22. Kapitel
Ich hab mir etwas Zeit genommen
Aber jetzt bin ich angekommen
Du hast gewartet auf mich
Dafür liebe ich dich.
Bernd Begemann: »Ich bin dann soweit«
Kurz vor Mitternacht ist die Party voll im Gange. Vor dem Fernseher, den ich in den Korridor gestellt habe, wird zur »Definitiv Ultimativen Chartshow« getanzt. In der Küche zelebrieren die Unvermeidlichen seit Stunden mit großer Routine und ebenso großem Erfolg bei Jung und Alt ihre Bleigieß-Rituale. Mein Versuch sah aus wie ein zu kurz geratener Regenwurm, aber Rudi (oder Helmut?) behauptete steif und fest, es wäre ein Kranz.
»Ein Kranz?« Ich starrte perplex auf das geschwungene Etwas, das sich im stumpfen Silberschein auf meiner Handfläche kräuselte.
»Ein Kranz!«, bestätigte auch Helmut (oder Rudi?) mit Überzeugung in der Stimme.
»Und was soll das bedeuten? Werde ich in einem Blumenladen jobben?«
»Nein, nein!« Beide blättern hastig in ihren abgegriffenen Auflösungsheften, die ich schon seit meiner Kindheit kenne. Darin sammeln sie seit ihrer Zeit bei den Pfadfindern nicht nur handschriftliche Notizen zur Bedeutung und Durchführung des Bleigießens, sondern auch Zeitungsartikel zum Thema. Schon als Kind keimte in mir die Vermutung auf, dass sich die beiden überhaupt nicht für das gesammelte Wissen interessierten, sondern sich die Auslegung der unter Zischen ins Wasser gegossenen Hoffnungen schlicht ausdachten. Niemals durfte ich einen Blick in die Hefte werfen – und so ist es auch heute.
Mit einem »Kannst meine Schrift sowieso nicht entziffern!« werde ich verscheucht, als ich nach Rudis Heft greife, um selbst nachzulesen.
»Also, was bedeutet ein Kranz?«
Die beiden wechseln bedeutungsvolle Blicke. Dann sagen sie gleichzeitig: »Eine Hochzeit!«
Papa, der in der Speisekammer hantiert, streckt seinen Kopf kampflustig aus dem offenen Kragen seines weißen Hemdes. »So ein Unsinn! Wen sollte Franzi denn heiraten? Etwa ihren Geschiedenen? Das habt ihr euch doch ausgedacht!«
Rudi und Helmut sind empört, widersprechen heftig, und im Nu ist eine erregte Diskussion unter den drei alten Freunden im Gange.
Ich nutze den Moment, um aus der Küche zu schlüpfen und nach oben ins Gästezimmer zu schleichen, wo Amélie und Lisa-Marie seit einer halben Stunde schlafen.
Als ich die Treppe hinaufgehe, sehe ich Dieter und seine Frau auf der improvisierten Tanzfläche im Flur herumwirbeln, wobei sich Dieter als bejubelter Luftgitarrenspieler profiliert. Es ist kaum zu glauben: Während unten die Party tobt, schlafen die beiden Mädchen in ihren Bettchen und lassen sich vom rhythmischen Wummern der Musik nicht stören.
Die beiden sind nicht allein geblieben, wie ich jetzt bemerke: Ein kleiner Junge liegt in seinem Kindersitz vor Bims Bett und schläft genauso tief. Ich bleibe einige Minuten lang im schummerigen Zimmer, lausche dem ruhigen Atmen der Kinder und bewundere den sanften Schwung ihrer Wimpern, die seidig auf den runden, weichen Wangen liegen.
Schlafende Kinder sind Glücksboten. Sie erfüllen uns mit Rührung und Demut. Schlafende Kinder zu beobachten ist mit einem Kirchenbesuch vergleichbar: Unwillkürlich geht man auf Zehenspitzen – auch innerlich.
Unten steigt die Stimmung weiter. Mein bescheiden geplantes Abendessen ist zur ausgelassenen Party mutiert. Ich lehne mich an den Türrahmen zwischen Korridor und Wohnzimmer, wo ich einen guten Überblick über das gesamte Untergeschoss habe.
Britta kugelt im Spielzimmer mit einer Handvoll größerer Kinder im »Twister«-Spiel herum. Ich erkenne Tim, den Sohn von Jella, der Wirtin vom italienischen Imbiss »Lo Spuntino«. Jellas Freund Robin hat seinen Sohn Lasse mitgebracht. Auf der Tanzfläche liefern sich Dieter und Koch Stefan ein heißes Bewegungsduell.
Papa hat seinen Streit mit den Unvermeidlichen beendet. Er sitzt jetzt, ins Gespräch vertieft, mit Hedi in den Wohnzimmersesseln vor dem Fenster. Mit ihren wachen dunklen Augen, dem rundgeföhnten Pagenschnitt und dem freundlichen Lächeln erinnert mich Hedi an ein Stiefmütterchen. Sie nennt Papa unbeirrt »Herr Schneider«, obwohl er sie ständig auffordert, seinen Vornamen zu gebrauchen. Mir gefällt, wie Hedi »Herr Schneider« sagt. Es klingt zugetan und persönlich.
Den Kamin haben wir mit einem Gitter so gut wie möglich gesichert, um neugierigen Kindern Verbrennungen zu ersparen. Davor sitzt die versammelte Familie Pepovic und brutzelt Marshmallows über den Flammen. Sie werden dabei ehrfurchtsvoll von zwei kleinen blonden Jungen beobachtet, die wie Miniaturausgaben von Koch Stefan aussehen.
Das ist mein Leben, meine Familie, mein Zuhause. Meine Freunde – Alte und Junge, Familien und Singles, Männer und Frauen. Und fehlt mir jemand? Natürlich Andreas. Und ich vermisse Lilli. Wie gut würde sie hierherpassen! Sie wäre die Erste und die Letzte auf der Tanzfläche, ihr Lachen würde am lautesten durch die Räume hallen. Sie fehlt, aber ich weiß, wie sehr sie diesen Abend genossen hätte. Und wie froh sie wäre, wenn sie uns jetzt so sehen könnte: Lisa-Marie, Amélie, Papa, mich und die Unvermeidlichen – ihre Familie.
Aus dem Fernseher klingt das Lied, das ich so häufig in Elvis’ Version aus Lillis Zimmer gehört habe: »Love Me Tender«.
Papa hebt den Kopf, er sieht zu mir herüber. Unsere Blicke treffen sich. Auch er denkt jetzt an Lilli. Als Hedi ihre Hand auf Papas Arm legt, wendet er sich ihr wieder zu. Ich sehe zu den Tanzenden hinüber, die sich jetzt als eng umschlungene Paare im Rhythmus wiegen.
Tina steht an der improvisierten Bar und verfolgt das Treiben auf der Tanzfläche mit unergründlichem Blick. Ist sie traurig? Ob sie auch jemanden vermisst? Sie scheint meinen Blick zu spüren, schaut mich an und hebt ihr Weinglas. Ich winke ihr zu.
Vielleicht ist es im Leben genauso: Irgendjemand fehlt immer. Vollkommen ist das Leben nur für die Dauer eines Lidschlags: als Andreas mir nach unserer ersten Nacht das rote Seidenband brachte. Die Nacht, in der ich mein Haus in der Wiesenstraße entdeckte. Als man mir Amélie nach der Geburt auf den Bauch legte. Der Sommertanz mit Simon im Garten. Jedes Mal, wenn Lilli ihr Lächeln lächelte, bei dem ich das Gefühl hatte, das Leben würde in seiner ganzen Schönheit vor mir leuchten wie ein Korb duftender Pfirsiche an einem Sommertag. Auch der Augenblick, den Papa wählte, um mir endlich zu erklären, warum er Mamas Garten zerstören musste. Und zuletzt der Moment im Badezimmer vor vier Tagen, vor einer Ewigkeit, als Andreas und ich uns zum ersten Mal wieder küssten … Diese vollkommenen Momente machen das Leben aus. Dazwischen wird es immer wieder hart, anstrengend, furchterregend, unverständlich und auch ungerecht sein. Aber für diese vollkommenen Momente lohnt es sich, den Rest auszuhalten.
Der Musikrhythmus ändert sich, Dieter zieht mich in die Gruppe der Tanzenden hinein. Wenig später intonieren wir gemeinsam den Klassiker: »We – will – we – will – ROCK – YOU!!«
Ich hopse, als wäre ich ein Nachwuchs-Punk beim Pogo-Wettbewerb, und freue mich an meiner Kondition und Beweglichkeit.
Vielleicht sollte Tina mehr Sport treiben – dann wäre ihr das Herumgehüpfe auch nur noch halb so peinlich. Sie scheint jedoch ihre Bedenken über Bord geworfen zu haben, denn sie kämpft sich zu mir durch. Allerdings nicht, um mit mir zu tanzen. »Da ist jemand für dich!«, schreit sie mir ins Ohr und zeigt in Richtung Haustür.
»Wer denn?«
Aber sie hat sich schon wieder umgedreht und rudert in Richtung Bar zurück.
Als ich noch außer Atem und leicht verschwitzt in den Windfang einbiege, steht dort Andreas.
Andreas! Zum ersten Mal bemerke ich, dass seine dunklen Haare an den Schläfen einen schmalen Silberrand bekommen haben. Wieso ist mir das in den vergangenen Tagen gar nicht aufgefallen? Hinter den Brillengläsern mustern mich seine dunklen Augen. Um seinen Mund liegen Schatten. Er sieht aus, als hätte er schlecht geschlafen. Wieder fängt mein Herz an zu rasen. Ich will ihm am liebsten sofort um den Hals fallen. Aber er sieht so ernst aus, dass ich unwillkürlich verharre.
»Ist was passiert?«, ist das Einzige, was ich herausbekomme.
Andreas schüttelt den Kopf. Seine Stirn liegt in Falten.
Wir taxieren uns zögernd. Gleichzeitig lächeln wir vorsichtig. Je länger wir uns ansehen, desto breiter wird das Lächeln, das unsere Mundwinkel hebt. Ich habe den Eindruck, in einen Spiegel zu blicken.
Andreas öffnet seine Arme – und da weiß ich, dass alles gut wird. Ich laufe zu ihm. Er hält mich fest, sehr fest. Und dann bedeckt er mein Gesicht mit vielen kleinen Küssen, bis seine Lippen endlich meine finden. »Du hast mir so gefehlt!«
»Du bist doch gestern erst gefahren.«
»Ich meine nicht die beiden letzten Tage. Ich meine die letzten zwei Jahre.« Er nimmt meinen Kopf in seine Hände und sieht mich eindringlich an. »Ich musste einfach zurückkommen!«
»Du wolltest doch wegfahren!«
»Das war ein Fehler. Das weiß ich jetzt.«
»Was ist mit deinem Dienstplan?«
Andreas schüttelt seinen Kopf. »Dienstpläne kann man ändern.«
»Warum hast du nicht angerufen?«
»Ich wollte keine Zeit verschwenden. Ich habe mich einfach wieder ins Auto gesetzt.«
Ein Polonaisezug zieht jubelnd an uns vorbei und zur Haustür hinaus. Tina führt, und die, die hinter ihr laufen, werfen Konfetti durch die Gegend. Andreas zieht mich aus dem Windfang ins Haus. »Wo können wir in Ruhe miteinander reden?«
Mir fällt nur mein Zimmer ein. Ich zeige nach oben. Andreas nickt. Wir bahnen uns Hand in Hand einen Weg durch die Partymeute. Der Polonaisezug ist bereits auf dem Rückweg.
Tina ruft uns zu: »Gleich ist Mitternacht!«
Wir nicken nur. Oben angelangt, schließt Andreas die Tür.
»Warum bist du nicht gleich in Hamburg geblieben?«, frage ich, als wir beide auf dem Bett liegen. »Damit hättest du dir ein paar Autobahnstunden gespart.«
»Du bist erschreckend praktisch.«
»Und du glücklicherweise romantisch.«
Andreas stützt sich auf seinen Ellbogen. »Es lag an deinem Partyplan: Ich habe dich gar nicht wiedererkannt. Die Franziska, die ich geheiratet hatte, feierte keine Partys.«
»Von der Franziska, die du geheiratet hast, hast du dich scheiden lassen!« Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten und frage: »Mochtest du die andere Franziska lieber?«
»Nein. Ich vermute sogar, dass du wunderbares Wesen, wer auch immer du in Wahrheit bist, immer schon in der alten Franzi gelebt hast. Du bist nur nicht herausgekommen. Entweder hast du dich nicht getraut – oder du fandest es hier draußen nicht schön genug. Vielleicht hat das auch an mir gelegen.«
»An dir?«
»Ja, ich hätte dich vielleicht früher entdecken können.«
»Habe ich mich wirklich so verändert?«
»O ja! Das ist mir in der letzten Woche aufgefallen.«
»Du meinst: keine Bastelarbeiten, keine Strickkörbe?«
»Ja – und noch viel mehr. Deine neue Begeisterung für Sport. Du hast mich gefragt, ob wir gemeinsam laufen.«
»Haben wir bisher aber leider noch nicht getan.«
»Ich war von deiner Frage so überrascht, dass ich es gar nicht glauben konnte. Wenn ich früher gelaufen bin …«
»… habe ich das nie boykottiert!«
»Nein, aber du hast auch nicht mitgemacht. Ich hatte immer das Gefühl, dass du den Sport als Rivalen gesehen hast.«
Dieser Gedanke ist mir neu. Aber ich muss zugeben: »Vielleicht hast du damit recht. Denn das war Zeit, die du nicht mit mir verbrachst hast.«
»Du hättest jederzeit mitmachen können. Stattdessen hast du gesagt: ›Lauf du nur, in der Zwischenzeit koch ich uns etwas.‹«
»Das war doch nett, oder?«
»Ja und nein. Ich habe etwas nur für mich getan – das Laufen. Du hast etwas für uns getan – das Kochen. Das hat mich bedrückt. Mir wäre lieber gewesen, wir hätten gemeinsam etwas für uns getan. Und zwar, weil es dir wirklich Spaß macht.« Er sucht meinen Blick. »Ich hätte dich gern gefragt, ob du mitkommen willst. Zum Laufen oder zum Fahrradfahren. Jedenfalls am Anfang. Später warst du so … eingeschlossen in deiner Enttäuschung, deiner eigenen Welt. Als ob …« Er lächelt wehmütig. »Als ob du dich selbst in einen Kokon eingehäkelt hättest.«
Ich beginne langsam zu verstehen. »Und du hast dich gleich mit eingehäkelt gefühlt in diesem Kokon? In unserer Ehe?«
Andreas nickt. »Nach Johannes’ Tod fühlte ich mich auch wie tot. Ich spürte mich nicht mehr. Ich spürte auch unsere Verbindung, unsere Liebe nicht mehr.«
»Und jetzt?«
Andreas setzt sich auf. Er reibt sich aufgeregt die Hände.
»Jetzt lebe ich wieder! Mir ist heute Morgen etwas klargeworden. Ich habe verstanden, dass die Liebe ein Marathon ist. Wir haben schon gute fünfundzwanzig Kilometer hinter uns. Und können uns auf die nächsten freuen. Und wenn ich es nach den letzten Tagen beurteile, reicht unsere Kondition noch bis zum Ziel. Franzi, ich habe damals viel zu früh aufgegeben. Und mich beinahe um alles gebracht. Ich war so ein Idiot!«
Ich will etwas sagen, aber Andreas hebt abwehrend die Hand. »Warte noch. Ich will noch etwas sagen. Also … Du brauchst keine Angst zu haben, dass ich dich nach Dänemark holen will. Dass das keine gute Idee war, habe ich verstanden. Ich habe in den letzten Tagen überhaupt so einiges verstanden. Ich habe immer gedacht, dass ich eine Frau und eine Familie will. Aber ich will eben nicht irgendeine Frau – ich will dich.«
Er beugt sich vor und sagt mit großer Dringlichkeit: »Ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen. Ich muss!«
Ich wage kaum zu atmen und halte unwillkürlich die Luft an.
»Ich muss mit dir zusammen sein. Um zu leben. Mit dir und mit Amélie und Lisa-Marie.« Ich atme aus. Alles ist gut. Das Glück ist da.
»Auch, wenn ich Partys veranstalte?«
»Auch dann!«
»Wenn ich in Hamburg lebe?«
»Das habe ich doch schon gesagt.«
»Und wenn ich uns wieder einhäkele?«
Andreas lacht. »Soviel ich weiß, hast du gar keine Häkelnadeln mehr im Haus! Da probiere ich lieber mal diese exotische Ballsportart mit dir aus, Indi … Indi-irgendwas.«
»Indiaca.«
»Indiaca. Willst du das?«
»Was?«
»Willst du es mit mir noch einmal probieren?« Es ist klar, dass hier nicht von Indiaca die Rede ist. Andreas zieht mich in seine Arme. Für einen Augenblick fallen mir die Worte ein, mit denen er damals einen Schlussstrich unter unsere Scheidung gezogen hatte: »Du willst zu wenig.«
Ich fühle sein Herz klopfen. Ich atme tief ein. Ich atme aus. Dies ist einer der Momente, in denen das Leben rund und vollkommen ist. In denen nichts und niemand fehlt.
Ich sehe in seine Augen und sage: »Ja, ich will.«
Andreas fummelt etwas aus seiner Hosentasche. Es ist das rote Seidenband, das ich ihm nach unserer Scheidung ins Portemonnaie gesteckt hatte. Er schlingt es um mein Handgelenk und macht einen Knoten. »Das gehört dir. Pass gut darauf auf.«
Ich will ihn küssen, aber er hebt die Hand. »Sag mal, höre ich da Amélie?«
In der Tat ist ein leises Rufen aus dem Kinderzimmer zu hören.
Ich springe auf. »Normalerweise haben Mütter bessere Ohren als Väter.« Ich laufe nach nebenan.
Amélie ist tatsächlich halbwach und streckt mir ihre Ärmchen entgegen. Die anderen Kinder schlafen tief. Schnell nehme ich sie aus ihrem Bettchen und bringe sie in mein Zimmer. »Jetzt haben wir also eine Long-Distance-Beziehung und zwei Kinder«, sagt Andreas, nachdem wir uns alle auf das Bett gekuschelt haben. »Hoffentlich haben wir da auch genug Zeit füreinander.«
Mir kommt eine Idee. »Vielleicht sollten wir als Familie einen gemeinsamen Urlaub planen. Was hältst du von einem Ferienhaus in …« Mein Blick fällt auf den Bilderrahmen mit Mamas Lieblingsgedicht. Ich sehe weiße Segelboote auf dem blauen Meer und sage: »… in Griechenland? Vielleicht in der Nähe eines Hafens oder einer Bucht, damit man segeln kann?« Andreas lächelt.
Wie konnte ich so lange Zeit ohne dieses Lächeln leben?
Unten im Haus verstummt die Musik schlagartig. Vielstimmig wird das alte Jahr ausgezählt: »… fünf – vier – drei – zwei – eins!«
Andreas zieht mich hoch und nimmt Amélie auf den Arm. Wir schauen aus dem Fenster des Schlafzimmers. Unten im Hof knallen die Böller, das bunte, gleißende Licht der Raketen und anderer Feuerwerkskörper leuchtet am schwarzen Nachthimmel.
Es klopft an der Tür, Tina streckt den Kopf herein.
»Ein gutes neues Jahr, ihr Turteltäubchen! Unten gibt es Sekt, habt ihr Lust?«
Eine Stunde später haben alle angestoßen und hat jeder jeden umarmt. Die Kinder haben ihre Wunderkerzen abgebrannt, und der letzte Luftballon ist zertreten. Nach und nach verabschieden sich die Gäste. Sophie und Tom fahren Hedi nach Hause. Papa und die Unvermeidlichen wollen in der Kneipe beim Schachclub noch einen Absacker trinken. Am Ende bleiben nur noch Andreas, Tina und ich übrig. Und Amélie und Lisa-Marie, die seit dem großen Abschied der Partygäste beide wieder munter sind, aber im Spielzimmer selig in einer Höhle spielen, die die größeren Kinder gebaut haben.
Wir sitzen in dem stillen Haus, trinken Wein und naschen Käse, den Tina im Kühlschrank gefunden hat. Auch sie scheint überhaupt nicht müde zu sein.
Es ist kurz vor zwei. Amélie und Lisa-Marie sind in der Höhle eingeschlafen. Andreas erzählt Tina von unseren Urlaubsplänen, als es klingelt. »Ich geh schon!«, ruft Tina mit einer ungewöhnlich aufgeregten Stimme und eilt zur Tür.
»Vielleicht hat jemand etwas vergessen?«, vermutet Andreas und blickt auf das Partychaos aus Luftschlangen, Gläsern, Flaschen und zertretenen Kartoffelchips, das wir erst morgen beseitigen wollen.
Aber es sind völlig neue Gäste, die Tina mit rotem Kopf hereinführt.
»Cheng!«, rufe ich überrascht, als ich den Chinesen wiedererkenne.
Der verbeugt sich formvollendet, schüttelt Andreas die Hand und stellt seinen Begleiter vor: »Stanislaw.«
Von Stanislaw ist auch heute nicht viel zu sehen – nach wie vor ist er eingemummelt in Mütze, Schal und Mantel. Unüberseh-und -hörbar ist jedoch sein Akkordeon. Tina stellt schnell zwei weitere Gläser auf den Tisch. »Ich hatte Cheng eingeladen – aber er musste die ganze Nacht über arbeiten.«
Cheng verdreht die Augen. »Ich musste einer Delegation von business people aus China Silvester auf der Reeperbahn zeigen.«
»Und Stanislaw?«, flüstere ich Tina zu, als ich sehe, wie der Musiker in rasendem Tempo drei große Gläser Wein hinunterstürzt.
Tina sieht mich verlegen an. »Ich habe nur Cheng eingeladen. Aber er findet Akkordeonmusik einfach gut.«
Wie aufs Stichwort stellt Stanislaw das Glas weg, greift zum Instrument und spielt einen Tango. Cheng zieht Tina vom Stuhl hoch.
»Ich kann keinen Tango tanzen«, wehrt sie peinlich berührt ab. Cheng zieht sie an sich. »Du lernst jetzt!« Und ich sehe staunend, wie Tina ihren Widerstand aufgibt und sich in seine Arme schmiegt.
Ich spüre Andreas’ Lippen in meinem Nacken. »Komm, lass uns die Kinder ins Bett legen und nach oben gehen«, murmelt er. Wir verlassen unsere Gäste, die uns bereits völlig vergessen haben.
Während in der Ferne letzte Böller krachen und von unten süß und melancholisch Tangomelodien heraufdringen, nimmt Andreas seine Brille ab. Er zieht mich aufs Bett. »Ich habe keine Ahnung, wohin unsere Reise letztlich führt. Aber ich freue mich darauf. Denn weißt du was? Eine Frau mit zwei kleinen Kindern, in deren Küche ein Chinese Tango zur Musik eines russischen Akkordeonspielers tanzt, die darf ein Mann nie wieder loslassen.«