FÜNF

 

Ein graziles Händchen drängte sich durch Sand und Steine an die Oberfläche. Das Gewicht ihres Gatten hielt Kirsty Marshall einige Sekunden auf, doch dann entstieg sie ihrem hastig zugeschütteten Grab. Ihr fahles Antlitz zeigte absolut keine Gemütsregung, als sie Steve mit Leichtigkeit zur Seite wuchtete. Die Nachmittagssonne beglänzte ihr Haar, dessen blonde Strähnen im krassen Widerspruch zu den kohlrabenschwarzen Augen standen. Zwar klebte der schwarze Müllsack noch zum Teil an ihren nackten Beinen – gemeinsam mit dem getrockneten Samen von John McElroy, der ihr den letzten Fick fürs Jenseits spendiert hatte –, doch atemberaubend sah sie nach wie vor aus. Mochte sie bereits seit mehreren Wochen tot sein, verkörperte sie weiterhin die Granate, die sie zu Lebzeiten gewesen war.

So wandelte sie über das Gras wie ein Engel wider Willen und zog das schwarze Plastik gleich einer Brautschärpe hinter sich her. In ihrem Kopf entwickelten sich unterbelichtete Bilder, Gesichter und Namen. Obschon Kirsty emotionslos agierte, tat sie es weiterhin zielgerichtet. Urinstinkte trieben sie an, jedoch keine Leidenschaft. Kirsty trachtete nach Gewalt und wusste auch, wem sie welche antun wollte, allerdings nicht weshalb.

Elegant stolzierte sie durch den Eingang des Schulgebäudes, als sei es ihr Palast. Ihre dreckige, zerschlissene Kleidung und die schwarzen Plastikfetzen lenkten keineswegs von ihrem jedem Laufsteg würdigen Passgang ab. Als sei sie von Kopf bis Fuß in Prada gehüllt, flanierte die ehemalige Lehrerin Mitte zwanzig durch den Hauptflur. Ihre dunklen Augen suchten etwas.

Oder jemanden.

Aida Hussein hatte Tische abgeputzt und die Kantine gewischt, da auch die letzten Bewohner mit dem Mittagessen fertig waren. Als die Tür aufging, erwartete sie bloß einen Nachzügler, der noch etwas abstauben wollte, obwohl nichts mehr übrig war. Darüber ärgerte sie sich ständig.

»Sorry, aber wir machen jetzt sauber«, begann sie und schaute auf, um ihren Satz zu beenden.

Die Worte blieben jedoch unbeachtet in der Luft hängen. Was sie sah, schindete gehörigen Eindruck: Kirstys Anmut verstörte sie nicht weniger als das kalte Grauen ihrer schwarzen Augen. Die junge Ägypterin ließ den Putzlappen fallen. Ihre Lippen formten Worte, die sie dann doch nicht äußerte.

Kirsty schlurfte heran, wobei ihr Blick über Aida hinwegging, als sei sie blind. Plötzlich ein Geräusch wie flatternde Flügel – entsetzt sah Aida zu, wie die Pupillen der Frau die Farbe wechselten. Ihr Mund war leicht geöffnet, und sie schwankte ein wenig. Sie wirkte betäubt oder schien gerade von einem richtig intensiven Orgasmus durchgeschüttelt zu werden, bloß in Zeitlupe. Als sie mit einem Mal erstarrte, hatten ihre Augen einen konkret hellen Ton angenommen, und so schaute sie geradewegs auf Aida. Indem sie sich nach vorn beugte, schnüffelte sie an der Haut der Ägypterin. Einmal. Zweimal. Dann ein Lächeln.

Einen Moment später drehte sich die Untote zur Seite um, als sei sie nicht mehr interessiert. Dann schritt sie an Aida vorbei. Sie war hinter jemand anderem her. Jemandem in der Nähe. Jemandem, den sie nicht eher erkennen würde, bis sie ihn fand.

Ihr schwarzer Plastikschleier kratzte leise über den frisch gewachsten Kantinenboden, während sie die ordentlich aufgerückten Stühle und Tische mit der Anmut und Genauigkeit einer Balletttänzerin passierte. Aida schaute ihr hinterher, wiewohl sie sich nicht vom Fleck bewegte. Ihr Lappen lag nach wie vor dort, wo sie ihn hatte fallen lassen. Kirsty ging zur Küche, in der noch Licht brannte. Der Rollladen vor der Durchreiche war halb heruntergezogen, damit Hungrige gar nicht erst auf die Idee kamen, den nachmittäglichen Putz zu stören. Vor der Öffnung blieb Mrs Marshall stehen.

Drinnen musste anhand der Geräusche reges Treiben herrschen. Kirsty zog den Kopf ein wenig zur Schulter hin, während sie alles aufsaugte, was sie sah, um den richtigen nächsten Schritt zu gehen. Mit einer Hand zog sie den Rollladen wieder hoch und erblickte, was sie gesucht hatte – die stämmige Gestalt von Sylvia Patterson. Als Chefköchin und gute Seele der Gemeinschaft sorgte sie dafür, dass die Leute volle Teller und Teetassen hatten. Vielen half sie dabei, mit ihrem jeweiligen Verlust fertig zu werden, indem sie sie in den Arm nahm und tröstete, wenn sie weinten. Dadurch, dass sie den Überlebenden kleine Aufgaben ans Herz legte, brachte sie auch über die Küche hinaus Struktur in den Alltag. Seit Roy sie verlassen hatte, um das entführte Kind zurückzuholen, schlüpfte sie weiter in die Rolle der Anführerin. Roy Beggs hätte es vermutlich nicht eingestanden, doch in Wirklichkeit hatte sie eigentlich schon die ganze Zeit genauso wie er den Ton angegeben. Ja, Sylvia Patterson erreichte sogar, was er niemals vermochte. Sie genoss vollsten Respekt und kritiklosen Rückhalt von allen Bewohnern der Schule. Während Roy nur für Sicherheit und Reglements sorgen konnte, vermittelte Sylvia Wohlbehagen.

Sie war jedoch auch mitverantwortlich für Steve Marshalls Niedergang, hatte zunehmend tödliche Dosen Rattengift unter jede seiner Mahlzeiten gemischt. Ein Teil von Kirsty wusste das.

Als sich ihre Blicke begegneten, glaubte Sylvia, den Ventilator im Raum zu hören. Doch, oh Schreck, es waren Kirstys helle Augen, die mit diesem Geräusch erst rot und dann wieder tiefschwarz wurden. Die Köchin kannte sie nicht, sondern nur ihren Gatten. Sie war zwar zur Bestattung gegangen, doch nur Beggs und McElroy, der sie und den Säugling zuvor präpariert hatte, wussten wirklich, wie sie aussah.

Dennoch ahnte Sylvia, dass dieses einer Frau ähnelnde Wesen, dieser hübsche Schatten eines Menschen – sie wusste nicht, dass es ein Übermensch war, der sich jedweder humanen Beschränktheit enthoben hatte –, ihr gegenüber Böses im Schilde führte.

Nein, sie ahnte es nicht nur, sie war sich gewiss.

Sie bekam Angst, also streckte sie hastig die Hand nach einem langen Messer auf dem Tisch aus, doch Kirsty erreichte es schneller, schnappte es und fuhr noch in der Bewegung damit in die Höhe. Die Klinge durchschnitt Sylvias Kehle wie nasses Papier und trennte den Kopf vom Rumpf. Ein leuchtend roter Streif ergoss sich über das aseptische Weiß der Küchenwand. Die beleibte Köchin sackte schwer zu Boden, während die schöne Mörderin den sauber abgeschnittenen Kopf mit der linken Hand an den Haaren festhielt. Blut strömte über die Fliesen, von denen man ansonsten hätte essen können. Die Enthauptete pulsierte weiter. Es breitete sich in den Rillen wie dicke Nähte auf einem Flickenteppich der Vergeltung aus.

Kirsty Marshall stand still, als sei sie sich ihres weiteren Vorhabens nicht sicher. Sie handelte grob impulsiv, ohne ihrem Inneren rechten Ausdruck verleihen zu können. Die Passivität hielt nur wenige Sekunden an. Schon neigte sie ihr Gesicht dem baumelnden Schädel zu, saugte begierig an einer der Adern, die aus dem Hals ragten, und stopfte sich das zerfledderte Fleisch in den Mund, als handle es sich um mit Marmelade gefülltes Gebäck.

Als sie satt war, warf sie ihn fort.

Sie ging zurück durch die Kantine, wo einige Überlebende zusammengekommen waren, die Lärm gehört hatten. Kirsty blieb mitten im Raum stehen und besann sich auf ihre Gefühle. Angst war es in erster Linie, was sie vorfand. Ihre Augen flimmerten wieder, bis sie blassblau leuchteten. Die der Leute hingegen waren weiß vor Schreck, als sie zurückwichen.

Nur Peter Stokenbergs blieb herausfordernd stehen, als er Sylvias verdrehten Leichnam durch die geöffnete Küchentür sah. Die Lache aus Blut und Knorpel breitete sich wie der Inhalt eines zerbrochenen Glases Fertigsoße aus. Peter biss die Zähne zusammen und schritt zur Tat, sprang mit seinem rot angelaufenen, verschwitzten Gesicht wie ein Kampfhund auf sie zu. Sein blindwütiger Zorn missfiel Kirsty, sodass ihre Augen wie ein gut geöltes Getriebe auf Rot schalteten. Sie hatte ihn gebannt, noch ehe er Hand anlegen konnte. In einer einzelnen fließenden Bewegung kratzte sie ihm mit ihren perfekt manikürten und grell lackierten Fingernägeln den Hals auf. Die Haut platzte wie bei einer reifen Frucht. Es blutete fast sofort, und während er noch taumelte, setzte Kirsty bereits nach und labte sich durstig an seinem Lebenssaft. Der untersetzte Mann ging in die Knie und schlug noch kurz wild mit den Armen um sich, doch seine Haut wurde immer blasser. Kirsty ließ nicht von ihm ab, bis sie den letzten Tropfen ausgesaugt hatte. Dann zerpflückte sie das noch warme Fleisch und tat sich auch daran gütlich.

Hinterher stand sie auf und fuhr wie im Blutrausch herum, leckte sich Lippen und Finger ab. Ihre Pupillen schillerten abwechselnd in allen Farben, während sie den Saal nach weiteren Opfern absuchte. Die meisten hatten Reißaus genommen. Ihre Schreie hallten über die Flure, gingen im Stimmengewirr und Trappeln unter, als die Nachricht die Runde machte:

Ein Monster ging unter ihnen um.

Kirsty hatte noch nicht genug und geriet nun erst richtig in Fahrt. Sie schien geradezu über den blitzblanken Boden der Kantine zu gleiten. Auf den Korridoren schließlich hielt sie die Arme nicht still, während sie durch die Herde preschte und so viele Leute fällte, wie sie zu greifen bekam. Je mehr Haut sie zerfetzte, je mehr Blut sie vergoss, desto rasender und erbarmungsloser wurde sie. Jeder Mord schien den nächsten zu beflügeln. Die bespritzten Wände spiegelten das Rot ihrer Augen wider, derweil sie sich an den Lebenden und ihrer Panik weidete.

Endlich stand sie am Eingang. Wenige Glückliche waren entkommen und schwärmten vor ihr über den Schulhof aus. Kirsty reckte ihr Haupt gen Himmel, stieß einen gellenden Schlachtruf aus.