SECHS
Während die Tropfen gegen das Fenster prasselten, lehnte sich Herb auf dem Stuhl zurück und hörte zu, was die Stimme aus dem Amateurfunkgerät ihm zu sagen hatte. Dabei kullerte ihm eine Träne aus dem Auge, die er, nachdem er die Brille abgenommen hatte, mit einem Taschentuch – perfekt gebügelt noch von Muriel – abwischte. Dann setzte er das Gestell wieder auf die Nasenspitze. Der Sprecher erzählte ihm in seiner Muttersprache, dass die Welt seit jenem fatalen Sonntag vor einigen Wochen nicht mehr dieselbe war. Dabei klang er so verständlich und sachlich, dass Herb kurz glaubte, einem schlechten Scherz aufzusitzen. Schließlich erstarb die Stimme, und das alte Brummen kehrte wieder zurück.
Herb blieb reglos sitzen und ließ sich alles, was er vernommen hatte, noch einmal durch den Kopf gehen. Doch, es ergab Sinn. Die Straßenbeleuchtung im ländlichen Ballyclare funktionierte nicht mehr, im Fernsehen lief kein Programm, der Postbote blieb aus, niemand draußen schlug Lärm oder ließ sich überhaupt blicken. Die Welt war tot, und abgesehen von Herb hätte dies niemanden zum Zweifeln angeregt.
Er griff zum Mikrofon. »Ich fragte Sie nach Ihrem Namen, Sir. Ich glaube nicht, dass Sie ihn schon genannt haben.«
Krrr. »Terry. Ich heiße Terry, und Sie, Professor Matthews, sind der erste Ire, den ich per Funk erreiche.«
»Wo halten Sie sich auf, Terry?«
Krrr. »Wir befinden uns auf einem kleinen Flugplatz außerhalb von Manchester.« Krrr.
»Sie sagen ›wir‹, Terry. Wie viele?«
Krrr. »Zehn insgesamt, darunter Piloten und Ärzte. Ist bei Ihnen auch noch jemand, Professor?« Krrr.
Herb drehte sich langsam zum Sessel hinter ihm um. Muriel trug immer noch ihre besten Schuhe, die Herb ihr vor Wochen angezogen hatte. Vielleicht lag es daran, dass er jetzt mit einem lebenden Menschen zu tun hatte; jedenfalls betrachtete er sie in einem anderen Licht. Er verstand nicht, weshalb einem so gescheiten Mann wie ihm entgangen war, dass sie dem Anblick einer gewöhnlichen Leiche nicht gerecht wurde. Gut, Herb hatte ohnehin jahrelang kaum jemanden gesehen, ob tot oder lebendig. Der Schock, Muriel so vorgefunden zu haben, saß weiterhin tief, weshalb er mutmaßte, er sei bisher nicht dazu in der Lage gewesen, großartig darüber nachzudenken, seit er an jenem Sonntag aus dem Bett gekrochen war.
Krrr. »Professor?« Krrr.
Herb antwortete nicht, sondern stand auf, wobei er sich am Schreibtischstuhl abstützen musste. Dann trat er zu dem zweiten Sessel neben Muriel. Ihre Augen fixierten den Bildschirm gegenüber wie ehedem, obwohl er längst nichts mehr ausstrahlte. Er hockte sich auf die Lehne und nahm die Brille ab, als wolle er sie küssen. Stattdessen fuhr er ihr mit einem Finger durchs Gesicht und stellte fest, wie weich ihre Haut geblieben war. Mit der anderen Hand streichelte er ihren Schopf. Mit seinen schwachen Augen konnte er die Farbe nicht sicher bestimmen, aber die Haare wirkten dunkler als in seiner Erinnerung. Hatte Muriel sie in letzter Zeit etwa gefärbt, ohne dass es ihm aufgefallen war? Nachdem er wieder aufgestanden war, trat er einen Schritt zurück und betrachtete sie im Licht, das durch die nach der Straße ausgerichtete Scheibe schimmerte. Gleich fiel ihm ein uraltes Foto am Kaminsims auf, das Muriel während ihrer Flitterwochen am Hafen in Blackpool zeigte. Herb nahm es in die Hand und verglich das Bild mit der Frau, die vor ihm saß. Sie hatte ihm immer gefallen, doch damals war sie schlicht umwerfend gewesen. Auf dem Schnappschuss umrahmte das dunkle, lange Haar ihr herzförmiges Gesicht, und ihre Augen waren so klar, dass Herb glaubte, in ihnen ertrinken zu müssen. Die Lippen leuchteten, wirkten unheimlich lebendig, und er erinnerte sich daran, wie er sie zum ersten Mal geküsst hatte.
Dann blickte er wieder zum Sessel hinüber und erkannte, dass die Muriel dort der auf diesem dreißig Jahre alten Foto stark ähnelte.
Krrr. »Professor? Sind Sie noch da? Ich fragte, ob noch jemand bei Ihnen ist.« Krrr.
Herb kehrte schwerfällig zum Schreibtisch zurück und legte eine zittrige Hand um das Mikrofon. Das Bild hielt er weiterhin in der anderen.
»Meine Frau Muriel«, sprach er. Seine Fassungslosigkeit wurde hörbar. »Sie … ist auch gestorben, aber ich … ich brachte es nicht fertig, sie zu begraben.«
Herb stockte einen Augenblick lang, um seine Tränen herunterzuschlucken. Der peitschende Regen an den Fenstern kam ihm mit einem Mal unwirklich vor.
»Terry, ich glaube, mit ihr stimmt irgendetwas nicht.«
***
Auch gegen die Scheiben der Kantine klatschte der Regen. Aida bot sich nur ein verschleierter Ausblick, wofür sie jedoch dankbar war. Genau wusste sie nicht, weshalb sich niemand anders unter den Anwesenden darüber ereiferte, was sie sahen. Jedenfalls beschäftigten sich die, die zu spät zum Abendessen gekommen waren, stumm mit ihren Tellern. Sylvia Patterson und Peter Stokenbergs lachten und witzelten, flirteten gar gemeinsam beim Spülen nebenan in der Küche. Aida indes konnte nicht ignorieren, was sich draußen abspielte. Es wirkte vertraut und ging ihr allzu nahe.
Roy Beggs stand mit seinen Handlangern Steele und McElroy vor einem vierten Mann auf dem Fußballplatz. Der kniete sichtlich wütend und gleichermaßen ängstlich in ihrer Mitte. Jeder der drei Selbstgerechten trug eine Waffe. Roy hatte sich sein Gewehr um die Schulter gehängt, während er einen Zettel verlas. Er musste gegen den Regen anbrüllen, und Aida verstand die Worte nicht. Es schien eine Erklärung zu sein, gewissermaßen zur Legitimierung eines wie auch immer gearteten Richterspruchs. Die anderen im Saal kannten den Mann gut, denn Sylvia selbst hatte ihn früher am Tag beim Stehlen in der Küche erwischt.
Aida sah nun zu, wie er versuchte, aufzustehen und davonzulaufen, doch McElroy reagierte schnell und stellte ihm ein Bein, ehe er ihm den Gewehrkolben gegen den Kopf rammte.
Roy steckte das Papier in die Tasche und quittierte den Fluchtversuch, indem er mit dem Stiefel auf den Liegenden eintrat. Der hielt sich die Arme schützend vors Gesicht, als die beiden anderen es Roy Beggs gleichtaten. Aida war entsetzt über diese Eskalation der Gewalt, die vor Zorn weit aufgerissenen Augen der Männer beim Verhängen ihres Strafmaßes.
Sie hatte solcherlei schon einmal erlebt, nur dass es damals ihr Ehemann gewesen war, den sie durchs Fenster beim Heimkommen von der Arbeit beobachtet hatte. Eine Bande Jugendlicher hatte ihm aufgelauert, rassistische Beleidigungen an den Kopf geworfen und ihn bespuckt, während er – im Versuch, sie zu ignorieren – vorbeigegangen war. Dann war er von einem am Mantel in ihre Mitte gezogen worden, ehe sie sich wie ein Rudel Wölfe geschlossen auf ihn gestürzt hatten.
Damals wie heute war ihr nichts anderes geblieben, als ohnmächtig zuzuschauen.
Endlich hörten sie auf. Roy Beggs zog McElroy fort, um ein letztes Mal selbst zuzutreten. Sie ließen den Verwundeten sehr wahrscheinlich bewusstlos im nassen Gras liegen und kamen durchs Unwetter zurück zum Gebäude. Aida sah, wie McElroy die Hand vor den Mund hielt, um eine Zigarette anzuzünden. Gleichzeitig hörte sie Sylvia in der Küche laut und ungeschlacht lachen, während Peter eine heitere Story zum Besten gab.
Das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun, dachte sie.
***
Tim hockte in der Ecke und ließ den Blick durchs Hotelzimmer schweifen. Es regnete, und die Gardine war bis auf einen schmalen Spalt zwischen Fensterrahmen und Wand geschlossen. Er schauderte, als eine Bö ein paar Tropfen hereinwehte. Die Haare auf seiner nackten Haut stellten sich vermutlich sowohl der nächtlichen Kälte wegen als auch vor Scham auf, da er seinen schlaffen, unbrauchbaren Penis wie ein kleiner Junge mit feuchten Händen festhielt.
»Ist nicht schlimm«, sagte Caz vom Bett in der Mitte des Raumes aus.
Die Bemerkung klang abgedroschen, das wusste sie. Auch für sie war es ehrlich gesagt das erste Mal, und deshalb fühlte sie sich auch keinesfalls weniger befangen als Tim. Ihr war klar, dass es nicht so ablaufen würde, wie man es im Kino oder Fernsehen geboten bekam. Vieles hatte sie in Zeitschriften gelesen, wobei sie schrittweise von den 14-tägigen Aufklärungs-Features in Teenie-Magazinen abgekommen war, um sich der Cosmopolitan und ihren realistischeren Ausführungen über die Unwägbarkeiten zwischen Männlein und Weiblein zu widmen. Ihre Enttäuschung konnte sie trotz alledem dennoch nicht leicht verbergen.
Tim schwieg. Von Caz‘ Blickwinkel aus wirkte er im matten Licht zu fortgeschrittener Stunde beinahe wie ein Geist. Sein langer, schmaler Rücken ging in einen abgeknickten Hals über, da er den Kopf in die Zimmerecke hängen ließ. So sah es aus, als hätte ihn jemand dorthin verwiesen, weil er unartig gewesen war. Hätte er nicht leicht, aber ununterbrochen gezittert, wäre er auch als Toter durchgegangen. Der Regen benetzte ihn weiterhin, und die Tropfen muteten auf seiner makellos weißen Haut wie Edelsteinchen an. Auf diese Weise kam er Caz hübscher denn je vor.
Gern hätte sie ihm das gestanden, bloß fand sie die angemessenen Worte dazu nicht.
»Tim«, rief sie.
Er hörte sie gar nicht. Schwärze senkte sich über sein Haupt, wie die Schatten, die ihn bedrängt hatten, wann immer sein Vater nachts zu ihm gekommen war. Wie ein düsteres Gebirge hatte er sich vor dem Bett aufgebaut, und jetzt roch Tim den gleichen üblen Whiskey wie damals. Der Gestank driftete mit der Brise herein, die die Gardine sanft gegen seinen Rücken schlagen ließ. So erinnerte er sich an seine erste sexuelle Erfahrung während jener Nacht, der noch viel zu viele folgen sollten. Er hatte zu schlafen vorgegeben, um den zartbitteren Liebkosungen zu entgehen. Wieder hörte er seinen Vater keuchen und sich entschuldigen für etwas, das Tim nicht begriff, ein Heulen im Winde der finsteren Nacht. Er zog die Knie noch weiter an, da er sich mit einem Mal noch nackter und schutzloser vorkam.
Sie hatten der Feierlichkeit wegen eine Kerze angezündet, um Caz‘ 17. Geburtstag – eine Lüge, denn sie war immer noch 16 – zu etwas Besonderem zu machen. Das Licht behauptete sich tapfer gegen die klamme Nachtluft, erlosch aber schließlich dennoch. Dunkelheit und Stille wurden plötzlich unerträglich. Den Raum hatten sie gerade wegen der üppig verzierten Bettpfosten ausgesucht, doch nun stand Caz auf und trippelte zu Tim hinüber. Nachdem sie ihm die Decke übergeworfen hatte, kuschelte sie sich mit ihm darunter ein.
Die Berührung tat gut.
»Ich will wissen, was du empfindest, Tim.«
»Ich weiß … aber es ist … kompliziert.«
»Alles ist jetzt kompliziert, Tim. Für jeden von uns.«
Kaum hatte sie es ausgesprochen, wollte sie es ungeschehen machen, und wie zur Bestätigung bemerkte sie, dass er sich entzog. Sie ließ es jedoch nicht geschehen und drückte ihn wieder an sich in der Hoffnung, ihn diesmal endgültig von dort fernzuhalten, wo er sich versteckte, wann immer sie seine Nähe suchte. Es war, als könne sie verhindern, dass er dahinfloss, wenn sie ihn nur fest genug drückte, wie um ihre Verbindung wasserdicht zu machen.
»Das alles … ist schon so lange her. Ich will nicht darüber reden.«
Als er stockte, dachte sie, er müsse sich zusammenreißen, um seine aufgestauten Tränen zurückzuhalten.
»Ich brauche vielleicht … na ja, du weiß schon … ein bisschen mehr Zeit, bis wir weitermachen können mit … dem von vorhin.«
Sie strich ihm zärtlich übers Haar, hätte aber jederzeit von ihm abgelassen, sobald er eine Abwehrhaltung gezeigt hätte. Das geschah nicht; stattdessen neigte er ihr den Kopf langsam zu.
Auch diese Berührung tat gut.
»Ich brauche … wohl eher das.«
»Ich weiß«, wisperte sie. »Mir geht es genauso.«
Sie hatte es allein deshalb so eilig vom Zaun gebrochen, weil sie glaubte, sie stünde unter einer Art Zugzwang. Sie war der Ansicht, mit sechzehn den Schritt vom Kind zur Frau vollziehen zu müssen und den stereotypen Weg zu gehen, den jeder Mädchenfilm übers Erwachsenwerden beschrieb. Deshalb hatte sie sogar gelogen, was ihr nun zutiefst peinlich war. Gesellschaftlichem Druck aufzusitzen, wo es keine Gesellschaft mehr gab – wie konnte sie nur so dämlich sein?
»Wir haben alle Zeit der Welt«, beschwichtigte sie. »Was könnten wir sonst tun, außer sie gemeinsam zu verbringen?«
Tim schaute sich um und zeigte ihr sein Gesicht damit zum ersten Mal seit über einer Stunde. Aus der Nähe wirkte er im Schatten noch mehr wie ein Engel auf sie. Ein paar Sommersprossen hoben sich von der hellen Haut ab, und der Bartflaum ließ ihn reifer aussehen, als er es mit sechzehn war. Seine hellblauen Augen glänzten wie Perlen. Er war so unschuldig und verwundbar, wie ein offenes Buch, die Anmut in Vollendung.
»Ich … liebe dich, Caroline«, kam es ihm unverhofft über die Lippen, gleichsam laut wie zärtlich, genauso wie Wind und Regen vor dem Fenster.
Blitzartig wurde es Caz heiß. So stellte sie sich den Orgasmus vor. Einen richtigen beim Sex und nicht vom Masturbieren, eine plötzliche Euphorie und alles verzehrende Hitze. Der Beweis dafür, dass alles miteinander verbunden und vollendet war, zumindest für den Moment.
Dann fasste sie sich in den Nacken und nahm behutsam die Kette mit dem silbernen Kreuzanhänger ab. Langsam wandte sie sich Tim zu, um sie ihm um den Hals zu legen.
»Hab ich von meiner Mum«, bemerkte sie, »hat aber nichts mit Religion oder so zu tun. Sie rief sich damit nur immer wieder ins Gedächtnis, dass es weitergehen muss, auch wenn es eher trübe aussieht.«
Tim betrachtete den kleinen Jesus am Kreuz und fuhr mit dem Finger über den Silbertorso. Dabei verlor er sich anscheinend im Gefühlsstrudel, den das Bildnis aufwühlte.
Schließlich wandte er sich wieder Caz zu und lächelte bemüht. »Glaube, Liebe, Hoffnung …«, flüsterte er. Die Worte galten ihnen beiden.
Kurz blieb es still zwischen ihnen. Tims Pupillen schimmerten im fahlen Mondlicht. Regen, Schmerz und Glück gleichermaßen spiegelten sich darin. Der Wind spielte mit seinen Haaren, und einige Strähnen verfingen sich in seinem neuen Schmuckstück am Hals. Der silberne Heiland ruhte auf seiner Brust. Tim beugte sich vor, da erwartete sie, er wolle sie küssen.
Doch dann hörten sie eine Explosion.