Der verhängnisvolle Schuß
Am Abend des 19. Dezember trat ich vor dem Schlafengehen aus dem Hause, um zu schauen, ob es wohl regnen wollte. Viele Farmer im Hochland mögen um die gleiche Stunde das gleiche getan haben. Zuweilen, je nach der Gunst der Jahre, wurden uns um die Weihnachtszeit einige starke Güsse geschenkt, eine segensreiche Gabe für den jungen Kaffee nach der Blüte in der kurzen Regenzeit des Oktober. In dieser Nacht war kein Regen in Aussicht. Der Himmel war klar und von majestätischer Ruhe, voll flimmernder Sterne.
Am Äquator ist der Sternenhimmel reicher als im Norden, und man sieht ihn dort mehr, da man häufiger nachts im Freien ist. In Nordeuropa sind die Winternächte zu kalt, als daß man mit Behagen die Sterne betrachten könnte, und im Sommer sieht man sie kaum in dem hellen Nachthimmel, der blaß ist wie ein Hundsveilchen. Der tropische Nachthimmel hat etwas von der Freizügigkeit der katholischen Dome im Vergleich zu den protestantischen Kirchen, die nur zu Gottesdiensten Zutritt gestatten. Hier in dem mächtigen Raume kommt und geht ein jeder, hier ist der Ort, an dem sich etwas ereignet. In Arabien und Afrika, wo die Mittagssonne lebensgefährlich ist, ist die Nacht die Zeit für Reisen und Geschäfte. Hier sind die Sterne benannt worden, hier sind sie seit Jahrhunderten die Führer der Menschen und zeichnen ihnen die unendlichen Linien vor, quer über den Wüstensand und das Meer, nach Osten eine und nach Westen oder nach Norden und Süden. Autos ziehen gut bei Nacht, und es ist schön, unterm gestirnten Himmel einen Wagen zu lenken, es verleitet dazu, Ausflüge zu Freunden über Land auf den nächsten Vollmond zu verabreden. Auf Safari geht man bei Neumond, um eine ununterbrochene Kette mondheller Nächte vor sich zu haben. Es ist so seltsam, wenn man besuchsweise nach Europa kommt, zu sehen, wie die Bekannten in der Stadt ohne jede Beziehung, ja, fast ohne Kenntnis der Bewegungen des Mondes leben. Die junge Mondsichel war das Signal für die Kameltreiber Chadidschas, dessen Karawane aufbrach, sowie sie am Himmel sichtbar wurde. Von ihrem Anblick gebannt, wurde er einer der »Philosophen, die aus dem Mondschein das Gewebe des Weltalls spinnen«. Er hat sie viel betrachtet, sie wurde ihm zum Zeichen, in dem er siegte.
Ich galt etwas bei den Eingeborenen, weil ich mehrere Male als erste auf der Farm den neuen Mond wie einen silbernen Bogen im Abendrot sah; besonders weil ich drei Jahre hintereinander als erste im Monat Ramadan, dem heiligen Monat der Mohammedaner, den Neumond erspähte.
Der Farmer läßt seine Augen langsam rings um den Horizont wandern. Erst gegen Osten, denn von Osten kommt, wenn er kommt, der Regen, und dort steht leuchtend die Ähre im Sternbild der Jungfrau; dann gegen Süden, das Kreuz des Südens zu begrüßen, den Türhüter der großen Welt, den Schützer und Liebling der Wanderer, und höher hinauf, unter dem Lichtstrom der Milchstraße, Alpha und Beta im Kentauren. Im Südwesten blinkt Sirius, einer der Großen des Himmels, und der weise Kanopus, und im Westen über den zarten, kaum geschweiften Umrissen der Ngongberge das strahlende Dreigestirn der Edelsteine: Rigel, Beteigeuze und Bellatrix. Zuletzt wendet er sich nach Norden, denn nach Norden kehren wir am Ende wieder zurück, und stößt da auf den Großen Bären selbst, der jetzt freilich dank der himmlischen Perspektive friedlich auf dem Kopfe steht; das ist so ein echter Bärenspaß, der freut den nordischen Auswanderer.
Menschen, die nachts im Schlafe träumen, kennen ein Glück, das die Tageswelt nicht gewährt, eine stille Verzückung, ein Schweben der Seele, das wie Honig auf der Zunge ist. Und sie wissen auch, daß die Wonne der Träume das Gefühl der grenzenlosen Freiheit ist. Es ist nicht die Freiheit des Tyrannen, der der Welt seinen Willen aufdrängt, sondern die Freiheit des Künstlers, der keinen Willen hat, der frei von Willen ist. Die Freude des wahren Träumers besteht nicht im Inhalt des Traumes, sondern in etwas anderem: darin, daß sich alles ohne sein Zutun ereignet und seiner Einwirkung völlig entzogen ist. Große Landschaften erschaffen sich selbst, weite herrliche Ausblicke, schwellende und zarte Farben, Straßen, Häuser, die er nie gesehen, von denen er nie gehört hat. Fremde Menschen treten auf und sind Freunde oder Feinde, obgleich der Träumende nie etwas mit ihnen zu schaffen gehabt hat. Die Vorstellungen des Fliegens und Dahinjagens kehren in Träumen immer wieder, sie sind nicht minder berauschend. Erinnert man sich ihrer bei Tage, dann sind sie freilich matt und sinnlos, weil sie zu einem anderen Dasein gehören: kaum aber legt man sich nieder, so wird der Strom wieder eingeschaltet, und das Wunderbare kehrt ins Gedächtnis zurück. Und immer umfängt den Träumer das Gefühl der unermeßlichen Freiheit und durchströmt ihn wie Luft und Licht als überirdische Seligkeit. Er ist ein Auserwählter, er ist der eine, der nichts tun muß, zu dessen Reichtum und Glück alle Dinge sich zusammenfinden: die Könige zu Tharsis werden Gaben bringen. Er nimmt teil an einer großen Schlacht oder einem Fest und staunt, daß er mitten darinnen ist, indes er den Vorzug genießt, still dazuliegen. Erst wenn sich das Bewußtsein der Freiheit zu verlieren beginnt, wenn die Vorstellung des Müssens sich der Welt bemächtigt, wenn Eile oder Anstrengung sich einstellen, ein Brief zu schreiben, ein Zug zu erreichen ist, wenn man sich mühen muß, die Pferde im Traum in Galopp zu bringen, die Gewehre abzufeuern, dann sinkt der Traum von seiner Höhe herab und wird zum Alpdruck, dem ärmlichsten und gemeinsten unter den Träumen.
Wenn etwas in der wachen Welt dem Traumzustand nahekommt, so ist es eine große Stadt, in der man niemanden kennt, oder die afrikanische Nacht. Auch da ist unermeßliche Freiheit, auch da geschehen ringsum Dinge, bilden sich Schicksale; überall wird etwas getan, und doch geht es einen nichts an.
Kaum war die Sonne untergegangen, so füllte sich die Luft mit Fledermäusen, die lautlos umherflitzten wie Autos auf Asphalt; auch eine Nachtschwalbe schoß vorüber. Sie ist es, die sich zuweilen auf der Straße niedersetzt, daß ihre Augen vor den Scheinwerfern des Autos rot aufglühen, bevor sie im letzten Augenblick, dicht vor den Rädern, senkrecht emporschnellt. Die kleinen Sprunghasen sind unterwegs und regen sich auf ihre Art, plötzlich sich hinhockend und aufspringend im rhythmischen Wechsel wie winzige Känguruhs. Die Zikade singt ihren endlosen Sang im langen Gras, Gerüche rieseln über die Erde, und Sternschnuppen rieseln über den Himmel wie Tränen über eine Wange. Wir sind der Auserwählte, für den alles geschieht. Die Könige zu Tharsis werden Gaben bringen.
Ein paar Meilen tiefer im Massaireservat wechseln jetzt die Zebras ihre Weide; sie wandern wie helle Flecken über die graue Steppe; die Büffel grasen an den langen Hängen der Berge. Junge Leute von meiner Farm kamen vorüber; zu zweien oder dreien schritten sie wie schmale schwarze Schatten hintereinander über die Wiese. Sie waren frei und zogen auf eigene Faust los, sie waren nicht für mich unterwegs, es ging mich nichts an. Sie betonten das noch eigens; ihr Schritt wurde lässiger, als sie meine brennende Zigarette vor dem Hause bemerkten, sie grüßten, ohne stehenzubleiben.
»Jambo Msabu.«
»Jambo Morani« – junge Krieger –, »wo geht ihr hin?«
»Wir gehen zu Kathegus Manyatta. Bei Kathegu gibt’s heute abend eine große Ngoma. Gute Nacht, Msabu.« Wenn sie in größeren Gruppen zusammen zum Tanz gehen, haben sie ihre eigene Trommel bei sich; man hört sie weithin wie das Pochen eines leisen Pulsschlags im Geäder der Nacht. Und plötzlich rührt an das Ohr, das nicht gelauscht hat, ein Etwas, das nicht eigentlich ein Ton, sondern ein tiefes Zittern der Luft ist, das ferne kurze Brüllen des Löwen. Er ist unterwegs, er jagt, es geschieht etwas da draußen, wo er ist. Der Ton kommt nicht noch einmal, aber er hat den Horizont geweitet; die weiten Dungas und die Wassertümpel sind einem nah.
Als ich so vor meinem Hause stand, fiel nicht weit entfernt ein Schuß. Nur ein Schuß. Dann schloß sich ringsum wieder die Stille der Nacht. Nach einer Weile, als hätten sie innegehalten, um zu lauschen, und setzten nun aufs neue ein, hörte ich die Zikaden ihr eintöniges kleines Lied im Gras zirpen.
Ein vereinzelter Schuß in der Nacht hat etwas seltsam Bestimmtes und Schicksalhaftes. Es ist, als schreie einem jemand mit einem Wort etwas zu und sage es nicht noch mal. Ich stand eine Zeitlang und sann, was das wohl zu bedeuten habe. Niemand konnte um diese Stunde auf etwas zielen, und wer etwa ein Tier hätte verscheuchen wollen, der hätte zwei oder mehr Schüsse abgefeuert. Vielleicht schoß Pooran Singh, mein alter indischer Zimmermann, unten in der Aufbereitung auf ein paar Hyänen, die sich in den Hof geschlichen hatten und die Streifen Ochsenhaut fraßen, die da, mit Steinen beschwert, aufgehängt waren, um zu Riemen für unsere Wagen verarbeitet zu werden. Pooran Singh war kein Held, aber vielleicht hatte er doch um seiner Riemen willen die Tür seiner Hütte einen Spalt weit aufgemacht und seine alte Schrotflinte abgedrückt. Er hätte aber sicher beide Läufe abgefeuert und vermutlich geladen und noch mal geschossen, um die Wollust des Heldentums auszukosten. Aber ein Schuß und dann Stille?
Ich wartete noch eine Weile auf einen zweiten Schuß, aber es kam keiner, und als ich noch einmal zum Himmel aufschaute, sah ich, daß auch kein Regen kommen würde. Ich ging also zu Bett, nahm mir ein Buch vor und ließ die Lampe brennen. Wenn man in Afrika eines der Bücher aus der kostbaren Ladung vornimmt, die ein stolzes Schiff den weiten Weg von Europa hergetragen hat, dann liest man es so, wie ein Autor sein Buch gelesen wissen möchte, Gott bittend, er möge ihm die Kraft verliehen haben, es so schön zu Ende zu führen, wie er es begonnen hat. Der Geist wandert entrückt wie auf frischer tiefer grüner Fährte.
Zwei Minuten später sauste ein Motorrad in rasender Eile um die Kurve am Hause und hielt davor; jemand klopfte heftig an die Glastür meines Wohnzimmers. Ich warf ein Hemd und einen Mantel über, schlüpfte in die Schuhe, nahm die Lampe und trat hinaus. Draußen stand mein Verwalter mit wilden Augen, schweißtriefend im Schein der Lampe. Sein Name war Belknap; er war Amerikaner und ein besonders tüchtiger erfindungsreicher Mechaniker, aber von sprunghaftem Gemüte. Für ihn war alles immer entweder licht wie im Gottesreich oder ohne jeden Hoffnungsschimmer finster. Als er in meinen Dienst trat, verwirrte mich der Wechsel seiner Ansichten vom Leben und von der Zukunft und dem Zustand der Farm; ich kam mir vor wie auf einer Riesenschaukel, aber später gewöhnte ich mich an ihn. Das Auf und Ab war nichts anderes als eine Art Morgengymnastik der Seele, die ein lebhaftes Temperament nötig hat, wenn es sich nicht austoben kann und zu wenig erlebt; man trifft den Fall nicht selten in Afrika bei energischen jungen Leuten, besonders solchen, die früher jahrelang in der Stadt gelebt haben. Nun aber hatte ihn das Tragische selbst gepackt, und noch war er unentschieden, ob er sein hungerndes Gemüt sättigen und das Geschehene ausbeuten oder seinem grimmen Ernst entfliehen und es verkleinern sollte, und in diesem Zwiespalt sah er aus wie ein Junge, der aus allen Leibeskräften gerannt kommt, um ein Unheil zu berichten, und fing zu stottern an. Schließlich brachte er es doch als etwas Geringfügiges vor, denn er selbst spielte keine Rolle dabei, das Schicksal hatte ihn wieder einmal übergangen.
Inzwischen war Farah von seinem Haus herübergekommen und hörte seinen Bericht mit an.
Belknap erzählte, wie friedlich und lustig die Tragödie begonnen hatte. Sein Koch hatte Ausgang gehabt, und in seiner Abwesenheit hatte der siebenjährige Küchenjunge Kabero, ein Sohn meines alten Squatters und nächsten Nachbarn auf der Farm, des alten Fuchses Kaninu, in der Küche eine Gasterei veranstaltet. Als spätabends die Gesellschaft ausgelassen wurde, hatte Kabero sich das Gewehr seines Herrn geholt und den wilden Buben der Steppe und der Schambas den weißen Mann vorgemimt. Belknap war ein eifriger Geflügelzüchter, er mästete Kapaune und Poularden und kaufte auf dem Markt in Nairobi rassereine Küken auf. Um Habichte und Marder zu verscheuchen, hielt er auf seiner Veranda eine Schrotflinte bereit. Als wir später den Fall durchsprachen, behauptete Belknap, das Gewehr sei nicht geladen gewesen, die Kinder hätten die Patronen gefunden und es selbst geladen; ich glaube aber, daß ihn da sein Gedächtnis täuscht, denn sie hätten das kaum zustande gebracht, selbst wenn sie gewollt hätten, und es ist viel wahrscheinlicher, daß die Flinte diesmal geladen auf der Veranda stand. Jedenfalls war die Schrotladung im Lauf, als Kabero in kindlichem Überschwang und Taumel der Begeisterung mitten in die Schar seiner Gäste zielte und den Drücker abzog. Der Schuß dröhnte durchs Haus. Drei von den Kindern waren leicht verletzt und flohen entsetzt aus der Küche. Zwei waren noch drinnen, schwer verwundet oder tot. Belknap beschloß seinen Bericht mit einem langen Fluch auf den afrikanischen Kontinent und alles, was darin geschah.
Während er erzählte, waren meine Hausboys herausgetreten, dann waren sie ganz leise wieder hineingegangen und hatten ein Windlicht gebracht. Wir holten Verbandszeug und Desinfektionsmittel. Es wäre Zeitvergeudung gewesen, den Wagen in Gang zu bringen; wir rannten, so schnell wir konnten, durch den Wald zu Belknaps Haus. Das schwankende Windlicht warf unsere Schatten bald auf diese, bald auf jene Seite des engen Weges. Als wir weiterliefen, hörten wir mehrere Male kurze, rauhe, gepreßte Schreie eines Kindes in Todesangst.
Die Küchentüre flog auf, als ob der Tod, der eingebrochen war, wieder davoneilte und den Raum verwüstet hinter sich ließe wie einen Hühnerstall, in dem der Marder gehaust hat. Auf dem Tisch brannte eine Lampe und qualmte zur Decke empor; in dem engen Raum hing noch der Geruch von Pulverdampf. Die ganze Küche war mit Blut bespritzt, meine Füße glitten dann aus. Windlichter lassen sich schlecht an eine bestimmte Stelle hinhalten, aber sie erhellen ganz grell ein ganzes Zimmer oder eine Situation: ich erinnere mich an Dinge, die ich beim Schein eines Windlichtes gesehen habe, besser als an andere.
Ich kannte die Kinder, die der Schuß getroffen hatte, von der Steppe der Farm, auf der sie die elterlichen Schafe weideten. Wamai, Jogonas Sohn, ein lebensvoller kleiner Bub, der eine Zeitlang meine Schule besucht hatte, lag am Boden zwischen der Tür und dem Tisch. Er war nicht tot, aber nicht weit davon, und bewußtlos, obwohl er noch leise stöhnte. Wir hoben ihn zur Seite, um uns rühren zu können. Das Kind, das geschrien hatte, war Wanyangerri, der Jüngste von der Festgesellschaft. Er saß vornübergeneigt vor der Lampe, das Blut rann wie Wasser aus einer Röhre von seinem Gesicht, wenn man es noch so nennen konnte, denn er hatte anscheinend direkt vor dem Gewehr gestanden, als es los ging, und der ganze Unterkiefer war ihm abgeschossen. Er hatte seine Arme seitlich von sich gestreckt und bewegte sie auf und nieder wie Pumpenschwengel, so wie Hühner flattern, nachdem ihnen der Kopf abgeschlagen ist.
Wenn einem plötzlich ein derartiges Unglück vor Augen gestellt wird, denkt man nur an eine Rettung, das Heilmittel der Jäger und Tierhalter: sofort, so rasch wie möglich, koste es, was es wolle, zu töten. Und doch weiß man sofort, daß man nicht töten darf, und der Kopf schwindelt einem vor Grauen. Ich faßte mit den Händen den Kopf des Kindes und drückte ihn in meiner Verzweiflung, und als hätte ich es wirklich getötet, hörte es im selben Augenblick auf zu schreien; die Arme sanken schlaff herab, es saß still da, wie hypnotisiert. Ich weiß nun, wie einem zumute ist, wenn man durch Handauflegen heilt.
Es ist eine schwierige Sache, einen Patienten zu verbinden, dem das halbe Gesicht abgeschossen ist; bei dem Versuch, das Blut zu stillen, läuft man Gefahr, ihn zu ersticken. Ich mußte den kleinen Buben Farah auf den Schoß setzen, damit Farah das Köpfchen in der rechten Stellung halten konnte, denn wenn es vornüberfiel, konnte ich den Verband nicht anlegen, und wenn es zurücksank, strömte das Blut hervor und lief ihm in die Gurgel. Schließlich, als er still saß, gelang es mir, ihn zu verbinden. Wir trugen Wamai auf den Tisch und hoben das Licht in die Höhe, um ihn zu betrachten. Er hatte die volle Schrotladung in den Hals und die Brust bekommen; er blutete nicht stark, nur ein dünnes Rinnsal lief aus einem Mundwinkel herunter. Es war seltsam, dies Negerkind, das voller Leben gewesen war wie ein junges Böcklein, nun so still zu sehen. Während wir es anschauten, verwandelte sich sein Gesicht und nahm den Ausdruck des Staunens an. Ich schickte Farah nach Hause, den Wagen zu holen; es war keine Zeit zu verlieren, wir mußten die Kinder ins Krankenhaus bringen.
Während ich wartete, erkundigte ich mich nach Kabero, dem Buben, der das Gewehr abgefeuert und all dies Blut vergossen hatte. Belknap erzählte mir eine seltsame Geschichte von ihm. Wenige Tage vorher hatte Kabero seinem Herrn ein Paar alte Shorts abgekauft und sollte ihm von seinem Lohn eine Rupie dafür bezahlen. Als der Schuß fiel und Belknap in die Küche gelaufen kam, stand Kabero mitten im Zimmer, das rauchende Gewehr in der Hand. Er starrte Belknap einen Augenblick lang an, dann langte er tief in die Tasche der Shorts, die er grad erst gekauft und für die Abendgesellschaft angezogen hatte, holte eine Rupie heraus und legte sie mit der linken Hand auf den Tisch, während er mit der rechten das Gewehr drauf schmiß. Nach dieser Schlußabrechnung mit der Welt verschwand er, und zwar – was wir in dem Augenblick nicht wußten – tilgte er sich mit dieser großen Geste gleichsam vom Antlitz der Erde. Das Benehmen war für einen Schwarzen ungewöhnlich; denn in der Regel verstehen sie es, Schulden, besonders Schulden an Weiße, ihrem Gedächtnis fernzuhalten. Vielleicht war der Augenblick Kabero so sehr wie der Tag des Gerichts erschienen, daß es ihn drängte, sich ihm gewachsen zu zeigen, vielleicht hoffte er, sich für die Stunde der Not einen Freund zu sichern. Oder aber: der Schreck, der Knall und der Tod der Freunde ringsum hatte die enge Kruste seiner Vorstellungen so zertrümmert, daß Splitter aus der Peripherie bis in den innersten Kern seines Bewußtseins gedrungen waren.
Ich besaß damals einen Overlandwagen. Ich mag nichts gegen ihn sagen, denn er hat mir viele Jahre treu gedient. Aber er ließ sich nur selten bewegen, auf mehr als zwei Zylindern zu laufen. Seine Lichtanlage war nicht in Ordnung, so daß ich gewöhnlich bei der Fahrt zu den Tanzereien im Mathaigaklub ein Windlicht in einem rotseidenen Taschentuch als Rücklicht führte. Den Motor mußte man mit der Kurbel anwerfen, und an diesem Abend dauerte es lange, bis er parierte.
Freunde, die mich besuchten, hatten oft über den Zustand meiner Straßen geklagt. Bei der Todesfahrt dieser Nacht sah ich ein, daß sie recht hatten. Ich ließ erst Farah steuern, aber dann kam es mir vor, als lenke er mit Fleiß in die tiefsten Löcher und Radfurchen, und ich setzte mich selbst ans Steuer. Dazu mußte ich am Teich halten und mir die Hände im dunklen Wasser säubern. Die Strecke bis Nairobi schien mir endlos, ich meinte, ich müßte in der Zeit bis heim nach Dänemark kommen können, so lange dauerte es.
Das Eingeborenenhospital in Nairobi liegt auf dem Berge, kurz bevor man in die Mulde der Stadt hinabfährt. Es war finster und schien ausgestorben zu sein. Es kostete uns Mühe, das Haus wach zu kriegen, aber schließlich erwischten wir einen alten goanesischen Arzt oder Assistenten, der in einem wunderlichen Negligé erschien. Er war ein großer feister Mann von geruhsamem Wesen, der die sonderbare Gewohnheit hatte, erst mit der einen und dann mit der anderen Hand die gleiche Bewegung zu machen. Als ich Wamai aus dem Wagen heben half, meinte ich zu fühlen, daß er sich bewegte und ein wenig streckte, aber als wir ihn in das hell erleuchtete Zimmer des Krankenhauses brachten, war er tot. Der alte Goamann winkte mit der Hand nach ihm und sagte: »Der ist tot.« Und dann nach dem anderen: »Der lebt.« Ich habe den alten Mann nie wieder gesehen, denn ich bin nie wieder nachts in das Krankenhaus gekommen, und das war wohl seine gewöhnliche Dienstzeit. Damals schien mir sein Gehaben recht abgeschmackt, aber hinterher war es mir so, als wäre uns das Schicksal selbst, mit etlichen übereinandergezogenen weißen Mänteln angetan, auf der Schwelle des Hauses erschienen und hätte Leben und Tod richterlich zugeteilt.
Wanyangerri erwachte aus seiner Trance, als wir ihn hineintrugen, eine entsetzliche Angst erfaßte ihn, er wollte nicht dableiben, klammerte sich an mich und an jeden, der in seine Nähe kam, schrie und weinte ganz verzweifelt. Der alte Goamann beschwichtigte ihn schließlich mit einer Einspritzung, sah mich über seine Brille an und sagte: »Der lebt.« Ich überließ die beiden aufgebahrten Kinder, das tote und das lebendige, ihrem verschiedenartigen Schicksal.
Belknap, der uns auf seinem Motorrad gefolgt war – hauptsächlich um uns beim Ankurbeln des Motors zu helfen, falls er unterwegs versagte –, war der Ansicht, daß wir den Unfall der Polizei melden müßten. Wir fuhren also in die Stadt zur Polizeiwache in der River Road und gerieten dabei mitten in das Nachtleben von Nairobi. Als wir kamen, war kein weißer Polizeioffizier da, und wir warteten draußen im Wagen, solange man ihn holte. Die Straße war eine Allee von hohen Eukalyptusbäumen, dem Baum aller Pionierstädte des Hochlandes; nachts verbreiten sie mit ihren langen schmalen Blättern einen seltsamen, angenehmen Duft und haben im Licht der Straßenlaternen ein merkwürdiges Aussehen. Eine große, dralle junge Suahelifrau wurde von mehreren schwarzen Schutzleuten zur Polizeiwache gebracht, sie wehrte sich nach Kräften, zerkratzte ihnen die Gesichter und kreischte wie eine Sau. Etliche Raufbolde, die noch auf den Stufen der Wache sich aufs neue in die Haare zu geraten drohten, wurden eingeliefert, und ein anscheinend frisch ertappter Dieb kam die Straße herunter mit einem ganzen Gefolge von Nachtschwärmern, die seine Partei oder die Partei der Polizisten ergriffen und den Fall lärmend beredeten. Schließlich erschien ein junger Polizeioffizier, vermutlich geradewegs von einer Lustbarkeit. Belknap kam bei ihm nicht auf seine Kosten, denn er nahm seinen Bericht mit sachlichem Interesse und staunenswerter Geschwindigkeit auf, verfiel dann in tiefes Sinnen, ließ den Bleistift langsam über die Seite gleiten und steckte ihn schließlich, anscheinend befriedigt, wieder in die Tasche. Die Nachtluft ging kalt. Endlich konnten wir wieder heimfahren.
Am nächsten Morgen, als ich noch im Bett lag, spürte ich an der konzentrierten Stille vor dem Hause, daß da viele Menschen versammelt waren. Ich wußte, wer es war: die alten Männer der Farm hockten da auf den Fliesen, schmatzend, schnupfend, spuckend und wispernd. Ich wußte auch, was sie wollten: sie waren gekommen, mir zu sagen, daß sie ein Kyama zu halten wünschten über den Fall des nächtlichen Schusses und des Todes der Kinder.
Ein Kyama ist eine Versammlung der Ältesten einer Farm, die von der Regierung Befugnis hat, örtliche Zwistigkeiten zwischen den Squattern zu schlichten. Die Mitglieder eines Kyama treten im Falle eines Verbrechens oder Unfalls zusammen und bebrüten das Geschehene wochenlang bei Hammelfleisch, Reden und Klagen. Ich wußte, daß die Alten nun die ganze Sache mit mir durchsprechen wollten und daß sie möglichst versuchen würden, mich in ihren Gerichtshof zu berufen, damit ich das letzte Urteil fällen sollte. Mir war in diesem Augenblick nicht danach zumute, in eine endlose Diskussion der nächtlichen Tragödie gezogen zu werden: ich ließ mein Pony holen, um auszureiten.
Als ich aus dem Hause trat, fand ich, wie erwartet, den ganzen Kreis der Ältesten zur Linken bei den Gesindehütten vereint. Mit Rücksicht auf ihre Würde als Gerichtshof taten sie, als sähen sie mich nicht, bis ihnen klar wurde, daß ich fortwollte. Nun humpelten sie auf ihren alten Beinen in größter Hast herbei und fuchtelten mit den Armen nach mir. Ich winkte ihnen einen Gruß zu und ritt davon.