8. Kapitel
Selten fühlte ich mich wohl in mir
an einem wundervollen Ort wie hier
Selten war alles richtig wie
Genau in diesem Augenblick. Selten.
Bernd Begemann: »Selten«
Weihnachten verbringen Lilli und ich zu Hause und pflegen unsere Bäuche. An Heiligabend gehen wir in die Kirche und feiern einen stimmungsvollen Gottesdienst mit Orgel und den vertrauten alten Texten. Lilli schluckt dauernd, und bei »Was trug Maria unter ihrem Herzen« in der zweiten Strophe von »Maria durch ein’ Dornwald ging« fängt sie an zu weinen. Auch ich kämpfe mit den Tränen. Schließlich schauen wir uns an, nicken uns zu und nehmen uns einfach fest in die Arme. Es muss ein seltsamer Anblick sein: zwei aneinandergeklammerte Schwangere, die tränenüberströmt Weihnachtslieder singen.
Meinem Vater, der neben mir steht, ist das so unangenehm, dass kaum etwas von ihm zu sehen ist. Seine Mütze scheint direkt auf dem Rollkragen zu sitzen. Aber nach dem Gottesdienst nimmt er mich zur Seite und sagt mit verdächtig feuchten Augen: »Denk dir, Franzi, nächstes Jahr ist unser Nachwuchs schon mit dabei.« Unser Nachwuchs!
Papa hatte mir bereits am zweiten Advent seinen Weihnachtsplan erläutert. »Franzi, ich möchte gern mit Rudi und Helmut feiern. Genauer gesagt: Ich lade die beiden ein, mit meinen Leuten vom Seniorenmittagstisch zu essen. Und zu dir komme ich dann am ersten Feiertag.«
Nach dem Gottesdienst winkt er einer Gruppe älterer Leute zu und zeigt auf mich. »Das ist meine Tochter Franziska!«
Die Angesprochenen winken freundlich zurück, und ein breitschultriger Mann mit rotem Gesicht und grauen Stoppeln ruft mit kratziger Stimme einen Weihnachtsgruß herüber.
»Das ist Kuddel«, erklärt mein Vater sichtlich pikiert. »Nicht gerade mein Liebling, aber er isst wenigstens immer alles auf.« Er grinst verschmitzt. »So einen hast du ja jetzt auch im Haus.« Natürlich ist ihm aufgefallen, dass Simon seit dem Einbauen des Dimmers in meinem Zimmer mittlerweile ein häufig gesehener Gast an unserem Küchentisch ist. Lilli und ich sind sehr froh darüber. Lilli wegen Simons handwerklichem Geschick. Und ich …
Silvester verbringen wir mit Tina. Das ist ein Ritual zwischen Tina und mir – wir haben viele Jahre auch gemeinsam mit Andreas und Tinas jeweiligem Begleiter gefeiert, der mitunter zu Andreas’ Freundeskreis gehörte. In den letzten beiden Jahren sind Tina und ich zu zweit essen gegangen und haben dann am Hafen mit Tausenden Hamburgern das Feuerwerk erlebt.
Diesmal ist alles anders: Wir sehen mit Lilli »Dinner for One« im Fernsehen und stoßen vor dem Kamin mit alkoholfreiem Sekt an.
Meine Mutter hat immer gesagt: »Manches kann man sich nicht vorstellen, manches muss man selbst erleben.« Einmal wollte ich wissen, wie es sich anfühlt zu fliegen. Mama ging mit mir zur Schaukel auf dem Spielplatz und ermutigte mich, abzuspringen, wenn ich richtig viel Schwung hatte. »Fliegen dauert länger – wir Menschen sind viel zu schwer, wir können nicht allein fliegen wie Vögel. Aber wir können schaukeln – und springen. Und das ist auch schon schön, oder?« Als ich meine Angst überwunden hatte, konnte ich damit gar nicht mehr aufhören. Und schon heute freue ich mich darauf, mit Willy schaukeln zu gehen und ihm das »Fliegen« beizubringen. Ich wollte auch wissen, wie es ist, tot zu sein – aber nur so lange, wie Mama lebte. Wollte wissen, wie Sekt schmeckt. Das erfuhr ich bei meiner Konfirmation und mochte es sofort – sehr zur Sorge von Papa. Auch, wie es ist, einen Jungen zu küssen, war im echten Erleben radikal anders als in meiner Vorstellung.
Die Bedeutung von Mutters Bemerkung über das, was man beschreiben und sich vorstellen kann, und das, was man selbst erleben muss, wird mir an einem regnerischen Sonntagnachmittag im Januar erneut klar, als ich in der Küche Sahne schlage. Aus dem Wohnzimmer dringen Gelächter und Gesprächsfetzen herüber. Lilli und ich haben Tina zu Kaffee und Kuchen geladen – ein gemütliches Ritual am Wochenende, das wir eingeführt haben, seit wir immer unbeweglicher geworden sind. Die Zeit der Sekt-auf-Eis-Tradition ist vorbei: Es lebe der Kaffeeklatsch! Tina bringt Lilli häufig eine Kleinigkeit mit, eine Haarspange, ein Armband, eine Parfümprobe. Lilli dankt ihr diese kleinen Verwöhnungen nicht nur mit glücklichem Quietschen und Umarmungen, sondern auch mit kostenlosen Haarschnitten. Wenn ich beide nicht sosehr mögen würde, könnte ich auf die Innigkeit ihrer Beziehung eifersüchtig werden. Dass die Unvermeidlichen Papa beim Sonntagsspaziergang begleiten und dann alle »zufällig« gegen halb vier Uhr bei uns vor der Tür stehen – auch daran haben wir uns gewöhnt. Es ist mittlerweile ja sogar recht gemütlich. Papa hat eigentlich immer etwas Leckeres dabei, und Rudi – oder Helmut? – hat sich als Schatztruhe für lustige Spiele erwiesen. Ihm ist es zu verdanken, dass sowohl Tina als Lilli passionierte Sängerinnen des Liedes »Ein kleiner Matrose« geworden sind und wir uns alle beim »Ministerstürzen« (einem recht komplizierten Klatsch-und Schnipsspiel) köstlich amüsieren. Diesmal hat Papa selbstgebackene Linzer Torte mitgebracht, für die ich schon als kleines Mädchen geschwärmt habe und deren feiner Duft nach Nelken und Schokolade verheißungsvoll in meine Nase steigt.
Lilli und ich können inzwischen wieder normal essen, nachdem wir während der Schwangerschaft abwechselnd von befremdlichen Gelüsten (bei mir Dosenfisch in Senfsoße, bei Lilli Kartoffelpüree) und Abneigungen (bei mir gegen Eier, bei Lilli gegen rote Beete) geplagt waren und sich die wachsenden Babys zwischen unseren Organen so viel Platz schufen, dass zumindest ich manchmal glaubte, mein Magen hätte keinen Raum mehr in meinem Körper. Aber das ist jetzt vorbei. Beide Babys haben sich schon vor einiger Zeit vorbildlich in Startposition gesenkt, und wir warten täglich darauf, dass »es« losgeht. Sogar einige anfänglich mit Schrecken notierte Senkwehen haben wir schon erlebt. Erst Lilli, dann ich. Natürlich sind wir beide gespannt, wer von uns als Erste dran ist. Auf jeden Fall haben wir uns in der Weihnachtsnacht bei Yogi-Tee, Zimtsternen und Kerzenschein am Kaminfeuer versprochen, dass wir uns gegenseitig durch die Geburt begleiten werden.
David hat nämlich von vornherein klargemacht, dass er das nicht aushalten kann. »Nee, sorry, Kleines. Blut und so, da wird mir übel. Und bei mir liegen die Nerven doch eh schon blank.« Schließlich schreibt er im Februar seine Abiturklausuren.
Lilli hat geschluckt und einen Nachmittag lang Elvis’ »Big Love, Big Heartache« gehört: in voller Lautstärke. Dass David sie noch nie mit zu sich nach Hause genommen hat, erschwert die Situation zusätzlich, obwohl sie sehr darauf bedacht ist, sich nichts anmerken zu lassen.
»Weißt du, David hatte schon so viel Stress mit seinen Eltern«, sagt sie abgeklärt. »Und ich bin wohl kaum eine Traumschwiegertochter. Ich kann ihn verstehen, schließlich bin ich ja keine Spießerin. Ist mir doch egal, ob die mich kennen oder nicht.« Der letzte Satz klingt wohl selbst für ihre eigenen Ohren unglaubwürdig – deswegen grinst sie mich frech an und zupft an ihrem grellgrünen, eng anliegenden Oberteil herum, unter dem man den vorgewölbten Nabel auf ihrer Schwangerschaftskugel erkennen kann. »David hat vielleicht nur Schiss, dass sein Alter mich sexy finden könnte. Das meint Davids bester Freund Oliver auch.«
Ich sehe in Lillis verletzte Kinderaugen und denke mir, dass Davids Eltern einen wunderbaren Menschen verpassen. Allerdings haben sie davon wahrscheinlich gar keine Ahnung, weil David zu Hause bestimmt nichts erzählt und seine Eltern von Lillis Existenz nichts wissen.
Also werde ich bei Lillis Entbindung dabei sein – und sie bei meiner. Dass David sie nicht begleiten will, verletzt Lilli auch noch aus einem weiteren Grund. Traurig schaut sie mich an. »Schatz, du bist zwar ein großartiger Mensch, aber eben kein Mann. Für Elvis wäre es doch sehr wichtig, auf der Welt sowohl von einer Frau als auch von einem Mann begrüßt zu werden. Männer haben so etwas … Beruhigendes. Außerdem: Ein Kind braucht doch einen Vater.« Ob sie sich gar nicht klarmacht, wie sehr mich dieser Satz trifft? Aber ich weiß, dass Lilli nicht vorsätzlich verletzend ist. Höchstens gedankenlos. Und wenn es um Elvis geht, hat sie einfach den Tunnelblick. Dennoch bedrücken mich ihre Worte. Denn ich habe Andreas immer noch nichts gesagt und ihm zu Weihnachten nur eine lapidare Karte (keine von meinen selbstgebastelten!) mit unverbindlichen Grüßen geschickt.
Ständig muss ich die Frage nach dem Vater meines Babys mit einem »Ich werde alleinerziehend sein« beantworten. Das ist manchmal schwerer und manchmal leichter – wie zum Beispiel im Gospelchor, wo es keinen interessiert, wie ich lebe. Da singen Frauen und Männer, Mütter und Nicht-Mütter – die nehmen mich einfach so, wie ich bin. Mit oder ohne Kindsvater. Die Proben finden im Musikzimmer der Apostelkirche statt. Dort ist übrigens der Bruder von Handwerkerin Sophie Pastor. Markus Brenner. Und da heißt es immer, die Menschen lebten in der Großstadt isoliert. Ich habe eher das Gefühl, Hamburg – und Eimsbüttel insbesondere – ist ein Dorf, in dem man irgendwann fast jeden kennt. Im Wohnzimmer wird schon wieder »Ein kleiner Matrose« intoniert.
Ich schalte den Quirl ein und beginne die Sahne zu schlagen. Dabei erlaube ich mir einen Gedanken, den ich über die Feiertage erfolgreich verdrängt habe. Wie wohl Andreas Weihnachten und Silvester verbracht hat? Nicht einmal auf meine Karte hat er sich gemeldet. Ich schütte etwas Zucker in die Sahne. Andererseits: Wir sind geschieden. Nur sentimentale Tröpfe schreiben noch Karten. Sentimentale Tröpfe mit schlechtem Gewissen.
Ohne Voranmeldung durchzuckt etwas meinen Körper. Es schwappt aus mir hinaus, und im ersten peinlichen Moment denke ich erschrocken, dass ich in die Hose gemacht oder überraschend Durchfall bekommen habe.
Ich umklammere den Quirl, und da kommt auch schon der nächste Schwall. Meine Fruchtblase ist geplatzt! Ich stehe in einer Pfütze, schalte erst einmal den Quirl ab und weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll.
In diesem Moment taucht Tina in der Tür auf. »Warum dauert das so lange?« Ihr munterer Gesichtsausdruck verschwindet, als sie mich sieht. »Franzi, was ist los?«
Ich zeige auf das Fruchtwasser, meine patschnassen Hosen und sage kläglich: »Ich glaube, mein Baby kommt.«
Tina wird bleich. »Jetzt gleich? Du meinst, noch vor dem Kaffeetrinken?« Typisch, Tina! Obwohl mir gerade nicht unbedingt zum Lachen ist, kann ich ein Lächeln nicht unterdrücken. »Ja, tatsächlich, vor dem Kaffeetrinken. Aber wenn es dir danach besser passt, spreche ich noch einmal mit Willy.« Tina wuselt hektisch um mich herum. »Ist das nicht der Zeitpunkt, an dem man Handtücher und heißes Wasser vorbereiten sollte? Und du musst atmen. Oder etwa hecheln?« Sie ringt die Hände. »Warum hab ich bloß im Kino nicht besser aufgepasst? Franzi! Was sollen wir denn jetzt machen?«
»Ich muss ins Krankenhaus.«
Tina starrt mich entsetzt an und murmelt noch einmal: »Ausgerechnet jetzt. Vor dem Kaffeetrinken.«
»Bitte sag Lilli Bescheid. Sie weiß, wo meine Sachen sind.«
Tina reißt sich aus ihrer Schockstarre und flitzt ins Wohnzimmer, wo ihr Alarmruf einen mittleren Tumult auslöst. Wenig später stehen alle um mich herum. Mein Vater hält mit blassem Gesicht einen Sicherheitsabstand, während Lilli beruhigend meine Hand streichelt und die Unvermeidlichen unsichere Blicke tauschen.
Ich sehe Tina an. »Fährst du mich?«
»In die Klinik?« Sie stakst wie ein Storch über den feuchten Küchenfußboden.
Rudi und Helmut lachen meckernd. »Der war gut!«, ächzt Rudi. Und Helmut äfft Tina nach: »In die Klinik?« Er zeigt Tina einen Vogel. »Sie müssen schon entschuldigen, aber wohin denn sonst? Glauben Sie, dass Franziska ins Spaßbad fahren will?«
Mein Vater geht dazwischen. »Jetzt hört mal auf, Jungs!« Dann sieht er Tina aufmunternd an. »Also, fährst du sie?«
Tina schluckt erst und nickt dann. Sie scheint froh zu sein, endlich die Küche verlassen zu können, und stürzt mit den Worten »Ich hol den Wagen« aus der Tür.
Während ich mich an die Spüle klammere, behält Lilli die Übersicht. Sie ruft bei meiner Hebamme an, die die Klinik verständigen wird, holt meinen Klinikkoffer aus dem Schlafzimmer und hat auch für Rudi und Helmut eine Aufgabe. »Hört mal, ihr zwei, wir fahren jetzt mit Franzi ins Krankenhaus. Und ihr macht hier einfach ein bisschen sauber, okay? Wischlappen und Schrubber sind dahinten im Schrank.«
Rudi und Helmut sind viel zu verblüfft, um zu reagieren. Mein Vater streift Lilli mit einem anerkennenden Blick. Lilli nimmt meinen Arm. »Auf geht’s, Franzi!«
Mein Vater eilt voran. Er nimmt meinen Mantel vom Garderobenhaken, öffnet die Tür – und prallt erschrocken zurück. Denn in der Dämmerung des Winternachmittags steht ein Mann. Über die Schulter meines Vaters erkenne ich Simon. Was will er hier? Und ausgerechnet jetzt?
»Wer sind Sie?«, fährt mein Vater ihn barsch an. Simon lässt den Finger sinken, den er gerade auf den Klingelknopf legen wollte.
Er stammelt: »Ich bin … Ich wollte …«
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, unterbricht mein Vater ihn entschlossen. »Wir bekommen ein Kind!«
Ich lächele Simon gequält an. Es ist mir unangenehm, dass er mich in dieser Situation sieht, obwohl die nasse Hose unter meinem Mantel verborgen ist. Ich fühle mich hilflos.
Simon wirkt verlegen. Er tritt zur Seite und lässt uns passieren. »Viel Glück!«, höre ich ihn sagen, als ich an ihm vorbeigeschoben werde.
»Danke!«
Lilli und Papa führen mich über den Hof zur Straße, wo Tinas Wagen mit laufendem Motor wartet. Langsam lasse ich mich auf den Beifahrersitz sinken, während die anderen einsteigen.
»Alle drin?« Die hinteren Wagentüren schnappen ins Schloss, Tina legt den ersten Gang ein und braust los. Hinter dem Lenkrad hat sie ihre Sicherheit wiedergefunden. Schließlich haben wir das Szenario immer wieder besprochen. Tina kennt den Weg zur Klinik im Schlaf – wir wissen, dass er selbst zur Hauptverkehrszeit nicht länger als maximal eine Viertelstunde dauert. Wir scheinen durch die Straßen zu fliegen. Kaum sitze ich, wühlt sich unvermittelt ein tiefer Schmerz in meinem Körper von unten nach oben, presst sich wie eine große Faust in meinen Unterleib, so dass ich mich unwillkürlich nach vorn beuge. Das also ist eine Wehe! Ich bin völlig überwältigt von der Dimension des Schmerzes.
Tina wirft mir einen erschrockenen Blick zu. »Franzi?« Ich tauche aus der Wehe auf wie aus einem See, in dem Schmerzen das Wasser sind. Keuchend sinke ich in den Sitz zurück. Ich habe das Gefühl, dass Tina und ich wie im Cockpit einer Rakete durch die Dunkelheit zischen. Von den anderen bekomme ich gar nichts mehr mit. Im Auto herrscht angespanntes Schweigen. Nur Lilli hört man ab und an sagen: »Hey, Franzi, alles wird gut.«
Am Tor zur Klinik zeigt Tina hektisch auf mich und schreit durch das Fenster das Zauberwort »Entbindung!«, und schon halten wir vor dem Eingang der Entbindungsstation, wo mich Nina bereits erwartet.
Als ich mich aus dem Wagen hinauswälze, erlebe ich eine Überraschung: Nicht etwa mein Vater oder Lilli helfen mir dabei – nein, es ist Simons große, warme Hand, die mich beim Aussteigen stützt.
»Simon?«
Er lächelt mich liebevoll an. »Ich weiß auch nicht, wieso. Ich bin einfach mit eingestiegen!«
Mein Vater schüttelt den Kopf. »Ich wollte ja nichts sagen, aber was soll das? Was wollen Sie hier?«
Lilli antwortet ihm, und auch Simon sagt etwas, aber ich verstehe ihre Worte nicht mehr, denn schon wieder wühlt sich der Schmerz durch meinen Körper und lässt mich zusammenklappen. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, als hätte ich ein Stahlrohr im Rückgrat – mein Rücken ist völlig steif, während es in meinem Bauch so stark krampft, wie ich es von den schlimmsten Regelschmerzen kenne. Ich merke, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten kann, gleich müssen meine Knie wegknicken! Wieder bin ich völlig überwältigt von der Intensität des Schmerzes, der mich zusammendrückt, als würde ich in einer Schrottpresse stecken.
Als der Schmerz abebbt, will ich Lilli unbedingt mitteilen, dass echte Wehen den Senkwehen ungefähr so sehr ähneln wie ein in der Küchenschublade geklemmter Finger einer mit der Heckenschere abgesäbelten Hand. Ich sehe mich nach Lilli um, kann sie aber nicht entdecken. Trotzdem sage ich: »Kein Vergleich zu Senkwehen!«
Es gelingt mir, mich langsam wieder aufzurichten – gerade weit genug, um mitzubekommen, dass mein Vater bei dem Wort »Senkwehen« erbleicht, schwankt und einer Krankenschwester in die Arme sinkt.
Sie ruft: »Doktor Schilling? Wir haben hier einen Notfall.«
Während sich zwei Schwestern und ein junger Arzt um meinen Vater kümmern, der leise ächzend wieder zu sich kommt, zeigt Nina auf Tina, die erschrocken einen Schritt zurücktritt. »Sie sind …«
»Ich bin Christina, Franziskas beste Freundin.«
Nina lächelt mir zu. »Wunderbar! Franziska, bist du damit einverstanden, dass Tina deine Geburtspartnerin wird?«
Ich sehe mich abermals suchend um. »Aber das sollte doch Lilli …«
Die Hebamme schüttelt den Kopf. »Lilli ist anderweitig beschäftigt.« Ihr Grinsen wird noch breiter. »Wenn du dich nicht beeilst, wird Lilli noch vor dir Mutter!«
Ich habe keine Zeit mehr, diese Information zu kommentieren, denn die nächste Wehe reißt mich fast von den Füßen.
Dann liege ich im Geburtszimmer, und Tina, Nina und ich bekommen mein Kind.
»Tina, Nina und Franzi! Wenn das nicht nach einem Erfolgsteam klingt«, behauptet Nina.
»Für mich klingt das eher wie jodelnde Drillinge«, widerspricht Tina und zieht eine Grimasse. Sie ist bestimmt aufgeregter als ich, wirft aber ihre gesamte Physiotherapeutinnen-Souveränität in die Waagschale und bewahrt tapfer die Ruhe.
Obwohl ich zwischendurch mehr als einmal jammere, dass es nun endlich aufhören soll und dass ich eigentlich gar nicht schwanger werden wollte, mache ich meine Sache sehr gut – zumindest laut Nina und Dr.Fohringer, der inzwischen ebenfalls in der Klinik eingetroffen ist. Ihm ist ein gewisser Stolz auf seine »alte Erstgebärende« deutlich anzusehen. Er plaudert mit Tina, die ihre Augen dankbar von meinem verschwitzten, verzerrten Gesicht abwendet und auf seine gepflegten, graumelierten Schläfen heftet. Fohringer erklärt ihr, dass es heutzutage für eine gesunde Frau wirklich kein Problem ist, jenseits der vierzig ein Kind zu bekommen.
»Geben Sie sich keine Mühe, Herr Doktor«, quetsche ich zwischen zwei Wehen hervor. »Tina hasst Mütter!«
Tinas Griff um meine schweißnasse Hand verstärkt sich. »Herzchen, so kannst du das nicht sagen!« Sie schenkt Fohringer ein hinreißendes Lachen, das dieser jedoch gar nicht richtig würdigen kann, weil eine Schwester an ihn herantritt.
»Sie machen hier schön weiter, Frau Funk«, sagt Fohringer nach einer kurzen Unterredung mit ihr. »Ich sehe mir mal an, was sich bei Ihrer Mitbewohnerin nebenan so tut.« Zu Tinas Bedauern verlässt er das Zimmer.
»Meine Güte, musst du denn sogar bei der Geburt deines Patenkindes wie eine Weltmeisterin flirten?«, zische ich Tina zu.
Die zuckt nur mit den Schultern. »Nur keinen Neid!«
Gleich darauf habe ich für derartige Kabbeleien keine Kraft mehr. Die Wehen kommen in Abständen von zwei bis vier Minuten und halten sechzig bis neunzig Sekunden an. Ich habe das Gefühl, als würden sie mich ununterbrochen überrollen.
Während ich gegen die Schmerzen kämpfe, erinnere ich mich, gelesen zu haben, dass der Weg durch den Geburtskanal die gefährlichste Reise ist, die ein Mensch jemals unternimmt. Ich wünsche meinem kleinen, unbekannten und schon intensiv von mir geliebten Passagier eine sichere Durchfahrt.
Zwischen zwei Wehen erscheint manchmal Andreas’ Gesicht vor mir – ich wünschte, er wäre hier. Aber dann verschwimmt sein Gesicht wieder, und ich schaue in Tinas Augen, die mich aufmunternd ansehen. Tina bewährt sich trotz ihrer anfänglichen Panikreaktion als souveräne Geburtshelferin. Sie hilft mir atmen, stützt mich bei den Presswehen, und sie ist es auch, die mir mitteilt: »Ich sehe den Kopf!«
Willy kommt zur Welt. Nicht so schnell, wie ich mir vorgestellt habe, sondern langsam. Erst der Kopf. Eine Wehe! Dann eine Schulter. Noch eine Wehe! Und noch eine! Die zweite Schulter. Jetzt endlich rutscht mein Baby hinaus und wird mir klein, glitschig, verknautscht, froschartig, hässlich und einzigartig auf den Bauch gelegt.
»Willy«, murmele ich dem verschmierten Wesen zu.
Nina und Tina lachen. »Franziska«, sagt Nina dann, »du musst jetzt sehr tapfer sein!«
Erschrocken reiße ich die Augen auf und versuche mein Kind anzusehen, das inzwischen unter einem weißen Tuch auf mir liegt. »Wieso?«, frage ich nervös und suche Tinas Blick.
Sie lächelt mir beruhigend zu. »Alles gut, Franzi. Nur …«
Nina beendet den Satz: »Dein Willy ist ein Mädchen!«
»Ein Mädchen?« Wieder versuche ich mein Kind genauer anzusehen, und diesmal gelingt es, weil Nina es ein wenig höher schiebt. Ich blicke in das kleine Gesicht, sehe die zarten Nasenflügel, die flaumweichen, kaum sichtbaren Augenbrauen, die sanft gerundeten Wangen und verliebe mich mit einer mir bislang unbekannten Kraft in meine Tochter. »Ist sie nicht wunderschön?«, flüstere ich, während mir die Tränen über das Gesicht laufen und ich keinerlei Schmerzen mehr verspüre. Sondern ein Glück, das so groß ist, dass es eigentlich gar nicht mehr in mich hineinpasst.
»Wie soll sie denn heißen, deine Kleine?«, fragt Nina.
Tina ergänzt: »Willy geht ja nun nicht mehr, oder?«
Ich schaue noch einmal in das Gesicht meiner Tochter. Dann spreche ich den Namen aus, den Andreas und ich uns vor langer Zeit gemeinsam ausgesucht haben. »Sie soll Amélie heißen!« Und schon heule ich los.
Mitten in meinem überwältigenden Glücksgefühl überfällt mich eine große Traurigkeit darüber, dass Andreas in diesem Augenblick nicht bei mir ist. Ich lache und weine gleichzeitig. Auch Tina lacht und wischt sich die Tränen vom Gesicht.
Amélie regt sich ein wenig, aus ihrem Mund kommt ein krächzendes Quaken. Ich küsse das Baby auf sein Köpfchen und sage: »Hallo, Entchen.«
Wie hatte meine Mutter gesagt? »Manches kann man sich nicht vorstellen, manches muss man selbst erleben.« Obwohl ich verstanden habe, was sie meint, habe ich es doch bislang nie richtig begriffen. Die Schmerzen und die Ängste sind nichts gegen das Gefühl, das eigene Kind im Arm zu halten – dieses Gefühl lässt sich mit Worten nur unzulänglich beschreiben. Ich habe mich noch nie mehr eins mit mir, mit der Welt und dem Leben gefühlt als in diesem Moment.
Viel später taucht mein Vater auf – erst nach der Abnabelung, der Nachgeburt und all dem, was zu einer Geburt gehört und was ich wie unter einem Schleier aus Glück und Erschöpfung erlebe. »Es tut mir leid, Franzi«, hüstelt es aus seinem Kragen heraus, während er ehrfürchtig und aus gebührendem Abstand seine Enkelin bestaunt. »Mir wurde vorhin so schwummerig, und dann habe ich lieber in der Cafeteria gewartet.«
»Sie soll Amélie heißen«, sage ich.
Er sieht mich erstaunt an. »Amélie?«
»Na, Willy kann ich sie ja wohl kaum nennen.«
»Amélie, Amalia, Amelia, Amélie.« Ein Lächeln leuchtet aus dem Rollkragen, und er schluckt schwer. Auch Papa ist gerührt! Unsicher tauschen wir einen Blick und schauen dann beide schnell weg. In so etwas haben wir keine Übung.
Mir laufen schon wieder die Tränen über das Gesicht.
»Das ist ja furchtbar«, stöhnt Tina und wischt sich verstohlen über die Wangen. »Wie viele Stunden hintereinander kann man eigentlich dauergerührt sein?«
Papa schneuzt sich. »Das ist erst der Anfang, Tina. Mit einem Kind hat man ständig nahe am Wasser gebaut.« Er setzt sich vorsichtig zu mir aufs Bett und sieht auf Amélie hinunter. Dann sagt er leise: »Deine Mutter und ich haben in den ersten Wochen andauernd geweint. Und auch später gab es immer wieder neue Anlässe: Als du das erste Mal allein Karussell gefahren bist, das erste Mal in den Kindergarten gegangen bist.« Ihn überwältigen die Erinnerungen – er greift wieder zum Taschentuch. Dabei fällt ihm etwas ein. Aus seiner Manteltasche holt er ein flaches, in Seidenpapier geschlagenes Päckchen. »Hier, herzlichen Glückwunsch.« Ich packe es aus und traue meinen Augen nicht. Es ist ein leuchtend grünes Seidentuch – es ist wunderschön. Fragend blicke ich Papa an. Ihm ist meine Begeisterung sichtlich unangenehm, aber sie freut ihn auch. »Wie bist du denn darauf gekommen?« Papa lächelt wissend. »Weißt du, du wirst jetzt erleben, dass du dauernd Geschenke für das Baby bekommst. Spielzeug, Klamotten. Da dachte ich, es wäre vielleicht schön, dir etwas zu schenken, das nur für dich ist.« Ich habe schon wieder Tränen in den Augen. Es klopft an der Tür, und Simon steckt seinen Kopf herein.
Ich kann meine Augen kaum von Amélie losreißen, die Nina mir inzwischen an die Brust gelegt hat. Allerdings will sie gar nicht saugen.
»Das üben wir noch«, sagt Nina lächelnd. »Viele Babys wollen nach der Geburt erst mal schlafen.«
Simon sieht genauso mitgenommen aus wie wir alle. Seine Haare sind wirr, sein Hemd ist zerknittert, und es hat den Anschein, als hätte auch er geweint. Mein Vater mustert ihn neugierig. »Na, junger Mann, alles im Lot?«
Es stellt sich heraus, dass Simon Lilli bei der Geburt begleitet hat. »Sie hat mir fast die Hand zerquetscht«, erzählt er mit stolzem Grinsen. »Und geflucht wie ein Kesselflicker. Der Arzt war von ihrem Vokabular sehr beeindruckt.«
Tina schaltet sich ein: »Wo ist eigentlich der Herr Doktor? Er hat Amélie nur kurz angesehen, aber dann ist er auf und davon. Wahrscheinlich ein Notfall.« Sie lächelt bedauernd, aber anerkennend. »Ein nobler Mann. Immer im Dienst!«
»Das denken Sie!«, widerspricht Nina. »Dr.Fohringer ist zwar in der Tat ein großartiger Arzt, aber er hat heute Abend keine Geburt mehr, sondern – Opernkarten!« Und dann schiebt sie mit vorgetäuschter Beiläufigkeit nach: »Mit seiner Frau.«
»Simon, spann uns nicht auf die Folter«, bettele ich. »Wie sieht Elvis aus?«
Simon ist anzusehen, dass er es genießt, uns noch ein wenig zappeln zu lassen. Er hebt die Schultern, presst grinsend die Lippen zusammen und holt aus seiner Brusttasche zwei kleine gefaltete Schiffe und einen Stift. »Ist es eigentlich bei Willy geblieben?«
Ich strahle ihn an. »Du darfst meine Tochter Amélie begrüßen.«
Lauthals lacht Simon auf. »Noch ein Mädchen?«
Irritiert wechseln wir anderen Blicke, während Simon mit großem Ernst säuberlich den Namen »Amélie« auf eines der Schiffchen schreibt.
»Was ist nun mit Elvis und Lilli?«, frage ich noch einmal.
Simon nimmt das zweite Schiffchen und schreibt etwas darauf. Dann stellt er beide auf meinen Nachttisch. Tina und Nina versuchen die Schrift zu entziffern. Aber das ist nicht mehr nötig.
»Mutter und Kind sind wohlauf!«, verkündet Simon. »Elvis ist da. Aber er heißt Lisa-Marie!«