DREI

 

Alan Gibson zog die Brille mit einem unterschwelligen Seufzer aus. Es hatte keinen Zweck. Eine Stunde war vergangen, und er hatte immer noch kein Wort aus dem Munde desjenigen herausbekommen, der da den Kopf vor ihm hängen ließ.

Steve Marshall – ebendieser Kopfhänger der ihm gegenübersaß – war nicht mehr ansprechbar, seit Roy Beggs ihm den verwesten Leichnam seines kleinen Sohnes Nicky grob entrissen hatte. Die Tränen zumindest waren quasi als Reaktion deutbar gewesen. Vermutlich hatte er damit alle aufgestauten Emotionen und Illusionen fahren lassen, die seine unwiederbringlich verschiedene Frau und Sohn betrafen. Danach jedoch und bis heute war ihm kein Ton mehr entfleucht. So starrte Marshall schlicht aus dem kleinen Fenster des Klassenzimmers, die Augen noch schwermütiger, die Schultern immer weiter nach unten gezogen. Zahllose Mahlzeiten und Getränke hatte er weithin verschmäht, bestenfalls mit dem Interesse eines Autisten herumgestochert, bevor er sich erneut glotzenderweise der gefängnisartigen Glasscheibe seines Domizils gewidmet hatte.

»Steve, gibt es irgendetwas, das ich …«

Alan Gibson strengte sich nicht weiter an, den Satz zu beenden, weil es eh keinen Zweck hatte. Diesen Mann hatte der Verlust sichtlich schwer getroffen. Bleischwer. In seinem Kopf herrschte vollkommene Leere, die es ihm unmöglich machte, auch nur einen Moment lang klar zu denken. Posttraumatische Belastungsstörung, und zwar höchsten Grades. Ohne Behandlung mit Medikamenten wusste der Teufel, welch wirre Gedanken Steve Marshall von der Realität ablenkten, und was er den bemessenen Worten aus Alan Gibsons Mund entnahm. Eines indes war sicher: Der Therapeut steckte mit seinem Patienten in einer Sackgasse.

Gibson rieb sich die matten Augen und erhob sich, ging zur Tür des Klassenzimmers und leise hinaus, wo er sich darum bemühte, sie nicht laut zuzuschlagen.

Roy Beggs wartete im Gang auf ihn.

»Wie geht es ihm heute?«, fragte der Soldat.

Alan Gibson zog die Brille aus, putzte sie und setzte sie wieder auf. Damit folgte er eher einem Tick als der Notwendigkeit.

»Wie immer«, entgegnete er. »Er akzeptiert nicht, dass die beiden tot sind. Es ist, als sei eine Welt für ihn zusammengebrochen. Er wird einfach nicht damit fertig und weiß sich nicht anders zu helfen, also macht er die Schotten dicht. Wir Therapeuten nennen das –«

»Für jeden von uns ist eine Welt zusammengebrochen«, würgte Roy ihn ab, während er Marshalls glasigen Blick grimmig durchs Sichtfenster der Tür beobachtete. »Wir müssen uns einfach am Riemen reißen und weitermachen, oder?«

»Nicht jeder kann das …«, erwiderte Gibson.

Roy blickte ihn an. Auch wenn es ihm nicht einleuchtete, gab es wohl keinen geeigneteren Mann als Gibson, um Marshall dazu zu bewegen, seine tote Familie loszulassen, die er im Auto versteckt hatte. Auch wenn sie mittlerweile auf dem Fußballfeld der Schule begraben waren, standen ihre Gesichter ihm immer noch lebhaft vor Augen. Die trostlose, peinliche Bestattung hatte nur zehn Minuten gedauert, bevor Roy dazwischengegangen war.

Wie gesagt, ihm leuchtete es nicht ein. Ein psychisch Gestörter blieb unberechenbar. Schlecht für die Gesellschaft, schlecht für die Moral. Und die war eminent wichtig, da jeder Grenzerfahrungen durchlebte und seine eigenen Scherben zusammenkehren musste.

»Es gibt Leute hier, die sähen nichts lieber, als dass er verschwände«, bemerkte Roy gereizt.

Alan Gibson wusste, wen er damit meinte.

Er sah sie auch, denn ihre gedrungene Gestalt hielt sich ebenfalls auf dem schwach beleuchteten Flur auf. Sie belauschte seine Unterhaltung mit Roy, obwohl sie vorgab, den Fußboden zu wischen. Sylvia Patterson war es, auf die sich Beggs bezog. Sie hätte es nicht gestanden, weil sie sich auf gediegenere Art Respekt bei den Überlebenden verschaffte und die leicht angreifbare Kommune auf subtilere Weise beeinflusste. Manipulierte.

Gibson hatte sie durchleuchtet und sich ihr Profil im Kopf gründlich zurechtgelegt: Siebenfache Mutter, zehnfache Großmutter, der Ehemann in allen Lebenslagen unterm Scheffel, und dann das Massensterben. Sylvia konnte nicht damit umgehen, einmal nicht die Kontrolle zu übernehmen. Sie suchte danach, gebraucht zu werden, also fiel ihr die Rolle der Versorgerin im Sozialgefüge unter dem Schuldach wie von selbst zu. Jeden Tag plagte sie sich mit dem Waschen und Putzen, wischte Staub und bohnerte, kochte und hielt alles für die Gemeinschaft zusammen. Sie mutete an wie eine alte Eiche und die Mutter aller – ausgenommen Steve Marshall. Ein Mann wie er, der sein gebrochenes Herz statt Worten auf der Zunge trug und bis zuletzt den toten Säugling auf dem Arm, konnte jemanden von ihrem Schlag nur beunruhigen.

Gibson massierte seine Schläfen, wo sich bereits Geheimratsecken abzeichneten. »Roy«, begann er mit einem Lächeln. »Wenn wir Steve einsperren, wird er das noch weniger verarbeiten können. Er braucht seine Freiheiten, Rückhalt und Leute, die ihm Mut machen. Wenn er das alles bekommt, bin ich mir ziemlich sicher, wird er schnell deutliche Fortschritte machen.«

Roy wollte davon überhaupt nichts wissen. Er fuchtelte mit einem Finger vor Gibsons Gesicht herum. »Sehen Sie, das ist genau das Problem auf diesem verdammten Planeten.« Er verzog das Gesicht. »Die Leute sind zu lax, wenn es darum geht, all die kranken Säue, Vergewaltiger und Kinderficker abzufertigen, die frei herumlaufen. Wir brauchen härtere Bandagen. Besonders jetzt.«

»Ach, hören Sie auf, Roy!« Gibson lachte. »Scheren Sie Steve Marshall nicht mit denen über einen Kamm.«

Roy war nicht nach Humor zumute.

Nicht zum ersten Mal spielte er sich zum übereifrigen Gesetzeshüter auf. Gibson hatte seine Story in Erfahrung gebracht, noch ehe er ihm persönlich begegnet war, kannte also seine Akte. Während der Hochphase des Konflikts in den Achtzigern war der junge Beggs mit seinem Regiment in den Westen von Belfast abbestellt worden, um einen Polizeikontrollpunkt an einem einschlägigen Gefahrenherd zu decken. Die Cops suchten einen weißen Wagen, der angeblich Plastiksprengstoff beförderte.

Erst eine Woche zuvor war einer von Roys Kollegen einem solchen Sprengsatz zum Opfer gefallen, hatte beim Öffnen eines Industriecontainers beide Arme verloren sowie ein zertrümmertes Becken davongetragen. Roy war dabei gewesen, als der Arzt dem bedauernswerten Bastard die Hiobsbotschaft überbracht hatte, er werde nie wieder laufen oder Sex haben.

Es war eisig kalt in jener Nacht, und Roys Geduld überstrapaziert mit jedem weiteren Herausgewunkenen, der ihn beleidigte und anspuckte. Als da ein Peugeot 205 auf das Signal der Polizisten hin nicht bremste, sondern beschleunigte und durch den Kontrollpunkt raste, fackelte Roy nicht lange mit dem Finger am Abzug und ließ Blei auf Glas treffen. Dabei tötete er einen Schmalspur-Grasdealer namens Gerard und seine Cousine Kath beinahe sofort.

Das Auto war nicht einmal weiß, und das hatte Roy von vornherein gewusst, doch ein obrigkeitshöriger Richter, Drogen verurteilende Geschworene und die Aussage eines Cops, der sich noch an Roys deutliche Warnung vor dem Schießen zu erinnern glaubte, brachten Roy auf freiem Fuß aus dem Gerichtssaal heraus, wobei er vermutlich stärker nach Rosenwasser als nach Angstschweiß roch. Was der Richter sagte und wie das Urteil letztlich ausfiel, war Beggs aber ohnehin gleich, weil die Gerechtigkeit seiner Meinung nach gesiegt hatte. Auge um Auge hieß es, und zur Hölle mit jedem, der ihm mit der vermeintlichen Wahrheit kam.

Die Mutter des Erschossenen kannte die Wahrheit. Sarah oder Sadie, wie ihre Freunde sie nannten, war eine abgehärtete, rüstige Frau, die während der gesamten Verhandlung mit den Tränen kämpfte, doch ihre Augen blieben auch trocken, als der Rechtsmediziner ausführte, wie übel Roys Kugeln ihren Sohn verstümmelt hatten. Ihre Tochter Chris, selbst noch ein Kind, saß neben der Frau und klammerte sich so stark an ihr fest, dass ein bleibender Abdruck in ihrem Fleisch zurückblieb. Gibson blieben ihre eisigen Blicke auf den Fotos, die Roys Akte beigelegt waren, nachhaltig im Gedächtnis. Die Augen des jungen Mädchens waren besonders. Dunkelstes Blau und leicht schielend, trotzdem bildschön.

»Er bleibt eingesperrt«, gab Roy dem bebrillten Berater schließlich zu verstehen. »Mir scheißegal, was Ihre Hippie-fühl-dich-gut-Bücher über seine Bedürfnisse verzapfen; ich will nicht, dass Marshall frei herumläuft und weiß Gott was anrichten kann.«

Gibson sah finster drein, nickte es jedoch ab.

Roy drehte sich um und wollte gehen, hielt aber inne und wandte sich dem anderen langsam wieder zu. Dabei schüttelte er den Kopf, als sei er von sich selbst enttäuscht, ehe er den Schlüsselbund aus der Tasche zog, den er im Büro des Schuldirektors gefunden hatte. Mit wiederum selbstkritischem Stirnrunzeln streifte er den Schlüssel zum Klassenraum ab, in dem Steve hockte, und reichte ihn Gibson.

»Ich will, dass er sich von den anderen fernhält. Sie dürfen ihn füttern, gießen, seinen Stall ausmisten und Psycho-Quark breittreten, wenn Sie wollen, aber schreiben Sie sich das hinter die Ohren: Falls ich ihn einmal außerhalb dieser vier Wände sehe, stehen Sie mir persönlich dafür gerade, verstanden?«

Alan Gibson nahm den Schlüssel entgegen und schenkte Roy ein freundschaftliches Lächeln, soweit er dazu in der Lage war.

»Sie sind der Boss, Roy.«

Er wusste, dass Roy nicht mit sich scherzen ließ, doch er hatte Verantwortung gegenüber seinem Patienten. Verdammt, es war das Einzige, was er jetzt noch hatte.

 

***

 

Am frühen Nachmittag thronte die Sonne hoch und erhaben an einem kräftig blauen Himmel. Mairead Burns saß mit Clare McAfee auf der Schaukel des Schulhofs. Das Kind kaute auf einem Lutscher, den Mairead in einem Zeitungskiosk in der Nähe eingesteckt hatte. So einen hatte sie zum ersten Mal im Mund, seit jenem denkwürdigen Sonntag, als ihre Mutter nicht aufgewacht war. Mairead konnte kaum glauben, dass das schon drei Wochen her war. Ihr kam es eher so vor, als hätte sie diese kleine Prinzessin erst gestern kennengelernt, diesen Unschuldsengel im Angesicht der neuen, düsteren Unwägbarkeiten. Auch schienen viele, viele Jahre vergangen zu sein, seit sie selbst ein normales Leben geführt hatte, mit Ehemann, zwei Schwestern, einer nervigen Mutter und einem lebendigen Sohn …

»Die Klingel geht nicht mehr«, bemerkte Clare plötzlich. Sie schaukelte ein wenig im sanften Sommerwind. Den Lutscher hatte sie fast verzehrt.

»Die brauchen wir nicht mehr, Süße«, entgegnete Mairead, indem sie ihr die dichten Locken raufte. Sie erwog, ihr die Spitzen zu schneiden oder besser noch, jemanden zu fragen, der vielleicht Friseurerfahrung hatte.

Hygiene und Eitelkeit gehörten für viele der Vergangenheit an, doch Mairead blieb reinlich und sorgte sich gleichfalls und vor allem um die Sauberkeit der Kleinen.

»Haben wir kein Rechnen mehr? Miss Stranney hat uns das Geld erklärt, und jeder sollte Einkaufssachen mitbringen, um Supermarkt zu spielen. Ich hab zwei Packungen Cornflakes und eine Dose Erbsen genommen, aber Miss Stranney wollte dann leere Schachteln, nichts volles.« Clare blickte zu Mairead auf. Ihre Lippen waren künstlich orange vom Lolli. »Meinst du, Miss Stranney kommt wieder zurück?«

Mairead lächelte, zog ein Taschentuch hervor und wischte ihr den Mund ab.

»Ich kann dir das mit dem Geld doch auch beibringen. Sollen wir durch die Läden ziehen und uns die Kassen hinter den Theken anschauen? Das wär doch was, Süße, oder?«

»Ja! Ich geh gern in den Supermarkt. Mit Mama. Da mach ich ihr die Taschen voll, zuerst die Dosen, dann die Sachen für den Kühlschrank in eine andere und das Stinkezeug, Seife und so, in eine dritte.« Clare putzte sich die Nase am Ärmel ab. »So will Mama das; sie würde nie Dinge in eine Tüte packen, die nicht zusammengehören.«

Mairead machte sich Sorgen um Clare. Sie sprach von ihrer Mutter, als sähe sie sie bald wieder, ohne zu hinterfragen wann. Mit Mairead fühlte sie sich rundum zufrieden – so viel war gewiss. Das Kind wich ihr selten von der Seite, nicht einmal für einen Augenblick. Obwohl auch andere mit ihr redeten oder Süßigkeiten feilboten, war es Mairead, zu der sie kam, wenn sie etwas brauchte, und sei es nur eine Umarmung. Das gefiel der Frau zu gut, denn sie himmelte die Kleine an und hatte sie in Gedanken mehr oder weniger adoptiert. Sie sah eine zweite Chance, ein Kind großzuziehen, wie es sich gehörte.

(»Es hat eine Explosion gegeben, Mrs Burns …«)

Eine Ersatztochter.

»Mairead?«

»Ja, Herzchen?«

»Darf ich Mama zu dir sagen? Nur für jetzt, mein ich.«

Mairead bekam feuchte Augen. Sie hob das Kind hoch und drückte es fest an sich.

»Natürlich darfst du das, Süße«, wisperte sie ihr ins Ohr. »Jederzeit, wenn du möchtest.«