Meteorit dürfte fast vollständig aus reinem Metall bestanden haben. Wo also gehörte er eher hin als ins Heiligtum der Kabiren?»
Muir verengte die Augen. «Bitte sagen Sie mir nicht, dass das ihr einziger Anhaltspunkt ist.»
Reed zog sein Taschentuch heraus und faltete es auseinander. Zum Vorschein kam eine dreieckige gelbe Keramikscherbe mit rissiger, angestoßener Glasur, doch die Bemalung war noch gut zu erkennen. Von einem gestirnten Hintergrund hoben sich, eingerahmt von brennenden Leuchtern, zwei Figuren in Rot ab. Die eine war groß und bärtig, die andere klein und bartlos, aber beide hielten einen Hammer in der einen und eine Schale in der anderen Hand. Wie von Reed schon angekündigt, waren beide mit einem mächtigen Penis ausgestattet. «Darf ich vorstellen: die Kabiren-Brüder», sagte Reed. «Nette kleine Burschen.»
«Warum haben sie Schalen in der Hand?»
«Um Trankopfer zu spenden vermutlich – obwohl die Kabiren in der griechischen Literatur auch als notorische Säufer dargestellt werden.» Reed reichte die Scherbe an Marina weiter. «Die stammt aus dem Höhlenheiligtum im Tal der Toten – ist aber nicht minoisch. Es handelt sich um ein mykenisches Stück. Und ich würde eine Kiste Bordeaux, die so groß ist, dass selbst die Kabiren davon betrunken würden, darauf verwetten, dass sie von den Männern mitgebracht wurde, die den Baityl fortgeschafft haben.»
«Aber der Kabirenkult hat sich in der gesamten Ägäis verbreitet», wandte Marina ein, die bislang wortlos ihr Frühstück verzehrt hatte. «Weiter noch – bis an die Küste des Bosporus, sogar bis zum Schwarzen Meer. Auf Lemnos ist der Kult zwar entstanden, aber hier befand sich nicht das einzige Zentrum. Warum nicht Samothraki oder Thessaloniki, oder Theben?»
Reed winkte abwehrend ab. «Verbreitet hat sich der Kult erst viel später. Wir befinden uns noch tief in der Prähistorie – um das Jahr 1200 vor Christus. Lemnos gehört zu den am frühesten besiedelten Inseln der Ägäis. Nicht mal die Griechen konnten ihre Vorfahren weit genug zurückverfolgen: Ihren Aufzeichnungen nach wurde die Insel erstmals von den Pelasgern besiedelt, einer quasimythischen Menschenrasse, die es schon vor den Griechen gab. Vermutlich Mykener. Im Übrigen war auch Pemberton dieser Ansicht.» Reed schlug das Notizbuch auf der letzten Seite auf und deutete auf das Homer-Zitat, das Pemberton dort hingeschrieben hatte. «Hier wird nicht etwa eine der Schlachten um Troja geschildert. Die Stelle stammt aus dem achtzehnten Gesang der Ilias, als Hephaistos in seiner Werkstatt auf Lemnos eine neue Rüstung für Achilles schmiedet.» Er blickte mit triumphierendem Lächeln in die Runde. «Die Werkstatt können wir mit einiger Sicherheit mit dem Heiligtum der Kabiren gleichsetzen.»
Muir ließ seinen Zigarettenstummel in die Kaffeetasse fallen und gab dem Kellner Zeichen, die Rechnung zu bringen. «Ist das ausgeschildert?»
«Allzu schwer sollte es nicht zu finden sein. Nach Eustathios von Thessalonike, der einen Kommentar zu Homer verfasst hat, befindet sich das Heiligtum der Kabiren direkt neben dem Vulkan.» Sein Blick landete auf Marinas verwunderter Miene. «Was ist?»
«Tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, Herr Professor.» Es kam Grant so vor, als spielte ein leises Grinsen um Marinas Lippen. «Auf Lemnos gibt es keinen Vulkan.»
Reed blinzelte zweimal, während Muirs Streichholz reglos neben der Reibfläche der Schachtel verharrte. Grant blieb es überlassen, ganz folgerichtig zu fragen: «Und was hat es damit auf sich?» Er deutete mit dem Kopf auf die Gesteinsbrocken, die sich um die Stadt herum erhoben – und auf die mächtige Felsnase am Ende der Bucht, die von einer Burg gekrönt wurde. «Die sind vulkanischen Ursprungs.»
«Eine Vulkaninsel ist Lemnos schon», räumte Marina ein.
«Natürlich ist sie das», sagte Reed verschnupft. «Eustathios, Heraklit, alle alten Kommentatoren berichten übereinstimmend, dass der Tempel der Kabiren sich neben dem Vulkan befindet.»
«Dann hätten sie vielleicht erst einmal herkommen sollen, bevor sie das schrieben. Auf Lemnos gibt es seit Millionen von Jahren keine Vulkane mehr. Das war lange vor den Minoern», setzte sie mit einem Seitenblick auf Grant hinzu.
«Herrje. Gibt es denn Überreste? Einen Krater oder so etwas?» Muir warf ein paar Geldstücke auf den Tisch.
«Darauf sind wir gar nicht angewiesen. Das Heiligtum der Kabiren – das Kabyrion – wurde vor zehn Jahren von italienischen Archäologen entdeckt und ausgegraben.» Marina lächelte Reed zu. «Aber weit und breit kein Vulkan in der Nähe.»
«Wunderbar. Und wie kommen wir da jetzt hin?»
Muirs Manieren mochten gewöhnungsbedürftig sein, aber wie man ein Problem anging und energisch löste, darauf verstand er sich ganz ohne Zweifel. Obwohl Karfreitag war und die meisten Bewohner der Stadt sich zur Vorbereitung der Festlichkeiten in ihre Häuser zurückgezogen hatten, war Muir unermüdlich, hämmerte an Türen und schrie durch Fenster. Wonach sie suchten, darauf stießen sie schließlich in einer – wider Erwarten nicht geschlossenen – Taverne, vornübergesunken vor einem Backgammonbrett. Zunächst blickte der Fischer die vier Ausländer, die ihn nach seinem Boot fragten, ängstlich an, dann voller Misstrauen, doch das Bündel Geldscheine, das Muir ihm in die Hand drückte, schien seine Vorbehalte im Nu zu zerstreuen. Er grinste und führte sie dann zu einem unten an der Mole vertäuten, aus breiten Bohlen gezimmerten Kaíki. Die hölzerne Außenwand war zerkratzt und sah ziemlich mitgenommen aus, im Bootsraum schien sich fast ebenso viel Wasser zu befinden wie ringsherum.
Reed blickte sich nervös nach einer Sitzgelegenheit im Boot um, die nicht mit Öl oder Fischblut besudelt war. «Haben wir wirklich keine andere Möglichkeit?»
«Im Krieg haben die Deutschen den Fischern nicht über den Weg getraut. Weil sie vermuteten, dass sie ihre Boote zum Transport von Waffen und Spionen benutzen würden – womit sie nicht ganz unrecht hatten.» Grant lächelte ein wenig verlegen. «Aber das hat die Inseln ruiniert. Ohne Fischerei hatten sie keine Arbeit und nichts zu essen. Viele Fischer waren gezwungen, ihre Boote zu verkaufen, wenn sie ihnen nicht sogar von den Nazis zertrümmert wurden.»
«Was ist das?» Muir starrte gelangweilt zum Bug, der fast lotrecht in die Höhe ragte – ein Entermesser, mit dem sich jeder Gegenwind durchschneiden ließ. Auf beide Seiten waren große blaue Augen gemalt, unter die ein kleines Kupferamulett in Gestalt eines gedrungenen, affenähnlichen Mannes genagelt war.
Marina lachte. Sie hatte ihr Haar gelöst, ließ es sich frei um die Schultern flattern, und während das Boot Fahrt aufnahm, wurde ihr die Bluse vom Wind eng an die Haut gepresst. «Glauben Sie an Vorzeichen, Mr. Muir? Das ist einer der Kabiren. Sie wurden oft mit Seeleuten in Verbindung gebracht: In Stürmen tauchten sie auf, um Schiffe sicher an Land zu geleiten. Die Inselbewohner benutzen sie bis heute als Talisman.»
Grant schaute zum Himmel hoch und fragte sich, ob das Schiff, das vor dreitausend Jahren von Kreta hergesegelt war, wohl von einem ähnlichen Talisman beschützt wurde – und ob das geholfen hatte. An diesem Karfreitag war nirgends ein Wölkchen zu sehen: Die Luft war so klar, dass sie am Horizont den weißen Kegel des heiligen Bergs Athos aufragen sehen konnten. Sie umrundeten die Insel unterhalb der Burg, und der Fischer ließ den Motor an, der dichte Wolken Dieselqualm hinter sich ausstieß. Dessen ungeachtet stahl Grant sich nach vorne zum Bug und berührte, während die anderen gerade nicht herübersahen, das Amulett. Nur für alle Fälle, sagte er sich.