19. Kapitel

Du warst da
Als ich traurig war
Jetzt blick ich zurück
Und sehe ein gutes Jahr.
Bernd Begemann: »Irgendwie klappt es mit uns«

Franziska, jetzt wird nicht mehr geheult!«, hatte Papa an dem Tag gesagt, als wir Lillis Zimmer ausräumten. Und als wäre das ein Zauberspruch, gelingt es mir in der folgenden Zeit, mich daran zu halten.

Mit jedem Monat schwindet der Schmerz über den Verlust von Lilli ein Stück mehr. Am Ende spüre ich ihn nur noch als festes Band, das meinen Oberkörper umspannt und sich manchmal qualvoll zusammenzieht.

Nachdem ich mich zunächst dagegen gewehrt habe, etwas in der Wohnung zu verändern, packt mich nach dem Ausräumen von Lillis Zimmer die Renovierungswut. Papa und Tischlerin Sophie haben mit vereinten Kräften Lillis alte Möbel abgebaut, zerlegt und zum Trödler transportiert. Die Wickie-Wickelkommode haben sie in das Schlafzimmer der Kinder gestellt, die muss natürlich bleiben. Danach wurde Lillis Zimmer in einem hellen Zitronengelb gestrichen. Mit einer bequemen Schlafcouch und einem Schrank verwandeln wir Lillis Zimmer in ein Gästezimmer. Hier legt sich Papa auch gern hin, wenn er Babysitter ist. Nur das Poster der »Befreiung« hängen wir erneut auf.

»Ein bisschen mehr Befreiung täte allen gut«, sagt Papa. Als er meine fragende Miene sieht, zählt er auf: »Befreiung von der Steuer, von schlechter Laune …« Wir grinsen uns an.

Ich fahre fort: »Befreiung von Nieselregen.«

»Von Mundgeruch!«

»Befreiung von schlechter Rap-Musik!«

»Oder vom Shopping-Kanal!«

»Befreiung von Rollvenen.« Damit überschreite ich jedoch eine Grenze. Papas Gesicht verschließt sich. Er sieht wütend aus. Schnell versuche ich die Situation zu retten: »War nur ein Scherz.«

Papas Gesicht über dem Elchmotiv seines neuen Lieblingspullovers entfaltet erneut seine tausend Lachfalten. »Reingelegt!« Er nutzt meine Überraschung und nimmt mich kurz und herzlich in die Arme. Mittlerweile umarmen wir uns bei jeder Begrüßung. Unsere neuen Umgangsformen reißen Tina zu der Bemerkung hin: »Man könnte meinen, ihr wärt frisch verliebt.«

Damit liegt sie gar nicht so falsch. Seit unserer Aussprache ist das Eis zwischen Papa und mir geschmolzen. Ich habe erkannt, wie sehr die Angst, die er als allein erziehender Vater um mich hatte, sein Verhältnis zu mir geprägt hat. Andererseits scheint er mich mittlerweile auch besser zu verstehen.

Jetzt zieht mich Papa liebevoll am Ohr. »Entschuldige, die Sache mit den Rollvenen war eine Steilvorlage für mich. Aber es erschüttert mich doch, dass du mir nicht zutraust, einen Witz zu verstehen.« Er hebt kämpferisch seine Faust vor dem Poster. »Meine befreiten Herren, auch wenn ich von Ihnen noch nichts gehört habe: Die Befreiung von Rollvenen sollten Sie in Ihrem Repertoire nicht vernachlässigen.«

Nach Ostern beginnt Simon bei seiner neuen Arbeitsstelle in Toulouse. Die leidenschaftliche Anziehung zwischen uns hat sich auf Zehenspitzen aus dem Staub gemacht. Die Liebesnacht nach Lillis Tod war der Epilog unseres Begehrens – für ihn und auch für mich. Wir sprechen nicht darüber, und es herrscht das stillschweigende Abkommen, auf ein letztes romantisches Treffen mit Übernachtung zu verzichten.

Stattdessen verabreden wir uns am Vorabend seiner Abreise zum Essen in dem italienischen Restaurant »Da Leo« in der Weidenallee, einem unserer Lieblingslokale. Simon trägt ein weiches Jeanshemd, das mich an das Wiedersehen nach unserer ersten Nacht denken lässt. Er wirkt erwachsener als noch vor wenigen Wochen. Als ob er größer geworden wäre. Simon ist ein bisschen bedrückt, aber vor allem hat er Reisefieber. »Willst du wirklich nicht zum Flughafen kommen?«, fragt er.

»Tränenselige Abschiedsszenen liegen mir nicht. Außerdem möchte ich ungern deine Familie treffen.«

Simon grinst spitzbübisch. »Das wird meine Mutter enttäuschen.« Er nimmt meine Hand mit einer lässigen, fast unbeteiligten Bewegung – so wie man mit einem Kugelschreiber spielt, der auf dem Schreibtisch liegt. »Sie wird im nächsten Jahr fünfzig. Du bist also quasi ihre Generation! Sie hätte zu gern die Frau kennengelernt, mit der ihr Sohn …« Er zögert kurz, wirft mir einen unsicheren Blick zu und vollendet dann tapfer seinen Satz: »… zusammen war.«

Danach herrscht einen Moment lang Schweigen. Simon sucht meinen Blick. Ich nicke, und wir lächeln einander an. Sind erleichtert und doch ein wenig ratlos. Simon runzelt die Stirn.

»Mach nicht so ein Gesicht«, versuche ich die Situation aufzulockern. »Du hast nur ausgesprochen, was ich längst weiß – seitdem du erzählt hast, dass du nach Toulouse willst.«

»Da wusstest du mehr als ich.«

Er klingt so verletzt, dass ich es mit einer ironischen Bemerkung versuche. »Die Weisheit des Alters!«

Doch Simon bekommt das in den falschen Hals. Er fährt hoch: »Also darum geht es? Ich bin dir zu jung! Ich hab’s doch geahnt!«

Nein, nein! Aber in wenigen Jahren wäre ich dir zu alt – wenn du deine eigene Familie gründen willst! Oder wenn du eine Glatze bekommst und einen Bauch, wenn du deine Altersängste mit einem hübschen jungen Mädchen wegflirten willst.

An dieser Stelle stutze ich. Dieser Gedanke erlaubt den Rückschluss, dass auch ich versuche, mit Simon meine Falten wegzubügeln. Das ist natürlich Unsinn. Jede Frau, die einen Jüngeren liebt, weiß: Das Gegenteil ist der Fall. Neben dem jungen Geliebten fühlt man sich besonders alt.

Aber ich behalte meine Gedanken für mich, lächele nur und sage: »Du weißt genau, dass du mir nicht zu jung bist.« Und dann spiele ich den Ball schnell zurück. »Bin ich dir etwa zu alt?«

»Nein, natürlich nicht. Darum geht es doch nicht.«

»Siehst du!«

»Aber warum trennen wir uns dann eigentlich? Weil ich mal kurz was mit Lilli hatte? Das war doch vor dir!«

Ehrlich und offen antworte ich: »Nein, deswegen auch nicht.«

»Weswegen dann?«

»Hör mal, du hast gesagt, dass wir zusammen waren!«

Auch wenn wir beide wissen, dass es vorbei ist, so tut es doch weh, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Ein Abschied in der Liebe, gleichgültig wie ruhig und besonnen er vorbereitet wird, ist auch unter Freunden traurig. Mit einem Händedruck oder einem Winken ist es nicht getan. Der Abschied unterliegt bestimmten Regeln. Wir müssen letzte Worte austauschen, Trauerarbeit leisten. Nachdenklich betrachte ich meinen jungen Geliebten, der ebenso versunken auf einen Nietnagel an seinem Daumen schaut. Ich war einmal sehr verliebt in ihn.

»Franziska, du hast ja keine Ahnung, wie verliebt ich in dich war!«

»Und jetzt?«

»Immer noch ein bisschen, aber anders.«

Er lächelt mich an. »So habe ich mich noch nie von einem Mäd …, von einer Frau getrennt. Das ging immer mit viel Stress und Generve und Streit ab. Mit dir ist das anders. Genauso wie es anders war, mit dir zusammen zu sein.« Er sieht mich offen an. »Eigentlich möchte ich mich gar nicht trennen, aber …« Er nimmt wieder meine Hand. »Wirst du zurechtkommen? Du kannst mich jederzeit anrufen …«

Jetzt müssen wir beide lachen. Verlegen schränkt er ein: »Also, prinzipiell! Wenn mein Akku nicht wieder leer ist …«

»… oder du keine Lust hast, ans Telefon zu gehen! Aber trotzdem, vielen Dank.«

Simon zieht die Schulterblätter zusammen, richtet sich auf und nimmt die Speisekarte erneut zur Hand. »Ich nehme noch ein Tiramisu – und du?«

Er bestellt das Dessert und lässt sich vom Kellner in eine Diskussion über Fußball verwickeln.

So ist das also: Wir trennen uns, reden über Fußball und essen dann Nachtisch. Wie anders war doch die Trennung von Andreas. Simon sieht mich an. »Alles in Ordnung?«

Ich drücke seine Hand. »Alles in Ordnung!«

»Er war schön, unser Sommer, oder? Wirst du manchmal daran denken?« Simon beugt sich noch näher. »Du warst die erste Frau in meinem Leben, die sich für mich Dessous gekauft hat.«

Bei Espresso und Tiramisu lassen wir unseren Sommer noch einmal Revue passieren – die Spaziergänge, das Grillen im Garten, die nächtlichen Essen mit Lilli und ihren Freunden.

»Merkwürdig«, sagt Simon. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass Lilli uns zusammengehalten hat.«

Lilli hat mich zurück ins Leben gerissen – und dort habe ich Simon getroffen. »Ohne Lilli wären wir nie zusammengekommen.«

»Dann dürfen wir sie jetzt nicht enttäuschen und müssen unbedingt Freunde bleiben.«

»Das klingt reichlich abgedroschen.«

»Aber nur, wenn man es nicht ehrlich meint. Wenn es eine dumme Floskel ist. Und das passt doch gar nicht zu uns, oder?«

Ich kann mir durchaus vorstellen, mit Simon befreundet zu sein. Mit Andreas nicht. Andreas war mein Mann mit Haut und Haar, und ich habe mich ihm mit Haut und Haar hingegeben. Aber unsere Leidenschaft ist einfach auf der Strecke geblieben, als wir nur miteinander schliefen, um ein Kind zu bekommen. Dennoch: Davor waren Andreas und ich ein loderndes Feuer. Mit Simon und mir war es eher eine wohlig warme Wärmflasche, die allerdings auch recht heiß werden konnte.

Als ob er meine Gedanken liest, fragt Simon: »Wirst du wieder mit Andreas zusammenkommen?«

»Wieso?«

Er zuckt mit den Achseln. »Weiß nicht, ist nur so ein Gefühl.«

Ob Simons Gefühl stimmt oder nicht – Andreas tut viel dafür, mit mir in Kontakt zu bleiben. Er ruft fast täglich an, fragt, was die Kinder machen und wie wir den Tag verbracht haben. Mit geschicktem Fragen hat er aus mir herausgeholt, dass Simon nach Toulouse geht. Und unaufgefordert hat er mir mitgeteilt, dass er sich von seiner dänischen Freundin getrennt hat.

»Warum?«, habe ich gefragt.

»Ich hatte keine Lust mehr, ihr meine Vergangenheit erzählen zu müssen.«

Als Simon und ich an diesem Aprilabend nach Hause gehen, fühlt es sich sehr vertraut an, seine Hand zu fassen. In der Wiesenstraße küssen wir uns zärtlich, aber nicht leidenschaftlich. Simon hat mit den Jungs einen Abschiedsdrink auf der Reeperbahn abgemacht.

»Kein Angst, ich fahre mit dem Taxi!«, beruhigt er mich.

Wir küssen uns wieder.

»Ich melde mich.« Und dann sieht er mir tief in die Augen, schließt mich fest, so fest, in die Arme und flüstert: »Vergiss mich nicht völlig.«

Er macht sich los. Winkt noch einmal. Ist fort. Und ich weine noch nicht einmal.


So tapfer bin ich nicht, als im Mai Lillis Grabstein aufgestellt wird. Die Nacht davor wälze ich mich schlaflos in meinem Bett hin und her. Ich sehe Lilli vor mir. Lachend, tanzend, mit klimpernden Ohrringen. Ach, Lilli! Sie fehlt mir immer noch sosehr.

Tina, die mich begleitet, hat ein rotes Grablicht gekauft. »So ein kitschiges. Das hätte sie bestimmt gemocht.« Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich Blumen kaufen soll. Auch ein Grablicht? Doch dann blicke ich am Morgen aus dem Fenster meines Schlafzimmers in den Garten. Und als ob mir der Garten zuzwinkert und ein Geschenk für Lilli macht, blüht der Pflaumenbaum. Der, den Papa abholzen wollte, als ich eingezogen bin. Nun hat er kleine rosafarbene Blüten bekommen, die seine dunklen Äste umschmeicheln wie Badeschaum. Ich werde einige Zweige abschneiden und mitnehmen.

Tina holt mich wie versprochen ab. Ausgerechnet an diesem Tag steckt wieder einmal ein Schreiben von Pröllke im Briefkasten. »Das liest du erst nachher«, bestimmt Tina und bewundert die Pflaumenzweige. Mein Magen klumpt sich zusammen, wie immer, wenn Pröllke einen seiner unsinnigen Angriffe reitet. Nach der legendären Grillnacht hatte ich ihm eine Liste erstellt, auf der Lillis und meine Namen und die Namen der Kinder standen. Darauf hat Pröllke niemals direkt reagiert, sondern stattdessen immer wieder seltsame Schreiben geschickt, in denen er uns beschuldigte, den Hausfrieden zu stören. Immer neue Gründe fielen ihm ein: Die Kinder waren zu laut. In unserem Garten lag Müll. Unsere Fahrräder standen im Weg … Jedes Mal bekamen wir einen Schreck, informierten den Mieterschutzbund und schafften Abhilfe. Wenn Pröllke bei uns auftauchte, war er immer sehr kurz angebunden und stieß Drohungen aus. »Sie haben sich unter falschen Voraussetzungen hier eingeschlichen, Frau Funk! Das wird ein Nachspiel haben!« Aber geschehen ist noch nichts. Trotzdem habe ich immer Angst, wenn sich Pröllke meldet. Er hat nach Lillis Tod eine erstaunlich lange Zeit stillgehalten, und Frau Pepovic hat mir erzählt, dass er auf verschiedenen seiner Baustellen Ärger hat. »Die Krise, sagt er. Ich sage: Ist kein guter Mensch, Doktor Pröllke!«


Lillis Grabstein, ein schlichter, rechteckiger Stein, trägt nur ihren Namen und ihre Lebensdaten. Die Blumen und Kränze der Trauergemeinde sind längst fortgeräumt, aber es liegen frische Rosen auf der Grabstelle. Von Oliver? Vieles in Lillis Leben und Sterben wird ein Rätsel bleiben.

Nachdem sich der Steinmetz und der Friedhofsgärtner verabschiedet haben, stehen Tina und ich noch einen Moment lang schweigend vor dem Stein. Wir weinen, aber hier, unter den dichten, alten Bäumen fühle ich mich wundersam getröstet. Ein Gefühl, das sogar noch nachwirkt, als wir zu Hause im Garten sitzen, wo die Kinder und Papa uns erwartet haben. Es gelingt mir sogar, Pröllkes Schreiben ohne Zittern zu öffnen. Das formelle Schreiben besteht in einer Aufzählung von »Sommerlichen Verhaltensregeln in unserem Haus«. Die erste Maßregel lautet natürlich: Kein belästigendes Grillen!

»Der ist gestört!«, befindet Tina, und ich zerknülle das Schreiben einfach.


In der nächsten Zeit gehe ich häufig zum Grab. Dort kann ich mich auf meine Trauer um Lilli konzentrieren. Ich erinnere mich an sie, bespreche die Dinge des Lebens mit ihr.

Das tun übrigens fast alle Besucher des Friedhofs, wie ich bemerkt habe. Unsere Toten sind für uns weiter lebendig. Es besteht ein großer Unterschied zwischen einem Gang auf den Friedhof und der Trauer zu Hause. Daheim führt die Trauer immer wieder in Gedankenlabyrinthe. Bis jetzt ist alles, was das Jahr anbietet – Weihnachten, Geburtstage, Ostern – immer noch ein erstes Mal ohne Lilli. Doch auf dem Friedhof, inmitten der Gräber, kann ich mich mit Lillis Tod abfinden. Der Friedhof lädt zum Spazieren ein – manchmal gehe ich eine Stunde lang dort umher. Wenn ich dann nach Hause fahre, fühle ich mich wieder getröstet.

»Auch die Kinder scheinen die besondere Atmosphäre zu spüren«, erzähle ich Andreas, als ich von einem meiner Friedhofsausflüge zurückkomme.

»Kleine Kinder haben doch eigentlich nichts zwischen Gräbern zu suchen«, klingt seine Stimme aus dem Hörer.

»Für sie ist es wie ein Park.«

»Aber ein ziemlich düsterer Park«, widerspricht Andreas. »Ich finde sowieso, dass ihr einen Tapetenwechsel braucht. Warum kommt ihr nicht mal zu mir nach Dänemark?«

»Für später im Sommer ist das eine schöne Idee. Jetzt ist es noch ziemlich kühl. Da müsste ich die dicken Sachen mitnehmen. Das ist ein ziemlicher Aufwand für ein paar Tage.«

»Ich rede nicht vom Verreisen.« Er macht eine Pause. Dann sagt er: »Franziska, hast du schon einmal darüber nachgedacht, mit den Kindern für immer nach Dänemark zu kommen?«

»Was?« Ich traue meinen Ohren nicht. »Nach Aabenraa? Was sollen wir denn da?«

Andreas’ Stimme klingt etwas verletzt. »Warum bist du darüber so überrascht?«

»Na, weil …« Mir fehlen die Worte. Ich bin verwirrt, überrascht, auf irgendeine Art geschmeichelt, aber auch erschrocken. Will Andreas mich wieder zurückhaben? Oder will er seine Tochter? Und: Will ich ihn überhaupt wieder? Ich horche in mich hinein. Nein, ich spüre einen Widerwillen, der stärker ist als die Freude über eine mögliche Rückkehr zu Andreas. Ich will nicht fort aus dem Haus in der Wiesenstraße. Aus meinem Zuhause.

Das sage ich Andreas. »Ich will hier bleiben.«

Andreas ist es noch immer nicht gewohnt, dass ich widerspreche. Er ist auch nicht gewohnt, dass ich eigene Pläne habe. »Aber was hält dich denn in Hamburg? Durch Lillis Tod ist eure WG-Idee hinfällig, und dein Vater kommt allein zurecht. Arbeiten könntest du hier auch. Ich habe mich bei einem Kollegen erkundigt, der braucht eine Sprechstundenhilfe. Auch für Lisa-Marie ist hier genug Platz. Also, was hält dich? Jetzt, wo auch dein Simon das Weite gesucht hat.«

Letzteres ist ziemlich unverschämt. »Wie bitte?«

Andreas rudert sofort zurück und entschuldigt sich. »Verzeih, das mit Simon war unfair. Ich kann es nur immer noch nicht fassen, dass ausgerechnet du dich mit einem so viel jüngeren Mann …« Er wirkt verlegen.

Ich muss fast lachen. »Eingelassen hast? Mensch, Andreas, sei doch nicht so spießig. Du warst doch auch älter als deine Mette.«

»Hat ja auch nicht gehalten.«

Jetzt bin ich noch einmal überrascht. Wie gleichgültig Andreas das sagt! Als ob er mir zu verstehen geben will, dass Mette nie wirklich wichtig war in seinem Leben. Auf eine verrückte Weise freut mich das. Doch weil ich ihm das nicht zu sehr zeigen möchte – vielleicht täusche ich mich ja auch –, hake ich noch einmal nach.

»Hat sie sich von dir getrennt, weil du zu alt bist?«

Diese Entwicklung des Gesprächs ist ihm spürbar unangenehm. Schnell lenkt er ab: »Natürlich nicht, das weißt du doch! Es ist nur so: Eine Affäre mit einem so viel jüngeren Mann hätte ich einfach bei dir nicht erwartet.«

»Du hältst mich also für unattraktiv?« Langsam macht mir die Unterhaltung Spaß.

Andreas zappelt wie ein Fisch an der Angel. »Nein, so ein Unsinn! Natürlich bist du attraktiv – das hat doch mit dem Alter nichts zu tun … Ach, ich weiß auch nicht. Aber lass uns nicht abschweifen. Nenn mir einfach einen guten Grund, warum du deine Zelte in Hamburg nicht abbrechen kannst! Hier ist alles vorbereitet: Mein Job läuft, ich verdiene gut, die Wohnung ist groß, Aabenraa ist kinderfreundlich. Du hättest Arbeit und musst nicht einmal viel Dänisch lernen – die sprechen hier alle gut deutsch. Es gibt sogar eine deutsche Schule. Also, Franzi, warum willst du nicht zu mir kommen?«

Eigentlich müsste ich jetzt die Fragen aller Fragen stellen: Was ist mit uns? Wo bleibt in deinen Überlegungen die Liebe?

Während ich noch darüber nachdenke, wiederholt Andreas seine Frage: »Was hält dich? So großartig ist dein Leben allein mit den Kleinen doch sicher nicht.«

Wut wallt in mir hoch. Gefühle hin oder her – eines weiß ich mit Sicherheit: Ich will mich nie wieder von Andreas organisieren lassen. Aber wie sage ich das, ohne ihn zu verletzen? In meiner Hilflosigkeit fällt mir nur etwas ein, das Andreas als lächerlich abtun wird. Ich quetsche heraus: »Mein Indiaca-Kurs hat gerade erst angefangen.«

Andreas grunzt verständnislos: »Indi … was?«

»Indiaca. Das ist eine Art Federball, nur ohne Schläger«, erkläre ich.

»Und was hat das damit zu tun, ob du nach Aabenraa kommst oder nicht?«

»Weil ich den Kurs gerade erst angefangen habe und mir das großen Spaß macht.« Das ist nicht gelogen. Kurz nachdem Lilli gestorben war, hatte ich in meinem Briefkasten eine Karte mit folgendem Text gefunden: »Nicht vergessen! Ihr Indiaca-Kurs beginnt nächsten Donnerstag!« Die Karte war an Lilli und mich adressiert. Nach kurzem Überlegen fiel es mir wieder ein: Dieses merkwürdige Indiaca war die Sportart, auf die wir beide uns geeinigt hatten. Es war nicht einfach gewesen, einen Sport zu finden, der einer Neunzehnjährigen und einer Fünfundvierzigjährigen gleichermaßen Spaß macht. Einen Moment lang hatte ich damals geschwankt, ob ich auch ohne Lilli den Kurs absolvieren sollte – und mich dagegen entschieden. In der kleinen Sportschule am Schäferkamp hatte man Verständnis für meine Situation, nahm mich aber in den E-Mail-Verteiler und informierte mich weiter über neue Kurse.

»Ich habe mich gerade zum Sommerkurs angemeldet!«, erkläre ich Andreas und lenke das Gespräch in unverfänglichere Bahnen. Glücklicherweise lässt er sich mit Geschichten über unser Wunderkind oder über Mis und Bims Abenteuer immer schnell auf neue Themen bringen. Von Mette erzählt er nichts mehr. Und ich frage auch nicht.


An einem Donnerstag im Juni stehe ich zum ersten Mal in der Halle auf dem Spielfeld. Gemeinsam mit sieben anderen Männern und Frauen zwischen Mitte zwanzig und Mitte fünfzig renne ich dem kleinen gefiederten Ball hinterher und fühle mich hinterher so glücklich wie schon lange nicht mehr. Man bildet Mannschaften zu drei, vier oder fünf Spielern – je nachdem, wie viele Teilnehmer anwesend sind. Ich muss mich erst daran gewöhnen, den Ball mit der Hand zu spielen, doch Trainer Fabian, ein schlanker, dunkelhaariger Mann in meinem Alter, attestiert mir »ein prima Ballgefühl«. Das hatte ich zuletzt in der elften Klasse gehört, als ich die Volleyball-Schulmannschaft zum Sieg schmetterte.

»Prima Ballgefühl!« Danach trage ich meinen Kopf ein Stück höher. Wieso habe ich Jahre meines Lebens an Makramee und Lochstickerei verschwendet, statt mit anderen Indiaca zu spielen? Denn die anderen sind der zweite Grund, warum mir der Kurs so viel Spaß macht. Genauso schnell wie der gefiederte Ball fliegen lustige Kommentare durch die Halle, wird gefrotzelt und viel gelacht.

Als ich in einer Spielpause meine Mitspieler näher ansehen kann, erlebe ich eine große Überraschung. Denn wer steht mir am Netz gegenüber? Der Hüne von Richter, der Andreas und mich geschieden hat. Damals noch an Krücken. Verletzt hatte er sich genau in der Halle, in der wir jetzt spielen. Umgeknickt und den Mittelfußknochen gebrochen. Auch er erinnerte sich sofort an mich. Er heißt Dieter – beim Sport duzen sich alle.

Nach zwei Ballwechseln fragt er grinsend: »Hältst du immer noch Händchen mit deinem Ex?« Dann sagte er, er habe noch nie ein Paar geschieden, das Hand in Hand zum Termin erschienen war.


Der Sommer hält Einzug in Hamburg. Der erste Sommer ohne Lilli, ein Sommer ohne Simon und der zweite Sommer mit Amélie und Lisa-Marie, die mittlerweile durch die Gegend sausen und ihr Vokabular stetig erweitern. Vom Klassiker »Wauwau« (alles, was kein Mensch ist und irgendwie tierhaft aussieht, also auch Katzen, Papageien, Hasen und Meerschweinchen im Schaufenster der Tierhandlung), »Lala« (Fernseher, Radio, iPod) und »Nam-Nam« (Essen, Trinken, Eis). Ich bin viel in unserem kleinen Garten, und Tina genießt es auch, nach der Arbeit vorbeizukommen. Wir werden, wenn es richtig heiß wird, ein Planschbecken auf dem Rasen aufstellen und freuen uns schon aufs Grillen. Den Gedanken an Pröllke verdränge ich erfolgreich.

»Willst du nicht wieder einmal zu Besuch kommen?«, lade ich Andreas am Telefon ein.

»Komm du doch erst mal nach Aabenraa!«, erwidert er. »Oder bereitest du dich jetzt schon auf die Teilnahme an der Indiaca-WM vor?«

Das Indiaca-Spielen versteht er einfach nicht, denke ich. Ich habe ihm von Dieter, dem Indiaca und meinem alten Traum vom Volleyball erzählt. Eigentlich müsste er meine Begeisterung verstehen. Er redet weiter und fängt wieder davon an, dass ich mit den Kindern nach Dänemark ziehen soll. »Überleg es dir doch noch mal, Franzi. Sieh mal, der Sommer ist hier am Meer so schön. Du hast hier alles. Sogar den Job für dich gibt’s noch. Jetzt gib deinem Herzen einen Stoß. So großartig kann Hamburg gar nicht sein.«

Liegt es an seinem Tonfall? Daran, dass er mir gar nicht zugehört hat? Dass er mich nicht ernst zu nehmen scheint? Ich spüre, wie Ärger in mich hochschießt. Ich zische ihn an: »Auf die Idee, dass ich hierbleiben will, weil mir mein Leben so gefällt, wie es ist, kommst du wohl nicht, oder?«

Andreas stößt hörbar Luft aus. »Ich verstehe dich nicht! Hast du nicht immer von einer Familie geträumt?«

»Ich habe eine Familie!«

»Zwei Kinder machen noch keine Familie.«

»Ein Umzug nach Dänemark auch nicht. Hier gibt es meinen Vater, Tina, meine Freunde, ich kümmere mich um die Jugendlichen im Vorderhaus, ich gehe zum Sport, ich singe im Chor. Mein Leben ist hier, Andreas, hier in diesem Haus, mit Amélie und Lisa-Marie. Versteh das doch endlich!« Meine Stimme ist laut geworden. Ich setze den Schlusspunkt hinter meine Rede: »Und Händchen halte ich schon lange nicht mehr mit dir!«

»Was soll das denn heißen?«, fragt Andreas. »Mensch, Franziska, hier hättest du es viel leichter. Warum willst du das nicht verstehen? Ich könnte dir hier goldene Brücken bauen. Ich weiß doch, wie schwer du dich oft mit allem tust. Ich meine es wirklich nur gut! Erklär mir bitte einmal, warum du dich gegen die Idee so wehrst?«

Aber ich habe keine Lust mehr auf Erklärungen. »Du verstehst das einfach nicht, Andreas!« Als ich auflege, höre ich seine protestierende Stimme. Aber es ist alles gesagt.

Danach herrscht Funkstille zwischen uns. Er ruft nicht mehr an, und ich melde mich auch nicht bei ihm. Was denkt er sich eigentlich? Hat mir sogar schon einen Job in Dänemark besorgt. Wie er sich das wohl vorgestellt hat? Ich ziehe mit Amélie zu ihm in sein beschauliches Aabenraa, und wir teilen wieder Bett und Tisch miteinander?

»Franziska, jetzt wird nicht mehr geheult«, hatte Papa gesagt. Daran halte ich mich. Selbst wenn ich an Andreas denke und mir das Herz schwer wird. Aber jedes Mal kocht auch ein bisschen Wut in mir hoch. Wir können nicht so tun, als hätte es unsere Scheidung nicht gegeben. Doch ich schlucke Wut und Traurigkeit hinunter und klammere mich an Papas Worte. Außerdem muss ich mir für den nächsten Indiaca-Termin neue Hallenschuhe besorgen.

Kleine Schiffe
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