VIER
Sean schaffte es nicht, sich aufzuraffen und das Haus zu verlassen. Dies war nicht die Gewissheit, die er sich gewünscht hatte. Der Ort war lange Gegenstand seiner Träume gewesen, und was er Sharon sagen wollte, wenn sie die Tür öffnete, hatte er sich im Kopf zurechtgelegt. Jetzt aber hockte er hier in ihrer Küche und starrte sie an. Tot. Wie alle anderen. Was immer alle anderen hinweggerafft hatte, Tabletten waren es nicht.
Für Sean wäre es tröstlicher gewesen, hätte sie den gleichen Tod wie die Übrigen gefunden. Ohne ersichtlichen Grund. Unvermeidbar. Völlig willkürlich. Aber so, wieder wegen dieser …
Ein Geräusch. Die Haustür knarrte. War sie nicht geschlossen? Hatte er sie nicht hinter sich zugemacht, als er hereingekommen war? Vielleicht war es bloß der Wind. Oder eine Katze. Besaß Sharon eine? Da. Da war es wieder. Der Krach. Schritte. Jemand anders hatte das Haus betreten und kam zur Küche.
Vorsichtig erhob sich Sean vom Stuhl. Er hatte Angst, weil er faktisch eingebrochen war. Machte sich Sorge, dass man ihn fand.
Er griff ruhig nach dem Nudelholz auf dem Abtropfbrett. Während sich der unerwartete Gast durch den Flur näherte, hielt sich Sean mit seiner notdürftigen Waffe bereit, indem er sich so unauffällig wie möglich hinterm Kühlschrank seiner Exfrau versteckte. Die Tür ging langsam auf, offenbarte ein triefnasses, aber bekanntes Gesicht. Sean erkannte den Kerl vom Foto wieder. Der einzige Unterschied bestand darin, dass er weit grämlicher aussah. Dass er seinen Namen nicht kannte, störte Sean plötzlich. Jedenfalls klebte sein vormals perfekt gestyltes Haar nun vor kaltem, übelriechenden Schweiß an der faltigen Stirn. Er war bleich, als sei er gerade aus einem Spukschloss zurückgekehrt, wobei seine Augen aus ihren überspannten Höhlen getreten waren. Die Pupillen glänzten feucht, ein kruder Ausdruck von Furcht und Verlust.
Er war kaum eingetreten, als er die ausgestreckte Leiche am Küchenboden sah.
»Sharon«, schnaufte er matt. »Oh … mein Gott … Sharon …«
Sean las aus den Augen des anderen, dass er ähnlich empfand.
Sharon …
Schon jetzt vermisste er alles, was mit ihr zusammenhing. Seine knappen Anrufe vom Sender aus. Die unzähligen Nächte, in denen er sie mutterseelenallein zu Hause gelassen hatte, um sich in einem beliebigen Club wie ein Twen aufzuspielen. Sean wünschte sich, erneut über jede dieser verschwendeten Sekunden zu verfügen. Er hasste die aufgebrauchte Zeit. Verplempert. Weggeworfen.
Indem er seine Tränen ungewollt laut hinunterschluckte, entlarvte er sich. Der andere hörte es und fuhr herum. Seine traurige Miene verzerrte sich.
»Bastard!«, brüllte er. Aus solch vornehmem Munde hatte Sean den Ausdruck vermutlich noch nie vernommen.
Mit flammenden Rachegelüsten in den Augen stürzte er sich auf den DJ. Die allgegenwärtige DAS-ENDE-DER-WELT-Sache trieb Sharons Macker offensichtlich zum Äußersten.
Der Mann, mit dem sie den Großteil der letzten fünf Jahre ihr Haus – und Bett – geteilt hatte, sah gebrochen aus, wobei der Anblick seiner toten Freundin in der Küche nur ein weiteres Schreckensbild unter vielen darstellte, die ihm bislang vor die Augen gekommen sein mochten. Sean war sich nicht sicher, ob der Kerl ihn schon einmal gesehen hatte und wusste, wer er war, ob er ahnte, dass er dereinst dazu in der Lage gewesen war, seine Liebhaberin glücklich zu machen?
Zu befriedigen …
Die Vehemenz zumindest, mit der er seinen Hals zudrückte, deutete zweifelsfrei darauf hin.
Sean versetzte ihm nur einen schwachen Schlag, zog an seiner klamm-glitschigen Tolle und rammte ihm die freie Hand ins Gesicht, was den manischen Angreifer kaum zu beeindrucken schien. Er fühlte es bestimmt nicht, so aufgebracht war er. Ein Schwall unverständlicher Obszönitäten ergoss sich fortwährend über Sean, der die Worte umso weniger deutlich wahrnahm, da sie wie im Traum verklangen. Er merkte, dass er selbst immer lascher zupackte. Sein Hals war ausgetrocknet, und er bekam keine Luft mehr. Der anhaltende Druck betäubte ihn allmählich. Er konnte weder atmen noch sich bewegen oder den Hurensohn abschütteln.
Das war‘s, Seany-Boy: Sag deiner toten Frau Lebewohl.
Der Raum wurde noch dunkler und drehte sich. Das Plärren des Mannes verhallte, schwoll wieder an.
Exfrau, Sean. Vergiss das EX nicht.
Langsam, aber unvermeidlich zog das Leben an seinen Augen vorüber. Die Sicht verschwamm, Sterne funkelten und tanzten um ihn herum. Seine Lungen kapitulierten vor dem Würgegriff des Mannes. Sean spürte die Bedrängnis in seiner Brust; die Jahre exzessiven Alkoholkonsums töteten ihn allem Anschein nach einen Tick schneller und rascher.
Dann der Ruck. Ein unvermittelter, allumfassender Stopp. Als hätte jemand auf Pause gedrückt, versiegten die Schimpfwörter und der Speichel, der ihm ins Gesicht gespritzt war. Der Griff lockerte sich, die Augen seines Gegenübers blickten starr und erschrocken drein.
Noch ein Ruck. Dann ein weiterer.
Sean nutzte die Chance und trat mit der Kraft der Verzweiflung aus. Der andere fiel neben Sharon auf den Boden und sackte sofort über ihm zusammen. Er spuckte und hustete, um wieder zu Atem zu kommen.
Als sein Blick allmählich aufklarte und der Anflug von Ohnmacht verschwand, wurde Sean schwindlig. Im Profil erkannte er einen jungen Mann, der mit einem blutigen Küchenmesser über ihm stand.
***
Roy stieg aus dem Landrover und bedeutete den anderen Autofahrern, sie sollten sich hinter ihn stellen und warten. Dann kramte er einen Regenmantel unterm Sitz hervor und zog ihn an. Gegen den unbarmherzigen Wolkenbruch kämpfte er sich ans Tor zum Schulgelände, weil er den Ort abklopfen wollte, ehe der Rest des Trosses hineinströmte. Nachdem er den Riegel hochgeklappt und das Gatter geöffnet hatte, nahm er die wenigen Meter über den Spielplatz bis zum Eingang im lockeren Trab, doch sein beträchtlicher Bierbauch bedingte, dass er selbst auf solch kurze Distanz hin außer Atem geriet.
Die Türen war verschlossen, da konnte Roy noch so fest rütteln. Also galt es, einen anderen Weg zu finden. Indem er die Augen gegen das Wasser zusammenkniff, zog er seine Taschenlampe und knipste sie an. Er musste nach hinten gehen, was ihn die Scheinwerfer seines Wagens erleichterten.
So watete der plumpe Soldat vorsichtig um die Schule herum, während er den Pfad zusätzlich mit seiner Lampe ausleuchtete. Falls die Hintertür nicht aufging – warum sollte überhaupt eine Tür einer Schule sonntags um Mitternacht geöffnet sein? –, musste er ein Fenster einschlagen. Tatsächlich – verschlossen wie erwartet.
Während Roy den Mauern entlang zurück nach vorn folgte, suchte er nach einer günstigerweise niedrigen Scheibe. Dass diese dann bereits zerbrochen war, hätte er nicht erwartet.
Jemand war ihnen zuvorgekommen.
***
Er öffnete die Beifahrertür des Landrovers.
»Komm schon. Raus«
Das Wasser platzte ins Auto, als brause es mit offenen Scheiben durch ein Schlammloch. Mairead Burns starrte Roy Beggs halb ungläubig, halb positiv überrascht an.
»Haben Sie nicht gesagt, ich solle hierbleiben?«, fragte sie laut gegen den Sturm an.
Roy lachte. »Glaubst du, ich lass dich ruhigen Gewissens allein hier?« Er drückte den Türflügel ein Stück weiter auf und trat zur Seite, um ihr Platz zu machen. »Sieh‘s so, Provo: Ich hab meine Meinung geändert, also raus jetzt. Ich will dich dort haben, wo ich dich sehen kann.«
Mairead hüpfte mit der Jacke im Arm heraus. Wutschnaubend beobachtete sie, wie Roy nach hinten ging und im Laderaum kramte. Er schien sich alle Zeit der Welt zu nehmen, um den angehäuften Krempel zu durchstöbern. Sie zog die Jacke an, während der Regen ungerührt weiter niederprasselte. Mairead wurde ungeduldig. Obendrein bekam sie Angst. Hatte er vor, sie zu erschießen? Zum Teil war ihr das eigentlich vollkommen egal, doch andererseits: Ihre Kämpferseele, das Rebellenherz in ihr heckte bereits Fluchtpläne aus.
»Beweg dich.« Roy zeigte auf das Gebäude und den Spielplatz hinter dem Schulhof. Er blieb dicht hinter ihr, als sie durchs Gatter ging, wobei sie seinen Blick im Nacken spürte. Sie staksten durch die plätschernden Pfützen bis zum Vordereingang.
Roy zeigte Mairead das zersplitterte Fenster.
»Hör zu«, sprach er bewusst leise. »Ich weiß, dass wir beiden Hübschen nicht heiraten werden … im Leben nicht, nein. Wir sind uns aber doch ein bisschen ähnlich.«
Mairead erwiderte seinen Blick stutzig. »Sagen Sie, wo soll das hinführen?« Beklommen sah sie zu, wie Roy eine Pistole aus der Tasche zog. »Wir verstehen was vom Fighten«, fuhr er fort. Sein Gesicht nahm einen todernsten Ausdruck an. »Das meinte ich mit ähnlich.«
Mairead lachte. »Sie werden mir doch nicht mit Feindesliebe kommen, oder?«
Dabei fiel ihr Blick wieder auf die Waffe. Es sah eher so aus, als habe er vor, sie zu erschießen statt sie zu umarmen. Eine großspurige Eloge an die Ehre, dann … bumm. Seine Miene vermittelte Aussichtslosigkeit, und zum ersten Mal, seit sie aufeinandergestoßen waren, war Mairead sicher, dass er sich ehrlich zeigte. Das beunruhigte sie.
»Glaub nicht, dass ich keine Ahnung davon hab, wer du bist und was deinesgleichen Leuten wie mir in der Vergangenheit angetan haben«, blaffte er.
Er packte die Kanone fest, und einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er sie auf der Stelle benutzen.
»Aber hier besteht kein Gesetz. Nicht mehr.«
Wenige Sekunden standen sie in gewisser Erwartungshaltung auf dem dunklen, gefluteten Asphalt, derweil die Elemente ihr brutales Schauspiel fortführten. Roy klammerte sich weiterhin an seine Waffe, und Maireads Blick haftete wie gebannt daran.
Nach allem, was gesagt worden war, wirkte es ironisch, dass sie ausgerechnet an diesem Ort aufeinandertrafen – einem Spielplatz. Ihre politischen Dogmen, die Voreingenommenheit. Richtlinien und Dogmen. Alles Spielerei. Alles jetzt irrelevant, da die Welt aus den Fugen geraten war. Ohne Gesellschaft keine sozialen Strukturen, keine Konformität. Keine Politik oder Abgrenzung. Nur dieses Fenster, diese Schule und eine Schar verängstigter Menschen, die geduckt in ihren Autos auf Hilfe warteten. Ein Mann mit Pistole vor einer Frau. Schießen oder nicht.
Roy war es, der das Patt brach.
»Gott allein weiß, wer oder was dort drin auf uns wartet«, begann er, indem er Mairead eindringlich anschaute. »Jedenfalls sind wir nicht allein, und ich will Rückendeckung, wenn ich einsteige.«
Mairead starrte ebenso bewusst zurück, um herauszufinden, ob er heuchelte. Sein kantiges, jedoch nicht einmal unansehnliches Gesicht war wegen des Regens unwillig verzogen. Das Wasser hatte seinen ohnehin dichten Schnurrbart aufgebauscht.
Sie griff nach der Waffe, doch Roy gab sie nicht frei.
»Soll ich dir vertrauen, Provo?«
Mairead blickte zornig drein und umfasste entschlossen den Lauf. Vorübergehend schien es, als kämpften die zwei darum. Früher einmal hätten sie es mit ziemlicher Gewissheit getan.
»Vertrau mir«, duzte Mairead ihn endlich.
Es war keine Lüge, denn sie brauchten einander. Das war ihnen beiden bewusst, auch wenn sie ihn so sehr hasste wie er sie. Fuck, die Art und Weise, wie er mit ihr umsprang, deutete an, dass sie ihm nicht mehr bedeutete als Scheiße unter der Sohle. Der Friede zwischen ihnen sollte nicht ewig währen, war aber im Moment notwendig.
Roy Beggs ließ locker, sodass sie die Neun-Millimeter nehmen konnte. Während er den Blick nicht abwendete, löste Mairead das Magazin und ging sicher, dass noch alle dreizehn Patronen drinsteckten. Nachdem sie es wieder hineingeschoben hatte, lud sie durch und nickte ihm zu. Diese Bewegungen vollzog sie derart fließend und abgeklärt, dass es ihn nur verunsichern konnte. Sollte.
Sie nahm an, Beggs verfluche sich insgeheim bereits dafür, ihr die Waffe ausgehändigt zu haben.
Später würde er es definitiv tun.
***
Ihr kompakter, stämmiger Körper quetschte sich durch den Rahmen, wobei Roy ihr half, ehe sie drinnen auf den Fliesen lag. Sie war in einem dunklen Raum gelandet, an dessen Lichtverhältnisse sich ihre Augen erst gewöhnen mussten. Viel konnte Mairead daraufhin immer noch nicht erkennen, die Wände und einen Türweg, aber kaum mehr. Trotzdem schlussfolgerte sie rasch, dass sie wohl in einer Umkleide war. Der Geruch verriet es.
Schweißsocken.
Er versetzte sie einige Jahre zurück in die Zeit, als ihr Sohn Pat das Kindsein hinter sich gelassen und angefangen hatte, sich mehr als nur das Gesicht zu waschen, häufiger zu kämmen und Interesse für die aktuelle Turnschuhmode zu hegen. Kurz darauf war er von der Schule gegangen, mit den falschen Leuten zusammengekommen und häufiger mit der Polizei aneinandergeraten, als es seiner Mutter lieb gewesen war.
Und dann hatte er sich in die Luft gesprengt.
Mairead schlug sich den Gedanken aus dem Kopf, drängte ihn gemeinsam mit ihrem toten Mann in eine Nische für unerledigte Seelenarbeit. Als Schublade wäre die mit »kurz betrauert« beschriftet gewesen, soweit jemand Zeit gefunden hätte, ein solches Schild anzubringen. Die Ereignisse hatten sich jedoch überschlagen, weshalb sie nicht dazu gekommen war. So schwammen die Erinnerungen wie Treibgut in ihrem aufgewühlten Geist herum. Allesamt unverarbeitet, und sie fühlte sich fast überwältigt von dem Chaos, das sie umgab, wiewohl sie gegen den Taumel ankämpfte. Zum ersten Mal nun war sie allein, was unter den gegebenen Umständen nichts Gutes für die Zukunft versprach.
Mairead musste ihren Fokus wiedererlangen, sich konzentrieren.
Sie schaltete die Taschenlampe ein, die Roy ihr gegeben hatte, und bewegte sich langsam auf den Ausgang der Kabine zu. Sie schob sich mit dem Rücken an der Wand entlang und hielt das Licht schließlich mit einer Hand fest, um sich nach der Tür auszustrecken. Das Knarren beim Aufziehen ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Sie hielt die Luft an und lauschte, ob man sie bemerkt hatte.
Niemand. Nichts.
(Das neue Etwas.)
Geduckt schlich sie sich über den Hauptflur der Schule. Bis zum Hintereingang, wo sie sich mit Roy treffen wollte, war es nicht weit. Sie erreichte die Tür, fest verschlossen und augenscheinlich extrem robust, doch der Schlüssel steckte. Ein achtloser Hausmeister, der mittlerweile wohl nicht mehr lebte, hatte ihn nicht abgezogen. Leise und mühelos schob Mairead den Riegel zurück und sperrte auf, bevor sie Roy Beggs hereinließ. Begossen und irgendwie gedankenversunken sah er aus. Mehr als ein Nicken schenkte er ihr nicht, als er die Tür geräuschlos hinter sich zuzog.
Auf dem Weg über den Flur schauten sie hinter jeder Tür nach eventuellen Lebens- oder Todeszeichen nach. Sonntags herrschte in den Klassen, die normalerweise voller plärrender Kinder waren, gähnende Leere. Jeder Stuhl stand ordentlich auf dem jeweiligen Pult, damit die Putzkraft frei walten konnte, was sie offensichtlich seit Freitag nicht getan hatte, denn im sporadischen Licht glitzerten am Boden Schnipsel vom nachmittäglichen Kunstunterricht. Niemand hatte die Tische abgewischt, und ein leichter Dunstschleier hing in der abgestandenen Luft. Miss Evelyn Johnston, die zuständige Raumpflegerin, die nun tot in ihrem Bett lag, hatte ihre Arbeitsphilosophie bis zuletzt praktiziert: Streng dich so wenig wie nötig an, damit du knapp damit durchkommst. Sie hatte sich nicht einmal angestrengt, wach zu werden, um zu sterben.
Ein plötzliches Geräusch. Etwas fiel oder klopfte auf eine Tischplatte, weshalb das ungleiche Paar erstarrte.
Roy zog die zweite Browning, die er für sich mitgenommen hatte, und erwartete einen Angriff. Er warf Mairead einen Blick zu.
Die zuckte mit den Schultern, womit sie ihm zu verstehen gab, es zum ersten Mal gehört zu haben. Auf dem Weg zurück über den Flur übernahm er die Führung.
Hinter ihm fiel ihr ein, wie einfach sie ihm in den Rücken schießen konnte, falls sie es wollte.
Schon wieder das Geräusch.
Roy drehte sich um und strengte die Augen im Dunkeln an. Gut, die Frau hielt sich wenige Fuß hinter ihm mit der Pistole bereit. Sie unterdrückte ein Lächeln, wohl weil sie ahnte, dass ihm gehörig die Klammer ging. Ein Steckbrief wie ihrer musste ihm Angst einjagen und hätte im Herzen von West Belfast vor Jahren noch seinen sicheren Tod bedeutet.
Zum dritten Mal pochte es. Diesmal lauter.
Eine Klassenzimmertür öffnete sich langsam, nahezu einladend. Roy beobachtete das Schwingen, zögerte kurz und schaute erneut zu Mairead zurück. Sie schüttelte den Kopf zur Antwort. Die Furcht, die sie seinem Blick entnahm, empfand auch sie.
Roy gab ihr zu verstehen, dass er hineingehen wollte. Sie nickte ihr Okay und rechnete damit, ihn decken zu müssen.
Diesmal noch.
Die Tür schwang in einem leichten Zugwind von wo auch immer hin und her. Der heftige Regen schien ihr Quietschen zu übertönen, nicht aber das vierte Wummern, das die beiden Eindringlinge hörten. Es klang wie ein nervöses Klopfen auf Holz, ein unruhiger Puls auf dem ansonsten stillen und leeren Flur. Kein Bild, kein Foto und kein Pokal an den Wänden war im Dunklen erkennbar. Roy glaubte sicher, dass sie ihren Pappenheimer gefunden hatten, und Mairead hob die Pistole, als stimme sie zu.
Als er mit der Waffe im Anschlag durch die Tür preschte, blieb sie ihm dicht auf den Fersen. Dann seine Stimme, bissig und überschäumend vor Bosheit:
»Auf den Boden, verdammt! Sofort!«
Sie sprang ihm zur Seite und sah, dass er versucht war, abzudrücken, nur um die Waffe in letzter Sekunde hochzureißen, als wolle er sich ergeben.
Was zum …?
Als schließlich das fahle Mondlicht durch die zurückgezogenen Vorhänge der Klasse schien, erkannte Mairead den Grund für Roys abwegige Kehrtwende: Allein an einem Tisch saß ein verschrecktes kleines Mädchen. Sie klammerte sich an einen Füller, als hinge ihr Leben daran.
Einen Moment lang herrschte Stille. Das Kind hatte zu kritzeln aufgehört.
Dann kreischte es wegen Roys bedrohlichem Äußeren und der Waffe, die er gerade eben noch auf sie gerichtet hatte.
Das unerwartete Geschrei ging ihm an die Leber, wie es ein ebenbürtiger Widersacher nicht vermocht hätte. Mairead sah mit offenem Mund zu, wie der Baum von einem Mann wie ein übergroßer Tollpatsch beinahe über seine eigenen Füße stolperte und dabei die Waffe fallen ließ.
Nachdem sie Lampe und Pistole auf einem Tisch abgelegt hatte, eilte sie zu der verängstigten Kleinen hinüber. Instinktiv wie eine Mutter ohne Ausweg, da man ihr das Teuerste, ihr Kind, wegnehmen wollte.
(»Es hat eine Explosion gegeben, Mrs Burns…«)
Mairead schlang die Arme um den zierlichen Körper. Dann schaute sie Roy noch verabscheuender an, als er es sowieso schon von ihr kannte.
»Gottverdammt noch mal, du wolltest ein Kind erschießen?«
***
Sean setzte sich wieder an den Küchentisch. Nun lagen zwei Leichen vor ihm und so nahe beisammen, dass es fast romantisch aussah, ein Wiedersehen mit Sid und Nancy.
Oder Romeo und fucking Julia.
Als er sprechen wollte, versagte seine Stimme, also schüttete er sich etwas Wasser in ein Glas, das neben einer Karaffe auf dem Tisch stand. Nachdem er es zur Hälfte getrunken hatte, bot er dem anderen Mann den Rest an.
»Fuck«, fluchte der junge Fremde, indem er auf den Mann starrte, den er gerade ermordet hatte. »Ich … das war keine Absicht. Ich wollte Sie von ihm …« Er drehte sich zu Sean um. Verzweifelt rang er nach Worten. »Ich musste es tun!«
Sean stand auf und zog einen zweiten Stuhl zum Tisch. »Schau nicht hin. Hier. Setzt dich kurz.«
Der andere gehorchte, nur um gleich wieder schreckhaft aufzuspringen, da er bemerkte, dass er die Tatwaffe noch in der Hand hielt. Er ließ das Messer zu Boden fallen, als könne es eine schlimme Krankheit übertragen.
»Fuck!«, stieß er erneut hervor.
»Hör mal, der Typ war irre«, behauptete Sean. »Dir blieb keine Wahl, wie du selbst gesagt hast.«
Ihre Blicke trafen sich. Erst jetzt schien der junge Kerl zu begreifen, mit wem er redete und wessen Leben er gerade gerettet hatte.
»Sie sind doch dieser DJ, oder?« Der Schwenk passte irgendwie überhaupt nicht. Er fuhr sich mit einer Hand durchs nasse, strähnige Haar. »Scheiße … ich hab mir Ihre Show regelmäßig reingezogen.«
Sean wollte antworten, als sich der Jungspund wieder besann und einen neuerlichen Klagegesang anstimmte. Während er flennte wie ein Kind mit aufgescheuertem Knie, sah der DJ nur hilflos zu.
»Was … zum Teufel … geht hier vor sich?«
Sean bestand darauf, dass er am Tisch sitzen blieb und suchte im Kühlschrank etwas zu trinken. Zwei kalte Bier. Mehrere Sekunden tranken beide mit zitternden Händen. Sie hatten es nötig.
Sean unterbreitete dem anderen seine ganze Geschichte, jedes Detail von der Minute an, als er Thin Lizzy aufgelegt hatte, bis jetzt. Er erzählte ihm von den ausgefallenen News, der plötzlichen und unmissverständlichen Stille, die hereingebrochen war. Von Wodka und Kaffee, von seinen toten Kollegen und dem Anruf bei seiner Ex. Von der Musik, die er gespielt hatte.
Davon besonders ausgiebig.
Er beschrieb ihm die Leichen, die er auf den Straßen gesehen hatte, und das stille Massensterben, kam schließlich zum Regen und dem Wahnsinnigen, der ihn eben attackiert hatte. Alles musste der Junge wissen, da es ihm zustand, wie Sean glaubte. Verdammt, er sollte einfach alles wissen, sie beide sollten dadurch wieder runterkommen.
Als Sean fertig war, betrachteten sie schweigsam die Toten auf den Fliesen. Es war, als schauten sie fern, Vater und Sohn im trauten Heim während einer Fußballübertragung.
»Wie heißt du überhaupt, so nebenbei?«, fragte Sean, indem er sein Bier abstellte und ihm die Hand hinhielt. »Ist nichts weniger als anständig, meinem Lebensretter die Hand zu schütteln.«
»Barry«, erwiderte er. Sein Haar war dunkel, sein Händedruck eher schlaff. »Barry Rogan.«