EINS
Der Himmel verfinsterte sich vorübergehend, als gebe es Regen. Eine leere Drohung, denn jeder wusste, dass dies nur nachts der Fall war. Angekündigt von einer schweren Wolkendecke wusch das entzückende Plätschern die alltägliche Stille fort, allerdings niemals zu früherer Zeit. Hoch am Himmel über der Innenstadt zog ein einzelner, weißer Vogel hektische Bahnen, als gehöre er noch zu einem Schwarm, ehe er auf geradem Wege weiter nach Norden flog. Sein einsames Zwitschern entging nahezu jedem der verbliebenen Bewohner Belfasts.
Roy Beggs jedoch nicht.
Er saß auf der anderen Straße des Bahnhofs in einem Van und beobachtete aufmerksam, wie das Tier eine Weile schwebte, sich ein Stück fallen ließ und schließlich nordwärts flatterte. Es schien, als hätte es eine unterschwellige Turbulenz gespürt, sich auf einen Schauer vorbereitet und dann bemerkt, dass es falscher Alarm war.
Roy widmete sich wieder dem imposanten Glasbau gegenüber. Gut zwei Stunden schon beobachtete er, wer dort ein- und ausging, nachdem ihm zuvor bereits aufgefallen war, dass dort reger Betrieb herrschte. Er erwartete nicht, allzu früh fündig zu werden, doch ein Umriss, der hinter den Scheiben wuselte, war ihm suspekt: Er bewegte sich wie Alan Gibson. Ein bekümmerter Gang, eher noch ein Tippeln.
Als der Wagen – sein Landrover – von der Bushaltestelle hinter der Einkaufsstrecke und dem Coffee Shop des Bahnhofs vorfuhr, bestand kein Zweifel mehr, dass Roy den richtigen Riecher hatte.
Durch das Visier seines Gewehrs suchte er das Gebäude ab, da bemerkte er einen jungen Mann mit Rastazöpfen, obwohl: Es konnte auch eine Frau sein. Jedenfalls war die Person allein und rauchte vor den Geschäften auf der unteren Ebene eine Zigarette. Der verärgerte Soldat interessierte sich nicht für sie, also schwenkte er hinüber zum Hotel. Im ersten Stock wurde er fündig: Gibson, die kleine Clare und noch jemand hockten am Fenster.
»Erwischt«, flüsterte Roy grinsend.
Dann reckte er sich nach hinten und zog eine Tasche mit einer Reihe verschiedener Waffen hervor.
***
In Kitchen Bar, einem der geschichtsträchtigsten Belfaster Pubs, galt nun jede Mahlzeit als Kommunion. Einige Jahre zuvor war der Laden sozusagen umgetopft worden, direkt neben das Victoria Square Shopping Centre beziehungsweise den Pavillion. Das Brechen des Brotes – oder Oatcakes, nun da Frischgebackenes der Vergangenheit angehörte – ging jedem Essen voraus, ehe man einem Glas Messwein zusprach.
Jemandem wie Robert McBride, der in der alten Welt selten von Pie und Pommes abgewichen war, schmeckten diese Haferfladen wie Styropor. Dennoch verschmähte er sie nie, sondern kaute feierlich mit und trank auch den Wein, wobei sein Magen jedes Mal rebellierte, wenn der Prediger zu seinem übertrieben pathetischen Monolog anhob, von wegen die Abendmahlzeremonie wiederhole Jesu Tod am Kreuz, und man vergieße sein Blut beziehungsweise teile sein Fleisch zum Heile der Menschheit. Leute wie McBride, die vor dem WAS-AUCH-IMMER-ES-WAR kein religiöses Hu-ha betrieben hatten, konnte die explizite Nacherzählung der Hinrichtung ihres Heilands nur zutiefst verstören. Deshalb überraschte es ihn kaum, dass sich einige Christen so von der entsetzlichen Folter ihres Herrn und Erlösers mitreißen ließen, dass sie selbst Wundmale bekamen. Übrigens fiel ihm ein, dass seine Mutter und Schwester zur gleichen Zeit die Periode bekommen hatten, solange sie zusammen in einem Haus gewesen waren; ob Blut ein Eigenleben entwickelte und beseelt, sich irgendwie seiner selbst bewusst war? Vielleicht durchdrang es uns, nährte sich von uns und existierte auch ohne den Körper weiter. Wurden wir gar von ihm beherrscht? Diesem abgefuckten Gedankengang hing Robert McBride in letzter Zeit häufig nach, wenn er seiner Wege ging.
Er selbst hätte nie im Leben eine solche Überzeugung an den Tag gelegt, dass ihm Blut aus Händen und Füßen geströmt wäre, so viel stand fest. Um ehrlich zu sein: Er wusste nicht, woran er überhaupt noch glauben sollte, und der Prediger lenkte ihn schlichtweg von dem ab, was die Wirklichkeit zu bieten hatte. Die Religion war also eine Droge, wenn man so wollte, durch die er den Herausforderungen des realen Horrors in dieser schönen, neuen Welt ausweichen konnte.
Auf die Mehrheit der Tischgesellschaft traf dies allerdings nicht zu. Sie hingen dem Prediger wie verzaubert an den Lippen, ließen sich geradezu von seiner Persönlichkeit und unerschütterlichen Zuversicht hypnotisieren: Er strebte danach, sie zu retten, ausnahmslos alle. Dazu sprach er, als stünde er wahrhaftig im Einklang mit Gott und liebte dessen Engelsscharen. Seine Mission verfolgte der Prediger mit solcher Hingabe, dass er fast stündlich von seinen Gefühlen übermannt wurde und weinen musste. Dicke, salzige Tränen, schwanger mit dem Heiligsten aller Geister.
(Und Zorn … und Reue …)
Kitchen Bar wurde stets gegen Abend zur Missionsstation. Waren ihre Stimmen zu heiser geworden und taten ihre Rücken vom stundenlangen Ausharren am künstlerisch überladenen Pavillon weh, kamen sie dort wieder zu Kräften. Obwohl ihre Zahl stetig wuchs, bot der Pub ihnen vorerst ausreichend Platz. Der Boden war weitflächig genug zum Schlafen, und die geräumige Küche fungierte als Vorratskammer, jedoch fast nur für abgepackten Fraß, weil Gefriertruhe und Kühlschrank längst den Dienst versagt hatten. Der Prediger zog sich in das Büro des ehemaligen Betreibers zurück, um zu beten und während der Nacht die Heilige Schrift zu studieren. Schlaf fand er nur wenig, wenn sein inneres Feuer es ihm gestattete.
Seiner Prophezeiung des Leides, der letzten Warnung für diejenigen, die gerettet werden wollten, verlieh er mit gespreizt altertümlichem Sprachduktus Nachdruck. Der Prediger mahnte seine Anhänger und hoffte, dass sie tief in sich gingen zur Rückversicherung ihres bedingungslosen Glaubens, auf dass sie ihn niemals hinterfragten. Sie mussten ihn lieben wie ein Kind seinen Vater, denn dies allein konnte sie retten. Dies allein entschied darüber, ob sie zu den Schafen gehörten – den Versammelten vor dem Thron ihres Himmlischen Vaters – oder zu den Geißen – denjenigen, die ihren Glauben verloren und somit im Auge eines anspruchsvollen Gottes für zu leicht befunden wurden.
Einige von ihnen würden ihm nie gerecht werden. Der Prediger gebot unbeugsamen Glauben, dem manche einfach nicht gewachsen waren. Er verglich sie mit niederen Menschen aus der Bibel, zum Beispiel Lot, der am Ende doch wankelmütig geworden war und damit das Schicksal vieler besiegelt hatte. Jeden Tag schaute er Gavin Cummings beim Gitarre spielen zu, oft bis ihm die Hände bluteten, während er im Herzen Schwierigkeiten hatte, sich mit den gesungenen Worten zu identifizieren. Cummings war schwach und demnach eine Belastung, die ihren Zusammenhalt gefährdete. Niemals würde er den notwendigen Glauben aufbringen. Da sich die Lage nunmehr zuspitzte, brauchte der Prediger starke Männer wie Moses oder Johannes den Täufer – Archetypen, deren schier ungehemmte Liebe zu Gott sie zu unglaublichen Wundertaten befähigte. Gavin Cummings war einzig dazu fähig, auf der Klampfe zu schrammeln, und hörte man, wie falsch er in letzter Zeit spielte, so blieb selbst das anzuzweifeln.
Als der Prediger zu einem weiteren verbalen Rundumschlag ausholte wie ein großer Monarch, der willkürlich Todesurteile aussprach, konnte er sehen, wie Gavins Hand mit einem Mal heftig zu zittern anfing. Die Sünde hatte ihn ergriffen wie das Teufelskind zuvor, verstopfte seine Adern und wütete in seinem Fleisch, war eine unmittelbare Bedrohung, die alles und jeden in seinem Umfeld verzehren mochte. Aus jedem Atemzug und Gedankenfluss sprach die Versuchung. Der Prediger roch seine Unzulänglichkeit beinahe, spürte Furcht und Zweifel wie ein von Gott beflügelter Bluthund. Er sah in ihn hinein, schälte ihm mit Blicken die Haut ab und las so jede seiner höllischen Vorstellungen.
Es war ein Zeichen. Im letzten Versuch, sie von ihrer Bestimmung abzubringen, zog der Teufel seine Schlinge zu. Doch den Prediger focht dies nicht: Sein Glaube und seine Entschlossenheit gemahnten an frühere Propheten, die jetzt den Sockel des Himmelsthrons selbst stellten. Nichts konnte ihn noch aufhalten. Der Tag des Jüngsten Gerichts war endlich angebrochen …