ZWEIUNDZWANZIG
Die Fenster explodierten in einem Hagel aus Blei und Glas. Sourcelles wurde zurückgeschleudert, prallte in der Luft mit Grant zusammen, und die beiden Männer stürzten zu Boden. Dadurch wurde Grant vor dem Schlimmsten abgeschirmt. Jackson, der dem Fenster am nächsten gewesen war, hatte weniger Glück mit den messerscharfen Glassplittern; er wirbelte herum, beide Hände vor das Gesicht geschlagen. Dünne Rinnsale Blut krochen darüber wie Maden.
«Zurück!», schrie Grant. Noch immer pfiffen ihm Kugeln um den Kopf, er konnte jedoch nicht sehen, woher sie kamen. «Raus auf den Gang.» Auf allen vieren kriechend, zerrte er Sourcelles in eine Ecke des Raumes. Der Franzose hatte vor den Fenstertüren gestanden, sodass er nicht von den fliegenden Glassplittern getroffen wurde, doch das rettete ihn nicht. Drei Schusswunden klafften in seiner Brust, und wo Grant ihn über den weißen Marmorboden geschleift hatte, war eine dicke Blutspur zurückgeblieben. Grant sah sich nach etwas um, womit er die Blutung stillen konnte, doch es war nichts in Reichweite.
«Die Tafel. Wo ist sie?»
Donner grollte über dem Berg und übertönte für kurze Zeit das Rattern der Maschinengewehre. Allerdings übertönte es auch Sourcelles’ Antwort. Grant beugte sich vor, das Ohr dicht am Mund des Franzosen, während er zugleich das zerschossene Fenster im Blick behielt. «Wo?»
«Die Galerie.» Das Gewehrfeuer hatte ausgesetzt, doch inzwischen war Sourcelles’ Stimme so schwach, dass sie fast im Lärm des Regens unterging. «Sie ist im Ostflügel – in der obersten Etage.» Er hob kraftlos die Hand an die Kehle und zerrte an seinem blutdurchtränkten Kragen. Grant half ihm und riss den Kragen auf. Er nahm an, der Sterbende wolle nur leichter atmen – doch Sourcelles’ Finger tasteten weiter nach etwas. Um seinen Hals hing eine Lederschnur. Grant fasste sie und zog einen kleinen Messingschlüssel unter dem Hemd hervor.
«Die Gorgo», hauchte Sourcelles. «Hinter der Gorgo.»
Sein Körper wurde schlaff. Grant konnte nichts weiter für ihn tun. Ohne das Fenster aus den Augen zu lassen, schob er sich mit dem Rücken an der Wand entlang zur Tür. Die anderen hatten draußen im Flur Schutz gesucht. Reed hielt Sourcelles’ Buch an die Brust gedrückt; er musste es in der Panik des Überfalls vom Tisch genommen haben.
«Sourcelles hat die Tafel tatsächlich», sagte Grant. «Sie ist im Obergeschoss.»
«Das nützt uns nicht viel, wenn wir hier nicht rauskommen», bemerkte Muir. «Wir wissen nicht einmal, mit wem wir es zu tun haben.»
«Kirby sagte doch, dass er ein Funkgerät im Wagen hat.» Grant wandte sich an Jackson. «Können Sie damit das amerikanische Hauptquartier kontaktieren?»
Jackson nickte. «Es wird aber eine Weile dauern, bis die Kavallerie eintrifft.»
«Auf der anderen Seite des Berges gibt es eine Landebahn. Sie ist bestimmt nicht auf Ihren Karten verzeichnet, aber sie liegt ungefähr zwischen den Dörfern Enispe und Stratie, unten im Tal. Wir müssen versuchen, es dorthin zu schaffen.»
Jackson starrte ihn ungläubig an. «Woher wissen Sie das?»
«Ich habe sie im Krieg benutzt.»
Jackson sah aus, als wolle er Einspruch erheben, doch in diesem Moment zertrümmerte eine heftige Explosion das angrenzende Wohnzimmer. Eine Rauchwolke quoll in den Gang hinaus, und Splitter flogen durch die Luft. Durch das Klingeln in seinen Ohren hörte Grant Rufe von der Terrasse her und weitere Schüsse. Sie rannten den Gang entlang, vorbei an der Reihe blinder Marmorköpfe. Von oben schauten antike Helden auf sie herunter, festgebannt in ihren eigenen Schlachten. Am Ende des Ganges, an der Ecke zwischen der Eingangshalle und der Haupttreppe, blieb die Gruppe stehen.
«Geben Sie mir Ihren Hut», sagte Grant zu Jackson.
Jackson tat es. Im Gang stand auf einer Säule dicht bei der Ecke, etwa in Brusthöhe, eine Sokratesbüste. Grant setzte ihr Jacksons Filzhut auf, dann ging er in die Hocke und stemmte sich gegen die Säule. Sie glitt erstaunlich leicht über den polierten Marmorboden, um die Ecke, hinaus in die Eingangshalle und …
Innerhalb eines Sekundenbruchteils knallte es zweimal: erst ein Pistolenschuss, dann der Einschlag der Kugel in den Marmor. Die Hälfte von Sokrates’ rechter Wange splitterte ab und fiel krachend auf den Marmorboden. Noch ehe sie aufschlug, war Grant bereits aufgesprungen, zielte mit dem Webley durch den schmalen Spalt zwischen Säule und Wand und feuerte zwei Schüsse ab. Der Hut segelte zu Boden. Nahe der Eingangstür polterte etwas Schwereres auf den Marmor.
Grant warf Jackson einen Blick zu. «Geben Sie mir Feuerschutz.»
Er rannte in die Halle hinaus und ging mit einem Sprung hinter der Treppe in Deckung. Als niemand auf ihn schoss, spähte er vorsichtig hinter dem Geländer hervor. Eine Gestalt in grünem Kampfanzug mit einem roten Stern auf dem Ärmel lag ausgestreckt auf der Türschwelle. Sonst war niemand zu sehen.
Grant gab Jackson ein Zeichen. Der Amerikaner sprintete durch die Eingangshalle, drückte sich flach an die Wand neben der Tür und riskierte einen raschen Blick hinaus.
«Ist der Wagen noch da?»
«M-hm. Aber ich sehe Kirby nicht.»
«Hauptsache, wir kommen an das Funkgerät.»
Auf ein Nicken von Grant hin machte Jackson einen Sprung nach draußen, rollte sich auf den Stufen ab und duckte sich neben das Hinterrad des geparkten Wagens. Grant wartete auf die Schüsse, bereit, jeden Moment das Feuer zu erwidern. Doch anscheinend hatte niemand sie bemerkt.
Jackson schlich geduckt um den Wagen herum, öffnete den Kofferraum und holte ein Feldfunkgerät heraus. Er mühte sich mit dem schweren Kasten ab, drückte ihn an die Brust und vergewisserte sich mit einem Blick um das Heck des Packard, ob ihm von der anderen Seite Gefahr drohte. Er schauderte: Kirbys lebloser Körper lag ausgestreckt auf dem Boden, sein Blut sickerte in den Schotter.
Doch jetzt war keine Zeit, um den Kameraden zu betrauern. Hinter einer der Hecken bewegte sich etwas. Grant sah es, trat in die Türöffnung und gab zwei Schüsse ab. Dadurch verschaffte er Jackson genügend Zeit, die Stufen hochzuhasten. Stolpernd, das Funkgerät noch immer an sich gedrückt, duckte er sich unter Grants ausgestrecktem Arm hindurch und fiel auf die Knie.
«Passen Sie auf, dass Sie das Ding nicht kaputt machen», sagte Grant. Er schoss noch einmal, dann schlug er die Tür zu. «Sagen Sie Ihren Leuten im Hauptquartier, sie sollen ein Flugzeug zu der Landebahn schicken, wir treffen uns dort. Anschließend suchen Sie einen Hinterausgang und verschwinden von hier.» Er sah sich nach Marina um. «Du kommst mit mir.»
«Und wohin gehen Sie?» Muir war sichtlich wütend darüber, dass Grant so einfach das Kommando ergriff.
«Wir suchen die Tontafel.»
Grant und Marina ließen die anderen in der Eingangshalle zurück und rannten die geschwungene Treppe hinauf. Als sie den Absatz in der ersten Etage hinter sich ließen, verklangen die Geräusche aus dem Erdgeschoss. In der nächsten Etage endete die Treppe auf einer breiten Galerie, die sich nach beiden Seiten erstreckte. In der Mitte befand sich ein rundes Fenster, von dem man Ausblick auf die Gärten und die Auffahrt hatte. Grant warf einen prüfenden Blick hinaus. Es regnete unvermindert heftig, das Gelände lag wie unter einem Schleier in tristen Grün- und Grautönen, aber er glaubte eine Gruppe Männer ausmachen zu können, die sich im Schutz der Stützmauer unterhalb der Auffahrt zusammendrängten. Im nächsten Moment sah Grant einen Lichtblitz, der nichts mit dem Gewitter zu tun hatte, und hörte einen Knall, der kein Donner war. Er beschloss, keinen Schuss zu riskieren. Die Entfernung war zu groß für den Webley, und er wollte nicht seine Position verraten.
«Was hat Sourcelles gesagt, wo die Tafel ist?», fragte Marina.
Grant wandte sich vom Fenster ab. «Im Ostflügel.» Er überlegte kurz, dann deutete er nach rechts. «Da entlang. Und dann …» Da war doch noch was. «Ich glaube, er hat etwas von der Gorgo gesagt. Kannst du damit was anfangen?»
«Die Gorgo war ein Ungeheuer, eine Frau mit Schlangen anstelle von Haaren, mit Reißzähnen und Klauenhänden.»
«Klingt nach einem ziemlich hässlichen Weib.»
«Sie ist eine Manifestation von allem, was Männer an der weiblichen Sexualität fürchten. Ein Blick von ihr konnte dich in Stein verwandeln», sagte Marina mit einem Blick, der dieser Wirkung ziemlich nahe kam.
Sie folgten dem Gang und öffneten nacheinander die Türen, die davon abgingen. Dieser Teil des Hauses wurde anscheinend nicht viel benutzt – Schlafzimmer mit unbezogenen Betten, Bäder mit verstaubten Wannen –, doch auch hier war ein wahrer Schatz von Artefakten ausgestellt. Allerdings weniger Skulpturen als getöpferte Stücke: Vasen, Amphoren, Krüge und Schalen in einer schwindelerregenden Formenvielfalt. Auf den gewölbten Seiten fochten Helden in schwarzer Glasur ihre Schattenkämpfe und Miniaturschlachten aus. Außerdem hingen auch hier Gemälde an den Wänden: hochformatige Porträts in schweren Goldrahmen. Grant ließ suchend den Blick darübergleiten, aber keine der Frauen, die er sah, entsprach der Beschreibung der Gorgo. Sie ruhten in wallenden, durchsichtigen Gewändern, anscheinend unbekümmert um ihre Nacktheit, und sahen zu, während tapfere Helden in Schlachten kämpften. Einer der Männer ritt auf einem geflügelten Pferd und rammte gerade seine Lanze in ein Wesen, das wie eine monströse Kreuzung aus einem Löwen, einer Ziege und einem Drachen aussah.
Grant rief nach Marina. «Ist sie das?»
«Das ist die Chimäre. Im Mythos waren die Gorgonen ihre Tanten.»
«Die Familienähnlichkeit ist unverkennbar. Hast du inzwischen was gefunden?»
«Nein.»
Sie hatten jetzt das Ende des Gangs erreicht. Die Wand vor ihnen war fast vollständig von einem überlebensgroßen Gemälde bedeckt, doch die Frau, die es darstellte, war alles andere als ein Monster. Ihre Haut war schneeweiß, die Augen blau und durchdringend. Sie trug einen hohen, spitzen Helm und einen silbernen Schuppenpanzer vor der Brust. In den Händen hielt sie eine Lanze und einen kunstvoll verzierten Schild. Grant nahm an, es müsse sich um Britannia handeln, auch wenn er sich nicht erklären konnte, weshalb der Franzose sich ein Bild von ihr ins Haus geholt hatte.
«Vielleicht ist es eine Abbildung auf einem der Krüge», sagte Marina. «Ich habe sie nicht alle untersucht. Vielleicht …»
Laute Stimmen im Treppenhaus ließen sie verstummen. Im nächsten Moment polterten Schritte auf den Stufen. Grant fuhr herum.
«Sieh dir mal dieses Gemälde an», forderte Marina ihn auf.
«Ich sage das wirklich ungern, aber ich fürchte, unsere Probleme kommen von woanders.»
«Sieh dir das Gemälde an», verlangte sie noch einmal in eindringlichem Ton. Sie fasste ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich herum. «Den Schild.»
Die Schritte wurden lauter – Grant erkannte, dass es wenigstens zwei Personen waren. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stockwerk blieben sie stehen, und Grant hörte, wie sie sich mit gedämpften Stimmen berieten. Widerstrebend folgte er mit dem Blick Marinas ausgestrecktem Finger. Der Schild reichte beinahe bis zu seiner Kopfhöhe, und aus der Nähe konnte Grant auf den ersten Blick nur graue und weiße Farbflecken erkennen. Aber dann sah er es. In der Mitte der runden Fläche, in das Metall eingeprägt, doch scheinbar mit einem Eigenleben ausgestattet, trat ein Gesicht aus dem Schild hervor, bei dessen Anblick es ihm den Atem verschlug. Vipern wuchsen ihm aus dem Kopf, und gebogene Hauer ragten aus dem Mund wie Dolche. Das Entsetzlichste jedoch war sein Ausdruck: Das Gesicht war zu einer hässlichen Fratze unendlichen, unversöhnlichen Hasses verzerrt. Obwohl es nur ein Gemälde war, spürte Grant, wie er bei dem Anblick erstarrte.
«Die Frau auf dem Bild ist Athene. Nachdem Perseus die Gorgo Medusa getötet hatte, hat er ihr den Kopf abgeschlagen und ihn der Göttin gebracht, die ihn von da an in ihrem Schild trug. Das ist die Gorgo.»
Grant packte den prächtigen Rahmen mit beiden Händen und riss das Bild von der Wand. Ein feiner Spalt in der glatten Wand dahinter ließ erkennen, wo sich die Tür befand, und er fand ein kleines Schlüsselloch.
«Beeil dich», drängte Marina. Einer der Männer, die sie verfolgten, überprüfte anscheinend allein das erste Stockwerk, während der andere weiter die Treppe hinaufstieg. Grant hörte, wie seine Schritte auf dem Halbabsatz direkt unter ihrer Etage die Richtung wechselten. «Gib mir deine Pistole.»
Grant reichte Marina den Webley, dann zog er Sourcelles’ Schlüssel aus der Hosentasche und steckte ihn in das Loch. Der Mechanismus funktionierte reibungslos. Er hörte ein Klicken und drückte gegen die Tür.
Die Angeln quietschten – ein leises Geräusch, doch es hallte im Flur wider. Grant erstarrte für einen Moment und fragte sich, ob ihr Verfolger es gehört hatte. Dann entschied er, dass es zu spät war, sich darüber Gedanken zu machen. Er stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür und schob mit aller Kraft. Mit einem Protestkreischen schwang sie nach innen. Damit war jede Hoffnung zunichte, dass man sie nicht gehört hatte – aber die Tür stand offen.
«Komm schnell», rief Grant und zog Marina mit sich durch die Tür, gerade als ein Kugelhagel losbrach. Der Gegner war hinter der Ecke zum Treppenhaus in Deckung gegangen und feuerte blindlings in die Galerie. Krüge und Vasen explodierten in Wolken roten Tonstaubs, und die Rüstungen der gemalten Helden wurden völlig zerfetzt. Gemeinsam schoben Grant und Marina die Tür wieder zu, gerade als die ersten Kugeln darin einschlugen. Die Tür bebte unter dem Aufprall, aber sie hielt. Grant schloss hinter ihnen ab. Erst dann drehte er sich um und sah, wo sie sich befanden.
Grants erster Eindruck war, dass der Raum an eine Kapelle erinnerte. Marina jedoch, die sich besser mit Architektur auskannte, sah, dass er dem Inneren eines Miniaturtempels glich. Korinthische Säulen standen entlang beiden Seiten des hohen, schmalen Raumes, gekrönt von Basrelief-Friesen, von denen sie vermutete, dass es sich nicht um Nachbildungen handelte. Am anderen Ende, unter der hohen Decke, schien Sourcelles den vollständigen Giebel eines klassischen Tempels angebracht zu haben, unter anderem ein großes Marmorrelief mit Göttergestalten. In Nischen zwischen den Säulen standen hohe Schränke, die in der unteren Hälfte Schubladen und in der oberen Vitrinen hatten. Die Fachböden waren schwer beladen mit Skulpturen, Töpferwaren und Tonfigürchen. Manche waren so hoch, dass man sie nur mit Hilfe einer Holzleiter erreichen konnte, die in der Ecke stand. Es gab keine Fenster, dafür bestand die gesamte Decke aus einer Glaskuppel, wie in einem Gewächshaus oder einer Orangerie.
«Das sieht nach nichts Besonderem aus.» Grant betrachtete die ausgestellten Artefakte. Im Vergleich zu den reich verzierten Töpferwaren draußen im Gang oder den lebensechten Marmorköpfen im Erdgeschoss wirkten diese Stücke eher wie von Kindern gemacht. Die Figuren der Steinreliefs waren eintönig und ohne unterscheidbare Charakterzüge; die Töpfe waren mit dicken Ringen in unglasierten Farben bemalt. Marina nahm eine Figur in die Hand – eine vertraute Gestalt, eine Göttin mit ausgebreiteten Armen, allerdings nicht so detailliert dargestellt wie diejenige, die sie in der Höhle auf Kreta gefunden hatten. «Das hier ist der kostbarste Teil von Sourcelles’ Sammlung. Alles in diesem Raum – mit Ausnahme der Friese – stammt von vor dem ersten dunklen Zeitalter der Griechen.»
Sie zog eine der breiten, flachen Schubladen heraus. Darin lagen auf dunkelblauem Samt sechs Tontäfelchen, jedes etwa postkartengroß und alle mit den zierlichen Symbolen der Linearschrift B bedeckt. Sie strich mit dem Finger über eine, fühlte die eingeritzten Schriftzeichen wie die Rillen einer Haut. Der Lärm draußen im Flur hatte ausgesetzt; das einzige Geräusch im Raum war das Trommeln der Regentropfen auf dem Glasdach. Auch das klang gedämpft, als verblasste hier selbst die Macht des Unwetters – aber vielleicht erschien es auch nur nach dem Lärm der Schießerei so.
«Wahrscheinlich holen sie gerade Verstärkung.» Grant begann die Schubfächer zu durchsuchen, Nische für Nische entlang einer Seitenwand des Raumes. Marina tat dasselbe, wenn auch langsamer und systematischer, auf der anderen Seite. Nicht alle Fächer enthielten Tontäfelchen. Manche waren mit kleinen Figuren gefüllt oder mit Steintafeln und Spangen; manche Teile waren intakt, andere in Bruchstücken.
«Hier.» Marina hob ein Teil aus dem Schubfach vor sich und drehte es herum. Obwohl sie wusste, womit sie zu rechnen hatte, schnappte sie nach Luft. Da war die Zeichnung, im selben Stil wie diejenige, die sie zu der Höhle auf Kreta geführt hatte. Die Linien waren vom Alter verblasst, aber sie glaubte dennoch die Umrisse eines Schiffes zu erkennen, das Zickzackmuster von Wellen und die Stierhörner.
Grant rannte zu ihr, warf einen flüchtigen Blick auf das Täfelchen und schaute dann nach oben. «Sehen wir zu, dass wir hier rauskommen.»
Der Raum schien plötzlich zu pulsieren, als eine Maschinengewehrsalve von außen in die Tür einschlug, gedämpft wie Schläge mit einem Gummihammer. Woraus auch immer die Tür bestand, sie schien stark genug, um dem standzuhalten – wenigstens vorläufig.
«Sie sind wieder da», stellte Grant fest.
«Wie kommen wir jetzt hier raus?»
Grant zog den Webley. «Halt dir die Augen zu.»
«Was?»
«Augen zu!» Ohne weitere Warnung hob Grant den Revolver wie eine Startpistole und feuerte drei Schüsse in das Dach. Dann zog er schnell Marina an seine Brust und schirmte sie mit seinem Körper gegen den Kristallregen aus Splittern und Wasser ab, der sich über sie beide ergoss. Als das Prasseln der Glasscherben nachließ, blickte er auf. Durch ein gezacktes Loch in der Glaskuppel strömte der Regen herein.
Grant holte die Holzleiter aus der Ecke und stellte sie unter dem Loch auf. Sie schwankte beängstigend, als er an den Ausstellungsvitrinen vorbei höher und höher stieg. Aber nicht hoch genug. Als es nicht mehr weiterging, fehlte ihm noch ein knapper Meter.
In diesem Moment erschütterte eine gewaltige Explosion das Gebäude, und der ganze Raum schien zu beben. Sammlungsstücke schepperten auf ihren Regalböden, und von dem zertrümmerten Dach lösten sich noch ein paar Glasscherben und fielen zu Boden. Grant schwankte hin und her wie ein loses Tauende. Marina hängte sich unten an die Leiter und versuchte verzweifelt, sie mit ihrem Gewicht zu halten. Hinter ihr war die Tür beinahe aus den Angeln gerissen.
«Sie versuchen, sie aufzusprengen», rief sie zu Grant hinauf.
«Ich weiß.» Er schaute sich verzweifelt um. Auf dem Regal an der Wand neben sich entdeckte er eine verwitterte Metallklinge, vielleicht ein altes Schwert. Er nahm sie, streckte sie hoch und schlug damit gegen den gezackten Rand des Loches in dem Glasdach. «Pass auf deinen Kopf auf», rief er, als wieder Glassplitter niederprasselten. Der Regen lief ihm in die Augen. Das Schwert war schlüpfrig vor Nässe, und das Hemd klebte ihm am Leib. Aber es gelang ihm, den größten Teil des Glases aus der Bleifassung zu entfernen.
«Jetzt gut festhalten.» Er legte das Schwert ab, ließ mit den Händen die Leiter los und stützte sich an der Wand ab. Mit zwei schnellen Schritten stieg er die letzten beiden Sprossen hinauf, blieb auf der obersten einen Moment lang schwankend stehen wie ein Akrobat auf dem Hochseil, dann sprang er, die Arme nach der Kante des Daches ausgestreckt. Seine Finger schlossen sich um den Rahmen – und hätten um ein Haar sofort wieder losgelassen. In dem Blei steckten noch Glassplitter, die sich in seine Hände bohrten. Blut lief über seine Handgelenke, und er schnappte vor Schmerz nach Luft. Grant biss die Zähne zusammen. Es war, als zöge er sich an einer schartigen Messerklinge hoch. Doch es gab jetzt kein Zurück mehr. Außerdem wurde der Lärm hinter der Tür immer lauter. Grant wuchtete sich hinauf, stemmte sich über die Kante und blieb blutverschmiert und durchnässt auf dem Dach liegen.
Aber ihm blieb keine Zeit, sich auszuruhen. Er schaute über die Kante in den Saal unter sich, wo Marina am Fuß der Leiter stand, sehr klein und mit ängstlichem Gesicht.
«Komm rauf», rief er laut, um den Regen zu übertönen. Hinter ihr hatte sich inzwischen eine schwarze Mündung durch den Spalt zwischen der verbogenen Tür und dem Rahmen geschoben. Die Waffe wurde abgefeuert, aber der Winkel war zu klein, sodass die Kugel in eine der Schauvitrinen einschlug. Etwas Antikes von unschätzbarem Wert zerbarst zu Staub und Scherben.
Marina kletterte hastig die schwankende Leiter hinauf, das Tontäfelchen in den Gürtel gesteckt. Grant zog inzwischen seinen eigenen Gürtel aus der Hose und legte ihn über den Rahmen, um die scharfen Kanten des Glases abzudecken. Dann beugte er sich so weit vor, wie er es wagte.
Wieder erbebte das Haus, und diesmal sah Grant die gelben Flammen der Explosion durch die Ritzen der verbogenen Tür dringen, die gleich darauf nachgab. Marina sprang; die Leiter wankte, dann kippte sie um und schlug krachend auf einem steinernen Sarkophag in der Mitte des Raumes auf. Grant packte Marina an den Handgelenken. Seine Hände waren zerschnitten und blutig. Beim Zupacken durchfuhr ihn ein stechender Schmerz, und ihm blieb beinahe das Herz stehen, als er für einen Moment das entsetzliche Gefühl hatte, dass sie ihm durch die Finger glitt. Dann grub Marina ihre Nägel in seinen Unterarm, und er verstärkte seinen Griff, sodass sie nicht weiter abrutschte, sondern sich langsam hochziehen konnte. Endlich wälzte sie sich über die Kante auf das Dach, gerade als unten der erste ihrer Verfolger durch die gesprengte Tür in den Saal stürmte. Der Mann sah sich suchend um und fragte sich wohl, wohin sie verschwunden waren, als Grant ihm von oben zweimal in den Kopf schoss.
«Das sollte unsere Chancen verbessern.» Grant lud den Webley nach. Gemeinsam rannten er und Marina zum hinteren Rand des Daches und sahen sich um. Das Gelände hinter dem Haus war weniger künstlich gestaltet als der Vorgarten: eine offene Rasenfläche, die sich bis zum Rand des umgebenden Pinienwaldes erstreckte. Dort kauerten im Schutz der Bäume drei durchnässte Gestalten.
«Diesmal gehst du zuerst.» Grant hatte ein Rohr entdeckt, das von einer Regenrinne hinunterführte, und stieß in seiner Eile Marina beinahe über die Kante. Sobald sie den Boden erreicht hatte, folgte er ihr. Er rutschte an dem dicken Metallrohr hinunter, wobei er versuchte, das Brennen in seinen Händen zu ignorieren. Wenn jemand sie durch das Fenster sah, würden sie leichte Ziele abgeben, doch das war ein Risiko, das er eingehen musste. Sie rannten über das Gras, wobei ihre Füße in den aufgeweichten Boden einsanken, und blieben erst im Schutz der Bäume erschöpft stehen.
«Freut mich, dass Sie es geschafft haben.» Muir kauerte hinter einem Baumstamm, die Pistole im Anschlag, um etwaiges Feuer vom Haus her zu erwidern. «Himmel. Sie sehen furchtbar aus.»
«Haben Sie die Tafel gefunden?», fragte Jackson, der hinter einem Felsbrocken Deckung gesucht hatte.
Marina zog das feuchte Tontäfelchen aus ihrem Gürtel und reichte es Reed. Die Hände des Professors, weiß und schrumpelig vor Nässe, zitterten, als er danach griff.
«Konnten Sie über Funk Ihr Hauptquartier erreichen?»
Jackson nickte. «Die haben noch nie was von Ihrer Landebahn gehört, aber sie schicken eine Dakota in die Gegend. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass es auf diesem Berg von Roten wimmelt. Meine Leute bezweifeln, dass wir da durchkommen. Und die nächste schlechte Nachricht ist, dass sie heute Nachmittag einen Luftangriff gegen die Kommies fliegen. Der Kamerad im Hauptquartier hat gesagt, er will versuchen, die Bomber zurückzurufen …» Jackson zuckte die Schultern. «Aber ich habe Ihnen das hier mitgebracht», sagte er und reichte Grant die Maschinenpistole. «Allerdings haben wir nur den einen Munitionsstreifen, also ballern Sie nicht wild in der Gegend rum. Sofern es sich vermeiden lässt.»
Grant steckte den Webley ins Halfter und nahm die Maschinenpistole. «Gehen Sie, ich bleibe hier und gebe Ihnen Rückendeckung.»
«Nein», widersprach Jackson energisch. «Sie sind der Einzige, der weiß, wo diese verdammte Landebahn ist. Wir gehen zusammen.»
«Dann los.»