1. Kapitel

Was ich sagen kann:
es gab da jemanden
und ich nehme es zu schwer.
Bernd Begemann: »Ich nehme es zu schwer«

Willst du das wirklich?«

Ich kann ihn kaum verstehen, denn er sagt diese Worte leise und atemlos, während er meinen Bauch küsst. Seine Hände streichen über meine Hüften, er schmiegt seinen großen Körper an meinen. Ich schließe die Augen, lasse mich fallen, verdränge Kummer und Melancholie und konzentriere mich nur auf seine Berührungen.

Wieder sagt er etwas. Ich möchte jetzt nicht sprechen, ich möchte nur fühlen. Doch er stützt sich auf die Ellbogen, und dort, wo er meine Haut geküsst hat, wird es kalt. So fühlt sich Enttäuschung an.

Ich öffne die Augen. Ohne Brille sieht er verwundbarer aus, jünger, weicher.

»Willst du das wirklich?«, wiederholt er seine Frage und betrachtet meinen nackten Körper mit dieser Mischung aus Stolz, Begehren und Bewunderung, die ich so lange nicht in seinem Gesicht gesehen habe. So hat er mich angesehen, als wir einander noch nicht lange kannten, beim ersten Mal und den vielen, vielen Malen danach. Irgendwann aber, als unsere Zärtlichkeiten immer verzweifelter und vergeblicher dem einzigen Zweck dienten, endlich ein Kind zu bekommen, erlosch dieser Blick. Jetzt haben wir uns fast zwei Jahre lang kaum gesehen, und auch vor dieser Trennung hatten wir schon lange nicht mehr miteinander geschlafen.

Ein Gedanke durchzuckt mich: Vielleicht hätten wir doch nur eine Trennung auf Zeit ausprobieren müssen, und alles wäre wieder gut geworden?

Aber das wollte Andreas nicht. »Ich brauche Klarheit. Ich muss raus. Ich muss mein Leben noch einmal neu in den Griff bekommen. Allein.«

Er ging nach Dänemark, an eine Klinik in Aabenraa. Unsere Wohnung in Winterhude haben wir verkauft – und die Scheidung eingeleitet. Ich habe alles mitgemacht, so wie ich immer alles mitgemacht habe, was Andreas anfing. Nach dem Schreien, dem Heulen, den Vorwürfen und meinen verzweifelten Fragen.

»Warum? Sag mir doch wenigstens, warum! Es war doch nicht alles schlecht.«

Andreas verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber es war schon lange nicht mehr gut.«

Er ist erst aus unserem Schlafzimmer ausgezogen, dann aus der Wohnung und schließlich aus unserem Leben.

Bittere Ironie: Vor sieben Stunden waren wir beim Scheidungsrichter – jetzt liegen wir nackt miteinander im Bett. Diesmal bin aber ich verantwortlich für den Gang der Dinge. Oder vielmehr Tina, meine beste Freundin. Die hat mich nämlich vor zwei Tagen gefragt, ob ich noch weiß, wann ich das letzte Mal mit Andreas geschlafen habe. Und als ich etwas verwirrt verneinte, hat sie den Kopf geschüttelt und gesagt: »Ist doch verrückt, oder? Das erste Mal erinnern wir immer in allen Einzelheiten – aber das letzte Mal? Dabei ist das doch viel wichtiger für eine Beziehung.«

Sie muss es wissen: Sie hat diverse letzte Male hinter sich, davon zwei mit Ex-Männern. Obwohl ich nicht sicher bin, ob das letzte Mal wirklich wichtiger ist als das erste Mal, kam ich ins Grübeln. Wann ist Sex mit Andreas so nebensächlich geworden, dass ich mich nicht einmal mehr an das letzte Mal erinnern kann? Dabei war Sex mit Andreas immer gut. Er ist ein liebevoller, ein zärtlicher Mann, einer, der dabei reden und sogar lachen kann.

Wir waren fast fünfzehn Jahre verheiratet, und ich hatte mich in seiner – unserer – Liebe eingerichtet. Sie war wie ein Hausschuh, der schon bessere Zeiten gesehen hat, aber unübertroffen bequem ist. Seit dem Gespräch mit Tina schien es mir auf einmal sehr wichtig, ein allerletztes Mal mit Andreas zu schlafen – und diese letzte Erinnerung wie ein besonders schönes Foto in das Album unserer gemeinsamen Geschichte zu kleben. Vielleicht aus dem Aberglauben heraus, die Beziehung damit auch für mich endlich zu lösen? Oder um mir zu beweisen, dass ich ihn immer noch verführen kann? Ich hatte weder die Trennung noch die Scheidung gewollt. Ich wollte Andreas.

Aber ich habe auch verstanden, dass er unsere Ehe als eingefahren empfand. Ich habe immer alles verstanden, was Andreas tat oder ließ. Ich habe mich zwar nie gelangweilt, doch so absurd es klingen mag: Der heutige Tag, der Tag meiner Scheidung, war mit Abstand der aufregendste Tag seit Jahren. Zum ersten Mal fühle ich wieder etwas. Fühle mich. Das tut gut, auch wenn es Schmerz ist, den ich empfinde. Verzweiflung. Oder vielleicht eine absurde, hilflose Lust. Ich hatte mir vorgenommen, mit Andreas zu schlafen. Also bereitete ich mich mit Hilfe einer sorgfältigen Beinrasur und unter großzügiger Verwendung meines Lieblingsparfüms am Morgen auf diesen Tag vor. Und dann stand ich heulend vor meinem Kleiderschrank. Denn was bitte trägt man zu einer Scheidung?

Während wir im Amtsgericht darauf warteten, aufgerufen zu werden, hatte ich das seltsame Gefühl, mir selbst zuzuschauen. Das war doch nicht ich, die da mit blassem Gesicht und in dem ungewohnten dunklen Kostüm im Wartezimmer saß! Das alles hatte nichts mit mir zu tun. Nichts, gar nichts. Es fing schon beim Datum an: An einem 14. April tut kein Mensch so etwas freiwillig. An einem 14. April starrt man morgens aus dem Fenster und fragt sich, ob der Frühling jemals kommen wird. Man schlägt den Kragen hoch, sieht die Wurfsendungen durch und ärgert sich, weil man eine Laufmasche hat. Eine Scheidung passt sowieso viel besser in den November, dachte ich und sah mir weiter beim Schlechtfühlen zu.

Andreas empfand wahrscheinlich ähnlich, obwohl er es doch gewesen war, der sich nicht mit einer Trennung zufriedengeben konnte. Mit ernster Miene saß er neben mir. Über einem Anzug, den ich nicht kannte, trug er seinen Trenchcoat und einen schwarzen Schal, der mir ebenfalls neu war.

Die Scheidung war keineswegs so dramatisch, wie man das aus amerikanischen Fernsehserien kennt. Wir saßen mit »unserer Anwältin« und dem Richter in einem öden Gerichtszimmer. »Unsere Anwältin« – auch das klingt hochdramatisch, so als gehörte sie uns und würde ständig von uns konsultiert, wenn es zum Beispiel um unsere (nicht vorhandenen) Immobilien oder (ebenfalls nicht vorhandenen) Aktienpakete oder (schon gar nicht vorhandenen) Drogenvorräte und (niemals benötigten) Alibis ging. Wir hatten unsere Anwältin vorher insgesamt dreimal getroffen. Sie ist eine Bekannte meines Chefs, eine kluge, nette Frau in meinem Alter, die immer in Eile ist. »Alleinerziehend mit fünfjährigen Zwillingen!«, hatte sie bei unserem ersten Termin entschuldigend vorgebracht, weil sie mit einer zwanzigminütigen Verspätung erschien.

Der Richter war ein bedrohlich großer Mann mit einem zerzausten Haarkranz um eine runde Glatze und mit einem Gipsfuß (Sportunfall!). Irgendetwas an uns schien ihn zu verblüffen, denn er blickte zweimal misstrauisch zu uns herüber, bevor er zu seinem Platz humpelte. Er sah aus wie die Idealbesetzung des Unholds im Märchenland. Er lehnte zwei quietschrote Krücken gegen den Tisch, blätterte in unserer Akte, blätterte weiter, fragte uns mit einer sanften Stimme, die so gar nicht zu seiner riesigen Statur passte, nach dem absolvierten Trennungsjahr und ob wir unsere Ehe als »endgültig gescheitert« betrachteten. Bei diesen Worten fiel zunächst die eine, dann die andere Krücke mit lautem Knall zu Boden.

Erst in diesem Moment ließ Andreas meine Hand los. Auch das mag befremdlich erscheinen: Wir haben uns monatelang nicht gesehen, treffen uns auf den Stufen zum Amtsgericht Hamburg-Mitte am Sievekingplatz und marschieren dann Hand in Hand zur Verhandlung. Andreas hat mich immer an die Hand genommen, von unserem ersten Treffen damals auf Juist an, als er mir auf sein Segelboot half. So kam es uns gar nicht merkwürdig vor, Händchen haltend zu unserem Scheidungstermin zu gehen, sondern richtig und gut. Vielleicht schaute deshalb dieser Richter-Riese am Anfang so irritiert.

Nach dem Termin schüttelten wir dem Richter und der Anwältin die Hand. Und dann standen wir auf der Straße her-um – nun doch ein wenig verlegen.

»Wollen wir noch etwas zusammen essen?«, fragte ich schließlich.

Andreas sah auf seine Uhr. Er war unschlüssig.

Ich hängte mich an seinen Arm. »Komm schon. Das sind wir uns doch wohl schuldig, oder?«

Andreas seufzte. »Hunger habe ich allerdings. Wo möchtest du denn essen? Ich habe nicht so wahnsinnig viel Zeit.«

Wie auf Verabredung vermieden wir beide die Erinnerung an unser altes Stammlokal in Winterhude, das »3 Tageszeiten«, und die leckere Wildkräutersuppe auf der Speisekarte.

Andreas sagte: »Warum zeigst du mir nicht einfach ein Lokal, das in der Nähe deiner neuen Wohnung ist?«

Ich bin vor kurzem nach Eimsbüttel gezogen, in ein altes Häuschen in der Wiesenstraße. Eigentlich wünschte ich mir eine kleine Wohnung in der Nähe der Praxis am Rothenbaum, in der ich als Arzthelferin arbeite. Aber dann hat mich Tina in eine Kneipe in Eimsbüttel geschleppt, einem Bezirk, der meistens mit dem Adjektiv »lebendig« beschrieben wird – was die bunte Mischung aus jungen Familien, Senioren, Studenten, Ausländern und Künstlern zusammenfassen soll. Andreas’ bester Freund Johannes hat in Eimsbüttel gelebt, wo er eine Praxis für Naturheilkunde betrieb, und eigentlich fand Andreas Eimsbüttel immer ein bisschen zu »studentisch« und »chaotisch«. Aber Johannes’ große Loftwohnung, die er nach etlichen Beziehungen allein bewohnt hatte, mochte Andreas.

Die beiden kannten sich seit dem Studium und verbrachten ihr halbes Leben in enger Freundschaft – bis Johannes überraschend vor knapp drei Jahren starb. Einfach so. Gehirnschlag. Er fiel vom Fahrrad und war tot.

In guten Momenten bezeichnet Andreas Johannes’ Tod als Glücksfall. »So möchte ich auch mal sterben«, sagt er dann. »Ohne Krankheit, ohne Verfall, ohne vom Ende zu wissen.«

Wenn ich die Beziehung von Andreas und Johannes mit der von Tina und mir vergleiche und mir vorstelle, Tina wäre von einem Tag auf den anderen tot, dann bleibt mir fast die Luft weg. Andreas muss sich ohne seinen besten Freund sehr allein fühlen. Aber er spricht nicht darüber. Jedenfalls nicht mit mir. Vielleicht auch mit niemand anderem, denn außer Johannes hatte Andreas nicht viele Freunde. Wir sind beide keine Menschen mit großen Freundeskreisen. Andreas redet nicht über Johannes. Aber er fährt seitdem sein Rennrad, und als er einmal einen jungen Mann dabei erwischte, wie dieser versuchte, das Rad vom Ständer im Hof zu klauen, hat ausgerechnet mein sanfter, ruhiger Andreas den Dieb fast bewusstlos geschlagen.

Ich habe nur einmal versucht, mit Andreas über Johannes zu sprechen. Er ist zusammengezuckt, als hätte ich ihm eine brennende Zigarette auf die Haut gedrückt. Er ist aus dem Bett aufgesprungen und hat sehr leise und mit viel Nachdruck gesagt: »Nein, Franziska, erspar mir das. Es gibt nichts, was in diesem Fall trösten könnte.« Und dann hat er sich auf den Balkon gesetzt und drei Flaschen Bier hintereinander getrunken.

Dass ich nach Eimsbüttel gezogen bin, hat Andreas nicht kommentiert. Dabei lag Johannes’ Wohnung nur zwei Ecken von meinem neuen Zuhause entfernt.

Auch bei der Kneipentour mit Tina dachte ich natürlich an Johannes. Aber dann forderte eine Entdeckung meine ungeteilte Aufmerksamkeit, und Johannes und sogar Andreas rückten in den Hintergrund. Auf meinem Rückweg zur U-Bahn – Tina hatte einen alten Bekannten getroffen und wollte die Bekanntschaft unbedingt noch in jener Nacht auffrischen – stolperte ich zufällig in einen großen Hinterhof in der Wiesenstraße. Kopfsteinpflaster, Mülltonnen – und dann: ein Holzzaun, dahinter ein kleiner, verwilderter Garten mit einem alten Baum, ein weißes Häuschen. Zweistöckig und mit einem Zettel in einem der dunklen Fenster: »Zu vermieten«. Die Telefonnummer schrieb ich mir sofort auf, und wenig später setzte ich meinen Namen unter den Mietvertrag.

Die Wiesenstraße liegt in unmittelbarer Nähe der belebten Osterstraße, und dort fielen mir auf Anhieb mehrere Restaurants ein, die ich Andreas nach dem Scheidungstermin vorschlug. Wir landeten in einem arabischen Imbiss, und beim anschließenden Bummel über die Osterstraße kaufte ich eine Flasche Rotwein – »zur Feier des Tages«. Meine dumme, leicht nervöse Bemerkung quittierte Andreas mit einem gequälten Lachen. An die Hand nahm er mich übrigens nicht mehr.

»Ich muss eigentlich los«, sagte er.

Aber mir fiel schnell etwas ein. »Könntest du mir nicht – sozusagen als letzten Liebesdienst – die Waschmaschine anschließen?«

Andreas verdrehte die Augen, aber er nickte schließlich.

Also schlenderten wir zu meinem Häuschen, das noch nach frischer Farbe und Tapezierkleister riecht. Während Andreas die Waschmaschine anschloss, öffnete ich die Weinflasche. Wir tranken aus den Gläsern, die wir uns für unseren ersten gemeinsamen Hausstand auf einem Flohmarkt in Frankreich ertrödelt hatten. Und weil das Bett die einzige Sitzmöglichkeit in meiner noch spärlich möblierten Behausung ist, mussten wir uns dort niederlassen.

Nach dem zweiten Glas habe ich mich zu ihm hinübergelehnt und die vertrauten, fremden Lippen geküsst. Und er hat erst vorsichtig, dann immer heftiger meine Küsse erwidert. Jetzt liegen wir nackt in meinem neuen Bett, und er fragt, ob ich wirklich mit ihm schlafen will.

Ich sehe in sein Gesicht, das in der Dämmerung kaum zu erkennen ist, und versuche mir jedes Härchen seiner dunklen Augenbrauen, jede in die Stirn fallende Strähne einzuprägen. Ich sehe seinen Mund mit den nach oben gezogenen Mundwinkeln, seine gerade Nase. Und ich sehe seine schön geformten Hände, die nun wieder meine Hüften umfassen, und sage laut: »Ja, ich will. Wirklich.«

Danach liegen wir erschöpft nebeneinander. Andreas vergräbt seinen Kopf an meiner Schulter und drückt mich so eng an sich, dass ich mich kaum bewegen kann. Trotz dieser großen, tröstlichen Nähe vermeiden wir, einander in die Augen zu sehen.

Ich denke an unser erstes Mal, damals, in dem kleinen Apartment auf Juist. Ich hatte bei einem Preisausschreiben einen Segelkurs gewonnen. Andreas jobbte dort in den Semesterferien als Segellehrer. In unserer ersten Nacht erzählte er mir eine asiatische Legende, die besagt, dass der Mond bei der Geburt eines Jungen dessen Fuß mit einem roten Band an den Fuß seiner zukünftigen Frau bindet. Das Band ist unsichtbar, doch die beiden Menschen suchen einander, und wenn sie sich finden, erreichen sie das größte Glück auf Erden.

»Was geschieht, wenn sie einander nicht finden?«, fragte ich damals in die Dunkelheit.

Andreas küsste mich und sagte: »Dann finden sie niemals ihr Glück. Jedenfalls nicht in dieser Welt. Erst im Himmel erkennen sie, wer für sie bestimmt war.«

Am nächsten Morgen kaufte er in einem Schreibwarengeschäft rotes Geschenkband aus Seide und band es mir um den Knöchel. »Ich muss nicht mehr auf den Himmel warten.«

Ich habe dieses Band immer gehütet wie einen Schatz, es war mir fast wichtiger als der Ehering. Trotzdem habe ich heute Morgen Tränen hinunterschlucken müssen, als ich den schmalen, goldenen Ring mit dem eingravierten »F & A« vom Finger zog und in meinem Schmuckkästchen verstaute. Mein Finger fühlt sich nackt an. Alle paar Minuten durchzuckt mich der Schreck. »Du hast deinen Ring verloren!« Dann versuche ich mich mit dem Satz zu beruhigen: »Ich habe ihn nicht verloren, ich bin bloß geschieden.« Und frage mich, was mich an diesem Satz beruhigen soll.

Andreas trägt seinen Ring schon länger nicht mehr, denn seine Finger sind gleichmäßig gebräunt. Er hat in Aabenraa gleich Anschluss an Segler gefunden und verbringt jede freie Minute auf See. Seit damals sind wir nie wieder gemeinsam gesegelt. Ich befürchtete schon als Kind immer, ins Wasser zu fallen und zu ertrinken. Was natürlich unrealistisch ist, weil ich schwimmen kann. Aber sind Ängste nicht sowieso meistens unrealistisch? Schiffe gefielen mir zwar aus der sicheren Entfernung an Land, und ich liebte Geschichten und Filme über Matrosen, Piraten und abenteuerlustige Kapitäne. Aber eben nur in der Theorie, praktisch habe ich auch heute noch Angst, ins Wasser zu fallen. Weswegen ich auch als Hamburgerin nie auf der Alster rudere oder Hafenrundfahrten mache. Ohne das Preisausschreiben wäre ich niemals auf die Idee gekommen, ein Segelboot zu betreten. Den Segelurlaub als Gewinn hatte ich völlig überlesen, mich hatte damals eine Reise nach Athen gereizt, die es ebenfalls zu gewinnen gab.

Andreas bleibt nicht über Nacht. Ich bin nur kurz eingeschlafen, als ich spüre, wie er aus dem Bett schlüpft.

Während er im Bad verschwindet, schleiche ich hastig zu meinen Schmuckkästchen, das auf der Fensterbank steht. Dort liegt neben dem ausrangierten Ehering sauber eingerollt das rote Seidenband. Das schiebe ich, als ich die Wasserspülung rauschen höre, schnell in die Innentasche von Andreas’ Lederjacke, gleich neben das Portemonnaie. Ein bisschen albern komme ich mir dabei vor, aber ich kann nicht anders – ich murmele wie eine Gebetsformel die Worte: »Damit gebe ich dich frei.« Und ich wundere mich, dass mir dabei nicht das Herz bricht.

Andreas kommt zurück. Er sammelt seine Kleidungsstücke ein, setzt die Brille auf und wirft mir einen überraschten Blick zu. Der Schein der Korridorlampe erhellt nur den Türrahmen. Ich blinzele in die Helligkeit. »Habe ich dich geweckt?«

Jetzt ist mir meine Nacktheit unangenehm. Ich schüttele den Kopf und schlüpfe wieder unter die Decke.

Andreas schaut sich um. »Gibt’s hier irgendwo Licht?«

Ich drücke schnell auf den Schalter der kleinen Tischlampe, die ich neben das Bett auf den Boden gestellt habe, da ich noch keinen Nachttisch besitze. Dabei wäre mir am liebsten, der Raum würde weiterhin im gnädigen Halbdunkel bleiben.

»Jetzt muss ich mich beeilen. Ich arbeite doch morgen früh«, murmelt Andreas mit gerunzelter Stirn. Die Zärtlichkeit, die Sanftheit, alles ist verschwunden. Er wirkt gereizt und hektisch. Sein Blick streift durch den Raum. »Na, da hast du ja noch eine Menge Arbeit vor dir«, sagt er und schnürt seine Schuhe zu. »Hast du dir das gut überlegt? Mit Makramee und Topflappenhäkeln kommst du hier nicht weit.« Er zeigt auf die offenen Kabel, die von der Decke hängen.

Es ist nicht nett von ihm, darauf herumzuhacken, dass ich gern bastele, aber er hat dieses Hobby schon immer belächelt. Ich habe allerdings den Eindruck, dass er auch gar nicht nett sein will. Er will nur noch weg.

Während er aus der Küche seine Tasche holt, stehe ich mit nackten, kalten Füßen im Türrahmen und denke unglücklich darüber nach, was man wohl in einer solchen Situation sagen kann. »Hab ein gutes Leben« etwa? Oder »Mach es gut«? »Melde dich mal«? Oder »Es war eine schöne Nacht. Ich werde dich nicht vergessen«? Vielleicht sogar: »Geh nicht. Unsere Scheidung war ein großer Fehler. Wir gehören doch zusammen«?

Andreas scheinen völlig andere Gefühle zu bewegen. Mein Ex-Mann bricht das Schweigen mit einer Bemerkung, nach der ich zum ersten Mal über unsere Scheidung froh bin. Er klopft noch einmal anerkennend auf die Waschmaschine, die er angeschlossen hat, bleibt nachdenklich einen Moment lang vor dem Gerät stehen, und sagt dann: »Weißt du, Franziska, es ist schon gut, dass wir keine Kinder haben. Du bist so …« – er sucht nach Worten – »du bist so unselbständig! Mit einem Kind wärst du doch dauernd überfordert gewesen.« Er macht eine bedauernde Kopfbewegung. »Du willst zu wenig.« Dann schüttelt er sich, als wolle er den gestrigen Tag, den jetzigen Moment, diesen Morgen mit mir abschütteln wie ein Hund die Regentropfen. Es sieht aus, als schüttele er gleich unser ganzes gemeinsames Leben, unsere Ehe und auch noch mich mit ab.

Er gibt sich einen Ruck, beugt sich kurz über mich, und wir verabschieden uns mit steifen Wangenküssen. Ich schaffe es nicht, ihm nachzusehen, wie er über den Hof geht, obwohl der erste Morgenschimmer den Himmel erhellt. Ich verkrieche mich wieder unter der Decke. Das Kopfkissen duftet nach seinem Rasierwasser. Aber meine Füße werden nicht mehr warm.

Kleine Schiffe
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