SECHSUNDZWANZIG

Schwarzes Meer, nahe Ostrov Zmeinyj. Vierundzwanzig Stunden später

Sie flogen im Schutz der Nacht tief dahin. Das einzige Licht im Flugzeug war das schwache Glimmen der Instrumentenbeleuchtung. Hin und wieder sahen sie draußen die Navigationslichter von Schiffen, die unter ihnen das Meer durchpflügten, winzige helle Pünktchen wie leuchtender Plankton im Wasser. Niemand sprach. Keiner von ihnen gab sich irgendwelchen Illusionen hin, was die Gefahr anging, in die sie sich begaben.

Jackson auf dem Pilotensitz blickte nach links durch die Scheibe zu den verschwommenen Lichtern am fernen Horizont hinüber. «Das da ist die Grenze. Wir sind soeben in den sowjetischen Luftraum eingedrungen.»

«Wenn irgendjemand mit dem Gedanken spielt überzulaufen, wäre jetzt die Gelegenheit», bemerkte Muir. Dabei warf er Marina einen gehässigen Blick zu. Grant, der neben ihr saß, spürte, dass sie sich versteifte.

«Was ist das?» Reed, der sich in den Kopilotensitz gezwängt hatte, zeigte durch die Cockpitscheibe. Ein Stück voraus pulsierte unter ihnen ein weißes Licht in der Dunkelheit.

«Laut dem Schwarzmeerlotsen steht auf dem höchsten Punkt der Insel ein Leuchtturm», sagte Marina.

«Dann muss es hier sein. Andere Inseln gibt es in der Gegend nicht.» Jackson flog eine Linkskurve, drosselte die Geschwindigkeit und ging in einen langsamen Sinkflug über. Das Timing war gut: Durch das rechte Fenster sah Grant, dass sich die Dunkelheit über dem östlichen Horizont allmählich zu einem Blauviolett lichtete.

«Hoffen wir, dass wir nicht von zornigen Göttern empfangen werden, die uns die Gliedmaßen einzeln ausreißen.»


Gerade als die Sonne aufging, setzten sie auf dem Wasser auf, und Jackson steuerte die Maschine in eine kleine Bucht. Alle schauten sich mit großen Augen um und konnten kaum glauben, wo sie waren. Grant hatte sich, ohne bewusst darüber nachzudenken, eine prächtige, majestätische Landschaft ausgemalt: stolze Alabasterklippen, die in der Sonne funkelten wie Schnee, oder eine Steilwand aus Marmor, die aus dem Meer aufragte. Selbst so etwas wie die weißen Klippen von Dover hätten seine Vorstellung befriedigt. Doch diese Klippen waren einfach rötlich braun. Das einzig Weiße, was Grant sehen konnte, war der Vogelkot, der den Fels in dicken Streifen bedeckte.

«Sind Sie sicher, dass wir hier richtig sind?», fragte Muir. «Besonders weiß kommt mir diese Insel nicht vor.»

«Der Name muss metaphorisch gemeint sein.» Reed klang selbst nicht recht überzeugt; insgeheim war er ebenso enttäuscht wie die Übrigen.

Muir summte ironisch ein paar Takte aus einer Melodie von Vera Lynn. Vor ihnen, am nordwestlichen Ausläufer der Insel, führte eine Betontreppe vom oberen Rand der Klippe über die rotbraunen Felsen hinunter zu einem Anlegesteg. Jackson schaltete den Motor ab und ließ die Maschine die letzten paar Meter von den Wellen tragen. Ein leichtes Beben durchlief den Flugzeugrumpf, als einer der Schwimmer an den Steg stieß. Grant sprang hinaus und befestigte ein Seil an einem rostigen Poller, dann blickte er zur anderen Seite des Stegs hinüber, wo an einem Eisenring ein ramponiertes Ruderboot mit abblätternder Farbe vertäut war. «Mit wie vielen von der Gegenseite rechnen wir?»

«Es muss wenigstens einen Leuchtturmwärter geben. London geht davon aus, dass auch ein paar sowjetische Techniker auf der Insel sind, die hier einen Funkmast oder so etwas aufstellen sollen.»

«Nur gut, dass wir auf eine Auseinandersetzung vorbereitet sind.»

Jackson teilte vier M3-Maschinenpistolen aus, dazu Beutel mit Ersatzmagazinen und Handgranaten. Für Reed gab es keine M3; stattdessen bekam der Professor zu seinem Entsetzen eine kleine Smith & Wesson-Pistole ausgehändigt. «Ich kann nicht damit umgehen», protestierte er. «Ich habe in meinem Leben noch keine Waffe abgefeuert.»

«Betrachten Sie es gewissermaßen als Versicherung», erwiderte Jackson. «Wenn man Frieden will, muss man sich auf den Krieg vorbereiten. Si vis pacem, para bellum. Aristoteles.» Er strahlte, als er Reeds verblüffte Miene sah. «Das hätten Sie mir nicht zugetraut, wie?»

«Ich würde mir niemals anmaßen, darüber zu spekulieren», beteuerte Reed.

Jackson drückte ihm die Pistole in die Hand. «Das hier ist der Hebel zum Entsichern, das ist der Abzug, und das ist das Ende, das Sie auf die bösen Jungs richten. Benutzen Sie die Waffe nur, wenn Sie so dicht dran sind, dass Sie das Ziel nicht verfehlen können.» Anschließend kletterte Jackson in den Laderaum des Flugzeugs und rief Grant zu: «Fassen Sie hier mal mit an?»

Sie hoben eine kleine Holzkiste heraus, etwa so groß wie ein Bierkasten, aber erstaunlich schwer. Grant hatte am vergangenen Abend beobachtet, wie Jackson sie einlud, und war neugierig, was sie enthielt. Der einzige Hinweis war eine Seriennummer, die in schwarzer Prägeschrift auf dem Deckel stand.

Jackson warf einen Blick auf die Uhr. «Wie spät ist es jetzt wohl nach Ortszeit, Grant?»

«Viertel nach fünf.»

«Gut. Hoffen wir, dass sie noch schlafen.»


Sie begannen vorsichtig den Aufstieg, wobei sie aufpassen mussten, nicht auf dem glitschigen Vogelkot auszurutschen, der die Stufen überzog wie vergossene Farbe. Grant und Jackson trugen gemeinsam die Holzkiste. Marina ging voraus, um die Gegend auszukundschaften. Sie hatte Rock und Bluse gegen eine weite Militärhose und ein Khakihemd getauscht, doch selbst unter der weiten, praktischen Kleidung waren ihre Kurven noch zu erahnen. Etwas in Grant verkrampfte sich, als er an die vergangene Nacht dachte. Für einen Moment stand ihm ein Bild vor Augen: eine flüchtige Vision von Seide, Haut und Parfüm. Dann glitt sein Stiefel von der Kante der nächsten Stufe ab, und er verlor das Gleichgewicht. Er streckte die Hand aus, um sich an der Klippe abzufangen, griff jedoch in einen dicken Klecks Vogelkot. Ein Schwarm Turteltauben flatterte lärmend aus einer Spalte auf.

Jackson warf Grant einen finsteren Blick zu. «Wir sollten den Kommies nicht unbedingt unseren Besuch ankündigen.»

Endlich hatten sie die Treppe hinter sich und spähten über die Felskante. Da stand der Leuchtturm, nur gut zweihundert Meter entfernt auf einer flachen Kuppe – ein gedrungenes, achteckiges Gebäude, etwa fünfzehn Meter hoch, mit einem einstöckigen Haus daneben. Ein steiniger Pfad, der in die dünne Erdkruste der Insel gekratzt war, führte darauf zu.

Jackson stellte die Holzkiste ab, nahm eine blaue Militärmütze mit rotem Band aus seinem Gepäck und setzte sie auf.

Grant sah ihn von der Seite an. «Wenn die Sie erwischen, werden Sie als Spion erschossen.»

«Wenn die erfahren, wer wir sind, erschießen sie uns so oder so.»

Sie ließen Reed mit der Kiste am oberen Ende der Treppe zurück. Die Übrigen gingen, angeführt von Jackson, im Gänsemarsch den Pfad hinauf. Grant nahm verstohlen die Umgebung in Augenschein. Er gab sich Mühe, entspannt zu wirken, behielt jedoch den Leuchtturmkomplex aus dem Augenwinkel ständig im Blick. Auf der Insel gab es keine Deckung: Hier wuchsen weder Bäume noch Büsche, nicht einmal Blumen. Es war ein toter Ort, kaum mehr als ein Rastplatz für die Seevögel, die hier überall ihre Nester hatten. Grant fragte sich, wo sie die Zweige zum Nestbau fanden.

Plötzlich glitt ein dunkler Schatten auf den Weg und schlängelte sich vor ihnen vorbei. Jackson fuhr zurück, riss seine Maschinenpistole von der Schulter und hatte sie bereits entsichert, ehe er erkannte, was es war: eine Schlange, dünn und schwarz, ein gesprenkeltes Ei in dem weit aufgerissenen Maul. Sie verschwand auf der anderen Seite des Weges in einem Loch.

«Keine Panik», sagte Grant und wies auf den Leuchtturm. «Die sollen doch schließlich nicht denken, wir wären nervös.»

«Stimmt.»

Sie erreichten den Höhenkamm. Der Leuchtturm ragte über ihnen auf, und ringsumher erstreckte sich die übrige Insel. Sie war nicht groß, kaum achthundert Meter lang und vielleicht vierhundert breit. Dadurch, dass es keine Bäume gab, wirkte sie noch kleiner. Grant konnte keinen Hinweis auf einen Tempel entdecken. Allerdings befanden sich an der Westseite einige unnatürlich geradlinige Felsformationen, scharfe Kanten unter der Grasnarbe. Abgesehen davon waren die einzigen Gebäude der Leuchtturm und das Wärterhäuschen daneben.

«Scheint, als hätten Sie sich die Kostümierung sparen können.» Bei dem Leuchtturm regte sich nichts. Sie waren jetzt dicht genug herangekommen, um das Summen des Motors zu hören, der die Lampe drehte wie ein aufgezogenes Spielzeug, das langsam ablief. Über ihren Köpfen segelten Möwen in der Meeresbrise.

Jackson wies mit dem Lauf seiner Waffe auf die Hütte. Die hölzernen Läden, von denen der salzige Wind die Farbe abgeschliffen hatte, waren verschlossen. «Ich nehme an, die Techniker sind noch da drin.»

Grant und Marina liefen zur Tür und nahmen zu beiden Seiten daneben Aufstellung, dicht an die Wand gepresst. Jackson und Muir bezogen in einiger Entfernung Position, um ihnen Feuerschutz zu geben.

Grant warf Marina einen Blick zu und streckte den Daumen hoch. «Bereit?»

Sie nickte. Der Wind spielte mit dem Band, mit dem sie ihr Haar zurückgebunden hatte, und ihre Augen leuchteten vor Aufregung. Grant hielt drei Finger hoch. Zwei … eins …

Plötzlich sprang die Tür nach innen auf, einen Sekundenbruchteil bevor Grants Stiefel dagegengeprallt wäre. Eine zerraufte Gestalt in langer Unterwäsche und mit einer Wollmütze stand im Eingang und rieb sich die Augen. «Schto eta?»

Der Mann wusste nicht, wie ihm geschah. Der Stiefel traf ihn mit der gesamten Wucht, mit der Grant die Tür hatte eintreten wollen, in den Unterleib. Der Russe krümmte sich mit einem Schmerzensschrei zusammen und taumelte zurück. Grant, durch den fehlenden Widerstand aus dem Gleichgewicht gebracht, machte unwillkürlich ein paar Schritte durch die offene Tür, stieß mit ihm zusammen, und beide Männer stürzten haltlos zu Boden. Grant sprang sofort wieder auf – und wäre beinahe gegen Marina geprallt, die ihm gefolgt war.

«Himmel.»

Grant schaute sich um. Sie standen in einem kleinen Raum mit einem Tisch an einem Ende, einem eisernen Ofen in der Mitte und drei doppelstöckigen Pritschen entlang den Wänden. In vier der Betten lagen junge Rekruten, die ihn teils verwirrt, teils entsetzt anstarrten, während sie ihre Decken zurückschlugen. Grant richtete die M3 auf sie. «Keine Bewegung.»

Der Mann zu seinen Füßen stöhnte und schleppte sich über den Betonboden zur nächsten Pritsche. Grant hörte hinter sich ein Geräusch und warf einen raschen Blick über die Schulter. Jackson und Muir standen in der Tür.

«Haben Sie sie alle?»

«Sieht so aus. Ich …»

Da ertönte ein Klacken. Grant blickte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und bemerkte erst jetzt, dass der Raum an der Rückwand noch eine Tür hatte. Mit einem leisen Fluch rannte er darauf zu, feuerte drei Schüsse durch das dünne Sperrholz und trat die Tür dann ein. Dahinter befand sich ein kleines Bad mit einem Waschbecken aus Edelstahl in einer Ecke und einer Toilette ohne Deckel in der anderen. Durch das offene Fenster dazwischen wehte eine frische Brise herein. Grant schaute hinaus und sah gerade noch eine halbnackte Gestalt auf den Leuchtturm zurennen. Er zielte mit seiner Maschinenpistole durch den Fensterrahmen und schoss, doch der Flüchtige war bereits außer Sicht. Die Kugeln schlugen nur Bröckchen aus dem weißgetünchten Beton am Fuß des Leuchtturms.

«Verdammt.»

Grant rannte zurück durch den Raum mit den Pritschen, vorbei an Muir und Jackson und hinaus ins bleiche Tageslicht. Doch er sah nur noch, dass die Tür des Leuchtturms zugeschlagen wurde, und hörte den Riegel drinnen einrasten. Er hob die Maschinenpistole, ließ sie jedoch fast im selben Moment wieder sinken. Die Tür war ein Paradestück sowjetischer Handwerksarbeit, eine massive Stahlplatte, die dazu gebaut war, den Stürmen des Schwarzen Meeres zu trotzen.

Muir war Grant nachgelaufen. «Was zum Teufel geht hier vor?»

«Einer von denen hat sich gerade im Turm verschanzt.»

Muir fluchte, dann zuckte er die Schultern. «Na, was soll’s, um den brauchen wir uns wohl keine Sorgen zu machen. Was kann er da drin schon ausrichten?»

«Eine ganze Menge.» Jackson stand in der Tür und zeigte auf die Drahtkonstruktion an der Spitze des Leuchtturms. «Das da ist eine verdammte Funkantenne.»

Grant lief um den Turm herum. Er war als Leuchtturm konstruiert, nicht als Festung, und so gab es an der Rückseite eine behelfsmäßige Leiter aus einer Reihe Eisenkrampen in der Mauer, die bis hinauf zur Aussichtsplattform um das Leuchtfeuer führte. Grant hängte sich die Maschinenpistole über die Schulter und begann hinaufzuklettern. Der Leuchtturm war ziemlich heruntergekommen: An Stellen, die kürzlich ausgebessert worden waren, sah man den nackten Beton, und an den Fenstern klebte noch weißes Kreppband, das sich allmählich löste.

Als er höher stieg, wurde der Wind stärker. Grant hatte jetzt Ausblick über die gesamte Insel und das umgebende Meer. Ohne innezuhalten, suchte er mit dem Blick den Horizont ab. Er sah ein paar Frachter und Öltanker, aber nichts Bedrohliches. Noch nicht.

Endlich erreichte er die Plattform und duckte sich unter dem Geländer hindurch. Wo auch immer der Russe stecken mochte, er war jedenfalls nicht hier heraufgekommen. Die Glaskuppel war leer bis auf das Leuchtfeuer mit der Blende, die sich noch immer drehte. Und was noch besser war: Es gab eine Tür. Grant probierte die Klinke, und tatsächlich, sie ließ sich öffnen. Die rostigen Angeln leisteten kurz Widerstand, dann schwang die Tür mit einem Quietschen auf. Grant war kaum hindurchgeschlüpft, da schlug der Wind sie schon wieder zu.

Im Vergleich zu dem stürmischen Wetter draußen war es im Inneren geradezu gespenstisch still. Nur die Blende rotierte mit leisem Rumpeln an ihrer Achse, und durch die offene Luke im Boden hörte Grant das gedämpfte Geräusch hastiger Schritte. Er kletterte an der Leiter hinab, gelangte auf einen schmalen Absatz am oberen Ende einer Wendeltreppe und folgte ihr bis zur nächsttieferen Ebene. Durch eine offene Tür sah er einen schlichten, weißgetünchten Raum. Ein Mann mit sandfarbenem Haar und nur mit einer Hose bekleidet, beugte sich über ein Funkgerät auf einem Klapptisch und drehte fieberhaft an den Reglern.

Grant streifte den Riemen der M3 von der Schulter und richtete die Waffe auf die Brust des Russen. Der riss mit einem erschrockenen Aufschrei die Hände hoch und wich von dem Funkgerät zurück. Grant war einen Moment lang versucht, trotzdem zu schießen, entschied sich jedoch dagegen. Was immer der Russe in der Zwischenzeit getan hatte – der Schaden war nicht mehr rückgängig zu machen.


Grant und Marina schlossen die Gefangenen in einem Lagerraum unten im Leuchtturm ein – sechs Techniker, dazu den älteren Leuchtturmwärter, den Grant auf der zweiten Ebene des Turms unter seinem Bett versteckt gefunden hatte. Jackson holte inzwischen Reed und die mysteriöse Holzkiste. Anschließend versammelten sie sich draußen vor dem Leuchtturm und suchten mit besorgten Blicken den Himmel und das umgebende Meer ab.

«Was glauben Sie, wie viel Zeit bleibt uns?»

Grant schaute nachdenklich auf seine Armbanduhr, als könne sie es ihm verraten. «Ich denke nicht, dass er überhaupt schon dazu gekommen war, einen Funkspruch abzusetzen. Falls doch, wird es wenigstens ein paar Stunden dauern, bis ein Boot hier eintreffen kann.»

«Wunderbar», sagte Jackson. «Dann haben wir ja reichlich Zeit.»

Marina starrte ihn an. «Sind Sie mit den Grundprinzipien der Archäologie vertraut?», fragte sie. «Man kann nicht einfach hingehen und irgendwas aus dem Boden ziehen. Es würde Wochen dauern, die Insel zu überprüfen.»

Jackson kniete neben der Holzkiste nieder und hebelte mit seinem Messer den Deckel auf. Alle sahen gespannt zu. Drinnen lag in einer Polsterung aus Heu ein schwarzes Kästchen, etwa so groß wie ein Ziegelstein. Es hatte oben einen verchromten Griff, an einem Ende eine Art Anzeigeskala und an beiden Seiten diverse Knöpfe und Schalter.

«Was ist das?», erkundigte sich Reed.

«Ein Bismatron. Es, hm – es zeigt an, wenn Element 61 in der Nähe ist.»

«Das haben Ihre Leute aber ziemlich schnell aus dem Ärmel geschüttelt, wenn bis vor drei Monaten nicht einmal bekannt war, dass dieses Element existiert», bemerkte Grant.

Jackson setzte ein falsches Grinsen auf. «Fragen Sie mich nicht. Solche Sachen überlasse ich den Superhirnen. Wie auch immer, wenn sich der Schild auf der Insel befindet, wird dieses Baby uns sagen, wo.»

Er legte einen Schalter um. Die Nadel schlug für einen Moment voll aus, dann kehrte sie in die Ausgangsposition zurück und zuckte nur hin und wieder leicht. Dabei gab die Maschine ein leises Summen von sich, das von einem ständigen Strom quäkender und klickender Geräusche beinahe übertönt wurde.

«Ein gesprächiges Ding», kommentierte Reed.

Jackson und Muir nahmen den Kasten und zogen los, den Hang hinunter zur Westseite der Insel. Grant, Reed und Marina schauten ihnen nach.

«Sourcelles hat gesagt, dass es auf dieser Insel einen Tempel gibt», sagte Grant und überblickte die öde Landschaft. «Wenn der Schild hier irgendwo ist, dann muss er in der Nähe dieses Tempels sein.»

Marina zog aus ihrem Rucksack ein schmales, in braunes Leinen gebundenes Buch hervor. «Sourcelles’ Monographie. Darin ist die Karte abgedruckt, die Kritskij angefertigt hat, als er 1823 herkam.» Sie blätterte in dem Buch. Für Grants ungeschultes Auge sah es aus wie eine chaotische Zusammenstellung einzelner Textbausteine in einem halben Dutzend unterschiedlicher Sprachen. Fast jede Seite war ein Wirrwarr aus Französisch, Griechisch, Latein, Deutsch, Russisch – einzelne Passagen waren sogar in Englisch.

Marina fand die Karte und legte das Buch flach auf ihre Knie. Es war eine stark vereinfachte Zeichnung. Ein paar Federstriche bildeten die groben Umrisse ab, und gestrichelte Linien deuteten die Stützmauern an, die Grant von der Spitze des Leuchtturms aus gesehen hatte. In der Mitte der Insel, am höchsten Punkt, markierte ein Rechteck, das durch weitere Linien unterteilt war, den Tempel. Grant sah sich um. Von ihrem Standort aus konnten sie die gesamte Insel überblicken: eine beinahe zu perfekte Entsprechung zu den Linien auf der Karte.

«Das ist hier», sagte Reed und sprach damit die Schlussfolgerung aus, zu der auch die beiden anderen gekommen waren. «Genau hier, wo wir stehen.»

«Aber hier kann die Erdschicht über dem Fels nicht dicker als einen halben Meter sein.» Marina wies auf den Weg, über den sie vom Landungssteg heraufgekommen waren. Der Boden bestand dort aus nacktem Felsen von derselben Farbe wie die Klippen. Die Erdwälle zu beiden Seiten waren kaum höher als dreißig Zentimeter.

«Dann werden wir wohl nicht allzu tief graben müssen.»

Sie holten die mitgebrachten Werkzeuge aus dem Flugzeug. Marina ritzte eine Linie in den Boden, die den Höhenkamm grob in zwei Hälften unterteilte, und sie begannen zu schaufeln. Es dauerte nicht lange. Bereits beim dritten Spatenstich stieß Grant auf massiven Fels, und in weniger als einer Viertelstunde hatten sie einen Graben von etwa dreißig Zentimetern Breite und drei Metern Länge ausgehoben, eine rötliche Furche in der Grasnarbe.

«Selbst wenn die Grundmauern des Tempels hier irgendwo sein sollten – für vergrabene Schätze wäre da nicht viel Platz», stellte Grant fest und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Bleierne Wolken bedeckten den Himmel; die Meeresbrise war abgeflaut.

«Es muss eine Höhle, einen Tunnel oder so etwas im Felsen geben. Wie auf Lemnos.» Marina saß im Schneidersitz am Rand des Grabens und ließ die ausgehobene Erde durch die Finger rieseln.

«Jacksons Zauberkasten meint das aber nicht.» Jackson und Muir hatten inzwischen den Fuß des Abhangs erreicht und standen ein paar hundert Meter von den dreien entfernt an der Felskante, nur mehr Silhouetten vor dem Hintergrund des wogenden Meeres.

«Glauben Sie, dass man mit dem Ding wirklich dieses mysteriöse Element aufspüren kann?», fragte Reed.

Grant lachte. «Irgendwas kann man damit jedenfalls aufspüren. Ich habe im Kongo ähnliche Geräte gesehen. Sie werden beim Schürfen eingesetzt.»

Reed war beeindruckt. «Können sie denn auch Gold anzeigen?»

«Die Männer, die sie dort benutzt haben, waren nicht auf Gold aus.» Grant stand auf und rammte seinen Spaten in den Boden. «Wissen Sie, was ein Geiger-Müller-Zähler ist?»

Reed schüttelte den Kopf.

«Das ist ein Gerät, das Strahlung anzeigt. Die Männer, die damit arbeiteten, schürften nach –»

«Sehen Sie sich das mal an.»

Marina saß plötzlich kerzengerade. Ihre Arme waren bis zu den Ellbogen mit Erde verschmiert, und sie hielt etwas in der Hand. Für Grant sah es aus wie ein großer flacher Kieselstein. Sie spuckte darauf, rieb es an ihrem Hosenbein ab und reichte es wortlos Reed.

Er betrachtete es mit zusammengekniffenen Augen und kratzte mit dem Fingernagel etwas Erde ab. Dann weiteten sich seine Augen. «Bemerkenswert.»

Grant nahm es ihm aus der Hand. Es war kein Kieselstein, sondern ein schwarzglasiertes Stück Ton, das zu einer runden Scheibe geformt war, etwa so groß wie ein Bierdeckel. Um den Rand wand sich eine rote Schlange, und in der Mitte waren die Buchstaben «AX» in die Glasur eingeritzt.

Grant runzelte verwirrt die Stirn. «Wer ist Ax?»

«Ach», korrigierte ihn Reed mit einem kehligen «ch»-Laut, der seltsam schottisch klang. «Es ist die Abkürzung

für Achilles

Marina nahm Grant den Fund wieder ab. «Das ist eine Weihplatte. Die alten Griechen weihten sie mit einem Gebet und ließen sie im Tempel zurück. So, wie wir in der Kirche eine Kerze anzünden. Das bedeutet, der Tempel muss –»

Sie verstummte, denn sie hatte bemerkt, dass Grant und Reed ihr nicht mehr zuhörten. Die beiden starrten über ihre Schulter und lauschten dem tiefen, mechanischen Summen, das der Wind herantrug.

Grant griff hastig nach seinem Tornister, nahm den Feldstecher heraus und suchte damit den bleigrauen Himmel ab. «Jaks, zwei Maschinen. Sie kommen von Westen.» Er stieß mit dem Fuß ein paar Erdbrocken in den ausgehobenen Graben, ein hilfloser Versuch, ihre Spuren zu verwischen. «Schnell, in die Hütte.»

«Was ist mit den anderen?»

Grant schaute die Klippen hinunter, dann wieder nach Westen. Inzwischen waren die Flugzeuge auch mit bloßem Auge deutlich zu sehen. Sie flogen tief unter der Wolkendecke. «Keine Zeit.»

Geduckt liefen sie zur Hütte. Drinnen war der Boden noch von achtlos hingeworfenen Bettdecken und Kleidungsstücken übersät. Die drei waren kaum durch die Tür, als plötzlich das ganze Gebäude bebte. Die Fenster klirrten, und die Teeurne fiel vom Ofen, als die beiden Flugzeuge dröhnend über sie hinwegflogen. Sie waren so nahe, dass es erstaunlich schien, dass sie nicht den Leuchtturm rammten.

«Sagten Sie nicht, der Techniker hatte nicht genügend Zeit, einen Notruf zu senden?», fragte Reed.

«Tja, jemand scheint es aber getan zu haben.» Grant hielt durchs Fenster Ausschau. «Das sind Jagdflieger. Vielleicht machen sie auch nur einen Patrouillenflug.»

«Sie werden unsere Maschine sehen», erwiderte Marina. «Was werden sie sich dann denken?»

«Vielleicht können wir sie davon überzeugen, dass hier alles in Ordnung ist.» Grant griff nach einer grünen Technikeruniform, die über dem Fußende einer Pritsche hing. Er streifte seine Stiefel und die Hose ab und zog die Uniform an. Die Hose reichte ihm kaum bis zu den Knöcheln, und die Knöpfe der Jacke ließen sich beim besten Willen nicht schließen.

«In dem Aufzug wollen Sie die beruhigen?», fragte Reed skeptisch.

«Immer noch besser als nichts. Wenn sie niemanden sehen, werden sie sich denken, dass etwas nicht stimmt.» Grant vervollständigte seinen Aufzug mit einer Feldmütze, dann schnürte er seine Stiefel wieder zu. «Einen Versuch ist es allemal wert.»

Er trat aus der Tür und eilte im Laufschritt zum Leuchtturm hinüber. Rechts von sich sah er die Flugzeuge über dem offenen Meer eine scharfe Kehre fliegen, dann kamen sie wieder auf die Insel zu. Zwei Stufen auf einmal nehmend, lief er die Treppe hinauf, wobei er die gedämpften Rufe aus dem Lagerraum überhörte. Er rannte an dem Raum mit dem Funkgerät vorbei, dann kehrte er noch einmal um, nahm die Kopfhörer, die neben dem Gerät lagen, und hängte sie sich um den Hals, in der Hoffnung, dass die Jak-Piloten sie sehen würden.

Als Grant auf die Plattform hinaustrat, war ihm ganz schwindelig von der Wendeltreppe. Er hatte kaum Zeit, sich zu orientieren, als die Flugzeuge schon wieder nahten. Der Luftstrom der Motoren war enorm: Die eiserne Plattform bebte unter seinen Füßen, die Mütze wurde ihm vom Kopf gerissen, und er musste sich am Geländer festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Jäger flogen eine weitere Kehre und kamen erneut mit dröhnenden Motoren auf ihn zu, so tief, dass er die Gesichter der Piloten hinter den Cockpitscheiben erkennen konnte, das Leuchten hinter den Motorenverkleidungen und die kurzen, dicken Kanonen hinter den Propellern. Die beiden Maschinen hielten direkt auf ihn zu. Er winkte, tippte sich ans Ohr, um zu signalisieren, sein Kopfhörer sei ausgefallen, und streckte dann grinsend die Daumen hoch. Benutzten die Russen diese Geste überhaupt?, fragte er sich.

Im letzten Moment änderten die beiden Jäger, die bis dahin Seite an Seite geflogen waren, ihren Kurs und schossen mit ohrenbetäubendem Dröhnen rechts und links am Leuchtturm vorbei. Grant setzte die Kopfhörer auf, doch auch das half nicht gegen den Lärm. Er sah sich um und stellte fest, dass sich die Flugzeuge mit hoher Geschwindigkeit entfernten. Hatte sein Trick funktioniert?

Als er wieder am Fuß des Leuchtturms ankam, waren Jackson und Muir inzwischen von den Klippen heraufgekommen. Sie versammelten sich in dem Raum mit den Pritschen und warfen hin und wieder einen prüfenden Blick durchs Fenster zu den Flugzeugen, die noch immer wie Krähen über ihren Köpfen kreisten.

«Haben die noch nicht genug gesehen?», knurrte Jackson. «Was zum Teufel wollen sie noch hier?»

Grant zog seine Hose wieder an und schnallte sich das Halfter mit dem Webley um. «Sie haben ihren Patrouillenflug gemacht, und was sie gesehen haben, gefällt ihnen nicht. Ich nehme an, sie haben den Befehl, uns im Auge zu behalten, bis die Sowjets ein Boot herschicken können.»

«Scheiße.» Jackson trat nach der leeren Teeurne. «Können wir sie nicht abschütteln, ihnen weismachen, dass nur das Funkgerät ausgefallen ist oder so?»

«Das habe ich versucht. Aber viel Zeit würden wir mit diesem Vorwand ohnehin kaum gewinnen. Vergessen Sie nicht: Die denken, dass hier ein Team von Funktechnikern am Werk ist.»

«Wir könnten warten, bis es dunkel wird.»

Muir schaute auf die Uhr. «Das dauert noch Stunden. Bis dahin ist die halbe Rote Armee hier gelandet. Und solange diese Jagdbomber in der Nähe sind, können wir unmöglich mit dem Wasserflugzeug verschwinden. Sie würden uns abschießen, noch ehe wir überhaupt gestartet sind.»

«Außerdem haben wir immer noch nicht das, weswegen wir hergekommen sind», ergänzte Jackson. «Das Bismatron hat einen Scheißdreck angezeigt. Das Ding ist toter als der Willi von meinem Grandpa.»

«Sind Sie sicher, dass das Gerät funktioniert?», fragte Muir.

«Schwer zu sagen, wenn es nichts zu finden gibt.»

Grant nahm seine Uhr ab und ließ sie am Armband vor dem schwarzen Kasten baumeln. Die Nadel schlug aus, und aus dem Lautsprecher ertönte ein regelmäßiges Knacken.

«Es funktioniert.» Er schnallte die Armbanduhr wieder um. «Radium-Zifferblatt», erklärte er. «Damit die Zahlen im Dunkeln leuchten.»

Muir starrte ihn mit verkniffenem Gesicht argwöhnisch an. «Sehr clever. Kennen Sie vielleicht auch einen kleinen Taschenspielertrick, der uns von dieser beschissenen Insel runterbringt?»

«Wir gehen nicht ohne den Schild», beharrte Jackson. «Es …» Er hielt inne, denn wieder einmal übertönte das Dröhnen der Flugzeugmotoren von draußen alles andere. «Es muss eine Möglichkeit geben, ihn zu finden.»

Reed, der an der Tür stand, räusperte sich. «Ich glaube, ich weiß, wo der Tempel ist.»

Der vergessene Tempel
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