SIEBEN
Wie Messer schnitten die Sonnenstrahlen am späten Nachmittag durch die Wolken. Gegen Abend würde sich der Regen, der das Tageslicht mied wie ein Vogelfreier, wieder einstellen. In der vergangenen Nacht hatte es besonders stark geprasselt, woran das Pflaster um den kitschigen Pavillon immer noch erinnerte. Der Marmor, dessen kräftiges Rosa in der Sonne noch greller wirkte, glänzte vor Feuchtigkeit. Wassertropfen rannen an den Säulen hinunter und bildeten Pfützen, die zum riesigen Einkaufszentrum hin seichter wurden.
Selbst ohne den Prediger wäre die Atmosphäre einem Gruselfilm gerecht geworden. Seine Schäflein verharrten fast wie die Ölgötzen, ihre finstere Gleichmut und die gesenkten Häupter erstickten sogar das ohnehin strenge viktorianische Flair am Platz. Es war das dreiundzwanzigste Mal in Folge, dass sie die gleiche Vesper sprachen. Der Geistliche variierte bestenfalls ein wenig und spontan, um es melodramatischer wirken zu lassen. Ein zu Anfang tiefes Brummen steigerte sich zügig zu einem Fisteln, das wiederum anschwoll zu einem ohrenbetäubenden Finale. Bisweilen entfaltete sich der Prediger dabei wie eine Blume, indem er die Arme ausbreitete und den Kopf reckte, bevor es zum eruptiven Crescendo kam. Welch unterschiedliche Ausformungen der Sermon auch annahm, so blieb der Beweggrund des Betbruders stets derselbe: Er rief nach den Engeln, auf dass sie sich der Seelen der Gläubigen annahmen.
Heute Abend sollte sein Flehen erhört werden.
Wie Ratten aus Kellergewölben kamen sie zusammen. Aus allen Stadtteilen strömten sie auf die fromme Masse zu, indes so behutsam, dass die gedankenversunkene Gemeinde nur gelegentlich aufschaute. Sie bedrängten die Gläubigen im Einklang und neigten ihre Köpfe dabei geschlossen nach links, als folgten sie einer einstudierten Choreografie. Mit ihren strahlenden Gesichtern wirkten sie wie ein Kollektiv heiliger Geister, die über den Grund schwebten und sich ihren Zielen somit lautlos wie elegant näherten.
Dann stoppten sie.
Exakt fünf Meter vor der Gruppe hoben sie die Köpfe. Ihre Augen irisierten in verschiedenen Farben, als zappte sich jemand durch ihre Hirne, um sie auf jene der kleinen Gruppe einzustellen. Das begleitende Geräusch – einem Fingerschnippen gleich – störte die feierliche Stille des Gebets. Bis zu diesem Punkt hoffte fast jeder, sogar skeptische Trittbrettfahrer wie Robert McBride, dass sie es tatsächlich mit Engeln zu tun hatten. Inständig erbaten sie sich die Erlösung, für die sie so leidenschaftlich gebetet hatten. Als sich jedoch jeder von einem anderen Augenpaar – jeweils in unterschiedlichen Farben – fixiert sah, dämmerte es ihnen. Sie hatten sich nach Engeln gesehnt; gesandt worden war etwas weit Besseres.
Gavin Cummings blickte in das sommersprossige Gesicht seiner Frau Kory, Robert McBride erkannte seine Gespielin Patricia wieder, und Jackie McCrory, in deren aufgerissenen Augen Tränen aufwallten, sah sich mit dem verstockten, schmalen Gesicht ihrer Stieftochter Barbara konfrontiert.
Zuerst verlor Gavin die Fassung. Seine Arme flatterten wie Flügel, als er sich anschickte, um Kory ins Gesicht zu fassen. Sein eigenes strotzte vor Fassungslosigkeit; er konnte nicht glauben, was gerade geschah. War dies eine Art Trick? Eine Prüfung vielleicht, auferlegt von Gott oder dem Prediger? Gedanken und Emotionen flossen wie Farben auf einer Palette ineinander, als seine zittrigen Hände endlich Korys Haut berührten. Jede Fingerspitze sandte die gleiche fiebrige Botschaft an sein Hirn: Es fühlte sich nach Kory an. Es war Kory. Nur besser.
Die anderen taten es ihm gleich, tasteten die Körper ihrer Lieben ab, und mancher drückte sie an sich wie aus Angst, sie könnten ihnen wieder genommen werden. Hingabe in ihrer ursprünglichsten Form prägte den Augenblick, beschleunigte einen Sinnentaumel von Liebe und Verlust für die Augen eines einzigen Mannes: des großen, dunklen Predigers, der allein auf seiner Kanzel stand. Seinem Vogelkäfig.
Dann wandte sich das Blatt, und in den Frauen kippte ein Schalter um; beinahe so, als seien sie die feurige Zuneigung leid, mit der ihre Männer sie überhäuften; als machte all das Herzen und Drücken sie bloß klaustrophobisch. Im Bruchteil einer Sekunde hatten sie sich auf ihre ehemaligen Liebsten geworfen, vergruben sich in ihrem Fleisch und schnitten ihnen so geschwind die Kehlen auf, dass sie kaum noch ihren letzten Atem aushauchen, geschweige denn ein tränenreiches Halleluja hervorbringen konnten ob der wundersamen Auferstehung ihrer verstorbenen Angehörigen. Einige schrien noch, und dieser Lärm war es, der das Bleigewicht der Stille ringsum aufhob. Jegliche Festlichkeit, die sie im Gebet zu erwirken versucht hatten, wurde wie sie selbst in Stücke gerissen. Inmitten des Ansturms, bei dem sich jeder Mann geschwind im eigenen Blute auf dem Boden wiederfand, blieb der Prediger unbescholten. Er ließ das Schauspiel wie verzaubert auf sich wirken, wobei der Karton, den er sich mit der Aufschrift »Jesus rettet« vor die Brust gehängt hatte, nur noch lächerlich wirkte. Wie er auf jeden Klecks Blut und jedes abgetrennte Glied starrte, zeigte der Prediger kaum Gefühlsregungen. Stattdessen stieg er vom Pavillon und watete durch das Blutbad, als gehöre es zu einer übergeordneten göttlichen Vorsehung. Halb glaubte er daran, halb bangte er darum, dass es nicht so war. Dennoch schien die Pappe jedem seiner Schritte mehr Gewicht zu verleihen, und die Woge der Gewalt teilte sich vor ihm wie ein Rotes Meer des Todes und passierte vor ihm und neben ihm – vielleicht auch seinetwegen –, aber nicht mit ihm selbst.
Im dem Moment fiel ihm Tim Adamson auf.
Die entschieden ungelenke Erscheinung versetzte dem Prediger einen Stich ins Herz. Freude und Pein, Liebe und Abscheu gingen Hand in Hand. Der Knabe zitterte und schwitzte. Seinen Tränen, die wie Diamanten funkelten, ließ er freien Lauf.
Der Geistliche blieb gerade lang genug mit offenem Mund stehen, um den Anblick des Jungen zu verinnerlichen. Er fragte sich, ob Tim ihrem Treiben schon länger beigewohnt hatte, vielleicht in einer der hinteren Reihen. Wie ein Kliff warf das Einkaufszentrum seinen Schatten auf den Pavillon. Er verharrte kaum eine Sekunde, doch dies genügte einem der Engel, einer beleibten Schönheit, deren Lippen vom Blut ihres Mannes verschmiert waren, als könne sie nicht mit dem Lippenstift umgehen, um sich nach dem Prediger auszustrecken. Sie erhaschte eine seiner Strähnen und zwang ihn abrupt zum Stillstehen, und er erstarrte entsetzt. Trotz seines imposanten Auftretens, trotz seiner kräftigen Statur. Er war umzingelt und bekam Angst, allerdings weder wegen der feuchtkalten Hand, die ihm im Sinnen nach mehr Halt das Haar raufte, noch ob des Verderbens, dem er nicht mehr entrinnen würde. Nein, er entsetzte sich beim Anblick des Jungen – seines Jungen. Nicht Bosheit, nicht Verachtung stand Tim ins Gesicht geschrieben, wie es eigentlich der Fall sein sollte, sondern Liebe. Der Prediger Samuel Adamson fühlte sein Herz zu Bruch gehen, gleichzeitig da sich Zähne in sein Fleisch bohrten. Ein stechender Schmerz am Hals, und schon zerriss es Haut und Adern wie Geschenkpapier. Sein Lebenssaft ergoss sich über das Schild, auf dessen Rückseite ironischerweise »MIT DER FLUT DEINES BLUTES« stand. Samuel machte sich lang und ruderte heftig mit den Armen, um seinen Sohn ein letztes Mal zu berühren. Ihn zu umarmen. Er schloss die Augen vor lauter Schmerz, als die Kreatur ihre Zähne erneut in seine graue Haut trieb. Tiefer. Er spürte, wie er abdriftete. Eine alles nichtig machende Taubheit überkam ihn, und erhabene Hirngespinste kreisten in seinem Kopf, als suchten sie einen Ausweg. Den gab es nicht. Nur das hier.
Und dann geschah es.
Samuel war, als höre er einen Schuss, die Tote ließ von ihm ab und stürzte mit zertrümmertem Gesicht zu Boden. Er schaute ungläubig auf. Sein Sohn stand mit ausgestreckter Waffe da und erwiderte seinen Blick. Eine einzelne Träne kullerte über das Antlitz des Vaters.
Sein Sohn hatte ihn gerettet!
Halleluja?
Der Prediger Samuel hatte so oft für das Seelenheil aller gebetet und sich eingeschlossen, dass er längst nicht mehr mitzählte. Häufiger, als er es je ergründen wollte, hatte er das Bußgebet abgestottert, sich vor Selbsthass verzehrt und an Schuldgefühlen verbrannt, dass er sich all die dabei angehäufte Asche niemals übers Haupt streuen konnte. Überall war er auf der Suche nach Antworten, einem Mittel gegen seine übermütigen inneren Dämonen gewesen, hatte sich Heilung erhofft für jenes gallig dunkle Verlangen nach allem, was er eigentlich von sich weisen wollte. Dass aber ausgerechnet die Person, die das absolute Übel in ihm gesehen hatte, die Lösung bereithielt – das hätte er nie erwartet. So rollte die eine Träne der Erleuchtung weiter an seiner Wange hinunter. Dies war es, worum es im Leben ging: nicht um das Ende und die versprochene Ewigkeit, sondern um Gnade. Echte Gnade.
Sein Blick besiegelte Samuels Schicksal. Tim Adamson ertrug ihn nicht, und im Nu tilgte der Hass auf seinen Vater jeden Tropfen Liebe, der sich aus seinem Herz ergießen mochte. Er zielte mit derselben Waffe, die er dem toten Polizisten am ersten Tag abgenommen hatte, direkt auf Samuel und drückte so kaltblütig ab, wie eigentlich kein 16-Jähriger es bei seiner zweiten Kugel konnte. Präzise fast wie ein Scharfschütze traf er das Herz seines Vaters, und binnen Sekunden war Samuel Adamsons Leben verwirkt. Seine Seele entschwand glanzlos in den Äther.
Tim war sich ziemlich sicher, dass niemand dieses Monstrum von Vater an der Himmelspforte begrüßen, kein Höllenfeuer unter seinen Füßen züngeln würde. Nein, sein Daddy verließ die Welt zweifellos genau so, wie er auf ihr geboren worden war – blind vor Tränen und mit rudernden Armen.
Tim selbst erblindete nun fast vor unhaltbarer Ergriffenheit. Die Waffe fiel auf die Straße oder vielmehr in eine einzige Blutsuppe mit Fleischeinlage. Sein zielloser Blick traf auf ein verschmiertes Gesicht, hübsch und mit dunklen Augen. Es neigte sich nach links und erkannte Tims Gefühlswirren; die Pupillen stellten sich auf ein himmlisches Weiß ein. Er selbst schloss die Augen, als der schöne Tod auf ihn zukam und sich mit Mordhänden nach ihm ausstreckte. Furcht empfand er keine; seine Erleichterung fungierte als Narkosemittel.
Als die kalten Finger seinen Hals umfassten und ihm das Silberkreuz entreißen wollten, hielt er es fest. Bis aufs Blut verteidigte er seinen glänzenden Messias, doch die Kreatur ließ nicht locker und versuchte, ihm das Gesicht zu zerkratzen. Als die schlanken, immer noch penibel gepflegt aussehenden Hände Haare und Augäpfel ausrissen, als seien sie Eiskugeln, blieben Tim nur noch Gedankenbilder zur Betrachtung. Erinnerungen an das Kostbarste, was er in kurzen sechzehn Jahren hatte sehen dürfen: Das Gesicht von Caroline Donaldson.
***
Die erste Salve zerklirrte die große Scheibe vor der Hotelbar und schreckte die beiden gesetzten Trinker aus ihrem Alkoholnebel auf, ohne ihren Hirnen aber weiter auf die Sprünge zu helfen: Der Fensterrahmen war leer, der zweite Angriff folgte innerhalb weniger Sekunden, doch sie gingen nicht in Deckung. Roy Beggs traf Alan Gibsons Kopf, und der sturzbetrunkene Psychiater, der bis zum Einschlag kaum noch bei klarem Verstand war, ließ sofort alle Lebensgeister fahren. Sein kurzer, rundlicher Leib schlug wie ein geplatzter Fußball am Boden auf.
Erst da warf sich Sean auf den Bauch und hielt seine Ohren zu. Als er sich wieder aufraffte, rutschten Gläser wie Flaschen vom Tisch und gingen zu Bruch. Er machte die Augen zu und ließ den Scherbenregen über sich niedergehen.
»Fuck!«
Dann schaute er hinüber zu Alan Gibson. Dickflüssiges, dunkles Blut quoll langsam aus seinem Schädel. Vor wenigen Sekunden noch hatte er ihm einen weiteren Drink angeboten, nun ergoss sich sein Gehirn wie Linsensuppe über ihn.
Dumm gelaufen.
Sean spürte das Visier regelrecht am Körper. Erst Gibson, jetzt er. Er krabbelte hektisch unter den nächsten Tisch und horchte auf irgendeinen Hinweis: Was führte der Schütze im Schilde? Keuchen. Herzklopfen. Sonst nichts. Stille.
Wer in drei Teufels Namen konnte so etwas tun?
Während der letzten Wochen im Dauerkoma hatte Sean kaum Aufruhr mitbekommen, eventuell hier und dort einen Schrei oder berstende Schaufenster, weil Plünderungen nunmehr so gewöhnlich und rechtmäßig wie Einkäufe waren, weiterhin die Zündung oder den aufheulenden Motor eines Autos, alle mögliche Musik, etwa ganz leise die düsteren Gesänge der Gottesbrüder am Pavillon. Zeichen von Gewalt hingegen hatte er so gut wie keine vernommen. Die anderen sprachen immer wieder von Raufereien, die jedoch rasch im Sande verliefen, weil es reine Energieverschwendung war, sich zu prügeln. Die Stille, so schien es, verdingte sich in der neuen Welt als Schlichterin. Wie der mahnende Zeigefinger Gottes vorm geistigen Auge des bußfertigen Sünders war sie omnipräsent. Immerzu wachsam und das rechte Maß anlegend. Bis jetzt. Etwas anderes war mit tödlicher Anmaßung hereingebrochen und hatte ein Loch in Alan Gibsons Kopf hinterlassen. Sean wusste, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach das nächste Opfer des Killers war.
Sein Blick fiel auf die einzige Tür der Bar direkt vor ihm. Ein Flügel war angelehnt. Gut möglich, dass der Schütze ihm nun von Angesicht zu Angesicht entgegentreten wollte.
Keine Ahnung, was zu tun war.
Sean war zu betrunken, um vernünftig zu handeln.
***
Roy Beggs hatte kaum Zweifel daran, dass sein zweiter Schuss ins Schwarze gegangen war. Er meinte, jemanden zu Fall gebracht zu haben, und von seinem Blickwinkel aus betrachtet, und angesichts der Umrisse seines Ziels, war er zu 99 Prozent sicher, Gibson getroffen zu haben. 99 Prozent sicher, aus dem feigen Pimpf einen toten, feigen Pimpf gemacht zu haben. Roy brauchte aber das letzte Quäntchen Gewissheit.
Er drehte sich um und betrachtete das Kind im Wagen. Sie hatte dank Roys Schalldämpfer nichts mitbekommen, zumal die ätzende Mucke aus dem CD-Spieler lauter als das zerspringende Fenster war. Er konnte sie wohl ein paar Minuten ohne Risiko allein lassen, um im Hotel die Sachlage zu checken – nachzuschauen, ob er seinen Job anständig erledigt hatte.
Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm, denn teilweise bedauerte Roy, dass es so hatte kommen müssen. Gern hätte er jemanden an seiner Seite gewusst, der die Verantwortung teilte, gemeinsam mit ihm für Ordnung sorgte, die Unschuldigen beschützte und jeden bestrafte, der das Gemeinwohl bedrohte. Nachdem er das Fernrohr abgenommen und die Munition kontrolliert hatte, kehrte er schwermütig zum Eingang des Hotels zurück.
***
Star verfolgte die Ereignisse von der relativ sicheren Great Victoria Street Station aus. Die kleine Clare wurde von einem Fremden in Tarnkleidung zu dem Van gebracht. Glas zersplitterte gleichzeitig, da die Mündung des Gewehrs dieses Mannes aufblitzte, der offensichtlich Soldat war. Er hatte das Feuer auf die Hotelbar eröffnet, wo sich Sean aufhielt, wie sie wusste. Da war sie sicher, weil er in letzter Zeit nichts anderes getan hatte als zu trinken.
Die Obsession des DJs verflossene Liebe war der Tätowiererin irgendwann zu viel geworden, weshalb sie Abstand gewahrt und immer mehr Zeit mit dem in sich gekehrten Tim Adamson verbracht hatte, um sich intensiv mit dem Stechen auseinanderzusetzen. Zwar war Tim auf diesem Feld nicht sonderlich begabt, doch Star wollte ihn auch weiterhin zu schrägen, eigentlich geradezu unheimlichen Motiven ermutigen. Bis zuletzt hatte er sie auf Übungshaut umsetzen dürfen, jetzt ging er zu echter über, der Haut der Toten. Man hätte es für leicht geschmacklos halten können – hätte, weil man über Moral mittlerweile nicht mehr nachdenken musste … und eigentlich auch über sonst nichts mehr. Jedenfalls war der Leichnam, den er dazu angeschleppt hatte, eigentümlich gut erhalten, was Star und ihr junger Lehrling zwar bemerkten, jedoch nicht miteinander besprachen. Sie brauchten eben Haut, und bessere als diese hätten sie kaum finden können, warum auch immer. Gewissermaßen haftete den Toten nichts Menschliches mehr an; sie waren in dieser gottverlassenen Stadt fast unsichtbar, zu schieren Objekten geworden.
Die ersten Versuche waren Tim misslungen, weil er zu fest gedrückt und die Leichen bluten gelassen hatte. Dementsprechend krumm waren seine Linien. Allmählich mauserte er sich. Hatte sich gemausert.
Sean schien die Finger nicht vom Alkohol zu lassen, ob er dabei Gesellschaft bekam oder nicht. Falls sich überhaupt etwas bei ihm geändert hatte, dann die Menge, die er konsumierte. Er trank immer mehr. Manchmal schloss sich Star an – wie gestern Abend –, doch tendenziell bestritt er Marathongelage immer häufiger im Alleingang. Sean und niemand sonst hockte in der Bar beim Flügel, fütterte den tragbaren CD-Player mit Musik, bis die Batterien leer waren, und bediente sich wie ein gebrochener Mann am Wodka.
Vereinzelt hörte man ihn weinen, sodass seine hochprozentigen Tränen und Verwünschungen fast schon so selbstverständlich anmuteten wie das Dekor des Etablissements, das ohnehin wie ein Spukschloss anmutete.
Während sie das Treiben vor dem Hotel beobachtete, fragte sich Star, was der DJ verbrochen hatte, um diesen Rambo-Verschnitt so anzupissen. Hatte es etwas mit dieser abgedrehten Familie zu tun, die gegen Mittag aufgekreuzt war? Diese seltsamen Fragen von wegen Militär … Barry war irgendwann mit der Frau verschwunden, doch der gruselige Typ mit dem Bart hatte den Laden nicht verlassen. Leistete er Sean Gesellschaft, und hatte der Schießwütige es auf ihn abgesehen? Egal wer sich hier mit wem kabbelte: Star mochte es nicht, dass Sean hineingezogen wurde. Und weil ihr fusseliger Freund die Bar bislang nicht verlassen hatte, fing sie an, sich um mehr als nur seine Leber zu sorgen.
Zuerst eine rauchen. Sie musste nachdenken. Dabei beobachtete sie, wie der Soldat ins Hotel zurückging, wohl weil er noch nicht fertig war – mit was auch immer. Star wusste sich keinen Rat. Was hatte das Kind überhaupt in dem Van verloren? Wieso war der Einzelkämpfer an der Kleinen interessiert? Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie sich das Schlimmste ausmalte. Frauen generell waren zuletzt ziemlich rar geworden, wie Barrys besoffene Annäherungsversuche ihr wiederholt ins Gedächtnis gerufen hatten. Potenzielle Vergewaltiger konnten jetzt schalten und walten, wie sie wollten, und alle erdenklichen Perversionen ausleben, live und in greller Farbe.
Star musste handeln. Sie hatte nichts für Kinder übrig, konnte aber nicht ruhig dabei zusehen, wie sich jemand womöglich an einem verging.
Nachdem sie die Zigarette ausgetreten hatte, zündete sie gleich die zweite an und schnappte sich ein langes Küchenmesser, die einzig brauchbare Waffe im Bahnhof. Damit zog sie den Haupteingang auf und überquerte die Straße. Der Armeetyp war drinnen, also musste sie die Gelegenheit nutzen.
Die Flügel der Tür waren kaum zurückgeschwungen, als hinter der Theke des Coffee Shops etwas in Bewegung geriet.
Ihr krude tätowiertes Versuchsobjekt.
***
Die Kreatur, die früher Kirsty Marshall geheißen hatte und selbiger als Tote/Untote wenigstens ähnelte, hockte neben dem Grab, das sie selbst entweiht hatte. Immer noch hing ihr Ehemann über dem einfachen Holzkreuz, das einer der Überlebenden gezimmert hatte, ein anständiger Mann namens Phillip, der jetzt bäuchlings in seinen Körpersäften irgendwo auf dem Schulflur lag. Er war der Letzte gewesen, den Kirsty dahingerafft hatte. Kurz davor war die junge Studentin ihren blutigen Händen zum Opfer gefallen, während die anderen verschreckt, wehrlos und unorganisiert durch die Straßen von Lisburn in alle Richtungen flohen, ohne an die Zurückgebliebenen oder die anderen Flüchtigen zu denken. Ihre Blase der Scheinsicherheit hinter Roy Beggs‘ Uniform in Sylvia Pattersons Tretmühle, war wie Eier in einem heruntergefallenen Karton geplatzt. Jetzt glichen sie alle einer Bande ängstlicher Kinder.
Kirsty musste sie nicht jagen, denn sie war satt. Blut verkrustete ihre fülligen Lippen – Lippen, die Steve unzählige Male verwöhnt hatten. Ein Teil von Kirsty dachte daran und erregte sich. Wie sie mit überkreuzten Beinen auf dem Rasen saß, raufte sie sein Haar. Es war dreckig, filzig und fettig. Steve war längst mit dem Leben fertig gewesen, ehe ihn die erste Kugel getroffen hatte. Kirsty fühlte sich zu ihm hingezogen. Sein Geruch kam ihr schwach vertraut vor, obwohl die Sonne ihr zersetzendes Werk bereits verrichtete. Er roch in gewisser Weise attraktiv, und das sprach Kirsty‘s Urinstinkte an. Unwirsche Gefühle bedrängten ihren Geist. Irgendwo zwischen Hunger und Leidenschaft fand sie zuerst Liebe, dann Verlust. Mit einem Ruck knickte ihr Kopf zur Seite, ehe die Augen zu flimmern anfingen. Sie suchte weiter, stieß auf Rot und schließlich Dunkelblau. Dann entfuhr ihr ein tiefer, herzergreifender Seufzer, enthob sich der erdrückenden Stille wie ein Vogel der Schwerkraft.
Trauer.
Kirsty Marshall beugte sich vor, vergrub ihre Zähne in der offenen Brust ihres Gatten und riss mit grober Inbrunst Fleisch in dicken Brocken heraus. Sein gebrochenes Herz rutschte ihr in den Schoß, und ihre wunden Augen beweinten es mit kristallklaren Tränen.
Nicht weit entfernt stand Aida Hussein und schaute zu, gleichermaßen entsetzt wie gerührt. Sie hatte sich auf den Toiletten versteckt und den allzu eindringlichen Todesschreien auf den Gängen gelauscht. Erst als sich erneut vertraute Stille breitgemacht hatte, war sie herausgekommen in der Hoffnung, dem Monster zu entrinnen, das in ihren Hort eingedrungen war. Jetzt zweifelte sie an sich selbst, denn dies war kein Monster. Diese wutentbrannte, verzweifelte Frau war so arg vom Schicksal gebeutelt worden, dass sie ihr nur noch leidtat. Die Ägypterin vergoss eine einzelne Träne und fühlte mit, welche emotionale Achterbahnfahrt Kirstys schlichtes, gewalttätiges Hirn durchmachte.
Zögerlich näherte sich Aida der konfusen, gefräßigen Kreatur, die sie nicht wahrnahm, weil sie zu vertieft in ihren Schmaus war, ein bittersüßes Eheritual. Als Aida einen zitternden Arm nach den prachtvollen Haaren der Toten ausstreckte und ihre langen, schlanken Finger darin vergrub, hielt Kirsty einen Moment lang inne. Sie betrachtete die Ägypterin und wechselte erneut die Augenfarben – ein Flattern, so gleichmäßig wie das eines Wimpels im Wind. Sie suchte nach einem passenden Gefühl, um angemessen zu reagieren. Irgendwo am Grunde ihrer Seele entdeckte sie Zärtlichkeit. Sie erinnerte sich daran, wie gut es tat, gestreichelt zu werden, und überließ ihren Kopf Aidas wartenden Händen zur Liebkosung.
***
Professor Herbert Matthews hockte im Sessel vor seiner Frau Muriel. Er hielt eine Schrotflinte fest, die er aus dem Schuppen hinterm Haus genommen hatte. Seine Hände zitterten, als sich die Frau, die über vierzig Jahre mit ihm zusammengelebt hatte und jetzt erstaunlich jung aussah, von ihrem wochenlang nicht verlassenen Platz erhob.
Sie war tot gewesen, woran sich auch nun nicht viel änderte. Darüber war sich Herb größtenteils im Klaren. Andererseits aber wollte er diese neue Muriel umarmen, auch wenn es seinen eigenen Tod bedeutete.
Er klappte die Schrotflinte auf.
Während er sie lud, konnte er sehen, wie sich Muriels Augenfarbe veränderte. Einst war sie so leuchtend hellblau gewesen, dass sich Herb vorgestellt hatte, sie stamme von einem Elfenvolk ab. Nun glommen sie bedrohlich rot. Feuerrot. Dunkelrot. Aggressiv – anders ließ es sich nicht deuten. Dass dieser Ausdruck konzentrierter Liebe geschuldet war, entging dem Professor. Er erkannte nur Gefahr und die definitiv animalische Absicht hinter ihrem Blick.
Sie stürmte äußerst schnell für eine Frau, die sich im letzten Monat nicht einmal am Kopf gekratzt hatte, auf ihn zu. Aber Herb war gewappnet. Er zielte noch im Sitzen auf den Kopf und drückte aus nächster Nähe ab. Der Knall war ohrenbetäubend und mochte die weite ländliche Gegend erschüttern. Der Inhalt von Muriels Schädel ging in einer gewaltigen Welle auf ihn hernieder, und ihr Körper sackte sofort zusammen.
Herb musste sich einen Moment lang sammeln, bevor er die Brille abnahm, sie putzte und wieder aufsetzte. Länger brauchte er nicht. Viele Male hatte er um seine Frau getrauert, seit sie gestorben war – richtig gestorben. Jetzt brauchte er es nie wieder.
Er erhob sich langsam. Sein Morgenmantel triefte vor Blut. Nachdem er das Gewehr abgelegt hatte, trat er über den zerschossenen Leichnam an seinen Schreibtisch, schaltete das Amateurfunkgerät ein und griff zum Mikrofon.
»Terry, sind Sie noch da?«
Krrr. »Professor? Sind Sie das? Gott sei Dank, Sie leben noch. Hier spielt sich etwas Unglaubliches …«
Herb kappte die Übertragung, weil er nicht hören wollte, was der Engländer zu berichten hatte, zumal er es sich denken konnte. Dass Tote, die wieder zum Leben erwachten, nichts Gutes verhießen, hatte er selbst herausgefunden. Das Ende der Welt war freilich an ihm vorbeigezogen, doch ein weiteres Mal wollte sich Herb nicht zum Besten halten lassen. Deshalb hatte er das Unvermeidliche erwartet und Totenwache über seine Frau gehalten, während sie wieder zu seiner Jugendliebe geworden war und schließlich zu … etwas anderem.
Dann tat er, was er tun musste.
»Alles in Ordnung, Terry. Mir geht es gut. Muriel … sie wollte mich töten, aber ich habe … sie erledigt.«
Krrr. »Professor Matthews. Das tut mir leid, wirklich. Hätte ich Ihnen irgendwie helfen können … oder auch jetzt noch …« Krrr.
»Danke, Terry. Ich weiß Ihre Umsicht zu schätzen. Es ist ein hartes Los für uns alle. Ich bin mir sicher, auch Sie haben Verluste zu beklagen.«
Eine Weile Rauschen.
Krrr. »Professor Matthews, natürlich ist dies eine schwierige Zeit, aber wir brauchen Ihre Hilfe. Im Zuge dieser Entwicklungen ist Eile geboten. Ich weiß, es ist vermessen, jemanden in Ihrem … fortgeschrittenen Alter zu fragen, aber Sie sind unsere einzige Hoffnung in Nordirland.« Krrr.
»Was soll ich für Sie tun?«, fragte Herb.
Krrr. »Wir werden Sie in Belfast abholen.« Krrr.
Der Stadtname tat Herb im Ohr weh. Herb hatte Belfast seit seinem Rücktritt nicht betreten.
»Sprechen Sie weiter«, hielt er seinen Kontakt an.
Während Terry seinen Plan offenlegte, schaute Herb zur Eingangstür seines Cottages und dachte daran, was geschehen war, als er versucht hatte, nach draußen zu gehen. Dann blickte er Jahre zurück auf die Zeit, da er die Außenwelt zum letzten Mal gesehen hatte. Damals war seine Neurose noch nicht so gravierend gewesen. Obwohl ihm kein Wort von Terrys Plan entging, wurde er gleichzeitig seiner Umgebung gewahr – der Dinge, die er schätzen gelernt hatte … und mittlerweile fürchtete?
»Ich bin noch da, Terry«, versicherte er, indem er die Sprechtaste drückte, »und ich werde nach Belfast kommen. Oh ja, so wahr mir Gott helfe.«
Seine Hand war extrem fahrig. Herb wusste nicht, was schwerer wog – dass er seiner toten Frau den Kopf zerschossen hatte, die Aufregung über Terrys Vorhaben oder seine Angst davor, wieder durch diese verdammte Tür zu gehen, um selbiges in die Tat umzusetzen.
***
Mairead brachte den Landrover quietschend in der Nähe vom Carlisle Circus zum Stehen. So nannten die Städter den Kreisverkehr, der Crumlin und Antrim Road im Norden von Belfast miteinander verband. Damit wurde er quasi zum Brennpunkt, an dem zwei Bevölkerungsgruppen aufeinandertrafen. Kaum dass man in die Straßen einbog, stieß man auf Flaggen, die stolz paranoiden Separatismus hervorkehrten, als gelte es, die jeweils »Bösen« zu vertreiben. Krawalle und Konflikte mit der Polizei hatten beide Seiten allzu gut gekannt, doch nun kamen hüben wie drüben scharenweise Frauen aus den Häusern und trafen sich am Rondell, um gleichmütig wie Sand in einem Stundenglas in die Innenstadt zu strömen.
Mairead ließ die Scheibe herunter, weil sie ihren Augen nicht traute. Hier lag einiges im Argen. Wo kamen auf einmal die ganzen Überlebenden her? Sie wollte nicht zählen, schätzte aber, dass es etwa zweihundert Frauen waren. Genau hier lag der zweite Knackpunkt. Weshalb nur Frauen?
Manisches Gackern hinter ihr. Es war Barry, der Wahnvorstellungen hatte und immer mehr außer sich geriet. Neben ihm auf dem Rücksitz kauerte das Mädchen, das sie gerettet hatten. Sie war wieder halbwegs bei der Sache – zum Glück, dachte Mairead. Sie schaute sich aufgeregt um, wohl um sich zu orientieren und fragte sich zweifelsfrei, was sie in einem Armeefahrzeug verloren hatte. Mairead legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Bist du okay, Kleine?« Ihre anhaltend grimmige Miene klarte ein wenig auf. »Erinnerst du dich an irgendetwas?«
Das Mädchen schreckte vor der Berührung zurück und drückte sich fest in die Polster.
»Was ist hier los? Wer sind Sie?«
»Ist schon gut, Liebes.« Maireads Stimme war weich, als sie sich auf ihre Mutterinstinkte besann.
Caz fasste Barry ins Auge. Er schielte wie auf Drogen und musste Fieber haben, so wie er schwitzte.
»Barry! Was ist mit ihm?«
Mairead betrachtete den jungen Mann ebenfalls. Er schwebte in höheren Gefilden, nachdem er angegriffen worden war von dieser …
Da begriff sie es.
Als sie sich langsam wieder nach vorn umdrehte, sah sie drei aus der Menge vor dem Wagen. Sie starrten durch die Windschutzscheibe, während ihre Augen wie eine verrückt spielende Ampel von Rot auf Schwarz wechselten. Eine war nackt, die anderen nur notdürftig verhüllt. Sie gehörten eindeutig zum gleichen abgefuckten Schlag wie die Furie, der sie in Joes Haus begegnet waren. Da sich eine plötzlich anschickte, mit der flachen Hand gegen die kugelsichere Scheibe zu schlagen, hielt Mairead es für gewiss, dass das Trio genauso gewalttätig war wie jene Kreatur. Exakt so formulierte sie es auch für sich: Es handelte sich weder um Mädchen oder Frauen noch überhaupt Menschen. Etwas Abgründiges haftete ihnen an. Etwas Urzeitliches und Tödliches. Etwas, das gerade jetzt ihre kleine Clare angreifen konnte.
Mairead trat aufs Gas. Die drei jungen Dinger rollten über die Motorhaube ab, ehe der Landrover einem stehen gebliebenen Auto auswich, dessen verwesender Fahrer nach wie vor am Lenkrad saß. Mairead raste schnurstracks auf die Masse zu, die sich Richtung Stadtzentrum bewegte. Dieser Hexenkessel durfte ihrem Kind nichts zuleide tun.
Als der Panzerwagen ein halbes Dutzend umwarf und ohne das geringste Ruckeln überfuhr, erwachte Barry schlagartig aus seinem Dusel und bemerkte drei Frauen, die die Verfolgung aufgenommen hatten, hinter ihnen. Er erkannte ihre Gesichter. Es waren die, die sich ihm auf ewig eingebrannt hatten. Mit der Nadel der Schuld aufs Gewissen tätowiert. Die Blonde hieß Nuala und war höchstens Anfang zwanzig gewesen, als Barry sie in einem Club in der City getroffen hatte, in dem sich vornehmlich Friseurinnen nach Feierabend herumtrieben. Die Brünette war eine Studentin aus Deutschland namens Simone. Die Rothaarige hatte er zuallererst. Er konnte sich nicht einmal mehr an ihren Namen erinnern, obwohl ihr Gesicht – betäubt und unschuldig – sich in seine Erinnerungen eingebrannt hatte. Er hatte sie alle vergewaltigt, und nun wollten sie sich rächen. So einfach war es, und Barry wusste es. Er hatte Angst.
Der Landrover bohrte sich durch die Meute, aus der ein paar an dem verstärkten Glas der Türen kratzten. Blut spritzte gegen die Windschutzscheibe, und die Reifen drehten durch. Der Hochleistungsmotor heulte lauter, je mehr hübsche Monster unter die Räder gerieten.
Obwohl sie im Wagen eindeutig die besseren Karten hatten, was die Knautschzone betraf, sahen sie sich völlig von toten Frauen eingekesselt. Der nicht enden wollende Lärm, das Scharren, Klopfen und Treten der Kreaturen – ja, selbst mit den Zähnen machten sie sich an den Fenstern zu schaffen – zehrte zudem arg an den Nerven.
Barrys drei Bekannte kreischten und durchbohrten ihn mit Blicken.
»Fuck, die kommen meinetwegen! Sie wollen mich!«, schrie er.
Sein armseliges Winseln verärgerte Mairead vermutlich noch mehr als das Gesindel am Wagen. In ihrem Verdruss erwog sie kurz, die Scheibe zu öffnen, damit sie Barry hinauszogen und endlich Ruhe war. Das junge Mädchen neben ihm war auf einmal rege geworden und kletterte nach vorne auf den Beifahrersitz.
»Keine Sorge!«, überbrüllte Mairead den Tumult, während der Landrover wie ein Schiff kurz vorm Kentern schaukelte.
Caz schaute sie argwöhnisch an.
»Was ist mit denen los?!«, schrie sie zurück.
Mairead ging nicht darauf ein, sondern zeigte auf die Beifahrertür. »Sieh zu, dass sie verriegelt ist.«
Das Mädchen prüfte nach, dann wieder und sogar ein drittes Mal. Ein Meer von Augen stierte sie an. Man kämpfte quasi um Logenplätze vor den Scheiben, die Caz davor bewahrten, die hübschen Augen ausgekratzt zu bekommen. Kaum zehn Zentimeter vor ihr rissen sie sich die Fingernägel ab und verschmierten ihr Blut auf dem Glas. Zähne brachen, während sie wiederholt mit den Kiefern über die Oberfläche schabten.
Ein panischer Schauer kroch Mairead langsam über den Rücken, eine feuchte Wärme auf der Haut entlang ihrer Wirbelsäule.
»Die können uns hier drin nichts anhaben, oder?«, schrie Caz.
Mairead antwortete nicht. Den schwierigen Fragen wollte sie aus dem Weg gehen.
Barrys Stimme plärrte plötzlich noch lauter.
Als sich Mairead umdrehte, erkannte sie den Grund: ein Riss, der in der Heckscheibe zunehmend länger wurde. Die Rothaarige hämmerte weiter dagegen, obwohl ihre Finger gebrochen waren und bluteten. Barry hatte den Verstand komplett verloren, hob seine Pistole und feuerte Löcher in das Panzerglas.
»Fuck.«
Mairead sprach es unpassend ruhig aus angesichts der Lage. Sie saßen hoffnungslos umzingelt in einem Landrover, der sie einzig mit verstärkten Scheiben und Panzertüren vor dem Schlimmsten bewahrte. Diese Zicken hatten es immerhin geschafft, die Heckscheibe einzureißen, doch dank Barrys unfassbarer Dämlichkeit im allgemeinen Trubel saßen sie richtig tief in der Patsche.
Es war, als streckten sich hundert Arme durch die Öffnung, während Barry weiterfeuerte und sich gegen die bereits besetzte Vorderbank des Landrovers warf. Haut und Knochen zerfetzten im Kugelhagel, Blut spritzte gegen die Scheiben und auf die Rückbank, aber trotzdem schnappten sie weiter. Fieberhaft versuchten sie, etwas zu fassen und hinaus in ihren hübsch unheilvollen Strudel zu ziehen. Binnen Kurzem hatte sich eine Blondine mit Augen so schwarz wie die Hölle selbst mit dem Oberkörper durch den Rahmen geschoben. Sie trachtete nach Barry, der mittlerweile auf Mairead lag.
»Fuck! Fuck! Fuck!«, stotterte die bloß immer wieder.
Dann drückte sie Barry auf die Beifahrerseite, wo Caz kauerte und auf die Todesgefahr starrte, die sich von hinten durch das auf einmal gar nicht mehr geräumige Fahrzeug näherte. Nachdem sie Barry die Pistole entrissen hatte, fuhr Mairead selbst herum. Sie verpasste der Blondine einen gezielten Kopfschuss, dass Hirn- und Haarteile auf sie und ihre Mitinsassen prasselten. Mit jedem weiteren Treffer, der die um Barry wetteifernde Rotte dezimierte, klatschte ihnen mehr Organbrei entgegen. Mairead musste immer wieder ausspucken und sich das Gesicht abwischen, weil ihr Blut in die Augen tropfte, ehe sie erneut anlegen konnte. Mit Mühe und Not gelang es ihr, weiterhin klar zu sehen und präzise zu feuern.
Caz heulte dem verstörten Mann direkt ins Gesicht: »Barry, tu etwas!«
Es war zwecklos. Barry weinte weiter. Seine Tränen richteten kaum etwas gegen den Blutmatsch in seinem Gesicht aus, das mit jedem Schuss nasser wurde. Als er zittrig nach einem zweiten Gewehr langte, droschen die Unentwegten auf seinen Arm ein. Sie schoben sich weiter herein, kratzten und hielten ihn fest. Barry schrie vor Anstrengung und Angst gleichermaßen. Endlich hatte er die Waffe und zog die Hand zurück, um wahllos loszuschießen. Das Halbautomatikgewehr zersiebte den Rest der Heckscheibe gemeinsam mit einer Handvoll Köpfe.
Caz schob den Fuß auf Maireads Seite und trat fest aufs Gaspedal. Sie gewannen einen Vorsprung, da mehrere von vorn nach hinten gerutscht waren, um durch die Öffnung zu steigen. So schwerlich sie vorankamen, schöpften sie immerhin ein wenig Hoffnung.
Barry hörte nicht auf. Schädel wie Brustkörbe platzten und ergossen sich über ihm. Er fieberte wieder und musste sich gewaltig anstrengen, um einen klaren Kopf zu bewahren. Übelkeit erregender Schwindel überkam ihn, erschwerte das Zielen, und ehe er sich versah, traf eine Salve die Scheibe von Maireads Tür.
»Scheiße, Barry!«, schrie sie und packte den Lauf des Gewehrs mit der freien Hand, um ihn wegzuschieben. Dabei verbrannte sie sich.
Zudem pfiff es in ihren Ohren wegen des Schusslärms, und da der stete Blutregen ihre Sicht beeinträchtigte, erkannte sie nicht rasch genug, dass Barry das Fenster neben ihr zerstört hatte. Wie Tentakel umklammerten sie sie, zogen sie an den Haaren auf die Straße.
***
Roy trat selbstsicher in die Hotelbar. Er hielt die Waffe bereit und verschaffte sich mit einem Blick die Übersicht im Raum, der auch trotz der Verheerungen nächtlicher Feierstunden sehr vornehm wirkte. Die meisten Plätze waren unberührt geblieben, wie er im Gegenlicht von der zerbrochenen Scheibe her an einer dünnen Staubschicht auf den Tischen erkannte. Die Theke befand sich stylisch in der Mitte und war bestens mit Spirituosen sowie erlesenen Weinen bestückt, von denen manche mehr, andere weniger Zuspruch gefunden hatten.
Wodka war offensichtlich das Lieblingsgetränk der gegenwärtigen Gäste.
Roy trat ein wenig näher ans kaputte Fenster. Davor lag Gibsons Leiche unter einem Flitter Glasscherben. Keine Spur von seinem Mittrinker. Er musste sich wie ein kleines Mädchen verpfiffen haben, als Gibson in die ewigen Jagdgründe eingegangen war. Als er sich bückte, um sich zu vergewissern, dass der Typ wirklich mausetot war, wehte ihm starker Alkoholdunst entgegen. Der Mistkerl musste schon am Morgen mit dem Saufen begonnen haben; jedenfalls stank er wie eine Destille.
Was Roy Beggs allerdings seltsam vorkam: Gibson war klatschnass. Deshalb roch er auch so streng; er schien den Schnaps nicht nur getrunken, sondern geradezu darin gebadet zu haben.
Wie ein Fusel-Phönix aus dem Aschenbecher erhob sich Sean Magee mit seinem braunroten Schopf hinter der Bar. In einer Hand hielt er ein Feuerzeug, in der anderen eine brennende Flasche Sambuca. Abgeklärt schwungvoll wie ein karibischer Cricketspieler holte er aus, und schon trudelte der flammende Cocktail auf Roy Beggs zu. Er traf dessen Schulter, sodass der Inhalt die Uniform des Soldaten besudelte und dank der Lunte am Hals sofort Feuer fing. Die Flammen leckten an Alan Gibsons durchweichten Kleidern und flackerten damit so laut auf, dass es Roy Beggs‘ Krächzen fast verschluckte, der sich in der Rolle eines gegrillten Steaks wiederfand. Die plötzliche Hitzeentwicklung ließ sein Gewehr losgehen, sodass er sich selbst in die Brust schoss und damit wie einen Chinaböller aus dem zerbrochenen Fenster katapultierte.
Sean sah zu, wie der menschliche Komet aus dem ersten Stock stürzte beziehungsweise fast wie in Zeitlupe gen Straße segelte. Der Mann brannte lichterloh, während er die Fenster der Geschäfte und Büros gegenüber zerballerte. Trotz der Entfernung hörte Sean Magee, wie er auf den Boden klatschte. Wahrscheinlich vernahm man das Echo überall in der Stadt.
***
Die possierlich zurechtgemachte Chris O‘Hagan entsann sich ihrer früheren Meriten als Geschäftsfrau nicht mehr. Sie hatte an einem einzigen Tag ihr wöchentliches Soll erfüllt und sich damit sowohl Hochachtung als auch ihren Porsche verdient. Dass sie sich nach jedem harten Zehnstundentag im Büro zusätzlich endlos im Fitnessclub abgestrampelt hatte, wusste sie auch nicht mehr. Um noch höhere Gewinne einzustreichen, war sie mit Aufputschmitteln gegen Schlafmangel und miese Ernährung angegangen. Jetzt scherte sie sich noch weniger um ihre Familie – sowieso längst überworfen nach dem Mord an ihrem Bruder vor all den Jahren – oder ihren leidgeprüften Liebhaber, der richtig tot war und verweste, wie es sich gehörte. Ihre Lider flimmerten, als der Geist langsam wieder rudimentäre Funktionen aufnahm. Ein einziges düsteres Soll wollte Chris noch erfüllen: Vergeltung.
Sie kam nur behäbig auf die Beine, doch als sie schließlich aufrecht in ihrer ganzen Pracht dastand, arbeitete ihre Wahrnehmung auf Hochtouren. Augenfarben oszillierten, und Weiß wurde Schwarz, als ihr Hass den Siedepunkt erreichte. Ihr Geruchssinn – der ursprünglichste von allen – war auf das Blut des Mannes programmiert, der das Leben ihres Bruders ruiniert und sie zu der Frau gemacht hatte, als die sie gestorben war, eine junge, karrieregeile Schönheit.
Und todunglücklich.
Roy Beggs‘ markantes Odeur drang an ihr feines Näschen. Die Luft war schwer von ihm – umso mehr, da er sich versengt hatte. Ihre dunkle Pupillen beäugten das Gesicht des Sterbenden, da erinnerte sie sich daran, wie er beim Verlesen des Urteils – nicht schuldig – auf der Anklagebank gesessen hatte, woraufhin sie gefühlskalt geworden und dem Materialismus verfallen war. Sie näherte sich der verbrannten, quasi-leeren Hülle und spürte sie wieder, als sie den Fleischgeruch einatmete, jene allzu vertrauten Hungerkrämpfe von dereinst.
Zeit zu essen.
Aus allen Winkeln und Gassen der stillen Totenstadt wankten weitere Frauen heran. In ihrer beinahe musikalischen Bewegung wirkten sie wie Schwäne, eine Horde dunkeläugiger Füchsinnen. Manche kamen vom Victoria Square und waren immer noch blutdurstig, obschon der Geschmack ihrer Lieben noch auf ihren Zungen lag.
»Verdammt«, wisperte Star bei sich, zumal sie sowieso allein war.
Sie schaute hinüber zum Van, in dem Clare saß und gebannt mit an die Türscheibe gepressten Händen beobachtete, wie sich die Meute näherte. Star sah zu, dass sie das Kind erreichte. Während sie noch einmal an ihrer Zigarette zog, rüttelte sie mit der anderen heftig am Türgriff.
»Verflucht, mach auf!«
Clare glotzte sie an. Sie zögerte, weil sie der schrulligen Frau misstraute. Sie fragte sich, wo bloß Roy steckte, weil sie nicht wusste, wohin er gegangen war, da sie zu sehr damit beschäftigt gewesen war, zu der Musik aus der Anlage auf den Sitzen zu tanzen. Jetzt plänkelte es wieder leiser, zu dem Szenario, was sich gerade vor ihren Augen abspielte.
Die sind alle so schön, dachte Clare, weil sie seit dem großen Umfallen – was auch immer vor ein paar Wochen passiert war – kaum etwas gesehen oder gerochen hatte, das nicht abscheulich war. Diese Frauen erinnerten sie an Feen. Zwar übergroß und ohne Schwingen, aber immer noch putzig. Wie ein Schwarm Meerjungfrauen oder Engelschöre waberten sie heran, ein Spielzeugladen voller Puppen mit unter der Märchensonne seidig glänzendem Haar.
»Mach schon auf, du Biest!«
***
Barry packte Maireads Beine und fasste an der Beifahrertür Fuß. Er lag in voller Länge ausgestreckt auf der Vorderbank, sodass Caz kaum sah, wie der Landrover durch den furchtlosen Pulk drängte, der immer weiter anzuschwellen schien. Sie merkte, dass es ein wenig schneller voranging, da die Reifen auf den Umgefahrenen besonders gut zu greifen schienen, während sie weiter anständig Gas gab. Im Gewühl der breiten Reifen gegen die gefallenen Leiber spritzte andauernd Blut gegen die Seitenscheiben.
»Fickt … euch … ihr Schlampen!«, schrie Barry im Ringen um Maireads Beine, derweil ihm der Schweiß in die Augen tropfte.
Mairead hielt sich wacker und schoss unaufhörlich, doch obwohl sie den Ansturm teilweise zerstob, kämpfte sie letzten Endes vergeblich.
Wie Geier zupften und pickten sie an ihrem Unterbauch. Barry und Caz bekamen ihr frisches Blut ab, auch weil sie im Schmerz austrat und ihm dabei den Stiefel ins Gesicht rammte. Seine Hände rutschten ab, doch er schnappte schnell genug wieder zu. Am liebsten hätte er losgelassen und seinem Fieber nachgegeben, um wieder betäubt dahinzudämmern.
Schließlich war es Maireads Rückgrat das nachgab, denn die Kreaturen hatten sich wie Hunde in ihr verbissen. Sie ging entzwei. Ihr Oberkörper verschwand durchs Fenster, wohingegen Barry mit dem Rest rückwärtsfiel und gegen Caz stieß. Die beiden fluchten und brüllten, denn die Beine mit dem Unterleib, aus dem noch Knochenteile ragten, zuckten weiter.
Kurz darauf krabbelten immer mehr der puppenhaften Wesen aufs Dach. Sie drängelten wie Bienen im Anflug auf ihren Stock, machten sich lang und bissen einander im Feuereifer um den zudringlichen Brodem von Blut und Schweiß, der ihre Nüstern kitzelte. Zahllose Arme ruderten im Wagen herum und versuchten, allem habhaft zu werden, was sie packen konnten. Als sie den zurückgebliebenen Teil von Mairead hinausgezogen hatten, fochten sie wie Hyänen um Fleisch und Knochen. Dann lechzten sie nach Barry, auf den sie es sowieso von Anfang an abgesehen hatten. Angeführt von den drei, die er erkannt hatte – seinen ehemaligen Opfern –, kletterten sie herein und stießen Caz aus dem Weg, die nicht zu kreischen aufhörte.
Gnadenlos zogen sie ihn über die Scharten der zerbrochenen Windschutzscheibe hinaus. Gemeinsam, aber weiterhin kaum diszipliniert drückten sie ihn zu Boden, damit sich die Rothaarige, deren Name er nicht mehr wusste – seinem ersten Opfer –, wie eine persönliche Stripperin über ihn beugen konnte. In einem Rutsch hatte sie ihm den Gürtel aus der Jeans gezogen und bückte sich mit weit aufgerissenem Mund.
Barry jaulte wie ein neugeborener Welpe, als sie ihm in den Schwanz biss.
***
Von seinem Aussichtspunkt am Fenster im ersten Stock des Hotels bot sich Sean Magee ein fantastischer Ausblick: Hunderte, wenn nicht gar Tausende junge Frauen bevölkerten die Great Victoria Street. Sie rollten von überall her an – wie Murmeln aus einer Blechdose, was derart koordiniert abzulaufen schien, dass es auf die Masse bezogen gleichermaßen erotisch wie bedrohlich aussah. Irgendwie kam es Sean wie ein Traum vor, als wäre er schon früher als sonst ins Alkoholkoma gefallen. Er fühlte sich aber auch gar nicht schläfrig; nein, was gerade mit dem Soldaten geschehen war, schockierte ihn immer noch.
Der alternde DJ fuhr sich mit einer Miene über den struppigen Grauschopf, die einzig »Was zur Hölle?!« auszudrücken schien. Das alles konnte nicht wirklich passieren. Trotzdem flaute der Strom nicht ab. Das Gedränge wurde immer unüberschaubarer, und im Zentrum der Masse auf dem Dach einer Familienkutsche gegenüber dem Hotel lag Star, die vergleichsweise grobschlächtig aussah mit ihren Dreadlocks. Dennoch schien sie der eigentliche Grund für den Auflauf zu sein und klopfte wie blöde von oben gegen die Windschutzscheibe. Das war mehr als abgefahren.
»Star!«, rief Sean.
»Was zum … Sean! Scheiße, du musst mir helfen!«
»Wie? Was geht denn?«
»Ich … sie … Au! Diese … Frauen – mit denen stimmt etwas nicht!«
»Woher willst du das wissen? Frag doch mal. Hör dir an, was sie zu sagen haben.«
Er konnte eigentlich nicht glauben, dass von etwas, das im Kollektiv so wunderschön war, eine Gefahr ausging. Andererseits war er ohnehin so dicht, dass er trotz des Schreckens von vorhin ziemlich im Einklang mit der Welt stand.
»Sean!«, wütete Star, weil sie verständlicherweise genervt von ihm war. »Die haben verflucht noch mal schwarze Augen!«
Er beugte sich leicht nach vorn, erkannte es aber aus der Höhe immer noch nicht deutlich. So suchte er den Blick einiger, die zu ihm aufschauten, und schon lösten sich welche von der Masse, um Richtung Hoteleingang zu wandeln.
Verdammt, das verhieß nichts Gutes …
Es dauerte nicht lange, da konnte sich Sean Magee selbst vergewissern, weshalb Star so viel Wind wegen dieser Invasion machte. Sie stürmten das Hotel, fühlten sich zu ihm hingezogen wie Mäuse zum Speck.
Mit einem Mal war Sean stocknüchtern und fühlte sich allein. Furchtbar allein. Seit seine Welt auf dem Kopf stand, war er für die Tode zweier Menschen verantwortlich – drei, wenn man, was er selbst zweifellos tat, seine Exfrau Sharon mitzählte. Eigentlich hatte er sich stets eher für einen Lover gehalten und nicht gern die Hand gegen jemanden erhoben, doch in dieser – schönen, neuen – Welt war irgendetwas mit ihm schiefgelaufen. Das gleiche Irgendetwas, das den Irrwitz zu verantworten hatte, dem er gerade beiwohnte.
Diese unmenschlich wirkenden Weibsbilder füllten den Raum zügig und lautlos. Ihre Gesichter leuchteten regelrecht, aber den Mündern ging seltsamerweise jeglicher Ausdruck ab. Abgesehen von ihren Augen mochte man sie für den Inbegriff der Gesundheit halten und bei keiner Modeschau missen. Als sie näher kamen, fiel Seans Blick auf eine in der Mitte. Sie war nackt, und einer ihrer Brüste so dick mit Blut verklebt, dass es aussah, als habe jemand einen Farbeimer über sie gekippt. Er konnte die Augen nicht von ihr abwenden, denn sie war abstoßend und hübsch zugleich. Obsession. Sie führte die bemessene Pirsch auf ihn an.
Sean wich zurück und kam der zerschossenen Scheibe dabei gefährlich nah. Unterdessen wägte er seine Handlungsmöglichkeiten ab und befand diese arg beschränkt. Die Frauen waren in der Überzahl und hatten es augenscheinlich auf ihn abgesehen. Er spielte mit der Idee, übers Sims zu klettern und an der Front nach einem Fluchtweg zu suchen, aber so hätte er nur das Unvermeidliche hinausgezögert, denn es wimmelte mittlerweile wirklich vor ihnen.
Alles zwecklos. Sean hob sein Glas, prostete der Horde zu und nahm einen kräftigen Schluck. Mut antrinken.
Angeblich sah man das Leben noch einmal an den Augen vorbeiziehen, bevor man starb. Sean machte seine zu. Dann hörte er die altbekannten Tieflader-Riffs und Zwischenrufe während des Black-Sabbath-Gigs, den er 1977 besucht hatte. An ein wüsteres Konzert konnte er sich nicht erinnern. Im Pit war es derart rundgegangen, dass er die Halle mit Nasenbluten vom Headbangen und einem breiten Grinsen im schweißnassen Gesicht verlassen hatte. Damals war er zum ersten Mal von der Bühne ins Publikum gesprungen und hatte es für den Nervenkitzel wiederholt. Dabei war er jedes Mal weiter gesprungen, und Ozzy selbst hatte ihn sogar in die wartenden Fans gestoßen, die ihn auf Händen getragen und schließlich grob aber unverletzt zu Boden gesenkt hatten.
Sean Magee fuhr herum und wagte einen Stagedive in die Massen unter ihm.
***
»Sean!«, brüllte Star einmal mehr. Sie konnte nicht verhindern, dass der DJ freiwillig den sterbenden Schwan machte. »Scheiße!«
So richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die heranströmende Meute. Wohin sie auch schaute – unzählige schwarze Augenpaare stierten sie an. Einige schwenkten um und bewegten sich auf die Stelle zu, an der er aufgeschlagen war.
»Jesus, Sean …«
Schließlich nahm sie sich seinen Rat zu Herzen, weil sie schlicht keine andere Wahl mehr hatte.
»H-h-hey«, begann sie mit rasendem Puls. »K-könnt ihr r-reden … oder so?«
Einhellige Missachtung.
Star hielt Ausschau nach jemandem, der ihr antwortete, erhoffte sich wenigstens eine Reaktion. Es waren die Augen … sie flackerten auf im Farbenspiel. Verengten sich. Star verließ der Mut, da sie einsah, dass niemand ausdiskutieren wollte, was weiterhin geschehen sollte. Nervös steckte sie sich eine neue Zigarette an. Immer noch kein Rückspruch. Man ignorierte sie geschlossen und widmete sich stattdessen dem Van unter ihr. Drinnen patschte Clare McAfee immer noch gegen die Scheibe. Star sah die zarten Äuglein des Kindes, das abwechselnd hochschaute und den Schwarm anstarrte, der sie bestürmte.
Auf einmal trommelten sie so furios gegen das Fahrzeug, dass es schwankte. Star kam diese Urgewalt dämonisch vor.
Sie stand auf und bemühte sich, ihr Gleichgewicht zu halten. Wie eine Heuschreckenplage wuselten sie um den Van herum. Stars wuchtige Docs leisteten gute Dienste, ein paar von ihnen zu Boden zu stiefeln. Blut lief über ihre schmucken Köpfchen, während andere die Hitze ihres Glimmstängels spüren durften. Sie drückte ihn in ihre sadistischen Augen, die weiter die Farbe wechselten, während sich die Leiber gegen die Karosserie warfen. Die Abgefertigten fielen mit Asche, Blut und Blasen an ihren Porzellanwangen zurück, bis andere nachrückten. An ihrer Ignoranz änderte dies nichts. Nein, sie ließen die Gemeinheiten fast gleichmütig über sich ergehen. Ihre hungrigen wie ansehnlichen Gesichter glühten in der tief stehenden Nachmittagssonne, als sie sich um das Objekt ihrer Begierde drängten. Das Kind.
Die Scheiben zersprangen, und gefühlte tausend Arme langten hinein.
Clare, die strahlende Unschuld, musste blinzeln, während sie die Kreaturen anglotzte. Ihr kamen die Tränen. Die Splitter waren wie Schneeflocken auf sie gerieselt, wobei ein paar größere Scherben ihre zarten Wangen zerkratzt hatten. Eine Spur Rot brannte schmerzhaft unter ihren dicken, salzigen Tränen. Die Hände tasteten weiter nach ihr, zerrten teilweise an ihren blonden Löckchen und schnellten wieder zurück, aber sie achtete nicht darauf, weil sie nur an einer interessiert war. Clare McAfee lächelte hinter ihrem Tränenschleier, als das Gesicht ihrer Mama – der echten – näher zu kommen schien. Offenbar wich der Feenstaat zur Seite, damit Mama wie auf einer Wolke zu ihr schweben konnte. Ihre Miene wirkte ausdrucksvoller, ihre Augen weißer als Schnee. Clare wähnte sich von Liebe überflutet, als bade sie in ihrem Licht. Sie streckte die Arme ihrer Mutter entgegen, um sie zu umarmen, derweil Bluttropfen und Tränen kullerten.
»Nein! Weg von ihr!«
Star stand in der Menge, kreischte und boxte um sich wie eine Megäre. Dann zog sie das Küchenmesser. Die Klinge funkelte in der Sonne, bevor sie wie eine Kriegsaxt Haut zerschnitt und Fleisch von Knochen wetzte. Star schwang den Stahl mit einer Vehemenz bar jeglicher Vernunft und heulte auf wie eine Sirene: »DRECKSFOTZEN!«
Unerwartet dachte sie an jenen ersten Tag zurück, als sie die Vögel vor der Kirche gesehen hatte und die Leiche über dem Kinderwagen. Die ausgeweidete Unschuld war ihr nahegegangen, als hätte jemand ihr Herz umgestülpt und in Essig eingelegt. Star war eine Chaosbraut und sich selbst nicht viel wert, aber eine weitere unschuldige Seele durfte diese abgefuckte Welt nicht dahinraffen.
Sie gab den Kreaturen das Leder ihrer Stiefel zu spüren, wann immer sie nach ihr grapschten. Sie schwamm teilweise in der Menge, dann wieder darüber, balgte sich wie eine Raubkatze und versuchte vergeblich, das kleine Mädchen zu erreichen, während die Frauen sie passierten. Einige ließen sie unbescholten, wohingegen andere nach ihr schlugen und kratzten. Ihr zierlicher Körper war dieser Flut nicht gewachsen. Keine Chance. Es waren schlichtweg zu viele, und bald hatte sie die Kleine an das Heer der Schönen verloren. Sie trieften vor ihrem eigenen Blut wie Blumen im Regenguss, als Star mit der Klinge umging, ob zwischen oder über ihnen. Sie selbst blieb dabei nicht trocken, war Clare ganz nah und doch so fern.
Sie brüllte, verteilte Handkantenschläge und Tritte, bis die Frauen nur noch sie fokussierten. Das Schwarz ihrer Augen wurde so durchdringend, dass sie fast nicht hineinschauen konnte. Dafür grinste sie ihnen umso wahnsinniger entgegen. Sie sollten für das, was sie getan hatten, bezahlen, und auch für das, was sie gestohlen hatten.
Auf einmal standen diese glamourösen Scheusale für alles, was in Stars Leben danebengegangen war und sich ihr in den Weg gestellt hatte. Sie repräsentierten die Drogen, die ihre geistige Gesundheit zerrüttet hatten, weshalb sie vor Jahren am Arsch von London von einem Elend ins nächste geschlittert war; sie vertraten ihr soziales Umfeld von damals, Süchtige wie Star selbst ohne Ausnahme; Junkies und erfahrene Selbstzerstörer, die keine Grenzen kannten, wenn sie ihren immerwährenden Durst nach Ausschweifungen zu stillen suchten. Diese abgestumpften Schlampen symbolisierten das Falsche für Star emblematisch. Wie Geister der Vergangenheit in urzeitlicher Lohe drängten sie sich ihr auf.
Star leckte das bislang vergossene Blut von der Klinge. Etwas davon tropfte aus ihrem Mundwinkel. Sie war bereit für sie. Bereit, sich ihren Dämonen zu stellen.
Alle Augen warteten auf sie, schalteten zwischen den Farben hin und her. Stehen blieb rot.
»Kommt schon, ihr Fotzen«, rief sie mit teuflischem Grinsen.
Sie umschwärmten sie wie aufgebrachte Wespen.
Dann kam der Regen.