FÜNF

 

Der Prediger badete sich im Mondlicht, eine einsame Gestalt inmitten der toten, vom Regen umspülten Straßen. Er war durchnässt, atmete tief und bedeutungsvoll ein. Das Herz lag ihm schwer in der Brust, die Stirn in Falten, doch das war nichts Neues. Jeden Tag runzelte er sie, wenn er wie immer hier stand – am Cornmarket in der Nähe von Belfasts umtriebigem Victoria Centre – und die Frohe Botschaft verkündete. Seine Stimme trug sich über fünf Straßen voller Sünder hinweg, von denen mancher ihm unverhohlen Beleidigungen an den Kopf warf, während er sein Melodrama abspulte. Er hatte sich bemüht, jedoch zumeist vergeblich, weil den Menschen heutzutage wichtiger war, was sie auf der Hauptstraße kaufen konnten, als ihre Seelen vor der ewigen Verdammnis zu retten. Kleidung, Schmuck, Schuhe, Spiele und DVDs. Flitter und Tand jedweder Art. Der Teufel hatte Belfast fest im Griff, so viel war sicher.

Oft hatte der Prediger vor dem gewarnt, was nun eingetroffen war. Dem Tag des Jüngsten Gerichts. Armageddon. Seine abgegriffene Bibel bezeugte, wie hart er dafür gearbeitet hatte, die Sündigen zu bewahren, von denen nun nicht wenige tot vor ihm lagen. (Denn der Tod ist der Sünde Sold.) Dennoch konnte er nicht nachvollziehen, weshalb er selbst zurückgelassen worden war, um mitzuleiden, warum sein Herr und Erlöser Jesus Christus ihn nicht dahingerafft hatte.

Als es geschehen war, hatte er auf der hölzernen Kanzel eines kleinen Gotteshauses im Osten der Stadt das Wort weitergereicht. An jenem Ort hatte er sich die vergangenen fünf Jahre verdingt, nachdem er der Pflichten für eine größere Gemeinde enthoben worden war. Dementsprechend überschaubar waren seine Zuhörer geblieben: Nur zehn bis fünfzehn hatten ihm regelmäßig aufgewartet, überwiegend alte, dafür aber treue und verlässliche, hart arbeitende Christen. Sinnigerweise lautete der Titel seiner heutigen Lesung »Gottes Zorn«. Der Prediger hatte ihn bewusst gewählt, obwohl er seine Botschaft nicht darauf beschränkt wissen wollte. Über die Jahre hinweg hatte er nämlich gleichfalls Gottes Gnade propagiert, die Liebe des Herrn für all jene, die ihm ergeben waren. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Dessen ungeachtet stand er allein am Cornmarket. Gebrochen. Abgewiesen.

Warum ich, Gott? Warum? An dieser Stelle hatte er viele Male gestanden. Das Mikrofon in der Hand, umgeben von Glaubensbrüdern und -schwestern. Die alten Hymnen waren angestimmt worden zur Lobpreisung ihres gemeinsamen Erlösers. Doch das einzige Lied, das ihm nun über die Lippen kommen mochte, war eine Elegie der Verzweiflung. Wie Würmer bohrten sich Zweifel durch seinen Schädel. Hatte er nicht fest genug geglaubt, immer noch zu selten gemahnt und zu wenige Seelen für seinen Herrn Jesus Christus gewonnen? War er selbst denn nicht ohne Makel, oder hatte er den Teufel unter seine Haut gelassen, der Versuchung stattgegeben?

Er erinnerte sich an jenen Tag vor zwanzig Jahren, da er selbst bekehrt worden war, als er in einer Schlange vor einem kruden Missionszelt ausgeharrt hatte. Der Regen damals war genauso gnadenlos gegen die Plane geklatscht, wie er heute prasselte. Er hatte sich vorgestellt, der Teufel persönlich peitsche das Zeltdach, um ihm etwas zu sagen. Ihn zur Umkehr zu bewegen mit Lügen, die ihn vom gerechten Weg des Herrn abbringen sollten. Einer seiner Mitarbeiter hatte ihn zur Mission eingeladen, damit er einem inbrünstigen, unheimlich dringlichen Vortrag der Heiligen Schrift beiwohne. Der Geistliche damals war von Gott berührt worden, wie es auch ihm widerfahren sollte, und fürwahr dazu fähig gewesen, die Präsenz von Sünde und Laster zu spüren, mit der Satan von Tag zu Tag stärker wurde. In Tränen aufgelöst hatte er darum gebeten, der Herr Jesus solle sein Herz öffnen und reinwaschen von allem Gräuel, seinen schändlichen Gedanken und Lüsten. Rein hatte er werden wollen und Vergebung gesucht.

Wie Gott weiß, hatte er in der Vergangenheit Furchtbares verbrochen, und nun fragte er sich, ob er in irgendeiner Weise erneut aus der Spur geraten war. Er wusste ja, dass mancher rückfällig wurde, Gottes Liebe und Gnade verschmähte, um sich unter dem Einfluss des Bockbeinigen aufs Neue in den Sündenpfuhl ziehen zu lassen. Er haderte täglich und betete unaufhörlich mit jedem Mal, da der hartnäckige Dämon sein Bestes versuchte, sich seine Seele unter den schmutzigen Nagel zu reißen. Er war ja auch überall – im Radio, im Fernsehen und im Internet. In Pubs und Clubs, den von Drogen verseuchten Lasterhöhlen auf der Schattenseite der Stadt. Computerspiele, weltliche Magazine und Zeitungen beherrschte er genauso wie die liederlichen Bücher, mit denen der Prediger seine Frau dereinst erwischt hatte, Liebesromane angeblich. Allein von Jesu Liebe, seinem Herrn und Gott kündeten sie nicht. Tapfer hatte er sich diesen Einflüssen entgegengestellt, auf dass sie sein Leben nicht anfochten, gefastet und gebetet – ja, sich sogar kasteit, wann immer Beelzebub sein Herz umklammerte. Eigentlich war er sich seines Sieges sicher gewesen und hatte gedacht, Satans Mächten entronnen zu sein.

War er nicht.

Verbissen suchte der Prediger in seiner altvertrauten Bibel nach Hinweisen darauf, weshalb Gott ihn im Stich gelassen hatte, um mit den Verdammten zu darben, als Schaf unter Wölfen. Während er sich einmal mehr mit heiserer Stimme wie ein sturmumtoster Schiffskapitän in rabenschwarzer Nacht an Gott wandte, rauschte der Regen ungerührt weiter.

 

***

 

Die Überlebenden schälten sich aus ihren Autos und kamen in der Aula der Schule zusammen. Seltsam still waren sie trotz ihrer Vielzahl. Roy hatte alle Hände voll zu tun, sie unterzubringen. Er zeigte ihnen, wo es Wasser gab, und half mit beim Durchsuchen der Speisekammer nach Lebensmitteln. Einige der Leute, die noch halbwegs gefasst waren, betraute er mit leichten Aufgaben, etwa dem Bekleben von Leuchtstrahlern mit Kreppband, die sodann als improvisierte Lampen dienten, um den Saal, die Kantine und die dunklen Flure zu erhellen. Die meisten waren froh über diese Anweisungen, weil sie sich im Kleinen verantwortlich fühlten und ablenken konnten. So verhinderten sie, sich in der jeweils eigenen Leidensgeschichte zu verlieren.

Außer Mairead. Sie grübelte immer noch über das Kind nach, auf das sie vorhin mit Roy gestoßen war. Es hatte im Dunkeln an genau dem Pult gesessen, das sie selbst fast das ganze Schuljahr lang besetzt hatte, als sie in der dritten Klasse gewesen war. Die Kleine hatte sich die Uniform schludrig und verkehrt herum übergezogen, also zeigte Mairead ihr, wie man es richtig machte, um hübsch elegant auszusehen.

Sie hieß Clare McAfee und stammte aus der Gegend, musste nur wenige Minuten zu Fuß bis zur Schule gehen. Mairead gegenüber hatte sie behauptet, sie sei ratlos gewesen, nachdem ihre Mutter eingeschlafen war. Sie hatte den Sonntag vergessen und befürchtet, Ärger zu bekommen, wenn sie die Schule schwänzte, also war sie hingegangen. Sie hatte sich gewaschen, angezogen und Müsli zum Frühstück gegessen, ehe sie hinaus in die tote Welt geeilt war.

Weiterhin erzählte sie Mairead, sie habe geglaubt, spät dran zu sein, weil das Gatter zum Gelände geschlossen war. Sie sei deshalb hinübergeklettert und gleich auch durchs Fenster eingebrochen, nachdem sie den Haupteingang ebenfalls verriegelt vorgefunden hatte. Dazu war sie auf eine Mülltonne gestiegen. Daran erinnerte sie sich vermutlich nicht mehr so richtig, weil sie unter Schock stand, doch Mairead sah die Kratzer an ihrem Arm, wo sie sich am Glas geschnitten hatte. Ihr weißes Blüschen war daher auch leicht blutbeschmutzt, Clare selbst jedoch zum Glück unverletzt, abgesehen von ein paar Schrammen, die sie sich beim Sturz in die Umkleide zugezogen hatte.

Wie es aussah, hatte sie den ganzen Tag an demselben Pult in ihrer Klasse gesessen, wo sie auch sonst während dieses Schuljahrs die meiste Zeit verbrachte und Nonsens in ihr Hausaufgabenheft schrieb. Als die Seiten voll gewesen waren, hatte sie auf der Tischplatte weitergemacht und ebenjenes Geräusch verursacht – das unangenehme Klicken, das Roy Beggs beinahe wahnsinnig gemacht und dazu geführt hatte …

(»Es hat eine Explosion gegeben, Mrs Burns …«)

Das arme Kind. Völlig entgeistert, von Kopf bis Fuß angespannt vor Furcht und Einsamkeit. Mehr schlecht als recht angezogen und hungrig, die Kleider schmutzig und das blutjunge Herz gebrochen. Sie hatte an diesem Tisch geklebt und gekritzelt, als es schon dunkelte und der Wolkenbruch begann.

»Glaube, die kann man noch trinken.«

Mairead schaute von der Stelle aus hoch, an der sie mit dem Mädchen hockte. Es war Roy, der ihr ein Glas Milch vorhielt. Sein rotes, pummeliges Gesicht zeigte ein breites Grinsen. Das hatte sie bisher noch nicht gesehen, doch es stand ihm nicht schlecht. So sah er nahbarer aus und verhehlte, dass er ein erzbritischer Halsabschneider war.

»Riech vorher, wenn du willst«, fügte er hinzu.

Clare nahm das Getränk folgsam entgegen und schnüffelte, bevor sie Roy mit einem Lächeln zu verstehen gab, dass es nicht sauer war.

Er erwiderte es und zog obendrein einen Schokoriegel aus seiner Gesäßtasche, als sei ein Zauberkünstler an ihm verloren gegangen. Indem er ihn ihr anbot, flüsterte er verschwörerisch: »Nicht weitersagen, dass du ihn von mir hast, okay?«

Die Stimme des Soldaten klang schroff, drückte aber aufrichtige Zuneigung aus. Mit seinen schweren und dank chronischer Bewegungsunlust gut gepolsterten Knochen wirkte er vor dem zwergenhaften Kind wie ein Bär.

»Sag Dankeschön«, forderte Mairead, um das Mädchen zu belehren, also weniger zu seiner Wertschätzung.

»Dankeschön«, wiederholte Clare stoisch wie ein Papagei.

Das ausgehungert wirkende Kind ließ sich nicht zweimal bitten und verschlang den Riegel mit wenigen Bissen, sodass ihre Wangen aussahen wie die einer Rennmaus beim Futtersammeln. Die Milch gluckerte geräuschvoll den Rachen hinunter, während die beiden Erwachsenen ergriffen zuschauten, als könne sie ihnen wegsterben.

Mairead steckte die Hand in ihre Jackentasche, um die Pistole zu befühlen, die Roy ihr gegeben hatte. Sie packte sie fest. Das kühle, glatte Metall erinnerte sie nun an ihre Schutzpflicht im Gegensatz zu einer Waffe, mit der man sich gegenseitig bekämpfte. Da jetzt auch das Leben eines Kindes in der Waagschale lag, musste Mairead ihre Prioritäten neu gewichten. Sie hatte den Mann als ihren Gegner, wenn nicht Entführer betrachtet. Mit der Browning war sie ihm ebenbürtig geworden, eventuell gar überlegen, und hätte ihn ohne mit der Wimper zu zucken erschossen. Nun aber, wie sie den vermeintlichen Grobian so aus sich herausgehen und mit der Schülerin herumalbern sah, die er sprichwörtlich in letzter Sekunde vor sich selbst bewahrt hatte, wurde Mairead klar, dass sie zumindest vorläufig beide dasselbe Ziel verfolgten – die Unschuldigen zu verteidigen.

Den Inbegriff der Unschuld.

Wer oder was die neue Bedrohung darstellte, blieb abzuwarten, doch während ihre Hand die vertraute Form der Neun-Millimeter umfasste, wusste Mairead, dass sie bereit war, jeden Tunichtgut unschädlich zu machen, der die Sicherheit ihres Kindes bedrohte.

(»Es hat eine Explosion gegeben, Mrs Burns …«)

eine Explosion.«)

EXPLOSION.«)

Roy unterbrach ihren Gedankengang. »Wie geht‘s ihr?«

»Ganz gut. Sie begreift es wahrscheinlich noch nicht so recht.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich werde ihr ein Feldbett aufstellen lassen, damit sie zur Ruhe kommt. Ist schon nach Mitternacht, also sollten wir uns alle eine Mütze Schlaf genehmigen. Morgen sehen wir weiter.«

Mairead wusste nichts einzuwenden und lächelte Clare zu, die gerade ihr Glas leerte.

Die beiden unverhofften Anführer sahen die Überlebenden in Gruppen zusammenarbeiten, um die Aula möglichst bequem herzurichten. Ein neues Gemeinschaftsgefühl entstand, vielleicht unabhängig von Flaggen, religiös oder politisch gefärbten Wandgemälden. Ein Zusammenschluss fürs Leben und Weiterleben, nicht nur körperlich, sondern auch emotional. Mairead fragte sich, wie realistisch es war, selbst in dieser Situation an eine solche Verbrüderung zu glauben.

»Fertig!« Das Mädchen keuchte und hielt Roy stolz das leere Glas hin.

Als er es nahm und mit kaum einem Wort wegging, kamen ihm Tränen. Mairead war gerührt. Roy Beggs war ihr auch als Mann nicht unähnlich, abgestumpft durch ein hartes Los im Zuge der Troubles und dieses so genannten Konflikts, der sich in seiner Bitterkeit immer wieder selbst bewahrheitet hatte. Wie sie zeigte er üblicherweise keine Gefühle, zerfloss aber dennoch im Angesicht dieses ganz und gar unbescholtenen Kindes, das bereits durch die Hölle gegangen war.

»Bist ein braves Mädchen«, lobte Mairead und umarmte sie.

 

***

 

Roy ging hinaus auf den Spielplatz und schlenderte über den nassen Asphalt, um eine Minute allein zu verschnaufen. Oft litt er unter Klaustrophobie, wenn es irgendwo eng wurde, und das war zweifellos in dem kleinen Saal der Fall. Er brauchte Abstand.

Der Regen hatte in seiner Vehemenz nicht nachgelassen, weshalb Roy den Fahrradunterstand aufsuchte. Von dort aus überblickte er das Aufgebot der PKWs und anderen Fahrzeuge, die überall auf dem Schulgelände und auch unter den Bäumen geparkt waren.

Diese Menschen gehörten nun zu ihm. Sie schauten zu ihm auf und gehorchten, sobald er ihnen irgendetwas auftrug. Dann diese Kleine, Clare. Gott, sie war fast noch ein Baby. Roy Beggs zweifelte normalerweise nicht an sich selbst, doch auf seinen Schultern lastete nun große Verantwortung. Zentnerschwer spürte er sie. Zuinnerst, wie seine Mutter – Gott hab sie selig – es ausgedrückt hatte, wusste er es genau; ja, es konnte einfach nicht sein, dass in Belfast Hubschrauber auf sie warteten. Im Hafen sollten sie weder Schiffe antreffen noch die britischen Streitkräfte – echte Soldaten, Roy, keine verklärten Pappkameraden wie du. Niemand würde die Überlebenden in Scharen zu Wasser aufs Hauptland – GOD SAVE THE QUEEN! – verfrachten, wo noch alles in Butter war. Nein, Roy erkannte, dass nur sie zu den Erwählten gehörten. Verschonte, die sich in überschaubaren Gruppen zusammentaten. Kraft sammelten. Wieder aufbauten, was übrig von dieser übersättigten Welt war.

Während er einmal mehr tief Luft holte, rekapitulierte er diesen Gedanken. Beim Ausatmen fiel ihm eine Bewegung zwischen den Wagen auf. Da erkannte er vage Steve Marshall, einen seiner Schutzbefohlenen.

Der Mann war mit seinem schrottreifen Fiesta, an dem nur noch ein Frontscheinwerfer funktionierte, direkt hinter seinem Landrover hergefahren. Roy erinnerte sich daran, wie die Kiste dem Regenguss getrotzt hatte. Einäugiger Bandit. Steve war ihm vorhin persönlich begegnet, während sie Konserven aus der Kantinenküche zusammengetragen hatten. Seine Gesellschaft war Roy eher unangenehm, was er jedoch auf die Katastrophe zurückführte, um nicht auf Steves Charakter zu schließen, denn ehrlich: Mit niemandem von ihnen war heute gut Kirschen essen. Jetzt allerdings saß der Kerl allein in seinem zerbeulten Schlitten, während sich die anderen am Zusammensein hochzogen und einander in der Stunde der Not klaglos unter die Arme griffen.

»Alles okay da hinten?«, rief Roy ihm zu. Er klang wieder dienstbeflissen.

»Bestens, Kumpel«, antwortete Steve mit einem Lächeln, als er den Kopf aus der geöffneten Fahrertür streckte. »Hört wohl nie auf zu pissen, was?«

»Ja, ja«, grummelte Roy ungehalten. »Sieht so aus.«

Es war das erste Mal, dass jemand ihm gegenüber etwas so Banales wie die Witterung ansprach. Smalltalk schickte sich irgendwie nicht mehr, wirkte schlicht unangemessen und sinnentleert. Klar, der Regen schien kein Ende zu finden. Doch die Wolkendecke, dieser graue Wust, war vereinzelt aufgebrochen, um wenige kostbare Sterne preiszugeben. Für Roy stellten sie eine Form von Hoffnung dar, eine Art Rückversicherung. Gott oder welche höhere Instanz auch immer existierte noch und übte Einfluss aus, kümmerte sich noch so weit um sie, dass er Mond und Sterne am Nachthimmel durchblicken ließ.

 

***

 

Steve Marshall hockte hinterm Steuer. Er hatte das Radio eingeschaltet, das jedoch nur dumpf statisches Rauschen zu Gehör brachte und das monotone Trommeln des Regens begleitete. Aufmerksam verfolgte er mit, wie sich Roy Beggs abwandte und seinen behäbigen Leib im Laufschritt über den kurzen Weg vom Unterstand bis zum schwach beleuchteten Schulgebäude wuchtete. Mit dem Zuschlagen der Tür verklang das Plätschern.

Steve lehnte sich zurück und betrachtete den anmutigen Leichnam seiner Frau neben sich. Kirsty. Ihre blonde Locken glänzten auch in diesem schwachen Zwielicht weiter. An ihren seidenweichen Beinen zeichnete sich eine Gänsehaut ab, sehr wahrscheinlich als Reaktion auf die zunehmende Kälte, nun da sich die Sterne allmählich zeigten.

»Ich denke, wir schaffen es«, murmelte er. »Sicher, wir hatten‘s nicht leicht, als du Nicky gekriegt hast und so, aber ich spür‘s irgendwie – alles wird gut.«

Er lächelte und streichelte ihre anhaltend rote Wange.

Sie antwortete nicht, sondern starrte wie im Wachtraum nach oben.

Genau dies hatte Steve an ihr geliebt – und gleichermaßen gefürchtet. Diese Schlafzimmeraugen, die den Himmel versprachen und sie von allen Frauen abhob, die ihm je begegnet waren. Sie verhalfen Kirsty zu einer geheimnisvollen Aura und machten sie noch hübscher.

Sie mutete wie ein Engel oder anderes Wesen an, das nicht von dieser Welt stammte. Eine Gesandte, die ihn bezirzen, lieben und letztendlich auch verlassen sollte. Kein einzelner Mann war dazu in der Lage, ein Geschöpf wie sie dauerhaft an sich zu binden. Obwohl er das wusste, klammerte er sich auch jetzt noch an sie. Er liebte sie und hielt an ihr fest. Auch wenn sie tot war.

Steve streckte sich zum Rücksitz seines durchgerittenen Fiestas aus und hob das kleine, sorgfältig gewickelte Bündel hoch. Nachdem er die Decken umgeschlagen hatte, starrte ihn das tote Kind an.

»Wach auf, Nicky«, wisperte er. »Komm schon, Sohn.«