VIERUNDZWANZIG
«Wer zum Teufel ist das?», wollte Jackson wissen. «Kennen Sie ihn?»
«Panos Roussakis – wir sind uns im Krieg begegnet. Er hat auf Kreta gegen die Deutschen gekämpft.»
Jackson zeigte auf das Gewehr. «Und gegen wen kämpft er jetzt?»
«Für Griechenland.» Als Roussakis das sagte, wurde seine Haltung aufrechter, und er packte das Gewehr fester.
«Seine politische Einstellung würde Ihnen nicht gefallen», warnte Grant. «Stellen Sie besser nicht zu viele Fragen.»
«Und die?» Der Guerilla wies mit seinem Gewehrlauf auf Grants Gefährten. Sein Lächeln war verschwunden. «Wer …?»
Er brach ab und starrte Marina an wie ein Gespenst. «Du? Was machst du denn hier?»
Er sah beunruhigt aus, und sein hageres Gesicht nahm einen verwirrten Ausdruck an. Allmählich begann Grant sich Sorgen zu machen. Roussakis musterte Jackson, dann schaute er zum Himmel auf, wo zwischen schwarzen und grauen Wolkenmassen jetzt wieder fleckenweise Blau durchschien. Der Bomber war verschwunden, aber der Brandgeruch lag noch immer schwer in der Luft. «Warum hast du diese Leute hergebracht?»
«Der Bomber hatte nichts mit uns zu tun. Es ist eine lange Geschichte – und wir haben keine Zeit zu verlieren. Ein Flugzeug holt uns von der Landebahn ab. Wenn ihr uns bis dorthin durchlasst, seid ihr uns los.»
Roussakis erteilte einem seiner Gefolgsleute einen barschen Befehl. Die Guerillas zogen den Ring enger. «Ihr kommt mit uns.»
Sie händigten ihre Waffen aus und kletterten im Gänsemarsch den Berghang hinunter. Ihnen blieb gar nichts anderes übrig, denn Roussakis’ Männer gingen vor und hinter ihnen her und bewachten sie scharf, während sie sich über den steilen, von Felsbrocken und Wurzeln übersäten Pfad abwärtsmühten. Inzwischen war die Sonne herausgekommen, und die Luft war schwül vom Dampf, der aus dem feuchten Laub aufstieg. Grant kam sich wie im Kongobecken vor, nicht wie im Norden von Griechenland.
Jackson, der hinter Grant ging, fragte: «Wie kommt es, dass Sie diesen Burschen kennen?»
«Wir haben im Krieg auf Kreta zusammengearbeitet. Er hat eine Partisanentruppe angeführt.»
«Und er kannte Marina?»
«Nicht näher. Er und ihr Bruder hatten …» Grant zögerte. «… eine Meinungsverschiedenheit.»
«So könnte man es ausdrücken», mischte sich Muir ein.
Nach einem schier endlosen Abstieg wurde der Hang schließlich flacher. Grant blieb stehen und schnupperte. Er roch wieder Feuer, aber diesmal nicht das klebrige, ölige Feuer, das der Bomber gebracht hatte. Es hatte das süßliche Aroma von Pinienharz, vermischt mit dem herzhaften Duft nach gebratenem Lamm. Mit einem Schlag wurde Grant bewusst, wie hungrig er war. Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Jetzt dämmerte schon bald der Abend.
Plötzlich lichteten sich die Bäume. Hundert Meter weiter schien Sonnenlicht auf eine schmale Schneise im Wald: die Landebahn. Sie lag nicht oben auf dem Hügelkamm, sondern auf einer natürlichen Terrasse dicht unterhalb, sodass sie aus fast jedem Blickwinkel von Bäumen verdeckt wurde. Die Guerillas hatten ihr Lager im Wald aufgeschlagen: eine Handvoll Zelte, eine Feuerstelle und ein paar Munitionskisten. Zwei Frauen in Kampfanzügen brieten ein Lamm über dem Feuer. Reed, der sich in Oxford jede Woche einen Ausflug ins Kino gönnte, fühlte sich an eine Szene aus Robin Hood erinnert. Er rechnete halb damit, Errol Flynn durch den dämmrigen Wald pirschen zu sehen. Stattdessen sah er etwas noch Überraschenderes: Am Rand des Camps war aus zusammengebundenen Ästen eine einfache Hütte errichtet worden, mit offenen Seiten und einem laubgedeckten Dach. Unter diesem Dach waren Bänke aus grob behauenen Baumstämmen aufgereiht, und darauf saßen Kinder, die aufmerksam nach vorn blickten, wo eine grauhaarige Lehrerin etwas auf eine Tafel schrieb. Ein paar sahen sich neugierig nach den Fremden um, große Augen unter den verfilzten Haarschöpfen. Dann klopfte die Lehrerin mit dem Zeigestock an die Tafel, und die Schüler drehten sich gehorsam wieder nach vorn.
«Was machen die da?», fragte Jackson.
«Ihre Väter werden gesucht. Sie können nicht in die richtige Schule gehen, deshalb bringen ihre Familien sie hierher.»
Roussakis drehte sich um. «Ruhe.» Er gab seinen Männern ein Zeichen, woraufhin diese Grant und die anderen am Rand der Landebahn zusammentrieben. Das einzige Geräusch waren die Stimmen der Schüler, die ihrer Lehrerin im Chor einen Kindervers nachsprachen.
«Als wir uns das letzte Mal begegnet sind, habe ich dir gesagt, du sollst mir nie wieder unter die Augen kommen.»
Grant machte einen Schritt auf den Ring der Männer zu. Er wurde unsanft mit einem Gewehr zurückgestoßen. «Himmel, Panos. Du weißt, dass ich auf eurer Seite stehe.»
«Ja? Früher vielleicht. Jetzt sehe ich, dass du mit den Faschisten gemeinsame Sache machst.»
Jackson konnte nicht länger an sich halten. «Faschisten? Wir sind die Guten. Falls es Ihnen entgangen ist – wir haben vier Jahre lang Leuten wie Ihnen geholfen, die Faschisten loszuwerden. Wollen Sie wissen, wer Hitlers wahre Erben sind? Dann fragen Sie doch mal Ihre Freunde in Moskau.»
«Heute Morgen war ein Mann aus Moskau hier. Ein Oberst vom MGB. Er hat nur ein Auge.» Roussakis mimte eine Augenklappe, indem er eine Hand über die rechte Gesichtshälfte hielt.
«Kurchosow.»
«Ah. Sie kennen ihn. Und er kennt Sie auch. Er sagt, er sucht nach einem Ameriki und drei Briten. Feinde des Sozialismus – sehr gefährlich.» Roussakis ging zu einer der Munitionskisten und hob eine schwere Pistole auf, deren Lauf dick wie ein Abflussrohr war. Keiner der anderen wagte etwas zu sagen. «Er hat mir Geld geboten, Gold und viele Waffen, wenn ich ihm helfe, Sie zu suchen.»
«Aber du bist nicht mitgegangen», sagte Grant.
Roussakis lud eine Signalpatrone in die Pistole. «Er hatte einen Mann dabei, einen Deutschen. Ich kenne diesen Mann von Kreta. Ein Faschist, sie nennen ihn Belzig. Im Krieg hat er viele Griechen getötet. Er hat sie zu Sklaven gemacht, sie mussten für ihn graben, viele sind gestorben. Ein Schwein. Darum habe ich nein gesagt.»
Grant stieß die Luft aus. «Was hat Kurchosow dann gemacht?»
Roussakis zuckte die Schultern. «Wir haben viele Männer hier im Tal. Vielleicht hat er einen anderen gefunden, der für ihn arbeitet.»
«Ich glaube, wir sind ihm und seinen Leuten begegnet.»
Roussakis erwiderte nichts. In dem darauffolgenden Schweigen drang durch das Laubdach des Waldes von fern das Brummen eines Flugzeugmotors zu ihnen herunter. Diesmal war es nicht das durchdringende Summen der Bomber, sondern das dumpfe Knattern einer Dakota.
«Und was ist mit ihr?» Er zeigte mit der Signalpistole auf Marina. «Es ist nicht das erste Mal, dass die Papagiannopouli mit Faschisten gemeinsame Sache machen.»
Roussakis richtete die Pistole zum freien Himmel und drückte den Abzug. Zischend schoss die Signalmunition heraus und explodierte hoch über den Bäumen in einer roten Rauchwolke. Ein halbes Dutzend von Roussakis’ Männern rannten auf ihre Positionen entlang der Landebahn.
«Was mit Alexei passiert ist, hat mit dieser Sache hier nichts zu tun», sagte Grant. Plötzlich schienen sich sämtliche Gewehre direkt auf ihn zu richten wie tödliche anklagende Finger. Auch Marinas Blick war ihm schmerzlich bewusst.
«Wovon redest du?» Ihre Stimme klang jetzt beinahe hysterisch. Ein Schatten glitt über sie hinweg: die Dakota, die jetzt sehr tief flog, weil der Pilot die Landebahn auskundschaften wollte. Aber niemand beachtete das Flugzeug. «Was ist mit Alexei?»
Roussakis’ Augen wurden schmal. «Grant hat es dir nicht erzählt?»
«Er ist in einen Hinterhalt geraten und wurde getötet», sagte Grant verzweifelt. Die schwüle Luft erschien ihm plötzlich zum Schneiden dicht, und ihm war übel.
«Die Briten haben ihn umgebracht», sagte Marina. «Sie haben befürchtet, wenn die Deutschen fort sind, würde der Widerstand versuchen, ganz Griechenland in den Kommunismus zu führen. Sie dachten, wenn sie die kommunistischen Anführer töten, könnten sie Griechenland für sich behalten. Also haben sie Alexei umbringen lassen.»
«Nein. Nicht weil er Kommunist war. Und er wurde auch nicht von den Briten getötet. Sie haben es versucht – sie haben einen Mann geschickt, der ihn ausschalten sollte, aber der hat versagt.» Roussakis warf Grant einen verächtlichen Blick zu. «Aber ich bin ihm gefolgt. Ich bin hingegangen zu der Schlucht. Ich habe Alexei getötet.»
Marina starrte ihn an. «Du? Aber warum?»
«Weißt du noch, was passiert ist, drei Tage bevor er starb? Eure Männer – alle von den Deutschen niedergemetzelt. Nur ihr drei seid davongekommen: du, Alexei und Grant.»
«Alexei hatte uns nach Rethimnon geschickt, um ein deutsches Treibstofflager auszukundschaften.»
«Weil er Bescheid wusste. Er wusste, was passieren würde. Weißt du, warum die Deutschen eure Männer gefunden haben? Alexei hat sie verraten.»
Marina schauderte und sank ein wenig in sich zusammen, als habe sie einen Schlag in die Magengrube bekommen. Ihr Gesicht wurde bleich. Grant fasste nach ihrem Arm, um sie zu stützen, doch sie schüttelte ihn ab. «Warum hätte er uns verraten sollen? Er hat sein Leben lang gegen die Deutschen gekämpft.»
Roussakis zuckte die Schultern. «Warum verrät ein Mann sein Land? Vielleicht für ein Mädchen, vielleicht für Gold? Then ksero – ich weiß es nicht. Aber ich habe ihm in die Augen geschaut, dort in der Imbros-Schlucht, und ich habe gesehen, dass es wahr ist.»
Was er sonst noch sagte, ging im Motorenlärm der Dakota unter, die tief über ihren Köpfen herflog und gleich darauf auf der Landebahn aufsetzte. Ihre Räder holperten kaum auf der vom Regen aufgeweichten Erde. Es war eine wirklich gelungene Landung, aber der Pilot brauchte trotzdem die gesamte Länge der Landebahn, um die Maschine zum Stehen zu bringen. Roussakis’ Männer, die sich entlang der Strecke versteckt hielten, machten ihre Waffen bereit und warteten auf sein Signal. Er warf ihnen einen unsicheren Blick zu – und in diesem Sekundenbruchteil stürzte sich Marina auf ihn. Sie sprang ihn an, legte in einer einzigen schnellen Bewegung einen Arm um seinen Hals und zog ihn im Würgegriff an sich, während sie ihm mit der anderen Hand die Pistole entwand und sie gegen sein rechtes Ohr drückte.
«Lügt er?»
Die Guerillas umringten sie wie eine Meute Jagdhunde, stießen mit ihren Gewehren nach ihr und schrien ihr zu, sie solle Roussakis loslassen. Ein heißer Wind wehte über die Lichtung – der Luftstrom von den Propellern der Dakota. Doch die Antwort auf Marinas Frage stand Grant unmissverständlich ins Gesicht geschrieben.
«Ich habe geschworen, den Mann umzubringen, der Alexei getötet hat», zischte sie.
Roussakis gab seinen Männern ein Zeichen, sich zurückzuhalten. «Wenn du mich erschießt, stirbst du auch. Und deine Freunde. Dann sterben wir alle.»
Am anderen Ende der Landebahn vollführte die Dakota eine enge Wendung und machte sich wieder startbereit. Grant konnte den Piloten sehen, der durch die Scheibe des Cockpits nach seinen Passagieren Ausschau hielt. Die Partisanen in ihrer Deckung zwischen den Bäumen mussten für ihn unsichtbar sein.
«Wenn ich einen bescheidenen Vorschlag machen dürfte?», sagte Muir. Sämtliche Augen – und mehrere Gewehre – richteten sich auf ihn.
«Sie?» Marina spie das Wort förmlich aus. «Was haben Sie denn zu sagen? Haben Sie vielleicht den Befehl dazu gegeben, Alexei umzubringen?»
«Ich hatte nichts damit zu tun. Das war Angelegenheit des SOE – ich war beim SIS.» Muir klappte sein elfenbeinernes Zigarettenetui auf und steckte sich eine Zigarette an. «Aber so, wie ich die Situation sehe, könnten wir hier Hamlet spielen und die Sache mit einem Haufen Leichen enden lassen – oder wir können unseren verdammten Verstand einschalten. Alle, die heute hier sterben wollen, sollen sich melden.»
Er blickte in die Runde, in die harten, zornigen Gesichter der Männer, die sich um sie drängten. «Gut. Nun, Ihr Bruder ist tot, und das ist tragisch für Sie, aber wenn Mr. Roussakis ihn nicht erschossen hätte, dann hätte es jemand anders getan. Vielleicht sogar Sie selbst, wenn Sie die Wahrheit erfahren hätten. Also wie wäre es, wenn wir einen Handel schließen? Sie lassen Roussakis los, er lässt uns in dieses Flugzeug steigen, und dann können wir uns alle wieder wichtigeren Dingen zuwenden.»
Marina spannte den Finger am Abzug an. Die Männer schlossen den Ring enger um sie. «Wenn ich dich loslasse, lässt du uns dann in das Flugzeug steigen?»
«Falls ja, sind wir dann quitt? Dann ist die Sache zwischen uns geklärt?» Roussakis konnte kaum sprechen, so fest hatte sie ihn im Griff.
«Ja.»
«Und dann kommen auch keine Yankee-Flieger mehr?»
Jackson runzelte die Stirn. «Ich kann nicht versprechen –»
Muir fuhr herum. «Zum Teufel, Jackson. Denken Sie daran, was auf dem Spiel steht.»
«Okay, okay.» Jackson hob die Hände zum Zeichen, dass er kapitulierte. «Wir rufen die Bomber zurück.» Dann wandte er sich mit einem verächtlichen Kopfschütteln an Roussakis. «Sie werden diesen Krieg nicht gewinnen, das sage ich Ihnen.»
Marina ließ die Pistole sinken und lockerte ihren Griff.
Roussakis rieb sich den Hals. «Eine bessere Welt wird kommen. Sie können das nicht ewig verhindern.»
Sie liefen geduckt durch den Propellerwind und kletterten in die Dakota. Inzwischen war die Sonne hinter den Wolken verschwunden. Auf den oberen Berghängen brannte der Wald noch immer, und das ganze Tal war von einem zähen, goldenen Dunst erfüllt. Reed drückte das Tontäfelchen an die Brust. Marina wandte sich ab und schaute aus dem Fenster, um ihre Tränen zu verbergen.
«Stellen Sie sich mal vor, was Kurchosow sagen wird, wenn er erfährt, dass seine eigenen Leute uns haben entkommen lassen», triumphierte Jackson. «Bis er sich wieder beruhigt hat, haben wir ihm den Schild schon vor der Nase weggeschnappt.»
Grant warf ihm einen Blick zu. «Sie werden doch halten, was Sie Panos versprochen haben? Sie werden Ihre Bomber abziehen?»
«Klar», erwiderte Jackson lässig.
Das Flugzeug neigte sich zur Seite, flog eine Kurve und nahm Kurs auf Thessaloniki. Grant blickte zurück in der Hoffnung, ein letztes Mal den vergoldeten Himmel zu sehen. Doch die Sonne war verschwunden, und Rauch und Dunkelheit hatten sich über das Tal gebreitet.