NEUNZEHN
Hotel Grande Bretagne, Athen
«Himmel, Sie haben aber wirklich ein Talent dazu, Scherereien zu machen.»
Sie befanden sich in einem Zimmer des Hotels Grande Bretagne. Das Haus hielt allerdings nicht, was sein hochtrabender Titel versprach – die britische Armee hatte nach der Befreiung 1944 den Namen wörtlich genommen, sich in dem Hotel einquartiert und es seitdem nicht wieder verlassen. Zimmer waren requiriert und ausgeschlachtet worden, das Mobiliar ausgetauscht, Wände und Trennwände niedergerissen und neu eingezogen, sodass aus einer ehemaligen Luxussuite ein beengtes Büro geworden war – wenn auch mit goldglänzender Tapete und Kristalllüster.
Grant saß auf einem harten Holzstuhl. Er weckte unbehagliche Erinnerungen an den, auf dem er bei seiner ersten Begegnung mit Muir in Palästina gesessen hatte. Nur dass Muir jetzt wütend war. «Da draußen auf der Straße liegen zwei tote Russen rum, und alle, vom britischen Botschafter bis hin zu der verdammten Bibliothekarin, wollen wissen, wie es dazu gekommen ist.»
Grant lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. «Das waren Russen?»
«Na, sie können es uns wohl nicht mehr erzählen. Aber der Wagen war jedenfalls auf die Pontische Schifffahrtsgesellschaft zugelassen, das ist ein Tarngeschäft der sowjetischen Staatssicherheit hier in der Region. Auch Zigaretten, Kleingeld und das übrige Zeug, das die Männer in ihren Brieftaschen hatten, deuten in dieselbe Richtung.» Er bemerkte Grants erstaunten Gesichtsausdruck. «Warum? Dachten Sie, die wären von der Heilsarmee?»
«Der Dieb – ihr Komplize – war Deutscher. Ich bin vor der Bibliothek mit ihm zusammengestoßen, bevor er sich mit der Tasche aus dem Staub gemacht hat.»
«Ein Jammer, dass Sie ihn nicht auch erschossen haben. Können Sie ihn beschreiben?»
«Blond, rotes Gesicht. Hager.» Grant zuckte die Schultern. «Ich würde ihn erkennen, wenn ich ihn wiedersähe.»
Muirs Augen wurden schmal. «Tatsächlich?» Er zog eine dicke Akte aus seiner Tasche, blätterte darin und reichte Grant dann ein Bild. «Wie steht es mit dem hier?»
Es war eine gute, scharfe Fotografie; kein Schnappschuss, sondern ein gestelltes Bild. Das machte es aber keineswegs attraktiver. Ein Mann in Pluderhose und Reitstiefeln stand auf einem kleinen Hügel aus Erde und Schutt, eine Hand auf einen Spaten gestützt, der im Boden steckte – die Pose eines Eroberers, der auf den Mauern der besiegten Stadt seine Fahne hisst. Er war jünger, kräftiger und sah gesünder aus als der Mann, dem Grant am Eingang zur Bibliothek begegnet war, doch etwas an dem Gesicht, das stolz in die Kamera grinste, war unverkennbar.
«Eindeutig derselbe Mann. Wer ist das?»
«Klaus Belzig. Archäologe, Nazi und ein Schwein durch und durch. Die Akte ist heute Morgen mit der Diplomatenpost reingekommen.»
«Sie sagten, dass er 1945 aus Berlin verschwunden ist.» Grants Verstand arbeitete schnell. «Wenn die Männer, die mit ihm im Auto saßen, Russen waren …»
«… dann müssen sie ihn in Sibirien ausgegraben, aufgetaut und hergebracht haben, damit er ihnen bei der Jagd hilft. Die wissen genau, wonach sie suchen.»
«Belzig war derjenige, der die Tontafel gefunden hat.»
«Und jetzt hat er sie sich zurückgeholt.»
Der Gedanke an die Tontafel bereitete Grant plötzliches Unbehagen. Es war zunächst nur ein vages Gefühl, das er sich selbst nicht recht erklären konnte. Ehe er Zeit hatte, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, sprach Muir bereits weiter. «Es könnte schlimmer sein. Reed sagt, er hat die Inschrift auf der Tafel bereits kopiert. Wenn er sie nicht entziffern kann, nehme ich an, können die es auch nicht.»
Die andere Hälfte. Mit einem Schlag begriff Grant, was ihn beunruhigt hatte, und ihm wurde flau. «Molho hat Belzig nie verraten, dass er die Tafel zerbrochen hat. Belzig dachte, Pemberton hätte die ganze besessen.»
«Und?»
«Und jetzt, nachdem er es weiß, wird er Jagd auf Molho machen.»
Muir ging mit schnellen Schritten in den Vorraum hinaus und riss den Telefonhörer von der Gabel. «Hotel Eurydike», verlangte er. Während er darauf wartete, dass die Verbindung hergestellt wurde, trommelte er mit den Fingern auf die Tischplatte. Dann winkte er Grant zu sich und drückte ihm den Hörer in die Hand. «Übernehmen Sie das. Sie sprechen die Sprache.»
Grant nahm den Hörer. «Hier spricht Mr. Grant, Zimmer dreißig. Hat jemand eine Nachricht für mich hinterlassen?»
«Einen Moment bitte.»
Grant hielt die Sprechmuschel mit einer Hand zu. «Haben Sie und Jackson heute Morgen Molhos Club ausfindig gemacht?»
Muir nickte. «Aber es war keiner da. Alles abgesperrt, vergittert, die Läden geschlossen. Jackson hat einen seiner Männer dort postiert –»
Grant gab ihm ein Zeichen, er solle still sein, denn gerade meldete sich die Dame von der Rezeption wieder. «Nein, es gibt keine Nachrichten.»
Er beendete das Gespräch, dann rief er erneut die Vermittlung an und fragte nach der Nummer des Club Charon. Er musste es ewig klingeln lassen, so lange, dass der Ton sich in sein Gehirn zu bohren schien.
«Nä?» Eine Frauenstimme, verschlafen und argwöhnisch.
«Ist Molho da?»
Keine Antwort.
«Wenn er kommt, sagen Sie ihm, Mr. Grant hat angerufen. Sagen Sie ihm, ich muss ihn sprechen. Sehr dringend. Ja?»
Sie legte wortlos auf.
Da er sich in der Bibliothek nicht mehr sehen lassen konnte, ging er zurück ins Hotel, legte sich auf sein Bett und versuchte zu schlafen. Eigentlich hätte er müde sein müssen, doch der Adrenalinschub von der Verfolgungsjagd mit Belzig war noch nicht abgeflaut, und die Anspannung ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Sonnenlicht pulsierte durch die dünnen gelben Vorhänge, diffus und zeitlos. Jemand – wahrscheinlich Reed – hatte ein Buch auf seinen Nachttisch gelegt, eine Übersetzung der Ilias. Grant nahm sie und blätterte darin. Irgendwann musste er dann doch eingeschlafen sein, denn einige Zeit später ließ ihn ein Klopfen aufschrecken. Er sprang aus dem Bett, griff nach dem Webley und ging zur Tür. «Wer ist da?»
«Ich», sagte Muir. «Nehmen Sie Ihren Hut und Ihre Waffe. Jacksons Mann hat gerade angerufen. Molho ist im Club eingetroffen.»
Sie verließen das Hotel im Laufschritt. Als sie am Empfang vorbeikamen, schien es dort gerade Unruhe zu geben – Grant glaubte zu hören, dass die junge Frau seinen Namen rief –, doch er war bereits halb zur Tür hinaus und beachtete sie nicht. Muir setzte sich ans Steuer des Wolseley aus der Vorkriegszeit, den er aus dem Fuhrpark der Botschaft ausgeliehen hatte. Sein Fahrstil war ebenso aggressiv wie alles andere an ihm; er raste über die Uferpromenade, ohne Rücksicht auf die Urlauber, Esel und Fußgänger zu nehmen, die den größten Teil des Verkehrs ausmachten.
Sobald sie den Club erreichten, wurde ihnen klar, dass etwas nicht stimmte. Ein Jeep der Army stand vor dem Gebäude quer auf der Straße. Ein amerikanischer Soldat bewachte den Wagen, und ein weiterer Infanterist stand auf dem oberen Absatz der Treppe, die zum Untergeschoss führte.
Der Wachposten bei dem Jeep ging langsam auf den Wolseley zu. Muir sprang so heftig hinaus, dass der Schwung der Tür den Soldaten beinahe umgerissen hätte. «Ist Jackson hier?»
Jackson wartete drinnen auf sie, zusammen mit einem Mann in blauem Anzug, den Grant nicht kannte. In der Luft hing noch immer der Rauch der vergangenen Nacht, nur dass es jetzt völlig still war. Hocker und Stühle standen umgedreht auf den Tischen; ihre Beine ragten in die Luft wie die Stacheln von Seeigeln. Ein halbes Dutzend Notenständer waren hinter einen Vorhang geräumt. In einem Wassereimer stand ein Wischmopp. Grant fühlte sich auf seltsame Weise an den Palast von Knossos erinnert: Ein Archäologe, der in tausend Jahren diese Artefakte entdeckte, würde niemals dahinterkommen, was sich hier zugetragen hatte.
Molho lag mitten im Raum unter einem weißen Tuch, einer Tischdecke, die jemand über ihn gebreitet hatte. Er konnte noch nicht lange tot sein. Das Tischtuch war stellenweise rot getränkt, als hätte ein ungeschickter Gast seinen Wein umgestoßen, und unter dem Saum sickerte eine dunkle Lache hervor.
«Ganz schön übel zugerichtet», sagte Jackson. «Sie haben ihn wirklich hart rangenommen. Zähne, Finger, das volle Programm.» Er sprach mit brutaler Gleichgültigkeit, wie ein Händler, der eine Bestandsaufnahme vortrug. «Welche Geheimnisse er auch immer hatte – Sie können verdammt sicher davon ausgehen, dass er sie preisgegeben hat.» Er schob mit der Schuhspitze das Tuch zurück, um den Kopf freizulegen. «Ist er das?»
Molhos Gesicht bot einen grauenhaften Anblick, doch Grant bewahrte die Fassung – er hatte im Krieg Schlimmeres gesehen. Wenn auch nicht viel. «Ja. Armer Teufel.» Er hatte den Mann gemocht, jedenfalls soweit er ihn kennengelernt hatte. Es kam ihm unfassbar grausam vor, dass jemand den Krieg mit allen seinen Schrecken überlebt hatte, nur um dann so zu enden. Doch Grant war mit der unfassbaren Grausamkeit der Welt bereits gut vertraut. «Decken Sie ihn wieder zu, in Gottes Namen.»
Jackson schob das Tuch über das Gesicht. «Mike hier» – er zeigte auf den Mann mit dem blauen Anzug – «hat das Gebäude beobachtet. Als Molho auftauchte, ist er zum nächsten Telefon gelaufen, um mich zu verständigen. Dadurch hat er verpasst, wie die bösen Jungs reingegangen sind. Eine Schande.»
Mike verzog das Gesicht. «Ich wusste gar nicht, dass sie drin waren, bis sie wieder rauskamen. Sie sind in einen schwarzen Mercedes gestiegen und weggefahren.»
«Haben Sie das Nummernschild gesehen?», fragte Muir.
«Schon, nur …» Mike trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. «Diese verdammten griechischen Buchstaben, die kann sich doch kein Mensch merken.»
«Molhos Wagen war ein schwarzer Mercedes», sagte Grant und nannte die Nummer – auch das war eine alte Gewohnheit aus seiner Zeit beim SOE.
«Wir lassen ihn von der hiesigen Polizei auf die Fahndungsliste setzen. Wird wahrscheinlich absolut nichts bringen, aber wir müssen es versuchen. Außerdem haben wir Leute an den Häfen und Flughäfen, die nach Roten Ausschau halten. Vielleicht tauchen sie dort auf.»
«Wir können nur hoffen, dass sie irgendwo auftauchen», sagte Muir in gepresstem Ton. «Ich denke, wir müssen davon ausgehen, dass die Sowjets dieselben Fragen an Molho hatten wie wir. Und wir müssen wohl auch davon ausgehen, dass sie ihm erst den Rest gegeben haben, als sie die Antworten hatten. Nachdem Molho tot ist, bleibt für uns als einzige Verbindung zur zweiten Hälfte der Tontafel Dr. Belzig.»
«Sie scheinen davon auszugehen, dass wir ihn finden müssen.» Drei Augenpaare richteten sich auf Grant. «Aber selbst wenn Belzig die ganze Tafel hätte, könnte er sie nicht lesen. Und wen wird er dann aufs Korn nehmen?»
Jackson und sein Kollege blieben zurück, um das Gebäude nach Aufzeichnungen von Molho zu durchsuchen. Muir und Grant fuhren inzwischen zurück zur Bibliothek, um Reed und Marina abzuholen. Während der Fahrt über die Uferpromenade zum Hotel sprach keiner der beiden ein Wort. Dunst hing über dem Meer, sodass die Silhouetten der Inseln am Horizont nur verschwommen erkennbar waren; das Licht der untergehenden Sonne ließ den Nebel über dem Wasser rosa und golden leuchten.
Sie gingen schweigend ins Hotel. Grant konnte an nichts anderes mehr denken als an ein kühles Bad und ein Glas Bier, doch als sie an der Rezeption vorbeigingen, kam eine der jungen Frauen hinter dem Tresen hervor auf ihn zu und sprach ihn an. «Ho Kyrios Grant.» Sie hielt ihm einen Zettel hin. «Eine Nachricht für Sie.»
Grant warf einen Blick darauf. Die Nachricht bestand aus einem einzigen Wort, das sorgfältig in lateinischen Blockbuchstaben notiert war. Derjenige, der sie geschrieben hatte, schien große Mühe mit dem fremden Alphabet gehabt zu haben: Die zaghaften Striche und krakeligen Linien erinnerten an die Handschrift eines Kindes. SOURCELLES stand da.
«Haben Sie die Nachricht entgegengenommen?», fragte Grant die junge Frau.
Sie nickte. «Am Telefon. Er hat es ganz langsam buchstabiert.»
«Wann kam der Anruf?»
Sie zeigte auf eine kleine Notiz in der Ecke: 13.47. Molho musste angerufen haben, unmittelbar bevor die Russen kamen. Grant sah wieder die Leiche vor sich und schauderte bei der Erinnerung.
«Was ist das?» Muir nahm ihm den Zettel aus der Hand und las. «Sourcelles? Was zum Teufel ist das?»
«Vielleicht der Mann, der die zweite Hälfte der Tontafel gekauft hat.»
«Und wie verdammt nochmal treiben wir ihn auf? Sollen wir ihn vielleicht im Pariser Telefonbuch suchen? Oder bei der französischen Botschaft anrufen?» Muir wandte sich mit einer wegwerfenden Geste ab. Marina jedoch wurde plötzlich lebhaft, begann in ihrer Handtasche zu kramen und zog das schmale Notizbuch hervor, das sie in der Bibliothek benutzt hatte. Sie blätterte darin, dann hielt sie inne und zeigte Grant wortlos die aufgeschlagene Seite.
Das Papier war mit ihrer kleinen, ordentlichen Handschrift bedeckt – alles in Griechisch bis auf ein Wort, das Grant entgegensprang wie eine Kugel zwischen die Augen: Sourcelles.