13. Kapitel

Mein Leben würde aufhören
Wenn du ja sagst
Und unser Leben würde anfangen.
Bernd Begemann: »Ich kann dich nicht kriegen, Katrin«

Am nächsten Morgen hat sich meine Angst schon wieder etwas gelegt. Nach Pröllkes Auftritt hat Simon Lilli und mich sofort beruhigt. »David ruft einfach seinen Vater an – der kann bestimmt herausfinden, ob der Pröllke das darf.«

David war ebenso verblüfft wie wir. »Mein Alter?« Er schien schlagartig nüchtern zu werden. »Was soll ich den denn fragen?«

Oliver, der mir immer ein wenig freundlicher und warmherziger als David vorkommt, warf sofort ein: »Na, du sagst ihm einfach, dass ein Freund von dir untervermietet hat und der Vermieter ihn jetzt rauswerfen will. Ob das einfach so geht.«

»Wieso soll mein Alter das denn wissen?«, fragte David misstrauisch.

Simon lachte. »Der hat doch Rechtsanwälte in seiner Kanzlei.«

»Okay, das mache ich aber erst morgen.«

»Man muss nur wissen, wo man Hilfe suchen kann«, sagte Simon und legte tröstend den Arm um mich. »So schnell kann der euch gar nicht rausschmeißen. Was meinst du, was los wäre, wenn wir das einer Zeitung stecken. Mütter von Babys auf die Straße gesetzt!« Er lachte und nahm mich fest in seine Arme.

Das Glück, das der Tanz mit Simon in mir ausgelöst hat, ist auch an diesem Morgen noch spürbar. Es gibt jetzt so viel Glück in meinem Leben! Viele Einzelmomente, von Amélies erstem Lachen am Morgen bis zu Simons letztem Kuss. Die Liebe zu Amélie. Zu Simon. Zu Lilli und Lisa-Marie. Zum Leben. Und während ich im Bett liege und auf Simons Atem an meinem Ohr lausche, fällt mir kurz Andreas ein – der einzige Schatten in meinem Leben. Ich komme mir zunehmend schlecht vor, dass ich ihm Amélie vorenthalte. Aber immer wenn ich überlege, es ihm zu sagen, steht dieser Satz zwischen uns: »Du willst zu wenig.« Nein, ich kann Andreas nichts sagen. Ich bringe es einfach nicht fertig. Und ich will mein Glück nicht gefährden. Wie würde Andreas reagieren? Ich sehe ihn vor mir, wie er den Fast-Fahrrad-Dieb verprügeln will. Andreas, sonst eher sanft, vermag sehr zornig zu werden. Nein, darauf kann ich verzichten. Ich will mein Glück behalten. Mein Glück mit Lilli. Und mein Glück mit Simon.


Natürlich bleiben Zweifel. Das Leben ist kein abgeschlossener Fotoroman. Das Leben ist niemals fertig. Und das Glück? Dafür gibt es keine Formel. Mann + Kind + Haus = Glück? Idealgewicht + operativ perfektionierte Brüste = Glück? Guter Job + neues Auto + zweimal jährlich Urlaub = Glück?

Glück ist nicht herstellbar, Glück geschieht. In diesem Sommer mit Simon lerne ich von neuem: Glück ist der Moment. Es ist ein Schmetterling, der sich für einen Moment auf die sonnige Fensterbank setzt.

Genauso ist das Leben mit Simon. Wir verbringen innige Momente. Wir gehen spazieren, halten einander an den Händen, schlafen miteinander ein, wachen miteinander auf und sind uns so nahe, so nahe. Dann wieder schwingt er sich auf sein Fahrrad und fährt fort, ohne sich umzudrehen. Er taucht ab, meldet sich tagelang nicht, reagiert nicht auf Mails oder Anrufe. Anfangs stürzt mich das in tiefe Zweifel: Ist er jetzt mit einer anderen zusammen? Will er lieber allein sein? Will er mich nicht mehr? Doch dann kommt er durch die Tür und setzt sich an den Küchentisch, als wäre er nie fort gewesen.

Auch das Glück mit Amélie und Lisa-Marie ist kein sonniges Mutter-Kind-Idyll wie im Werbespot. Es ist zermürbend, wenn die Kinder krank sind und uns nächtelang nicht schlafen lassen. Sie haben ihren eigenen Kopf, ihre eigene Persönlichkeit. Sie bespucken uns und rupfen uns mit ihren klebrigen Händchen Haare aus. Sie sitzen auf dem Schoß und werfen unvermittelt den Kopf zurück: Zweimal hatte ich deswegen schon eine dicke Unterlippe. Sie schlafen ein, wenn sie essen sollen, und haben Hunger, wenn sie schlafen sollen. Es ist erschöpfend, sie herumzuschleppen – besonders, wenn man gleichzeitig ein Windelpaket und ein Sixpack Mineralwasser trägt. Und doch: Sie machen uns so glücklich! Neben den Momenten der Anstrengung stehen Augenblicke intensiven Glücks: tiefe Blickwechsel, ihr fröhliches Glucksen beim »Kuckuck«-Spiel. Der süße, saubere Babyduft, der sie umgibt wie eine hauchzarte Wolke.

Das Leben ist wie ein Pepita-Muster, hell-dunkel-hell-dunkel. Schwarzweiß. Und das Glück liegt in der sekundenkurzen Abwesenheit von Sorge und Anspannung – im erfüllten Beobachten des Schmetterlings, wohl wissend, dass er gleich weiterfliegt.

Wenn Simon nicht da ist, spüre ich meine Sehnsucht nach ihm und merke, wie lebendig ich bin. Vielleicht ist Sehnsucht das intensivste aller Gefühle – intensiver noch als ihre Erfüllung.

Der scharfe Schmerz der Sehnsucht, wenn sich Simon nicht meldet, hält mich nicht nur in der Nacht wach. Er begleitet mich auch durch den Tag, und ich habe das Gefühl, als wäre meine Haut dünner geworden. Alles spüre ich intensiver. Den Schmerz und die Angst, aber auch die Freude, die Freundlichkeit, das Glück. Eben das Leben.


Viel zu schnell kommt der Herbst. Wir kaufen Schneeanzüge für die Kinder, Handschuhe und dicke Strumpfhosen, Steppeinlagen mit Fußsack für die Buggys. Während es kälter wird, läuft sich Dr.Pröllke richtig warm. Fast jede Woche bekommen wir ein neues Schreiben von ihm, doch es sind immer nur Drohgebärden. David hat seinen Vater zwar nicht angerufen, aber Pastor Brenner hat sich für uns beim Mieterschutzbund, bei dem er Mitglied ist, erkundigt: Solange Pröllke uns nicht rechtskräftig kündigt, brauchen wir keine Angst zu haben. Allerdings hat mir Hebamme Kim verraten, dass Pröllke mittlerweile großes Interesse daran hat, das Gartenhaus zu verkaufen. »Die Gegend hier boomt doch – und ihr habt aus dem Schuppen ein richtiges Schmuckstück gemacht, mit dem tollen Garten. Kleine Wiese, alter Baum, ein Grillplatz …« Also will Pröllke uns rausekeln und schreibt Briefe, in denen er behauptet, wir hätten irgendwelche Bestimmungen nicht erfüllt, als wir den Grill bauten, oder dass sich Mieter im Vorderhaus über unsere Musik – wahlweise den Kinderlärm – beschwert hätten.

An einem Samstag liege ich in meinem Bett und lausche den Geräuschen des Morgens: die wochenendliche Stille im Hinterhof, das Zwitschern vereinzelter Vögel, die sich entschlossen haben, den Winter in der Stadt zu verbringen. Das beruhigende Brummen der Großstadt, gedämpft durch das Vorderhaus und den Garten.

Neben mir plappert Amélie vor sich hin. Ich habe ihr vorhin das Morgenfläschchen gegeben und mich dann noch einmal hingelegt. Jetzt versucht sie, sich in ihrem Bettchen am Fenster hochzuziehen. Natürlich kann sie noch nicht richtig stehen. Aber mit fast zehn Monaten übertrumpfen sich Lisa-Marie und Amélie mittlerweile gegenseitig dabei, Sachen aus den Regalen zu reißen. Wir sind gespannt, wer von den beiden zuerst laufen wird.

Neben mir liegt Simon, er regt sich, und ich fühle seine Hand an meiner Hüfte.

Lilli ist schon wach, ich höre von unten Geräusche aus der Küche: das Öffnen und Schließen der Schränke, leise Musik, Klappern von Geschirr, Lisa-Maries Babyplappern, Männerstimmen.

»Mit wem redet Lilli?«, frage ich Simon. Er schlingt seine Arme um mich. »Vorhin ist Hermann mit Rudi und Helmut gekommen. Du hast noch schön geschlafen, als sie klingelten. Ich wollte dich nicht wecken und habe mit Lilli abgemacht, dass sie ihnen vor ihrem Einsatz ein kleines Frühstück macht. Du weißt doch, die wollen das Kaminholz stapeln, das Sophie heute liefert.« Er spricht langsam und schläfrig wie ein Kind, das gerade geweckt worden ist.

Lilli hat Papa und die Unvermeidlichen in unseren Haushalt eingebunden. Es ist, als ob sie nur auf Lisa-Marie gewartet hätte, um in ihrem Leben auf »Neustart« zu klicken. Sie hat einen großen Kalender für die Küche gekauft, in den sie unsere Termine einträgt. Sie scheucht mich zum Lauftraining, sorgt dafür, dass wir alle Untersuchungstermine beim Kinderarzt einhalten, und plant sogar, ihre Ausbildung zu beenden. »Lisa-Marie kann sich ja schließlich nur auf mich verlassen!« Das ist ihr neuer Wahlspruch.

David lässt sich immer seltener blicken. Lilli verliert darüber kein Wort. Nur als ich einmal nachfragte, ob David eigentlich für Lisa-Marie zahlt, erwidert sie kurz und knapp: »Lisa-Maries Großeltern haben sich entschlossen, sich ihres Problems mit Geld zu entledigen.« Baby, Haushalt, Weiterbildung – das verträumte Märchenwesen mit dem Pfirsich-Lächeln verfügt unter dem dicken Lidschatten und den gelben Kreppschleifen im Haar über die Qualitäten einer Logistik-Managerin, über das Hirn einer Philosophin und das Herz einer Löwin.

Doch momentan ist von dieser Ausnahmefrau nur eins zu hören: ein gackerndes Lachen, flankiert von Gelächtersalven der alten Männer. Simon steckt seine Nase in meinen Nacken. Doch dann schlägt Amélies Geplapper in Gequengel um. Seufzend richte ich mich auf und gebe Simon einen bedauernden Kuss. »Bleib noch ein wenig liegen. Ich bring Amélie nach unten zu Lisa-Marie, und für dich mache ich einen Milchkaffee. Als Dank dafür, dass du mich nicht geweckt hast!«

Simon schließt lächelnd die Augen und rollt sich in die Decke ein.

Unten in der Küche werden wir mit großer Begeisterung begrüßt.

»Hallo! Wen haben wir denn da!«, ruft Papa, und die Unvermeidlichen echoen gut gelaunt: »Hallohallo!« Dabei gilt ihr Augenmerk nur Amélie, die begeistert auf die Willkommensgrüße reagiert. Man bekommt wohl nie wieder so viel uneingeschränkte Aufmerksamkeit und Zuwendung wie als Baby. Und für den Rest unseres Lebens sehnen wir uns dann danach …

Ich setze Amélie zu Lisa-Marie auf die bunte Decke, auf der diese sich mit Bauklötzen beschäftigt. Dort erspäht mein findiges Kind sofort einen alten Keks, den sie zufrieden in den Mund steckt. Manchmal krabbelt eins der Kinder auf den Schuh von einem der alten Herren, die konzentriert Skat spielen. Dann beugt er sich zu ihnen hinunter und streichelt ihre Köpfchen. Zwischen alten Menschen und kleinen Kindern existiert ein magisches Band. Sie verstehen einander ohne Worte, und sie freuen sich auf eine einzigartige Weise aneinander.

Lilli betrachtet die Szene mit dem glücklichen Stolz einer Herbergsmutter, der es gelungen ist, eine Klasse mit vierundzwanzig rotznasigen Rabauken erfolgreich zum Tischdecken abzukommandieren. Wieder einmal wirkt sie durch diesen Blick viel älter, als sie ist.

»Noch jemand Milchkaffee?«, frage ich und öffne den Kühlschrank. Lilli nickt. Aber die Männer wollen lieber einen echten deutschen Filterkaffee.

»Den mach ich«, bietet sich Lilli an. Sie stellt die orangefarbene Kaffeekanne meiner Mutter auf die Küchenanrichte, findet den alten Melitta-Kaffeefilter aus Porzellan und gießt wenig später sorgfältig und langsam heißes Wasser hinein. Gleichzeitig fülle ich Milch in den Topf und setze ihn auf die Herdplatte.

Lilli zwinkert Papa zu. »Ich habe etwas für euch besorgt.« Sie verschwindet in der kleinen Speisekammer neben der Spüle und holt triumphierend eine Palette mit Kaffeesahnedöschen vom Regal.

»Ah! Lecker!« Die Herren sind erfreut. »Nicht diese aufgeschäumte Milchplörre!«, ruft Rudi. »Latta Mikano!«

»Togo«, krächzt Helmut.

Es klingelt an der Tür.

Papa steht auf und setzt sich Amélie gekonnt auf die Hüfte. »Das ist bestimmt Sophie mit dem Holz.«

Lilli dreht Elvis ein wenig lauter und singt mit: »Just tell her Jim said hello!«

»Hat deine gute Laune einen Anlass?«, frage ich, während ich in der Besteckschublade wühle. »Hast du den Milchaufschäumer gesehen?«

Lilli greift an mir vorbei und findet das Gerät sofort. Sie drückt es mir in die Hand und sagt: »Weißt du, ich habe mir was überlegt. Ich kann nicht ewig auf David warten. Ich muss nach vorne sehen.« Mit diesen Worten stellt sie den Männern die Kaffeebecher vor die Nase. Dann singt sie weiter im Duett mit Elvis: »I’d like to pour out my heart/But I don’t know where to start …«

Als ob das nicht laut genug wäre, kommt es zwischen Rudi und Helmut zum Streit. Rudi meckert: »Wenn du Vorhand bist, dann musst du Trumpf spielen!« Worauf Helmut kontert: »Ja, aber ich hatte Pik lang.«

Von oben schreit Simon: »Lilli, mach doch mal die Musik leiser! Franzi! Fraaan-zi! Ich …« Alles Weitere geht in einem Fluch unter, als er offensichtlich über etwas stolpert.

Ich rufe zurück: »Was? Simon? Kaffee ist gleich fertig!«

Lisa-Marie, die erschrocken zwischen Rudi und Helmut hin und her gesehen hat, verzieht weinerlich ihr Gesicht. Elvis, Lilli, die Streithähne, Simons Rufe, Lisa-Maries Gejaule – in dieser Sinfonie behauptet sich Papa mit einem Trompetensolo: »Franziska! Schau mal, wer da ist!«

Ich drehe mich um und reiße vor Schreck fast den Milchtopf von der Platte.

Andreas! Glatt rasiert, in einem eleganten dunklen Anzug.

Obwohl ich gerade noch in Simons Armen so glücklich war und mich schön und geliebt fühlte, komme ich mir in meinem Unterhemdchen und der karierten Pyjamahose, barfuß und mit zerzausten Haaren, auf einmal hässlich und ungepflegt vor. Warum rast mein Herz so?

Elvis singt unverdrossen weiter. Mittlerweile füllt er mit »Honky Tonk Angel« die Küche. »When was the last time you kissed me/And I don’t mean a touch now and then/It’s been a long time since you felt like my woman/And even longer since I felt like your man.«

Andreas und ich starren uns an. Ich sehe, wie sein Mund ein »Hallo« formt, und auch ich sage »Hallo«, aber unser Gruß geht im Gelärme unter. Wir zucken beide zusammen, als Rudi aufspringt und Helmut anmosert: »Du musst dich an die Regeln halten! Ich kann doch nicht wissen, dass du Pik lang hast!«

Papa nimmt seine Karten auf, setzt sich zu seinen Freunden und sagt: »Man kann nicht immer nach den Regeln spielen.« Lisa-Maries Gejaule steigert sich zum hysterischen Geplärr. Lilli versucht sie zu trösten. Auch Amélie fängt jetzt an zu weinen. In dieses Durcheinander stapft Simon – nur mit einem Handtuch um die Hüften, mit nassen Haaren und Wut im Bauch. Er rennt zur Anlage und dreht Elvis die Luft ab. »Das ist hier ja wie im Irrenhaus!«

Er übersieht Andreas, der halb verdeckt in der Küchentür steht und mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck das Treiben in der Küche beobachtet.

Während Rudi und Helmut immer noch grummelnd über den Karten sitzen und uns ignorieren, baut sich Simon vor mir auf. Er gibt mir einen Kuss auf die Nase, legt seine Arme um mich und fragt: »Franzi, meine Süße, wo sind meine Jeans? Ich schrei mir da oben die Seele aus dem Leib!« Mich zu küssen, obwohl ich stocksteif bleibe, scheint seine Laune zu besänftigen. Er tritt zurück und öffnet in gespielter Tragik die Arme. »Könntest du mir vielleicht auch verraten, ob es in diesem Haus noch Unterwäsche für mich gibt? Ich kann doch nicht den ganzen Tag hier im Lendenschurz herumlaufen, Schmusi.«

Lilli kichert, als er neckisch so tut, als ob er das Handtuch öffnen wollte. Ohne Simons kleine Scharade zu beachten, hält mir Papa die mittlerweile laut jammernde Amélie hin. »Franzi, übernimm du mal!« Bei den letzen Worten kreuzen sich Andreas’ und meine Blicke. Jetzt habe ich keinerlei Schwierigkeiten, seinen Gesichtsausdruck zu deuten: Andreas ist fassungslos – und sehr ärgerlich. Schnell senke ich den Blick und greife an Simons ausgebreiteten Armen vorbei, um Papa das Kind abzunehmen.

Amélie hört sofort auf zu weinen, und mit einem Schlag ist es still in der Küche. Simon versucht, den Arm um mich zu legen, wobei sein Handtuch nun wirklich fast von der Hüfte rutscht. Er küsst Amélie aufs Köpfchen, sie greift in seine Haare. »Also, Liebling, wo ist meine Jeans?«

Bevor ich antworten kann, sagt Andreas mit schneidender Stimme: »Franziska, ich muss jetzt gehen. Und zwar so-fort! Auf Wiedersehen!«

Diese Stimme kenne ich: Das ist der Chefanästhesist-scheißt-unfähiges-Krankenhauspersonal-zusammen-Ton. Mich hat er in unserer Ehe nur selten mit dieser Stimme angesprochen. Aber wenn er es tat, dann ging es um elementare Dinge: ob wir ein Haus kaufen (ich war dafür, er dagegen – er setzte sich durch), ob wir ein Boot anschaffen (er war dafür, ich dagegen – er setzte sich durch) oder ob wir ein Kind adoptieren sollten (ich war dafür, er dagegen – er setzte sich durch).

Auch heute duldet dieser Tonfall keinen Widerspruch, vor allem, weil er mit einem äußerst kritischen Blick in meine Richtung verbunden ist. Andreas mustert mich mit offensichtlichem Missfallen – und wieder wird mir mein schlampiges Outfit bewusst: das ausgeleierte T-Shirt, die ausgebeulte Pyjamahose, die bloßen Füße. Ich bin der Prototyp der verhuschten, überforderten Mutter.

Simon dreht sich verwundert um. »Huch, wer sind Sie denn? Ich hab Sie gar nicht gesehen.« Beschützend fügt er den Nachsatz hinzu: »Und warum schreien Sie Franziska so an?«

Jetzt reden alle gleichzeitig. Papa blökt: »Du hattest noch nie Manieren, Andreas!«

Lilli fragt: »Ja, wer sind Sie eigentlich? Etwa von der Kirche?«

Ich sage: »Das ist Andreas. Mein Ex-Mann.«

Das ist der Moment, in dem die Milch zischend überkocht. Innerhalb von wenigen Sekunden durchzieht der verbrannte, unangenehme Geruch die Küche. Ich schiebe den Topf mit der linken Hand vom Ceranfeld, was gar nicht so einfach ist, weil ich Amélie auf dem Arm habe. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Andreas sich umdreht und aus der Tür marschiert. Ich drücke Simon das Baby in den Arm und renne hinter ihm her. Erst am Gartentor erwische ich ihn und versuche ihn festzuhalten.

Andreas fährt zornig herum und misst mich mit einem verächtlichen Blick. »Wie du lebst, geht mich nichts mehr an. Aber …« Er holt tief Luft.

»Mit wie vielen Leuten wohnst du da eigentlich? Wer ist diese durchgeknallte Küchenfee? Und worauf wartet die Rentner-Combo? Und jobbst du jetzt nebenbei noch als Tagesmutter? Mann, da bin ich zum ersten Mal mal wieder in Hamburg, freu mich auf einen gemütlichen Kaffee mit meiner Ex-Frau und gerate in das Picknick einer Großstadt-Kommune!« Seine Stimme ist sehr laut.

»Du hättest mich ja ruhig vorher anrufen können!« Seine Tirade weckt meinen Widerspruchsgeist. Was bildet er sich eigentlich ein? Nur, weil er sich das anders gedacht hat, kann er doch nicht einfach in mein Leben platzen und erwarten, dass die Welt, meine Welt, seinetwegen stillsteht! Fast tut er mir ein wenig leid. Denn ich kenne ihn ja. Meist ist ihm sein cholerisches Aufbrausen nach kurzer Zeit selbst sehr peinlich, und er entschuldigt sich – und zwar aus tiefstem Herzen. Aber noch ist er nicht so weit. Er reckt das Kinn mit einer Bewegung nach oben, die ich nur zu gut kenne. Für ihn ist das Gespräch beendet. Von oben herab informiert er mich: »Ich muss jetzt los! Bin sowieso schon spät dran!« Er wendet sich um und stürmt über den Hof. In der Einfahrt wird er fast von einem entgegenkommenden roten Lieferwagen überfahren.

»Passen Sie doch auf!«, schreit er die Fahrerin an, die so heftig auf die Bremse tritt, dass die Reifen quietschen. Und dann reagiert Andreas, wie ich es noch nie erlebt habe. Außer sich vor Wut tritt er gegen die Stoßstange – wie in einem amerikanischen Film: einmal, zweimal, dreimal. Dann schlägt er mit beiden Händen einmal auf die Kühlerhaube, bis die Fahrerin des Lieferwagens aussteigt. Es ist Sophie.

Andreas hält inne, dreht sich um, starrt mich an, greift sich an den Kopf wie jemand, der etwas nicht fassen kann, und läuft durch die Einfahrt davon.

Sophie blickt ihm mit offenem Mund hinterher. Sie steigt wieder ein und fährt auf unser Gartentor zu. Als sie aussteigt, stehe ich noch immer wie angewurzelt am Tor. Hinter mir tauchen jetzt nacheinander Simon mit Amélie und Papa auf. Sophie blickt noch einmal in die Richtung, in die Andreas verschwunden ist. Dann sieht sie auf Simons Handtuch und auf Papa, der wieder in seinem Rollkragen verschwunden ist.

Sie schüttelt den Kopf und sagt: »Also egal, welche Vorurteile man gegen späte Mütter hat – sie haben die interessantesten Männer am Start!«


Während die Unvermeidlichen mit Sophie das Holz abladen, versuchen wir das, was vom Frühstück noch übrig ist, zu retten.

Papa schenkt Kaffee nach und fragt mich dann: »Na? Was hat er gesagt?«

»Dass er eigentlich in Ruhe mit mir Tee trinken wollte und jetzt in ein Picknick einer Großstadt-Kommune geraten ist«, berichte ich kopfschüttelnd.

»Was für ein Penner!«, sagt Simon, der immer noch im Handtuch an der Küchenzeile lehnt.

»Zieh dir doch endlich mal was an«, rutscht es mir heraus. Simon sieht mich erst verwundert, dann verletzt an. Versöhnlich füge ich hinzu: »Deine Jeans ist auf dem Trockenständer im Badezimmer.«

Aber jetzt reicht es wohl auch Simon. Er blafft mich an: »Erstens kann ich so lange mit dem Handtuch herumlaufen, wie ich will! Oder auch nackt! Und zweitens: Nur weil dein Ex hier aufkreuzt und motzt, musst du noch lange nicht auf mir herumhacken!«

»Tu ich doch gar nicht«, antworte ich, obwohl ich genau weiß, dass er recht hat.

Papa sitzt verlegen am Tisch. Lilli verschwindet mit den Babys im Spielzimmer. Ich verstehe ihre Geste. »Wollen wir oben weiterreden?«, schlage ich Simon vor und versuche, ihn bei der Hand zu nehmen. Als hätte ich ihn mit heißem Wasser verbrüht, zieht er den Arm zurück und stößt hervor: »Nein, das halte ich für keine gute Idee.« Er sieht mich an. »Die beste Idee ist wohl, dass ich mich anziehe!« Er läuft mit großen Schritten die Treppe hinauf.

Ich gucke Papa ratlos an. »Was ist denn nur los mit ihm?«

Papa legt den Kopf schief, fummelt an seinem Rollkragen und zuckt mit den Achseln.

Es klingelt an der Tür. Andreas? Ich renne durch den Korridor. Doch es sind nur Lucia und ihre Brüder, die verlegen mein Outfit mustern. »Sind wir zu früh?«

Himmel, ich habe die Nachhilfe für die Pepovic-Kinder vergessen! »Nein, nein«, beeile ich mich zu sagen. »Ich bin zu spät. Herein mit euch!«

Als ich nach oben komme, knöpft Simon gerade sein Hemd zu.

»Ich muss mich auch anziehen«, sage ich unnötigerweise. Ich schlüpfe aus der Pyjamahose und öffne die Wäscheschublade, um einen frischen Slip herauszuholen. Zum ersten Mal seit langer Zeit ist mir meine Nacktheit vor Simon unangenehm. Schnell streife ich die Jeans und ein T-Shirt über und binde meine Haare zu einem Pferdeschwanz. Währenddessen kramt Simon Wäschestücke zusammen, nimmt sein Buch vom Nachttisch und verstaut seine Sportschuhe im Rucksack.

»Simon, was ist denn los?«

Er stützt die Hände in die Hüften, denkt nach und mustert mich lange. Schließlich sagt er: »Was los ist, Franzi? Schau dich doch mal an! Du bist völlig durcheinander, weil dein Ex hier aufkreuzt. Mir kannst du nichts vormachen: Du liebst den noch, oder?«

Simon ist eifersüchtig! Früher hätte mir das geschmeichelt. Es wäre Balsam für meine wunde Seele gewesen, als ich vergeblich hinter ihm hertelefonierte und auf seinen Besuch wartete.

»Was redest du denn da? Ich bin aufgeregt, weil … weil … Er weiß doch gar nicht, dass er Vater ist! Ich habe deswegen schon lange ein schlechtes Gewissen.«

Simon stopft ein paar Pullis in seinen Rucksack. »Warum eigentlich? Soviel ich verstanden habe, hat sich dein Ex doch wie ein Arschloch verhalten, oder?«

Habe ich ihm diesen Eindruck vermittelt? Ich versuche Andreas’ Verhalten zu erklären, ohne es zu beschönigen und ohne mich als Opfer darzustellen. »Es gab Missverständnisse zwischen uns …« Ich merke selbst, wie wenig überzeugend das klingt.

Mein Herz klopft immer noch. Weil ich vom Treppensteigen außer Atem bin? Hat Simon vielleicht recht? Liebe ich Andreas noch? Nein! Ich bin in Simon verliebt.

»Wir wollten uns doch heute einen schönen Abend machen«, erinnere ich ihn.

Simon schüttelt den Kopf. »Daraus wird nichts, Franzi.« Er macht eine Pause, gibt sich dann einen Ruck. »Ach, weißt du, ich kann es dir ebenso gut jetzt sagen …« Er verstummt.

Ich sinke auf das Bett, in dem wir beide vor einer Stunde noch eng aneinandergeschmiegt geschlafen haben. »Was willst du mir sagen?«

Mit einem entsetzlich endgültigen Geräusch zieht Simon den Reißverschluss seines Rucksacks zu. Er vermeidet es, mich anzusehen. In diesem Moment sieht er so jung, verletzlich und liebenswert aus, dass es mir den Hals zuschnürt.

»Dass das zwischen uns vielleicht doch keine so gute Idee ist.«

Meine Trauer schlägt in Wut um. Was denkt sich Simon bloß? Nur weil mich ein Überraschungsbesuch von Andreas aus der Bahn wirft und er sich nicht mehr im uneingeschränkten Mittelpunkt fühlt, benimmt er sich wie ein verwöhntes Kind!

»Ach, findest du? Das fällt dir aber reichlich überraschend ein! Vorhin war doch noch alles in Ordnung. Was hat sich seitdem geändert?«

Mein Zorn wird von Simon widergespiegelt. Angriffslustig schiebt er das Kinn vor. »Ich bin in deinem Leben doch nur die Schleife um das Geschenk. Der Zuckerguss auf einem Alltag, der mit Freundinnen und Babys prima ausgelastet ist. Und wenn die liebe Mutter von ihren vielfältigen Pflichten mal ausruht, steht Simon als Liebhaber parat.«

»So siehst du das?«

»Mensch, Franzi, ich bin kein Familienvater! Ich finde Babys nett, aber doch nicht dauernd. Ich bin dreiundzwanzig und, ja, ich finde dich wunderbar! Ich schlafe gern mit dir, aber ich will nicht für den Rest meines Lebens das Bett mit einem sabbernden Säugling teilen. Und dich auch nicht.«

»Ich dachte, du magst Amélie.«

»Was hat das damit zu tun? Natürlich mag ich Amélie. Aber sie ist ein Baby. Babys sind niedlich, ja. Ich fühle mich einfach noch nicht … reif für all das hier.« Er macht eine unbestimmte Bewegung, die das Zimmer und das Haus umfasst.

»Das hast du bisher aber ziemlich gut verborgen.«

Simon nickt. »Bisher fand ich das auch nicht so schlimm«, schränkt er ein.

»Und wieso heute?«

Jetzt erscheint eine steile Falte auf seiner Stirn. »Weil dieser Typ da aufgekreuzt ist und in seinem Kasernenton rumgeschrien hat …«

»Das fand ich auch furchtbar.«

Simon schüttelt wieder den Kopf. Er schultert den Rucksack und geht an mir vorbei. In der Tür dreht er sich um. »Warum bist du ihm denn nachgelaufen? Ich meine, der rauscht hier herein, brüllt dich an, und du rennst ihm auch noch hinterher?« Er hebt die Hand, als ich ihn unterbrechen will, um zu erklären, dass Andreas manchmal einfach ein Hitzkopf ist, es aber eigentlich nie so meint. »Nein, Franzi, lass mal. Ich brauch jetzt ein bisschen Abstand.« Und dann stampft er aus dem Schlafzimmer, die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus.

Ich stehe am Schlafzimmerfenster und sehe ihm nach, wie er durch den Garten und über den Hof geht. Aber Simon dreht sich nicht mehr um.

Lilli taucht im Türrahmen auf. Auf jeder Hüfte sitzt ein Baby. Sie lächelt mich aufmunternd an. »Franziska Funk! An einem Morgen zwei Männer in die Flucht geschlagen! Kein schlechter Schnitt.«

Sie kommt herein und setzt die Kinder aufs Bett. »Atme erst einmal tief durch. Um die Pepovic-Kinder kümmert sich dein Vater. Er meint, so viel Grammatik kann er.« Sie sieht mich forschend an. »Na, komm mal her!«

Wir setzen uns auf das Bett. Lisa-Marie und Amélie kugeln kichernd durch die Kissen. Lilli hält mich fest, als ich weine. Ich spüre mein Leben: schwarz-weiß-schwarz-schwarz …

Kleine Schiffe
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