3. Kapitel
Es wird noch ein sehr schöner Tag werden
es wird noch ein sehr schöner Tag werden
Oh ich wünschte
Ich könnte es mir glauben.
Bernd Begemann: »Es wird noch ein sehr schöner Tag werden«
Immer, wenn ich angespannt bin, bastele ich. Das beruhigt mich. Wenn meine Hände beschäftigt sind, weicht die Nervosität. Wenn ich ausschneide, klebe oder falte, fühle ich mich wie unter einer Tarnkappe und habe ich das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, Anfassbares zu produzieren. Etwas, das meine Existenz bestätigt.
Renovieren jedoch ist Knochenarbeit. Ich habe an einem Tag nicht nur das letzte Zimmer gestrichen (in einem hellen Aprikot-Ton), sondern auch noch einen IKEA-Küchenschrank zusammengebaut. Dabei habe ich mir fast einen Bruch gehoben, weil ich den Karton mit den Einzelteilen vom Flur in die Küche schleppen musste. Im Anschluss habe ich mir beim Einsetzen der Schrauben für die Schublade zwei Fingernägel abgebrochen und den Daumen blaugehämmert. Vom Streichen habe ich immer noch mörderischen Muskelkater in den Oberarmen – die Dachschrägen haben es in sich.
Jetzt fehlen noch ein paar Anschlüsse, Steckdosen und Lampen. Aber der Anblick der herabhängenden Kabel und der noch zu streichenden Türen entmutigt mich, und auf einmal verspüre ich nur noch die Lust, etwas Kleines, Überschaubares zu basteln. Klappkarten! Das erscheint mir viel einfacher als die letzten Renovierungsarbeiten. Und ich habe bei meinem jüngsten Streifzug durch das Schanzenviertel im Büromarkt Hansen nostalgische Aufkleber mit Glitzerengeln gekauft … Denn natürlich bestelle ich nicht bei irgendeinem Homeshopping-Sender oder im Versandhandel für Bastelbedarf. Nein, ich bin Jägerin. Und als solche schleppe ich die Beute in meine Höhle und füge sie meinen Vorräten hinzu, mit denen ich jede Kindertagesstätte zwei Wochen lang nonstop bebasteln könnte. Ich sitze also am Küchentisch – und am Ende liegen fünfzehn Klappkarten vor mir. Weihnachten kommt bestimmt! Ich bin so vertieft in die letzten Feinheiten, dass mich erst das Telefon wieder zurückholt. »Wo bleibst du denn?«, keift Tina in mein Ohr. Der Kochkurs! Heute ist der erste Abend. Ich weiß schon, warum ich lieber bastele – da habe ich wenigstens keine unternehmungslustige Tina an meiner Seite.
Der Kochkurs wird ein Reinfall. Das liegt vor allem an meiner körperlichen Verfassung. Ich lande deutlich weniger enthusiastisch als Tina im »Nil«. Sie erwartet mich aufgekratzt mit einem Glas Prosecco in einer Gruppe gutgelaunter, miteinander schwatzender Menschen. Bevor sie mich begrüßt, wirft sie einen strafenden Blick auf mein rechtes Hosenbein. Das habe ich hochgekrempelt, weil Andreas’ altes Fahrrad, das er nicht mit nach Dänemark genommen hat, keinen Kettenschutz besitzt. Immerhin habe ich mir ihren Hinweis zu Herzen genommen und eine elegante, weiße Leinenhose zu meinem besten schwarzen T-Shirt angezogen. Tina selbst hat ihre langen seidigen Haare zu einer formschönen Banane aufgedreht, trägt eine blütenweiße Bluse und eine enge, weiß-blau karierte Hose. Wäre sie nicht deutlich über 1,70 Meter groß, würde man sie glatt für Audrey Hepburn während ihrer kulinarischen Ausbildung in »Sabrina« halten.
»Dein Hosenbein!«, zwitschert sie jetzt nachdrücklich und gibt mir einen leichten Kuss auf die Wange.
Bevor ich abtauche, um den Makel zu beseitigen, raune ich zurück: »Du siehst großartig aus – so stelle ich mir eine Sterneköchin vor.«
Das ist keine oberflächliche Schmeichelei. Selbst wenn ich mein Idealgewicht halte, sehe ich neben Tina immer ein bisschen mollig und mopsig aus. Und meine blonden Locken lösen sich sowieso aus jeder Frisur – ich lasse sie einfach schulterlang herunterwachsen.
Früher störte mich das nicht weiter. Ich sah vielleicht aus wie ein Mauerblümchen, aber ich hatte Andreas. Tina dagegen sah immer aus wie ein Model, hatte aber ständig Liebeskummer, Beziehungsprobleme, Singlefrust. Durch die Trennung und die Scheidung hat sich das Ganze etwas verschoben, und ich kann es noch nicht richtig einordnen. Ich wollte nie ein Single sein. Doch jetzt bin ich es, scheitere an dem Zusammenbau eines Küchenschranks und treibe mich in Kochkursen herum, die ich so nötig habe wie Lippenherpes.
Kurz: Ich fühle mich nicht gerade in Topform, als ich mich nach unten beuge, um das hochgekrempelte Hosenbein runterzuwickeln: etwas verschwitzt, mit Muskelkater und schlaffen Gliedern. Dazu habe ich seit Tagen leichte Spannungsgefühle in den Brüsten und leide unter PMS. Durch den Stress und die ungewohnte körperliche Arbeit hat sich meine Periode verspätet. Vielleicht sind es auch bereits Symptome der Wechseljahre? Dass ich heute Morgen zu allem Überfluss auch noch einen Pickel auf dem linken Nasenflügel entdeckt habe, werte ich als eine der größten Ungerechtigkeiten überhaupt. Ich dachte, wenn man die ersten Falten bekommt, verschwinden wenigstens die Pickel. Aber wie sooft belehrt uns das Leben eines Besseren.
Als ich aus der Hocke hochkomme, fällt mein Blick auf einen Mann, bei dem mir der Atem stockt. Und der mich so strahlend anlächelt, als sei ich seine Traumfrau.
Jetzt verstehe ich, was Tina in Kurse wie diese treibt. Oder besser: wer. Solche Männer trifft man im Drogeriemarkt äußerst selten. Und ich verstehe die aufgeregte, summende Atmosphäre im Restaurant. Denn der Mann, der mir herzlich lächelnd mit der einen Hand ein Glas reicht, während er mit der anderen ein Klemmbrett hält, sieht nicht nur gut aus – er hat eine so freundliche Ausstrahlung, dass ich beinahe fühle, wie ihm mein Herz zufliegt. Er ist nicht besonders groß, aber er hat vergnügte, offene Augen, kurze schwarze Haare und ein sympathisches Lächeln. Er ist bestimmt immer Klassensprecher gewesen und umschwärmter Kapitän der Schulmannschaft, schießt es mir durch den Kopf. Und wenn ein Neuer in die Klasse kam, hat er sich als Erster vorgestellt und die übliche Mauer von Schüchternheit und Fremdeln mit einem freundlichen Satz durchstoßen. So jemanden wünschen sich Männer als Freunde und Frauen als Liebhaber …
»Hallo, ich bin Stefan – und du?«
Tina stößt mich in die Seite. »Du bist gemeint, Franzi!«
Verwirrt sehe ich erst sie, dann den Mann an. »Hm?«
Ringsum wird gelacht und gekichert, alle starren mich an.
Ich spüre, wie ich rot werde. »Entschuldigung, ich war in Gedanken.«
Stefan hält mir immer noch das Glas hin. »Kein Problem, wir fangen einfach noch einmal von vorn an.« Er hebt das Glas in meine Augenhöhe und lächelt erleichtert, als ich es ihm endlich abnehme. Dann konsultiert er sein Klemmbrett. »Es fehlen immer noch zwei, aber vielleicht kommen die gar nicht. Eine Abmeldung habe ich zwar nicht erhalten, aber …«
Er zählt die Gruppe durch, wirft einen Blick auf die große Uhr über dem Tresen. Dann wendet er sich den Teilnehmern zu. »Kommt doch bitte alle zusammen, damit wir uns vorstellen können.« Er nickt mir aufmunternd zu. »Dass ich Stefan bin, haben wohl alle mitbekommen. Ich bin Koch, leite den Kurs, komme aber leider nicht aus Wien. Falls keiner etwas dagegen hat, schlage ich vor, dass wir uns duzen. Ihr werdet sehen: In der Küche ist nicht viel Platz für Höflichkeiten, das ›Du‹ macht alles etwas leichter. Ich möchte jetzt gern mit einer kleinen Vorstellungsrunde beginnen. Dabei interessieren mich außer euren Namen die Gründe, warum ihr diesen Kurs machen wollt.« Er zeigt auf mich. »Die Letzten werden die Ersten sein. Bitte!«
Ich bin nicht besonders schüchtern, aber ich hasse solche Momente. Bestimmt leuchtet mein Pickel wie eine Ampel … »Ich bin Franziska und ich mache diesen Kurs, weil mich meine Freundin dazu überredet hat«, erkläre ich wahrheitsgemäß und zeige auf Tina.
Alle lachen. Auch Stefan, der den Ball aufnimmt und sich sofort an Tina wendet. »Prima, dann kann uns Tina bestimmt erklären, warum sie Franziska ausgerechnet zu diesem Kurs überredet hat!«
Tina wird natürlich kein bisschen rot, sie schenkt ihr hinreißendes Lächeln Stefan und einem Mitvierziger im Anzug, der in ihr Beuteschema passt, und gurrt: »Ach, weißt du, Stefan, österreichische Küche finde ich einfach unglaublich …« – sie pausiert bedeutungsvoll und lässt dann das Wort in den Raum fließen wie warme Schokoladencouvertüre auf einen frisch gebackenen Kuchen – »… unglaublich sinnlich.«
Stefan sieht sie so erfreut an, als hätte sie ihm gerade einen Michelin-Stern verliehen. »Wunderbar! Das geht mir auch so. Dann bist du hier richtig.« Er wendet sich an die Gruppe. »Italienische Küche – si, naturalmente. Französische Küche – o, là, là! Aber am sinnlichsten ist eindeutig die Küche aus Österreich. Heute Abend werdet ihr alle einen Strudel machen, und wer schon einmal Strudelteig in der Hand gehabt hat, weiß, wovon ich spreche: ein einmaliges taktiles Erlebnis, für das es kaum Worte gibt. Der Teig muss sich nämlich so anfühlen wie ein Babypopo …« Bei den Worten »taktiles Erlebnis« verschleiern sich Tinas Augen erwartungsfroh. Mir dagegen wird heiß, und ich habe das Gefühl, leicht zu schwanken. Der Prosecco scheint mir nicht zu bekommen.
Als Nächstes stellt sich der Anzug vor. Er heißt Bernhard, hat im Skiurlaub die österreichische Küche lieben gelernt und den Kurs von Freunden zum Geburtstag geschenkt bekommen. Tina wirft mir einen »Na-bitte!«-Blick zu.
Es folgen die Freundinnen Angelika und Heidrun, die keinen Platz mehr in dem Kurs Mai-Küche bekommen haben und »einfach neugierig« sind. Bei dem Wort »neugierig« lächelt Heidrun, eine schmale Enddreißigerin mit Überbiss, erst Stefan, dann Bernhard beseelt an.
Dies veranlasst Tina, Stefan ihr Glas zum Nachschenken hinzuhalten, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. Wenn mir nicht so schlecht wäre, würde ich das sogar unterhaltsam finden. Es ist immer dasselbe mit Tina: Wenn sie nicht im Mittelpunkt steht, ändert sie das umgehend.
Doch jetzt präsentieren sich Jonas und Suse, ein stilles Lehrer-Ehepaar, das von seinen Kindern mit dem Kochkurs überrascht wurde. »Österreich, weil Suse am liebsten die alten Sissi-Schinken im Fernsehen sieht«, verrät Jonas und legt seinen Arm um Suses Schulter. Die beiden sind zwar nicht gerade ein attraktives Paar, aber die vertraute Geste löst in meinem Herzen kurzfristig ein neiderfülltes Ziehen aus. Andreas hat mich auch immer mit solcher Selbstverständlichkeit berührt. Obwohl mir mittlerweile wirklich gar nicht mehr gut ist, bemerke ich mit einer gewissen Genugtuung, dass sowohl Tina als auch Heidrun und Angelika ebenfalls bei Jonas’ zärtlicher Geste zusammengezuckt sind. Ich muss wirklich sehr an PMS leiden, denn anstatt in frisch geschiedener Melancholie zu versinken, zische ich Tina schadenfroh zu: »Grandiose Idee, in einem Kurs Männer kennenzulernen, die sich ihre Frauen selbst mitbringen.«
Tina sieht mich entsetzt an. »Findest du diesen Jonas etwa interessant?«
Ich schaue ihn mir genauer an, die Halbglatze, die lustigen blauen Augen und das kleine Bäuchlein über dem Gürtel, und kann guten Gewissens den Kopf schütteln. »Ich meinte das nur prinzipiell. Uns bleibt ja immerhin noch Bernhard.«
Tina spitzt den Mund. »Und Stefan.«
Aber das stimmt nicht. Stefan ist gerade dabei, die Schürzen zu verteilen, als die Tür aufspringt und zwei Männer – einer mit raspelkurzen blonden Haaren, der andere mit schwarzen Locken, Mitte dreißig, breitschultrig und groß – mit prall gefüllten Sporttaschen und viel Gelächter in den Raum platzen. »Sorry, wir sind zu spät! Aber wir mussten noch in die Verlängerung gehen.« Sie verbreiten einen Duft von Frische, Duschgel und Rasierwasser.
Stefan blickt erst hoch, dann auf sein Klemmbrett. »Daniel und Matthias?«
Die beiden nicken. Der Blonde zeigt auf sich. »Ich bin Daniel.« Der Dunkelhaarige ergänzt: »Und ich Matthias.«
Es stellt sich heraus, dass Daniel und Matthias in derselben Freizeitfußballmannschaft spielen, beide im IT-Bereich arbeiten und gehört haben, dass österreichische Küche derzeit »total angesagt« ist. Mit den beiden kommt Schwung in den Kurs. Angelika und Heidrun ziehen sich die Blusen glatt. Sie tauschen erst verschwörerische Blicke miteinander, dann werfen sie kecke Blicke in Richtung des Kicker-Duos.
Tina wischt ein nicht vorhandenes Stäubchen von ihrer immer noch blütenreinen weißen Bluse und sorgt dafür, dass die beiden stimmungsmäßig aufholen können. »Stefan, wo bekommen unsere Sportler ein Glas für den Aperitif? Und wollen wir nicht langsam loslegen und beispielsweise besprechen, wer mit wem was macht?« Dabei lässt sie keinen Zweifel daran, dass sie entweder mit Matthias oder Daniel im Team backen will.
Jetzt verstehe ich auch, was sie so sinnlich an der österreichischen Küche findet: Knödelkneten. Na, bravo. Dass ich in ihren Überlegungen keine Rolle spiele, finde ich nicht problematisch. Vielleicht liegt es wirklich am Alkohol, aber das kodderige Gefühl scheint sich eher zu verstärken als abzuflauen. »Kann einem auch vor dem Essen schon schlecht werden?«, frage ich Tina leise. »Ich habe noch gar nichts gegessen, aber …«
Tina wirft mir einen besorgten Blick zu. »Vielleicht ist dir der Sekt auf nüchternen Magen nicht bekommen? Du bist so blass. Willst du an die frische Luft?«
Doch ich werde einer Antwort enthoben, denn Stefan treibt uns alle die Wendeltreppe hoch in die Küche. Als Erstes verarbeitet er, assistiert von Tina, neidisch beäugt von Heidrun und Angelika, Mehl, Salz, Öl und lauwarmes Wasser zu einem glatten, elastischen Teig. Tina darf den Teig zu einer Kugel formen und mit Butter bestreichen. Sie macht das so gekonnt, dass Daniel und Matthias sie mit halb geöffneten Mündern anstarren und Bernhard spontan sein Jackett ablegt. Mit einem scharfen Messer schneidet Stefan ein Kreuz in den Teig und verpackt den Superklops in Folie. »Der hat jetzt zwei Stunden Zeit, um in sich zu gehen«, scherzt er. »Und nun zur Vorspeise.«
Noch gelingt es mir, mich zusammenzureißen. Aber als wir uns alle um die sogenannten »Posten« verteilen sollen und Stefan sagt: »Für die Zubereitung der Tiroler Speckknödel wird eine Kloßmasse mit Speck vermengt«, spüre ich bei dem Wort »Kloßmasse« erst einen scharfen metallischen Geschmack auf der Zunge und dann jede Menge bittere Spucke im Mund, die sich einfach nicht mehr wegschlucken lässt.
»Entschuldigung!« Ich bin froh, dass ich mir gemerkt habe, wo die Toilette ist. Ich rase die Treppe hinunter, erreiche in letzter Sekunde die rettende Tür und übergebe mich, wie ich mich noch nie übergeben habe.
Endlich ist es vorbei, und während ich mir erschöpft das Gesicht mit kaltem Wasser abwasche, zermartere ich mir das Gehirn, wo ich mir eine Magen-Darm-Grippe zugezogen haben könnte. In der Praxis werden wir ständig mit Keimen konfrontiert, aber im Laufe der Zeit bin ich gegen vieles immun geworden. Außerdem werden wir geimpft und waschen uns andauernd die Hände. Erstaunlicherweise geht es mir bald wieder gut. Ein Blick in den Spiegel überzeugt mich, dass mein Pickel nicht mehr als ein roter Punkt ist, und ein bisschen Farbe habe ich auch wieder auf den Wangen.
Einigermaßen gefasst steige ich in die Küche hinauf. Hier ist man inzwischen beim Hauptgericht angelangt. Tina kabbelt sich mit Daniel und Matthias am großen Topf, in den das Fleisch für den Tafelspitz versenkt werden soll. Niemand würdigt mich eines Blickes, Bernhard hat sich Angelika und Heidrun angeschlossen und diskutiert die Frische von Meerrettich – dem österreichischen »Kren«. Nur Suse, die mit Jonas Gemüse putzt, wirft mir einen nachdenklichen Blick zu. Vielleicht macht sie sich Sorgen, dass ihr Jonas von der flirtigen Stimmung angesteckt wird, die Tina und die Sportler verbreiten. Befürchtet sie, dass er dadurch in Heidruns oder meine Arme getrieben wird? Es sind schließlich vier anhanglose Frauen im Kurs.
Doch Jonas interessiert sich mehr für den Liebstöckel auf dem Brett vor sich als für mich. Ich werde flugs zum Schnittlauchschneiden für die Soße eingeteilt. Dabei erklärt mir Stefan, dass Einfachheit beim Kochen das A und O sei: »Einfach und ein bisschen Pfiff!« Nebenbei nennt er mir noch das Rezept für seinen Lieblingsgurkensalat, der zu allem passt: »Rote Zwiebeln klein hacken, Gurkenscheiben dazu, Salz, Zucker, durchziehen lassen. Später viel Dill und einen tüchtigen Klacks Crème fraîche zur Abrundung.«
Beim »tüchtigen Klacks Crème fraîche« wird mir wieder ein bisschen schwindelig, aber es gelingt mir, die Übelkeit mit einem großen Glas Wasser zu bekämpfen.
Alle sind bester Laune, reden durcheinander und löchern Stefan mit Fragen. Was er von seinem Arbeitsalltag erzählt, ist mir als Tochter eines Kochs nicht neu. Doch ich spüre zum ersten Mal so etwas wie Mitgefühl und Interesse für diesen Beruf. Fast beginne ich, meinem Vater Abbitte zu leisten. Habe ich ihn jemals nach seinen Träumen gefragt? Danach, warum er Koch werden wollte? Während ich Stefan zuhöre, wie er mit leuchtenden Augen von gelungenen Menüs spricht, wie er die Namen exotischer Gewürze über seine Zunge rollen lässt, als wären es die Namen seiner Geliebten, begreife ich, dass Papas Satz von der Stressresistenz eines Kochs nur die halbe Wahrheit war. Wer Koch wird, ist vor allem eins: leidenschaftlich von dem Wunsch getrieben, das Glück zu finden – in der perfekten Kombination von Zutaten, in einem speziellen Geschmack. Nicht nur für sich, sondern stets auch für andere, mit denen er dieses Glück teilen will. An einem großen Tisch.
Meine Stimmung hebt sich durch diese Erkenntnis. Tinas Laune dagegen hat einen spürbaren Dämpfer bekommen. Sie zieht sich so weit wie möglich von Daniel und Matthias zurück und quetscht sich mit Gewalt zwischen Suse und mich.
»Was ist denn los?«, flüstere ich und schiebe ihr die Suppenterrine hin.
Tina füllt sich großzügig von der leckeren Suppe auf den Teller. »Gar nichts ist los, das ist ja das Problem«, flüstert sie zurück.
»Und wieso nicht?«
Tina verdreht die Augen. »Na, weil die keine Verwendung für Frauen haben!«
Ich betrachte die beiden, die der Suppe mit großem Appetit zusprechen. »Wieso? Sind beide in festen Händen?«
Tina fasst sich an den Kopf. »Du sagst es. Aber gegenseitig.«
»Gegenseitig?« Bei mir fehlt ein Cent zum Euro. Ich sehe wieder zu den beiden hinüber, die jetzt mit Heidrun scherzen. Endlich begreife ich. »Du meinst …?«
Tina nickt ergeben. »Ja, sie sind ein Paar. Stockschwul.«
Ich verbeiße mir eine Bemerkung über Männer in Kochkursen. Ein Blick auf Tinas Miene verrät mir, dass diese ersten Widerstände ihren Jagdtrieb eher beflügeln. Es kommen ja noch zwei Beutetiere in Frage: Bernhard und Koch Stefan selbst.
Während der weiteren Vorbereitung des Hauptgangs robbt sich Tina beharrlich an Bernhard heran. Als ich vom Abwaschbecken hochblicke, sehe ich, dass sie ihm einen Apfel so kokett hinhält wie Eva ihrem Adam. Diesmal führt die Geste nicht zur Vertreibung aus dem Paradies – jedenfalls nicht sofort. Bernhard lächelt glückselig, greift nach der reifen Frucht und beginnt sie zu schälen. Als er sie Tina zur Weiterverarbeitung reicht, scheint er ihr mindestens einen Fünf-Karäter zu übergeben. Zu meiner Überraschung schneidet sie den Apfel jedoch hastig in Scheiben und wirft ihn in eine Schale mit Semmelmehl, Zucker, überbrühten Rosinen, Mandeln, Vanillezucker und Zimt. Dann kehrt sie Bernhard den Rücken zu. Ich folge seinem waidwunden Blick und verstehe sofort, was Tinas Interesse gefesselt hat: Stefan und der Teigklops. Sie versenkt ihre Finger dicht an dicht mit Stefans Händen im Strudelteig, der jetzt »genau richtig« ist, wie unser Maestro verkündet.
Nach dem beharrlichen Kneten bekommt jeder von uns einen Klumpen Teig ausgehändigt. Stefan hatte recht mit sei-ner Beschreibung: Der Teig fühlt sich wirklich einzigartig gut an. Samtig weich und von einer Konsistenz wie zarte, glatte Haut. Suse und Jonas, offenbar die Einzigen mit Kindererfahrung, strahlen erst einander, dann quer durch den Raum alle anderen an. »Es stimmt, Stefan: So fühlen sich Babypopos an!«
Wir rollen den Strudelteig so vorsichtig wie möglich aus.
»Ihr müsst die flachen Hände unter die Teigplatte schieben und den Teig gleichmäßig über den Handrücken immer dünner ausziehen«, empfiehlt Stefan seiner schwitzenden Crew. »Der Teig ist richtig, wenn ihr die Zeitung – oder sagen wir: einen Liebesbrief – durch ihn lesen könntet.« Dabei lächelt er unverfroren Tina an, die glasige Augen bekommt.
Damit ist wohl besiegelt, wen Tina heute Abend abschleppen wird, denke ich und genieße das Gefühl des Teiges an meinen Händen. Ich beobachte Suse, die mit ruhiger Hand den Strudelteig pergamentpapierdünn zieht und sich von ihrem Umfeld nicht ablenken lässt. Ich kann mir vorstellen, dass sie eine gute Mutter ist. Und offenbar wird sie auch geliebt. Schließlich schenkt man doch Eltern, die man hasst, keinen Kochkurs, oder? »Kommt auf die Eltern und deren Kochkünste an«, würde Tina jetzt vielleicht sagen.
Aber die kann im Moment gar nichts sagen. Denn auch der gute Bernhard ist ein Jäger und Sammler – er lässt sich seinen Schneid nicht so schnell von einem Kerl mit Kochmütze abkaufen. Im Gegenteil: Jetzt läuft er zu großer Form auf, lässt sich von Tina helfen, nutzt jede Möglichkeit, sie zu berühren, indem er vorgibt, ein Stück Teig von ihrer Bluse schnippen oder ihr den Mehlstaub von der Hose klopfen zu wollen. Tina fühlt sich geschmeichelt und lässt sich das gefallen. Als beide aus dem begehbaren Kühlschrank wieder auftauchen und die vorbereitete Vanillesauce mitbringen, ist nicht zu übersehen, dass sie geknutscht haben.
Endlich sind alle Teller gefüllt, der Tisch gedeckt und die Schürzen abgenommen. Wir sitzen im unteren Restaurantbereich, der Wein schimmert in den Gläsern, alle außer mir sind fröhlich, rotwangig und stolz. Stefan hält eine kleine launige Rede, lobt seine Küchenmannschaft und wünscht dann einen guten Appetit. Die Gläser werden erhoben, alle prosten Stefan zu. Daniel und Matthias stoßen an, blicken einander tief in die Augen und versinken dann in einem leidenschaftlichen Kuss. Was Stefan mit einem augenzwinkernden »Das ist der Romantik-Teil beim Romantik-Austria-Dinner!« kommentiert. Jonas lacht und gibt Suse gut gelaunt einen knallenden Kuss auf den Mund, woraufhin sie mit feuerrotem Kopf beginnt, an ihrem Stück Tafelspitz zu schneiden. Aber es freut sie doch – das ist an ihrem Lächeln zu sehen.
Heidrun, Angelika und ich widmen uns betont aufmerksam dem Essen, während Tina in der Hüftgegend offenbar mit Bernhard zusammengewachsen ist. Er spießt ein Stück Tafelspitz auf und will ihr gerade die Gabel in den Mund schieben, als sein Handy klingelt. Die Gabel weiter neckisch vor Tinas Mund balancierend, fummelt er das Telefon aus seiner Hosentasche. »Ja?« Abrupt sinkt die Gabel auf den Teller.
Tina schnappt wie ein Karpfen auf dem Trockenen.
Bernhard steht hastig auf. »Aber, Schatz, reg dich nicht auf! Hast du ihm die Tropfen gegen Blähungen schon gegeben? Warte einen Moment …« Seine Worte verklingen, als er zum Telefonieren auf die Straße geht.
Tina sieht mich entsetzt an. Und ich? Ich spüre wieder diesen fiesen metallischen Geschmack auf der Zunge und fliehe schnellstmöglich auf die Toilette. Und wenn ich zuvor gedacht habe, ich hätte mich in meinem Leben noch nie derartig übergeben, so kann ich das von dieser Brech-Arie auch wieder behaupten. Ich habe das Gefühl, mein Innerstes auszukotzen. Weil alles so schnell ging, habe ich nicht einmal die Tür der Kabine verschlossen. Ich knie vor der Schüssel, während Brechkrämpfe meinen Körper schütteln. Zwischen dem Würgen schnappe ich nach Luft und finde sogar Kraft genug, mich daran zu freuen, dass das »Nil« eine so gepflegte Toilette hat. Der Boden ist derart sauber, dass wir unseren Strudel davon essen könnten, schießt mir durch den Kopf. Dann spucke ich schon wieder, weil das Wort Strudel eine ungeheure Eruption in mir auslöst.
Während ich keuchend über der Schüssel hänge, fühle ich unerwartet einen kühlen Lappen auf meiner Stirn.
Ich drehe mich um und bemerke Suse hinter mir. Sie lächelt mich an und legt ihre Hände auf meine Schultern. »Besser?«
Ich zucke mit den Achseln, lasse mir aber bereitwillig von ihr aufhelfen. Sie dreht den Kaltwasserhahn auf und befiehlt kurz und sachlich: »Gesicht waschen und dann das kalte Wasser auf die Unterarme laufen lassen.« Jetzt weiß ich also, wie Suse als Mutter ist: ruhig, souverän und absolut vertrauenerweckend. Wenn diese Mutter sagt: »Das wird schon wieder!« – dann wird es das auch.
Die Tür geht auf. Stefan erscheint. In der Damentoilette? Mit einer raschen Handbewegung wischt er meine Verlegenheit weg. Er reicht mir ein Glas Wasser mit einem Schnitz Zitrone darin. »Du hast bestimmt einen völlig ausgetrockneten Mund, oder?« Stefan und Suse tauschen einen amüsierten Blick, der mir verrät, dass sie mehr wissen als ich.
»Was ist?«, frage ich, leere das Glas in einem Zug und reiche es Stefan zurück.
Er strahlt mich wieder mit diesem Lächeln an, das mich am Anfang des Abends ganz wackelig in den Knien werden ließ. »Na, hör mal, Franziska! Dass deine Übelkeit nichts mit unserem Kochkurs zu tun hat, weißt du doch wohl auch, oder?«
»Natürlich nicht«, beeile ich mich zu sagen. »Das ist bestimmt eine Magen-Darm-Grippe, die ich mir in der Praxis eingefangen habe.« Ich wende mich an Suse. »Ich bin Arzthelferin.«
Suse schüttelt den Kopf. »Hast du denn Durchfall?«
Das ist mir jetzt doch ein wenig zu intim – besonders, weil Stefan immer noch keine Anstalten macht, die Damentoilette zu verlassen. Aber da beide mich weiter mit geradezu unverschämtem Interesse angucken, antworte ich brav: »Nein, habe ich nicht, aber …«
Wieder tauschen Stefan und Suse einen vielsagenden Blick, ehe Stefan sagt: »Hör mal, Franzi – ich darf doch Franzi sagen?«
Ich nicke benommen.
»Ich bin vor zwei Wochen zum dritten Mal Vater geworden …«
Diesen Teil seines Satzes bekomme ich noch mit, weil ich denke: die arme Tina, zwei junge Väter an einem Abend. In einem Kochkurs, bei dem sie zeigen wollte, wie frei und unbeschwert das Leben ab vierzig wird. Was Stefan sonst noch sagt, geht in einem neuen Brechkrampf unter. Anschließend wische ich mir, geschwächt auf dem Klodeckel hockend, mit Suses Lappen das Gesicht ab.
Stefan nimmt meine andere klamme Hand. »Also, ich denke, du solltest morgen mal mit deinem Frauenarzt reden.«
Ich bin auf einmal wieder hellwach. »Ich soll mit meinem Frauenarzt reden?« Was für eine merkwürdige Situation: Da sitze ich mit einer Lehrerin und einem Koch auf der Damentoilette und lasse mich zum Gynäkologen überweisen!
Stefan nickt und drückt meine Hand. »Meine Frau sah nach ihren Kotzorgien auch immer so aus wie du: erschöpft, krank und gleichzeitig strahlend.«
Ich atme tief durch. Was soll das heißen?
In diesem Moment platzt Tina in unsere kleine Toilettenparty. Sie reißt die Tür mit Schwung auf und krakeelt: »Was läuft hier eigentlich? Händchenhalten auf dem Mädchenklo?« Ihr anzügliches Lächeln, das erst Suse, dann Stefan trifft, verglimmt, als sie mich Häufchen Elend auf dem Klodeckel hocken sieht. »Franzi, Süße, was ist denn los?«
Ich winke ab. »Mir geht’s gut, aber wie geht es dir? Wo ist Bernhard?«
Tina schneidet eine Grimasse. »Vergiss Bernhard. Eine weitere leere Hose an meiner Wäscheleine. Viel interessanter scheint der geschiedene große Bruder von Daniel zu sein. Der steht auf Frauen, sagt Daniel.« Sie macht eine Pause und bedenkt uns mit einem fragenden Blick. »Was macht ihr drei eigentlich hier?«
Stefan hilft mir auf und grinst. »Ich habe Franzi das Versprechen abgenommen, ihr Kind, wenn es ein Junge wird, Stefan zu nennen.«
Suse ergänzt schüchtern und mit einem Anflug von Humor: »Oder Felix. Von diesem österreichischen Wahlspruch: Tu felix Austria … Du glückliches Österreich.«
Auf Tinas Gesicht spiegelt sich Verwirrung, dann langsam ungläubiges Verstehen. Sie sucht meinen Blick. »Franziska Funk, was soll das heißen?«
Ich lächele sie kläglich an. »Tina, ich fürchte, ich bin schwanger.«
Woraufhin Tina mit einem kleinen Aufschrei auf den frei gewordenen Klodeckel sinkt.