ZWEI
Der Landrover fuhr am Rande des heruntergekommenen Wohngebiets im Norden der Stadt vor. Seit jenem fatalen Sonntag hatten die Insassen keinen solch umtriebigen Ort mehr gesehen: Pflaster und Laternenmasten zeigten stolz Flagge in Rot, Weiß und Blau. Wandgemälde mit der Aufforderung: KATHOLIKEN RAUS! stellten eindeutig klar, wer willkommen war und wer nicht. Reihenweise gleich aussehende Häuser, einige mit Mahagoni-Fenstern und -Türen, andere so baufällig, dass sie kaum mehr bewohnbar waren, standen einander gegenüber. Wie den Anliegern dereinst – paranoid und grimmig dreinschauend – haftete den Gebäuden eine Art verwitterter Stolz an, als seien sie bereit, sich ihrer Fundamente zu entheben, um Farben, Mauerbilder und leidlich gepflegte Gärten trotzig durch die Straßen zu wuchten.
Hier zeigte sich Belfast von seiner übelsten Seite. Der Ort war in politischer Hinsicht während der Siebziger aus der Zeit gefallen und stand für alles, was Mairead zuwider war, wiewohl ihr eigenes Haus paradoxerweise kaum anders dagestanden hätte als diese, bloß mit anderem Anstrich. Während sie nun einen neuen Clip in ihr SA80 steckte, schürzte sie die Unterlippe. Es ekelte sie immer noch, obwohl dergleichen überhaupt nichts mehr aussagte, da sich die Welt weitergedreht hatte.
»Sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte sie Barry.
Sie hatten einen der zahlreichen Sozialbauten, die sich in der Siedlung wie Bienenwaben aufreihten, ins Auge gefasst.
Barry steckte Joe die Pistole ins Ohr.
»Au! Hör auf!« Joe schwitzte stark.
»Okay, noch mal zum Mitschreiben, Joey: Du klingelst bei deinen Kumpels und gehst rein.« Gleich die zweite Anweisung betonte er besonders ausdrücklich, als sei Joe ein Kleinkind: »Die Tür. Lässt du. Auf.«
Joe schaute die beiden nacheinander an und nickte. Er hatte eindeutig Schiss, und zwar wortwörtlich, wie ein Fleck im Schritt seiner Turnhose durchblicken ließ. Dank des Leichengases, das der Tod überall in der Stadt verströmte, roch man es jedoch nicht.
»Keine Dummheiten, oder ich knall dich ab wie einen räudigen Köter«, drohte Barry, indem er ihm den Lauf ans Rückgrat drückte.
Mairead schwieg, doch ein Blick in ihre Augen genügte, um eine Ahnung davon zu erhalten, wozu sie bereit war, falls sich Joe einen Fehltritt leistete.
Die Blicke des Jungen hingegen schweiften wie die eines scheuen Tieres umher. Als er ausstieg, sah er sich immer wieder beklommen um. Sie hatten mit etwas Abstand zu dem Haus geparkt, in dem Joe und seine Freunde während der letzten Wochen untergekommen waren. Es war sein eigenes beziehungsweise das seiner Mutter, in dem er mit ihr und seiner Schwester Tracey gewohnt hatte, nachdem diese im vergangenen Jahr aus dem Pflegeheim zurückgekehrt war. Jetzt fungierte es als Männerbude.
Bierdosen und zerbrochene Flaschen lagen auf dem Rasen. Joes Mutter war eine sehr reinliche Frau gewesen, dagegen ließ der hygienische Standard der Jungs stark zu wünschen übrig.
Joe hämmerte gegen die Tür und rief dabei mehrere Namen. Keine Reaktion. Bevor er es wieder versuchte, drehte er sich einmal besorgten Blickes um, doch immer noch machte ihm niemand auf.
Barry und Mairead stiegen langsam aus dem Landrover.
Barry deutete ihm, er solle reingehen.
Als sich Joe an der Tür versuchte, war diese überraschenderweise tatsächlich nicht verriegelt. Die anderen waren also im Haus, denn obwohl kaum Anlass für derlei Sicherheitsmaßnahmen bestand, sperrten sie normalerweise stets ab, wenn sie loszogen. Sie horteten zu viel – in erster Linie Bier beziehungsweise Drogen – und wollten verhindern, dass sich Plünderer an ihrem Raubgut vergingen. Als miese, kleine Beutelschneider verfuhren sie ja keinesfalls anders.
Sie traten in den engen Flur des Ziegelsteinhauses – je zwei Zimmer oben und unten –, als Joe erneut rief: »Sammy! Billy! Bin wieder da! Der Typ ist abgehauen und hat mich freigelassen. Wo steckt ihr?«
Stille. Nein, nicht ganz.
Von oben hörte man ein eigentümliches Geräusch, als schmatze und schniefe jemand beim Essen. Joe nahm an, es handle sich um einen seiner Kumpels.
»Bist du es, Sammy?«
Keine Antwort. Das Haus wirkte sonderbar still, wo die Jungs es normalerweise brummen ließen, wenn sie miteinander feixten und Stuss laberten. Nur wieder dieses Kauen, dann ein leises Wimmern. Um seiner selbst willen hoffte Joe, dass sie es nicht mit dem zu tun hatten, was er ahnte.
»Mackers? Alles klar, Kumpel?«
Falls es sich ergab, entführten sie häufiger Mädchen, die ängstlich allein umherirrten, seit das Volk in den Seilen hing. Schattenvolk. Da Sammy sie knackig mochte, suchten sie nach jungen Teenies und versprachen ihnen Gott und die Welt, falls sie mitkamen. Nahrung, Obdach, Alkohol und Drogen. Alles eben, was das Dasein erleichterte. Was immer sie ruhigstellte, solange die Jungs es wollten, was sie für gewöhnlich mit Betäubungsmitteln in ihren Drinks oder dem Essen erreichten. So wurden sie schläfrig. Gefügig genug, um sie zu vögeln, ohne dass sie sich wehrten.
Manchmal rammelten sie um die Wette, und wer am längsten zum Abspritzen brauchte, musste das Girl hinterher beseitigen, sobald sie genug von ihr hatten. Meistens blieb es an Joe hängen, und das ging ihm gehörig auf den Senkel, denn immerhin trieben sie es in seinem Haus, oder? Okay, es war eigentlich das seiner Ma, aber er wohnte eben auch hier. Als sie und Tracey genauso wie Millionen andere ihr Letztes gegeben hatten, schleifte er ihre Leichen in die Gartenlaube und war so frei, anderen die Tür aufzuhalten. Zählte das denn nichts?
Ein Schaben von oben. Aus dem großen Schlafzimmer.
Vorsichtig wagte Joe den Aufstieg.
»Hört mit dem Quatsch auf, Jungs«, rief er nervös. Er sah Mairead und Barry hinter sich durch die Haustür schleichen.
Die Laute blieben weiterhin vernehmbar.
(Schlurfen? Schnüffeln? Schlemmen?)
Als er sich der Tür im Obergeschoss näherte, beschlich ihn ein furchtbarer Gedanke: Wenn das Mädchen tot im Zimmer lag oder gerade geschlagen und vergewaltigt wurde, wenn sie die Geräusche verursachte, weil sie sich aufbäumte, da sie sie nach dem Fick gefesselt hatten. Keine Chance, dass die beiden, die ihm nun mit ihren Kanonen am Arsch klebten, ihn lebendig davonkommen lassen würden.
Joe schwirrte der Kopf.
Vielleicht konnte er das Schlimmste vertuschen, wenn er schnell genug ins Zimmer kam, wenn nicht sogar durchs Fenster flüchten und sich in einem anderen Haus auf der Antrim Road verstecken. Falls sie sich nicht in dieser Gegend auskannten, würden sie ihn nie finden.
Jetzt stand er vor der Tür, und das Geräusch war lauter denn je. Er hörte jemanden atmen, stockend und angestrengt.
Er öffnete.
Seine Augen weiteten sich vor dem herben Anblick, der sich ihm offenbarte. Das Zimmer war allzu typisch eingerichtet für das einer Frau Mitte vierzig: blumige, makellos angeklebte Tapete. Ein paar gerahmte Bilder, eines von seiner Mutter, Tracey und ihm selbst – nebeneinander mit feierlicher Miene bei einem Loyalistenaufmarsch, während die Blaskapelle vorbeizog. Ein breites Doppelbett in der Mitte mit aufgewühlten Laken. Die goldfarbenen Bettpfosten schimmerten in der Nachmittagssonne, da die Jalousien teilweise hochgezogen waren. Überall Blut.
Ein junges Mädchen lag heftig schlotternd auf dem Bett, ein zweites kauerte mit den Haaren im Gesicht in der Ecke und war mit irgendetwas in ihren Händen zugange.
Das Schnüffeln rührte von Sammy her, dessen abgetrennter Oberkörper in derselben Ecke zuckte. Er war noch halb am Leben und im Delirium, während am Beinansatz bloß abgenagte Knochen aus einem blutig knorpeligen Stumpf ragten. Er schaute sich manisch um, schloss und öffnete die Augen abwechselnd, wie er ohnmächtig wurde und wieder zu sich kam. Die Eingeweide hingen samt Inhalt wie eine zertretene Nacktschnecke aus seinem Bauch. Hin und wieder würgte er, sodass dickflüssiges Blut aus seinem Mund sprudelte. Die linke Hand zitterte, während sie ins Leere fasste. Sie war offensichtlich das einzige Glied, das er überhaupt noch bewegen konnte.
Joe erbrach sich über Sammy, was nicht weiter auffiel, da er ohnehin vor Körpersäften triefte und selbst nur noch wie ein einziger Kotzbrocken aussah. Dann fing Joe wie ein scheues Kind am Tag seiner Einschulung zu heulen an. Indem er sich den Mund mit dem Ärmel seiner Trainingsjacke abwischte, wandte er sich von dem Klumpen ab, in dem seltsamerweise immer noch Leben steckte. Immer noch sein Freund Sammy.
Im gleichen Augenblick stolperte er über Mackers – oder was von Sammys Handlanger übrig war. Drei Teile, um genau zu sein, gnadenlos zerrissen wie ein Opfer im Zentrum eines Bombenattentats. Er ähnelte kaum mehr einem Menschen, und die Fetzen waren unmöglich unterscheidbar, höchstens noch an dem nunmehr blutigen Hanfblatt aus Gold, das er stets an seiner Halskette getragen hatte.
Joe schluchzte noch heftiger und hörte sein Herz gegen die Brust trommeln. Der Puls und sein Wimmern übertönten das leise Röcheln von Sammy, der hinter ihm ein letztes Mal einatmete, ehe er an seinem eigenen Blut erstickte.
Das Ärgste hatte Joey-Boy allerdings immer noch nicht gesehen.
Das Mädchen in der Ecke. Erst jetzt erkannte er, dass sie an der verstümmelten Leiche von Billy nagte, dem Jüngsten ihrer Clique, und dass es seine Schwester Tracey war. Ihre Augen zeigten nur noch Schwarz, während sie von den Lippen an abwärts in Blut gebadet haben musste. Ihr langes, dunkles Haar glänzte im Licht, das den Raum durch die halb geschlossenen Lamellen vor dem Fenster schraffierte. Sie trug noch den Pyjama wie damals, als Joe ihren Leichnam aus dem Bett gezerrt hatte. Obwohl er nicht glauben wollte, was er sah, bestand kaum Zweifel daran, dass es sich um seine Schwester handelte, die im Leben hübsch und intelligent gewesen war, als Tote hingegen umso animalischer. Sie wirkte wie ein verfluchter Filmzombie oder Vampir.
Was zum?!
Immer noch war sie der schönen Tracey wie aus dem Gesicht geschnitten.
Er brüllte los.
Da schaute sie auf, überaus neugierig wegen des Krachs. Joe sah, wie sie aufhörte zu essen und den Kopf leicht zur Seite neigte, sein Gesicht auf sich wirken ließ. Und was Joe nicht wissen konnte, sie glich es mit den vielen vagen Erinnerungsfetzen in ihrem kreatürlichen Hirn ab. Sie suchte nach irgendeiner Verbindung zu den schrecklichen Dingen, die ihr die nunmehr gerichteten Kerle im Raum angetan hatten. Ihre geweiteten, pechschwarzen Pupillen schienen mehrmals die Farbe zu wechseln. Sie sahen aus wie das Display eines Münzautomaten, changierten von Rot nach Weiß und schließlich wieder zurück zum Schwarzen. Dabei rauschte es, als blättere jemand hastig in einem Buch, ehe sie aufhörte und sich wieder ihrem Mahl widmete. Sie hatte ihn keiner Missetat schuldig befunden. Joe konnte nicht wissen, mit welcher Perversion sich seine angeblichen Kollegen heimlich an ihr vergangen hatten.
***
Barry, der mit gezückter Waffe auf alles gefasst zu sein glaubte, kam kurz darauf herein.
Mairead ließ nicht lange auf sich warten, weil sie den Aufruhr bereits beim Treppensteigen gehört hatte. Sie hielt das Gewehr so abgeklärt, als sei sie eine ausgebildete Soldatin.
So entfaltete sich das heillose Blutbad vor ihren Augen.
Barry blendete die anderen aus, da ihm das übel zugerichtete Mädchen im Bett auffiel. Er zuckte beim Anblick ihres schwer misshandelten Körpers zusammen.
Es war Caz, die sich den Verlust ihrer Unschuld zweifellos anders vorgestellt hatte. Abgesehen von einem dreckigen T-Shirt hatte sie nichts an. Blut war an ihren Beinen hinuntergelaufen und in die Decken gesickert. Nur weil sie zitterte und gelegentlich gluckste, erkannte man, dass sie noch lebte. Inmitten des drastischen, gewalttätigen Bildes, das der Tod in dem Raum gezeichnet hatte, hielt Barry Rogan das zusammengerollte junge Ding im Bett für das schlimmste Detail. In gewisser Weise kam ihm der Anblick aber auch bekannt vor.
Widerwillig schaute er auf den Nachttisch und sah die Tabletten. Nur Rohypnol, damals seine erste Wahl in Sachen Beischlafbeschleuniger, wurde so verpackt. Barry schluckte schwer, als sich sein schlechtes Gewissen meldete und die allzu vertraute Scham wiederkehrte. Er wusste genau, dass diese kleinen Wichser – jetzt irgendwie verstümmelt – nicht anders mit Caz umgesprungen waren als er selbst mit jenen drei jungen Frauen, deren Gesichter sich längst in sein Gedächtnis eingebrannt hatten. Für Barry bedeutete der Umsturz eine zweite Chance; er glaubte, ein neuer, besserer Mensch werden zu können, reingewaschen von den Sünden der Vergangenheit – des alten Lebens, das er geführt hatte, ehe alles anders geworden war. Nicht wirklich allerdings, denn solange es die Menschheit gab, wandelte sich nichts zum Besseren. Sie hatte in ihrer langen Geschichte eine vorhersehbare Entwicklung durchlaufen, sich vermehrt, einander das Leben schwer gemacht, gemordet …
Vergewaltigt.
Der Mensch kam nicht aus seiner Haut heraus, konnte seinen Trieben nicht widerstehen. Das Tier in ihm fauchte nach der kürzlichen Entartung umso lauter, ohne dass jemand ihm Einhalt gebot. Auch Barry blieb just in diesem Moment nicht immun dagegen. Verbissen kämpfte er gegen Tränen und das Dunkel in ihm an, während sich unter den eher entschuldbaren Reaktionen – Scham, Schuldbewusstsein und Schock – ein übermächtiges Gefühl der Erregung breitmachte.
»Jesus«, keuchte Mairead und senkte ihre Waffe.
Als sie Caz auf dem Bett erkannte, rannte sie unverzüglich an ihre Seite.
»Alles wird gut, Liebes«, tröstete sie. »Niemand wir dir mehr wehtun.«
Das gebrochene junge Mädchen bebte und stieß einen unmenschlichen Schrei aus. Mairead drückte sie fest an sich, um sie zu wiegen. Sie durfte nicht daran denken, was sie getan hätte, wenn Clare an Caz Stelle in dem blutbefleckten Bett gelegen hätte. Kaum auszumalen, wer es überhaupt fertigbrachte, so etwas Krankes zu tun. Sie schaute hinüber zu Barry in der Hoffnung auf Rückhalt, doch er schien auf Durchzug geschaltet zu haben.
Erst jetzt stutzte Mairead und starrte, indem sie Caz weiter festhielt, auf das andere Mädchen in der Ecke, das an einem Arm oder Bein knabberte.
»Fuck«, stieß sie hervor. »B-Barry … was zum …«
Sie begriff schnell, dass er nicht Herr seiner selbst war. Seine Augen blickten ins Leere, was den bislang so geerdeten jungen Mann beinahe unheimlich aussehen ließ. Er zitterte am ganzen Körper und atmete hörbar schnell, als würde er gleich in Stücke gerissen.
Hinter ihm an der Wand saß zusammengesunken ihr Gefangener Joe und hielt sich die Hände vors Gesicht.
Mairead wähnte sich vom Blitz getroffen, als das blutrünstige Kind zu ihr aufschaute, grinste und schließlich Barry beäugte, wobei sie den Kopf ein wenig schräg hielt. Die Augen wirkten im Gegensatz zu ihrem bleichen Teint noch schwärzer, leuchteten zwischenzeitlich jedoch rot auf. Dabei kniff sie sie angriffslustig zusammen, ohne von ihrem blutigen Mahl abzulassen.
Völlig unvermittelt ließ sie den angefressenen Knochen fallen und stürzte sich flink wie eine Raubkatze auf Barry. Sie hatte lange Fingernägel und fauchte animalisch. Sobald sie an ihm hing, schlug sie gegen seine Brust und versuchte, ihm den Hals zu zerkratzen, letztlich auch die Arme, die er reflexartig hochhob, um sich zu verteidigen.
Mairead reagierte rasch, indem sie Caz aufs Bett zurücklegte und ihr Gewehr zur Hand nahm. Sie zielte und feuerte in schneller Folge. Die erste Salve allerdings verfehlte mit knappem Linksdrall und traf den kauernden Joe in die Brust.
»Shit!«
Der zweite Stoß endlich galt dem Schädel der Unbändigen, die Barry umgeworfen hatte. Sie zuckte kurz und heftig, wich dann wie überrascht vor ihm zurück und fiel um.