20. Kapitel
Liebe tat mir nie weh
Und Liebe war niemals grausam
Aber keine Liebe schmerzt und keine Liebe tötet
Und keine Liebe lässt uns nachts flehen
Für den Tag.
Bernd Begemann: »Liebe tat mir nie weh«
Der erste Sommer ohne Lilli und Simon vergeht, und er ist trotzdem schön. Mi und Bim entwickeln sich, werden größer, und es macht viel Spaß, mit ihnen zusammen zu sein. Mein Leben bekommt ein ruhigeres Tempo, weil ich mich ihren kleinen Schritten anpassen muss. Konnte ich früher schnell in der Osterstraße einkaufen, muss ich jetzt für jeden Einkaufsgang doppelt so viel Zeit einplanen. Denn die Mädchen sitzen nicht mehr gern in der Karre. Sie bestehen darauf, an meiner Hand zum Einkaufen mitzukommen. Also schleiche ich in Rückenschmerzen heraufbeschwörender Bückhaltung und im Schneckentempo zum Supermarkt, bleibe an jedem Steinchen stehen, bewundere Marienkäfer und zerknüllte Kaugummipapierchen und erkläre ein ums andere Mal, dass Hundemist und Glasscherben weder angefasst noch in den Mund gesteckt werden sollten.
In diesem Sommer entdecken wir den großen Spielplatz von Planten un Bloomen, dem Park, der am Fuß des Hamburger Fernsehturms liegt. Da gibt es Klettergeräte und Rutschen und Pumpen, aus denen die größeren Kinder Wasser in den Sand pumpen können. Bei diesen Ausflügen müssen Bim und Mi sehr zu ihrem Ärger in die Karre, weil der Weg zu weit ist, als dass sie ihn zu Fuß bewältigen könnten. Aber auf dem Rückweg kommen wir beim italienischen Imbiss »Lo Spuntino« vorbei, wo es einen sehr leckeren Milchkaffee gibt – und Eis! Natürlich zerbröseln meine Prinzessinnen alles, was in ihrer Reichweite liegt, schmieren mit ihrem Vanilleeis herum oder rühren in meinem Milchkaffee so heftig, dass der Tisch unter Kaffee gesetzt wird. So geht das fast den ganzen Sommer lang. Aber als wir an einem warmen Tag Ende August wieder im »Lo Spuntino« einkehren, hinterlassen wir einen völlig sauberen Tisch. Beide haben sich manierlich von mir füttern lassen und dann mit den Spielsachen gespielt, die auf einer Kiste am Boden unter einem Tisch steht. Es ist ein erhebendes Gefühl.
»Stell dir vor, ich war mit den beiden wie mit Großen Kaffeetrinken!«, erzähle ich Tina stolz. Und ich bedauere, dass Andreas und ich immer noch nicht wieder miteinander sprechen und dass Simon so weit weg ist. So kann ich nur bei Tina und Papa mit meinen Kindern angeben.
Mir fehlen die Telefonate mit Andreas. Glücklicherweise ist mein Leben so ausgefüllt, dass ich abends zu müde bin, um allzu viel Trübsal zu blasen. Andreas ruft zwar nicht mehr an – die Kinder vergisst er aber nicht. Immer wieder trudeln lustige Postkarten für die beiden ein, kleine Pakete mit Püppchen oder Teddys oder ein paar Süßigkeiten. Ich bin zwar immer wieder versucht, ihn daraufhin anzurufen, aber dann hält mich mein Stolz davon ab. Stattdessen maile ich ihm kommentarlos Bilder von den beiden, wie sie mit seinen Geschenken spielen oder seine Kekse essen. Und als er meine Mails nicht beantwortet, weiß ich nicht, ob ich froh oder enttäuscht sein soll. Aber jedes Mal, wenn ich an ihn denke, fühle ich Trotz in mir aufsteigen. Ich habe mir doch das Leben in der Wiesenstraße nicht eingerichtet, damit ich alles wieder verlasse und nach Dänemark ziehe! Zu einem Mann, der zwar immer noch Herzklopfen bei mir auslöst, sich aber weigert, mich zu verstehen.
Und Simon? Anfangs haben wir uns noch regelmäßig E-Mails geschrieben. Aber dann drängte sich das unterschiedliche Leben und die Entfernung dazwischen. Zuletzt bekam ich vor drei Wochen eine Postkarte von ihm. Simon hatte in seiner wirren Jungenschrift gekritzelt: »Liebe Franzi, herzliche Grüße aus Toulouse! Die Franzosen sind komisch – sie sprechen alle französisch. Zu Weihnachten freue ich mich auf ein Wiedersehen mit meinem alten Leben. Viele Grüße …« Weihnachten! Das liegt noch so weit entfernt – und davor muss ich noch Lillis ersten Todestag überstehen. Ich hänge die Karte an die Pinnwand und vergesse sie dann.
Tina und ich feiern unser Sommerende-Ritual zwar diesmal wieder mit Sekt auf Eis, allerdings nicht im »R & B«, sondern bei uns vor dem Kamin. Die Terrassentür der Küche steht zwar noch offen, aber wir haben schon einmal Feuer im Kamin gemacht und uns in Decken aufs Sofa gekuschelt. Tina bringt für Mi und Bim Fäustlinge und neue Mützen aus weichem Stoff mit. »Da kratzt nichts, und trotzdem ist das alles fair gehandelt und Bio! Ein Tipp von Britta!«
Ich streiche über die Handschuhe.
»Mutti Britta?«
Tina winkt ab. »Reite nur weiter darauf rum, Franzi! Ich war da vielleicht ein wenig voreingenommen. Du wirst es nicht glauben, aber ich war mit Britta in einer Babylounge am Ahlsenplatz …«
»Babylounge? Du?«
Tina grinst. »Ja, du hast richtig gehört. Britta hat mich letzte Woche zum Basteln für das Herbstfest mitgenommen!«
»Das heißt, du vermutterst jetzt? Oder besser: Du verpatentantest?«
Tina wedelt meine Ironie großzügig fort. »Davon kann keine Rede sein. Aber … das war sehr gemütlich, und es waren lauter interessante Leute da. Übrigens nicht nur Mütter. Sondern auch ein paar Väter.«
»Tina! Du klaust doch nicht etwa junge Väter vom Kleinfamilien-Kuchenblech?«
»Quatsch! Aber ein bisschen Vernetzung im Stadtteil täte dir ganz gut. »Hier!« Tina holt einen Flyer aus ihrer Handtasche. »Das sind ein paar Eindrücke von der Babylounge. Du kannst dir im Internet auch mal deren Website ansehen. Die haben spannende Kurse im Angebot und zweimal in der Woche eine Spielgruppe. Das wäre doch was für die Mäuse.«
»Du hast also Frieden mit den Müttern geschlossen.«
Tina verzieht indigniert ihr Gesicht. »Ich wüsste nicht, dass ich jemals mit Müttern auf Kriegsfuß stand.« Sie macht eine kleine Pause. »Das verwechselst du wohl eher mit Männern.«
»Seit wann stehst du mit Männern auf dem Kriegsfuß?«
Tina seufzt tief auf. »Schön, dass du mich endlich auch mal wieder fragst, wie es mir geht!«
Ich spüre einen Stich von Schuldbewusstsein. Seit Lillis Tod habe ich mich eigentlich nur um die Kinder und mich gekümmert. Tina ist anfangs täglich vorbeigekommen, und auch jetzt sehen wir uns alle zwei, drei Tage. Ohne Tina könnte ich mir kaum in Ruhe die Haare waschen, und ein schönes Wannenbad wäre viel seltener drin. Und würde zweifelsohne wesentlich kürzer ausfallen. Obwohl wir uns regelmäßig treffen, scheine ich einiges bei Tina übersehen zu haben. Zwar habe ich ab und zu mitbekommen, dass sie einen neuen missglückten Flirt erlebte, aber sie ist nie ins Detail gegangen, und ich habe nicht nachgefragt. »Also, was ist los?« Tina seufzt wieder, fährt sich mit der Hand über die Stirn und lächelt mir dann zu. »Für dich war Lillis … Tod natürlich ein größerer Einschnitt, weil sich deine Lebenssituation grundlegend geändert hat. Aber ich habe auch Probleme.«
»Welche denn?«
Tina seufzt noch einmal. Dann sagt sie: »Ich weiß gar nicht, wie ich das formulieren soll. Aber …« Ihre Stimme klingt verzagt. »Mit dem Noch-einmal-Loslegen klappt es nicht so richtig.«
»Wie meinst du das?«
»Na, weißt du noch, welche großen Pläne ich damals nach deiner Scheidung hatte? Du bist vierundvierzig, nicht vierundachtzig habe ich gepredigt.« Sie verzieht ihren Mund anerkennend. »Das ist bei dir ja auf sehr fruchtbaren Boden gefallen. Und du hast gleich bei Lillis Freunden gewildert.« Als sie mein Gesicht sieht, beeilt sie sich hinzuzufügen: »Das war ein Scherz, Franzi!«
Ich sage das Erste, was mir spontan einfällt: »Warst du etwa eifersüchtig? Ich meine, darauf, dass Simon und ich …« Tina nickt und sieht mich offen an. Ihre Antwort überrascht mich. »Ja, und wie! Ich habe dir das natürlich nicht gesagt. Aber ich war zerfressen vor Eifersucht!« Sie grinst entschuldigend. »Kein besonders schönes Gefühl. Aber ich konnte es nicht ändern. Ich meine, du kriegst nicht etwa nur mit vierundvierzig ein Baby – nein, du bekommst auch noch einen jungen Liebhaber, der nicht nur einfach mit dir ins Bett will, sondern sich in dich verliebt und eine kleine Familie aufmacht.« Sie sieht zerknirscht drein. »Ich hätte gern mit dir darüber gesprochen, aber ich konnte nicht. Also habe ich mich darauf beschränkt, dich zu warnen. Ziemlich kleinlich von mir, oder? Und dann ist auch noch Andreas als liebevoller Vater um die Ecke gekommen …«
Ich fühle mich schlecht. In meinem Kummer habe ich meine beste Freundin wochenlang vernachlässigt. Ich bin selbstverständlich davon ausgegangen, dass ich die Hauptrolle spiele. Dass ich diejenige bin, auf die alle Rücksicht nehmen müssen. Ich hatte eine Scheidung hinter mir. Ich hatte ein Kind bekommen. Ich hatte Lilli verloren. Ich lebte mit zwei Kindern weiter. Ich hatte mich von meinem jungen Liebhaber getrennt und mit dem Vater meiner Tochter zerstritten. Ich, ich, ich. Aber Tina war immer dabei gewesen und hatte mir geholfen. Hatte mich durch die ersten Tage nach Lillis Tod gebracht, hatte sich um Lisa-Marie gekümmert, hatte mit mir die Beerdigung durchgestanden, hatte mich nach Simons Umzug mit einem teuren Badeöl überrascht und sich meine Tiraden über Andreas und seine fixe Idee, dass wir alle zu ihm nach Aabenraa ziehen sollten, mit nachsichtigem Lächeln mehrfach angehört. Mir fällt das Bette-Midler-Lied ein: »You are the wind beneath my wings.« Ich schüttele den Kopf. »Nicht du musst dich schämen, sondern ich! Ich war so egoistisch!«
Tina nickt. »Ja, aber doch auch mit Recht. Bei mir lief alles glatt. Die Praxis, mein soziales Leben. Nur das mit den Männern … Aber das ist ja nichts Neues bei mir.«
»Bei mir doch auch nicht. Mir geht es doch gar nicht viel besser! Jetzt bin ich eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern – und weit und breit kein Mann in Sicht.«
Tina schnieft. »Das hast du ja toll hingekriegt – und mit dir wollte ich noch einmal die Welt erobern. Stattdessen sitzen wir am Kamin und bewachen den Schlaf der Kinder.« Sie lächelt mich an. »Aber weißt du was? Solange wir das zusammen machen, ist es in Ordnung!«
Wir liegen uns in den Armen. Heulen beide ein bisschen und sind einander so nahe, wie nur beste Freundinnen einander nahe sein können: mit einer absoluten Parallelität der Gefühle. Ich kann auf Tina neidisch sein – und gleichzeitig gönne ich ihr alles Glück auf Erden. Ich kann sie anstrengend finden – und gleichzeitig möchte ich auf ihren Rat nicht verzichten. Ich kann sie als übertrieben kritisieren – und würde mich doch immer vor sie stellen, wenn irgendein anderer sie angreift. Wir stoßen noch einmal an. Ich putze mir die Nase und sage: »Also, was ist los? Was am Noch-einmal-Loslegen klappt nicht?«
Tina spielt mit ihrem Glas. »Na, ich habe doch gedacht, ich könnte einfach wie immer weitermachen – wie nach meiner Beziehung mit Bodo. Rausgehen, flirten, Männer treffen, mich verlieben, tanzen. Nur: Damals war ich Anfang dreißig. Heute traue ich mich nicht mehr.«
»Wieso das denn? In Brasilien und Argentinien tanzen sogar noch Achtzigjährige.«
»Wir sind hier aber nicht in Brasilien, sondern in Hamburg! Da unten tanzen die Tango oder was weiß ich. Aber hier? Dieses Gehopse im Freestyle zu Hiphop-Musik, die wie ein sterbender Elefant klingt, der mit einem defekten Presslufthammer gefoltert wird – das kann ich nicht!«
»Das musst du doch auch nicht. Aber vielleicht wäre ein Tangokurs eine gute Sache?«
Tina sinkt in sich zusammen. »Nein, vielen Dank! Der Kochkurs war mir eine Lehre. Am Ende habe ich in Suse eine neue Freundin gefunden – aber die Herren der Schöpfung suchen immer schnell das Weite. Und weißt du, was das Schärfste ist?« Sie streckt empört ihren Zeigefinger in die Luft. »Die neueste Theorie in der Single-Forschung ist folgende: Singles wollen eigentlich gar keine Partner!«
»Wie bitte?«
»Die Paartherapeuten sind der Meinung, dass Singles selbst schuld sind. Wer einen Partner will, findet auch einen, lautet deren These. Und wenn du keinen findest, willst du im Grunde auch gar keinen. Ich bin also nicht nur für mein Gewicht, meine Gesundheit, meinen Job allein verantwortlich, sondern auch für mein Versagen im zwischenmenschlichen Bereich!« Ihre Lippen zittern, als sie mich mit betrübten Augen ansieht. »Meinst du, das stimmt? Ich möchte mich so gern wieder verlieben. Aber mich will keiner!« Sie zieht die Nase hoch und wehrt ab, als ich ihr ein Papiertaschentuch zuschieben will. Während sie eines aus ihrer eigenen Tasche holt und sich schneuzt, murmelt sie: »Und sag jetzt bloß nicht, dass du mich wunderbar findest! Das ist zwar sehr lieb – aber du bist nun mal nicht meine erste Wahl als Begleitperson für einen tropischen Sonnenuntergang am Meer.«
»Bei deinem einzigen Tropenbesuch hast du dir merkwürdige Strandwürmer geholt, die sich in deinen Hintern gefressen haben«, erinnere ich sie trocken.
Tina muss wider Willen lachen.
»Geschenkt! Auf jeden Fall muss ich mir für nächstes Jahr eine andere Strategie ausdenken.«
Ich denke an Andreas und dass ich mich manchmal fühle wie vor meiner Scheidung. Ich vermisse ihn immer noch. Immer wieder. Obwohl ich ihn heute nicht mehr um jeden Preis zurückhaben möchte. Ich will einfach nicht nach Aabenraa. Wir sind kein Liebespaar mehr, wir sind geschieden. Und für eine Vernunft-Wohngemeinschaft wegen der Kinder fühle ich mich in der Wiesenstraße zu sehr zu Hause. Und doch denke ich wieder an Andreas, kann das Leuchten in seinen Augen nicht vergessen, als wir uns im »Lál Pera« getroffen haben. Seine Einfühlsamkeit, mit der er mich in den schrecklichen Tagen nach Lillis Tod begleitet hat. Andreas … Ich behalte alle diese Gedanken für mich. Aber ich nehme mir vor, genau aufzupassen, wenn Tina ihre neue Strategie präsentiert. Vielleicht hat sie ja einen Tipp für mich.
Der Herbst kommt mit Stürmen und Regenfällen, und unaufhaltsam steuert der Oktober auf Halloween und auf Lillis Todestag zu. In der Krabbelgruppe der Babylounge gibt es am Vormittag einen Halloween-Kaffeeklatsch, zu dem ich mit den Kindern gehe und daran denke, wie Lilli an jenem Tag zum Feiern »mit den Mädels« verschwunden ist. Wo wohl das kleine Plastikgebiss geblieben ist, dass sie damals über ihre Zähne gestülpt hatte? Es war nicht bei den Sachen, die wir vom Krankenhaus zurückbekommen haben … Am Nachmittag bin ich mit Tina für einen Gang zum Friedhof verabredet. Die Kinder sind bei Papa und den Unvermeidlichen. Ich habe ein neues Grablicht gekauft, Tina hat drei rote Rosen besorgt. Auf dem Weg zu Lillis Grab kommt uns Oliver entgegen. Er grüßt uns verlegen und scheu und geht schnell an uns vorbei.
Vor dem Grabstein liegt schon eine Rose. Tina holt aus ihrer Tasche eine Thermoskanne. »Was ist das?« Tina lächelt. »Na, was wohl?« Sie gießt dampfenden Kakao in die Verschlusskappe, die auch als Becher dient. So stehen wir vor dem Grab, trinken Lillis Lieblingsgetränk und denken an das schöne Mädchen mit den strahlenden blauen Augen und dem Pfirsich-Lächeln.
Die Zeit heilt zwar nicht alle Wunden – aber mit der Zeit nimmt der Schmerz ab. Mir gelingt es mittlerweile auch, die Missstimmung mit Andreas, die ich monatelang wie einen leichten, aber hartnäckigen Kopfschmerz gespürt habe, zu verdrängen. Ich erfreue mich in diesem Jahr wieder an der vorweihnachtlichen Straßenbeleuchtung, den buntgeschmückten Fenstern. Mir gefällt sogar das grelle Weihnachtsschmuckangebot im Supermarkt, auch wenn Weihnachten noch fast sieben Wochen entfernt liegt. Alles strahlt hell und gleißend – und auf tröstliche Weise lebendig.
Am Samstag vor dem ersten Advent taucht Papa mit einer großen Kiste bei uns auf. »Guck mal, Franzi, was ich bei mir auf dem Speicher gefunden habe.« Er wuchtet die Kiste in die Küche, setzt sich an den Tisch, nimmt auf jedes Knie ein Kind und sieht mich gespannt an.
Neugierig öffne ich die Kiste und sehe eine Vielzahl von kleinen Seidenpapierpäckchen. Eine Ahnung steigt in mir auf, mein Atem geht schneller, es durchzuckt mich warm, und ich spüre ein lange vergessenes Glücksgefühl. Schnell nehme ich eines der Päckchen aus dem Karton, wickle das Seidenpapier ab und halte ein filigranes hölzernes Engelchen in den Händen, mit rosafarbenen Flügeln und weißem Hemd, das mit geblähten Wangen Trompete bläst. Ich setze es sanft auf den Tisch, greife zum nächsten Päckchen und wickle ein Flöte spielendes Engelchen aus. Dann befreie ich ein Engelchen mit Dirigentenstab vom Seidenpapier, und so geht es weiter, bis ein vollständiges Engelorchester vor mir steht.
Die Kinder beobachten mich mit großen Augen, und Papa hält liebevoll ihre Händchen fest, die so gern zugreifen wollen. »Da muss der Nussknacker drin sein, den können sie anfassen«, sagt er und deutet auf ein größeres Päckchen.
Ich packe weiter aus und finde tatsächlich den großen Nussknacker, der mich als Kind Jahr für Jahr begeisterte. Er ist fast zwanzig Zentimeter hoch, rot und grün bemalt. Unter seinen Lippen klebt ein weißer Kunsthaarbart.
Amélie juchzt auf. Papa ergreift den Hebel des Nussknackers auf seinem Rücken und lässt ihn den Mund aufreißen. Wir müssen beide lachen, als wir Amélies Schrecken und gleichzeitiges Staunen sehen. Sie zappelt und will auf den Boden. Während sie das Geschehen aus sicherer Entfernung betrachtet, ist Lisa-Marie mutiger. Papa führt ihre rechte Hand zum Rachen des Nussknackers und schließt ihn dann spielerisch. Verblüfft zieht Bim ihre Finger aus dem Nussknackermaul. Danach betrachtet sie die Holzfigur mit derselben Mischung aus Faszination und Respekt, die ich aus meinen Kindertagen erinnere.
»Ich habe mich immer gefragt, wo die Sachen geblieben sind.«
Papa zupft unbehaglich am Rundhalsausschnitt seines Pullovers. »Du weißt doch, dass ich für solche Sachen keinen Sinn hatte. Als deine Mutter starb, habe ich das alles weggepackt.«
Ich wickele weiter aus und fördere eine kleine Holzpyramide und eine Schachtel mit Glasvögeln zutage. Meine Augen werden feucht, als ich die Handschrift meiner Mutter auf einer weiteren Schachtel entdecke: »Baumschmuck und Kugeln.«
Ich lächele Papa an. »In diesem Jahr werden wir einen Weihnachtsbaum aufstellen.« Als das letzte Seidenpapier auseinandergezogen ist und alle Engel, Rehe und kleinen Tannenbäume auf dem Tisch stehen, verteilen wir unseren neuen Reichtum im Haus. Die Engelskapelle formiert sich auf der Fensterbank im Wohnzimmer, die so hoch ist, dass die Mädchen nicht an die Figuren herankommen, sie aber sehen können. Der Nussknacker grüßt von der Küchenanrichte, wo er über eine Schüssel mit Walnüssen wacht. Daneben bilden die geschnitzten Tannen eine kleine Lichtung, die Schutz für eine Ricke und ihr Kitz bietet. Das Wild habe ich einer Box mit der Aufschrift »diverse Rehe« entnommen.
»Diverse Rehe!« Papa lächelt. »Das ist typisch für deine Mutter! Sie war immer so ordentlich.«
Die Glasvögel setze ich auf die Verstrebungen meines großen Kerzenleuchters im Wohnzimmer.
Obwohl sich Tina von unserer Weihnachtsstimmung nicht anstecken lässt, hat sie den Kindern in liebevoller Kleinarbeit Adventskalender gebastelt, hat achtundvierzig winzige Frotteewaschlappen mit Spielfiguren, Süßigkeiten, Babybadeschaumproben und anderen Kleinigkeiten gefüllt und mit roten und goldenen Schleifen verschlossen. »Auf die Idee hat mich Britta gebracht«, erzählt sie beim Kaffee am ersten Advent, zu dem sich neben Papa und den Unvermeidlichen überraschend auch Dieter vom Sport und meine alten Schulfreundinnen Julia und Petra angesagt haben.
Das Gespräch dreht sich um die Planung der Weihnachtstage. Julia und Petra feiern mit ihren Familien, Rudi und Helmut wollen eine alte Schulfreundin im Altenheim besuchen, Papa zuckt mit den Achseln.
»Was hast du vor?«, wende ich mich an Tina. Sie leert die Keksschüssel mit einem zielsicheren Griff, kaut bedächtig und antwortet dann: »Auf keinen Fall werde ich dir bei deinem Mutti-Opa-Kindchen-Glück zuschauen! Die Mäuse bekommen ihre Patentanten-Geschenke im Voraus geliefert. Meine Schwester hat die Familie zu sich eingeladen. Ihre Planung sieht vor, dass meine Eltern und ich den ganzen Abend den Christbaum und ihre drei ach so begabten Gören beklatschen, die derart Aufsehen erregende Dinge tun, wie ihre Sweatshirts unfallfrei vom Boden aufzuheben. Und Schwesterleins Gatte stöhnt über die viele Arbeit und den Lieferstau bei den Firmenwagen und die Finanzkrise. Meine Eltern tragen es mit Fassung, weil sie gern Großeltern sind. Aber ich bin das fünfte Rad am Wagen.«
Alle lachen, aber ich spüre, dass Tina gar nicht lustig zumute ist. Sie sieht mich trotzig an. »Nein, Weihnachten bleibe ich diesmal zu Hause und betrinke mich. Oder ich gehe aus und betrinke mich. Oder …«
»Schon kapiert: Egal, was du tust, am Ende wirst du betrunken sein.«
»So ist es.« Sie greift zum Kaffeebecher. »Hoch die Tassen!«
Als alle anderen gegangen sind, versuche ich, Tina noch einmal zu trösten. »Es ist okay, wenn du Weihnachten allein feiern willst. Aber was ist mit Silvester?«
Tina sieht mich verständnislos an. »Was soll damit sein? Silvester ist doch genauso trübselig. Wenn am Ende jeder seinen Schatz küsst.«
»Dann kannst du ja mich küssen. Bei mir ist derzeit auch kein Schatz weit und breit zu sehen!« Ich blicke sie auffordernd an. »Lass uns doch eine Party feiern! Einige vom Chor haben bei der letzten Probe gefragt, ob jemand eine größere Feier plant.« Ich schränke ein: »Vielleicht organisiere ich lieber eine Feier mit Büfett, zu dem jeder was mitbringt.« Ich bin Feuer und Flamme für meine Idee und denke laut weiter: »Es gibt immer erstaunlich viele Leute, die noch nicht wissen, wie sie feiern wollen. Es soll ja auch ganz unkompliziert sein. Ich werde den Verteiler der Indiaca-Gruppe anmailen. Einige von Lillis Freunden haben bestimmt auch Lust. Oliver und Tarek beispielsweise. Die können ja hinterher auch noch woanders Party machen.«
Ich sehe am Glitzern in Tinas Augen, dass sie anfängt, sich für die Idee zu erwärmen. Sie schnippt mit den Fingern. »Was hältst du von einer Motto-Party? Und ich weiß auch schon das Motto: Silvester wie früher. Du weißt schon, Silvester, wie wir es als Kinder feierten – als es noch nicht darum ging, cool zu sein. Ein Silvester mit Kartoffelsalat und Würstchen, mit der Silvestershow im Fernsehen, ›Dinner for One‹, mit Gesellschaftsspielen, Bleigießen und Knallerei erst ab Mitternacht.«
Ich hole Papier und einen Stift, und wir fangen an zu planen. Als Erstes schreibe ich »Gästeliste« auf.
»Nele und Carlos aus dem Chor. Carlos bringt bestimmt seine leckere Paella mit.«
»Was ist mit Steffen und den anderen vom Kochkurs?«
»Einladen!«
Tina will unsere Hebammen fragen. Ich notiere aus dem Indiaca-Kurs Dieter mit Frau, Ralf mit Frau und Kind, Insa und Michaela. Am nächsten Tag schicken wir per E-Mail die Einladungen raus. Papa und den Unvermeidlichen sagen wir natürlich auch Bescheid, und sie sind sofort dabei. Papa druckst nur ein wenig herum, bis er damit herausrückt, dass er Hedi einladen möchte.
So kommt es, dass Tina zwar meine folgenden Adventskaffee-Einladungen bedingt durch ihre Weihnachtsdepression abschlägt, sich aber mit der Vorbereitung unserer Party beschäftigt. Fast 30 Leute haben sich angemeldet. Aber während Tina schon kalkuliert, wie viele Kartoffeln für ihren legendären Kartoffelsalat geschält werden müssen, erfreue ich mich noch an den vielen großen und kleinen Vorweihnachtsritualen: das Öffnen der Adventskalender, das Entzünden der Kerzen auf dem Adventskranz, die antike Mahalia-Jackson-LP, die mein Vater ausgräbt. Die Unvermeidlichen schleppen zu diesem Zweck einen alten Plattenspieler an, und nun erklingt bei jeder Gelegenheit knisternd und rauschend »Ho-ho-ly Night«. Die alten Herren lassen den Hinweis, dass es diese Musik auch auf CD gibt, nicht gelten.
Jedenfalls sind die drei nun statt Tina bei jedem Adventskaffee dabei. Und auch andere finden den Weg vor meinen Kamin. Es ist, als ob noch ein wenig von Lillis Menschenmagnetglanz unter uns leuchtet. Natürlich fehlt sie mir in dieser Zeit immer noch – und mir fehlt Andreas. Mehr als einmal tut mir unser Streit leid. Aber keinem von uns beiden gelingt es, den ersten Schritt zu tun.
Einmal steht Oliver vor der Tür und verzehrt dann große Mengen Zimtsterne, ein anderes Mal folgen Astrid, Marianne und Eric aus dem Gospelchor meiner Einladung. An diesem Sonntag wird viel gesungen, und die Mädchen tanzen, indem sie auf ihren kurzen Beinchen hin und her wippen.
Auch die Weihnachtsplanung nimmt nun konkrete Formen an. Rudi und Helmut bleiben bei ihrem Vorhaben, die Freundin im Altersheim zu besuchen, und Papa hat sich bei mir eingeladen. Weil er aber am Tag vorher für den Seniorenmittagstisch der Kirchengemeinde kocht, überlässt er mir die Zusammensetzung des kulinarischen Angebots am 24. Dezember. »Mach etwas ohne großen Aufwand, ich bin mit allem zufrieden«, ist seine Ansage. »Diesmal bist du der Küchenchef!«
Ich besorge eine kleine Gans, einen Kopf Rotkohl und eine Packung Instant-Semmelknödel und freue mich auf einen ruhigen Abend mit Papa und den Kindern.
Doch als Papa bereits am Heiligabend statt wie besprochen um neunzehn Uhr schon um drei Uhr am Nachmittag mitten in die Zubereitung der Gansfüllung platzt, beschleicht mich ein ungutes Gefühl.
»Du könntest noch getrocknete Aprikosen hinzufügen«, beginnt er seine Belehrungen. Ich versteife mich innerlich. Ich hasse es, wenn man mir in das, was ich gerade tue, hineinredet. Außerdem lebt er in bester Chefkoch-Manier seine Autorität aus: Die Beigabe von Aprikosen ist kein freundlicher Vorschlag, sondern eine Ansage. Im Grunde meint Papa: »Wenn du keine getrockneten Aprikosen für die Füllung verwendest, wird sie nicht einmal halb so gut schmecken, wie du dir erträumt hast, du blutige Anfängerin.«
Doch in meine leicht köchelnde Wut dringt aus dem Wohnzimmer Mahalias Stimme, die Kinder knuspern plappernd an Spekulatius-Plätzchen, und die Gans sieht so bedauernswert gerupft, nackt und bloß aus, dass ich es nicht übers Herz bringe, mit Papa zu streiten. Es ist schließlich Weihnachten! Also schlucke ich meinen Stolz hinunter und werfe ein paar getrocknete Aprikosen in die Füllung aus Brot, Schinkenspeck, gebratener Gänseleber, Zwiebeln und Rosinen.
»Hast du an Majoran gedacht?«
Das habe ich zwar nicht, doch der findet sich glücklicherweise in meinem Gewürzregal. So weit, so gut. Nur bei Papas Forderung nach Beifuß muss ich passen.
Er ist entsetzt. »Kein getrockneter Beifuß? Na, ob das schmecken wird?« Er taxiert die Gans, als erwarte er von dem toten Tier eine Antwort.
Mit zusammengebissenen Zähnen arbeite ich weiter – ich bin mir seiner kritischen Augen durchaus bewusst. Schweißgebadet fülle ich die Gans und suche dann nach einem Faden, mit dem ich sie zusammennähen kann.
»Das könntest du sehr viel leichter mit Zahnstochern machen. Einfach locker zusammenstecken«, meldet sich Oberkoch Papa wieder.
»Wolltest du nicht erst um sieben kommen?«
Papa guckt erstaunt auf die Uhr. »Jetzt ist es gleich vier. Ich dachte, dass du dich freust, wenn ich früher da bin.«
Da es keine Zahnstocher gibt, muss sich Papa mit meinem Kreuzstich abfinden. »Wirst sehen, das geht auch«, tröstet er mich scheinheilig und zieht sein T-Shirt herunter. »Hoffentlich wird deine Soße nicht zu fett. Ich muss auf mein Gewicht achten.«
»Ausgerechnet an Weihnachten?«
Papa nickt bedächtig. »Seitdem ich nicht mehr so dicke Pullis trage, kommt meine Figur viel mehr zur Geltung.«
»Deine Figur?« Mir fällt beinahe der Soßentopf aus der Hand.
Papa pfeift durch die Zähne. »Ja, die Figur. Ich bin schließlich erst sechsundsiebzig! Da kann man immer noch auf sich achten.« Er zieht das T-Shirt noch einmal straff. »Sagt jedenfalls Hedi.«
»Ist es was Ernstes mit euch?«
Unvermittelt hüllt sich Papa in Schweigen. Er zuckt mit den Achseln, murmelt etwas von »einer guten Freundin« und »Wirst du auch noch besser kennenlernen«. Zwischen klapperndem Geschirr durchsucht er die Speisekammer. »Vielleicht hast du ja doch irgendwo Beifuß!«
Papa auf Freiersfüßen? Und Tina fühlt sich alt!
Endlich schmort der Vogel im Ofen, und ich mache mich mit deutlich gedämpftem Enthusiasmus an die Zubereitung des Rotkohls. Diesmal hat Papa nichts zu meckern, obwohl er den Rotwein »nicht süffig genug« findet und von meiner Bemerkung, dass der doch sowieso verdunste, nichts wissen will. Dass ich vergessen habe, Gummihandschuhe zu kaufen, weswegen meine Finger nach dem Rotkohlreiben aussehen, als hätte ich mindestens ein Schwein mit bloßen Händen ausgenommen, quittiert er nur mit einem überlegenen Lächeln.
Wenigstens gesteht er mir kampflos Kernkompetenz beim Wickeln von Amélie zu und rettet sich mit den Worten »Nee, danke. Mach du das lieber!« ins Wohnzimmer, als seine Lieblingsenkelin vor dem Nachmittagsschläfchen eine frische Windel bekommen muss.
Der Rotkohl simmert vor sich hin, die brutzelnde Gans verströmt ihren würzigen Duft, Papa ist dabei, den Kamin neu mit Feuerholz zu bestücken, und ich will mich gerade aufs Küchensofa kuscheln – da klingelt es.
Vor der Tür steht – Andreas! Wirre Locken lugen unter einer tief in die Stirn gezogenen Mütze hervor. Ein dicker Schal ist um seinen Hals geschlungen. Er ist blass und hohläugig.
Einen Moment lang mustern wir uns schweigend, dann zieht sich sein Gesicht gequält zusammen, seine Augen verengen sich zu Sehschlitzen, er reißt den Mund auf und wird von einem Niesanfall geschüttelt.
»Wer ist es denn?«, ruft Papa aus dem Wohnzimmer.
Andreas lehnt mit grünlichem Gesicht und roter, wundgeschneuzter Nase an der Wand. »Franzi, hast du ein Aspirin?« Mein Herz zieht sich zusammen. Wie blass er ist, der arme Kerl.
Ich frage mich zwar, was Andreas gerade am Heiligabend zu uns treibt, aber im Vergleich zu Papas exotischem Verlangen nach Beifuß und Trockenobst erscheint mir Andreas’ Wunsch erfrischend unproblematisch. »Komm erst mal rein!« Ich schiebe ihn in die Küche. »Ich hab natürlich Aspirin im Haus. Was machst du überhaupt in Hamburg?«
Andreas sinkt auf den Küchenstuhl. Seine Augen glänzen fiebrig. »Weihnachten ist doch das Fest der Familie«, hüstelt er und putzt sich die Nase. »Ich bin furchtbar erkältet.«
»Und da hast du gedacht, es wäre doch prima, uns alle anzustecken? Im Sinne von festlich und familiär?«, stänkert Papa von der Tür her. Er mustert Andreas mit unverhohlener Abneigung. »Du als Arzt weißt ja, wie anfällig vor allem Kinder und alte Leute in der Grippezeit sind. Bei uns findet ein Bakterienbomber wie du fette Beute!«
Andreas ist offenbar zu erschöpft, um sich zu wehren. Er zieht nur die Nase hoch und fragt kläglich: »Franziska, … Aspirin?«
Ich hole die Packung aus der Schrankschublade und fülle ein Glas mit Wasser. »Was machen wir denn nun mit dir?«
Papa grätscht sofort dazwischen: »Quarantäne in einem Hotel am Hafen oder am besten postwendend zurück nach Dänemark! Da wartet ein großes Krankenhaus auf dich.«
»Papa!« Mir tut Andreas trotz seines Überfalls leid. Er ist krank, er ist allein und er ist Amélies Vater. Ich will mir nicht eines Tages vorwerfen lassen, dass ich ihn – noch dazu am Heiligabend! – in die Kälte gestoßen habe. Oder, besser gesagt, in den Regen, denn von weißen Weihnachten sind wir auch in diesem Jahr mindestens vier regnerische Grad Celsius entfernt. »Du legst dich im Gästezimmer hin und ruhst dich erst mal aus. Ich bringe dir einen Tee«, entscheide ich, ohne Papas ärgerliches Gesicht zu beachten.
Vier Stunden später sitzt Andreas mit am Tisch – eingehüllt in eine Wolldecke und bewaffnet mit einer Toilettenpapierrolle, weil ich nicht genügend Papiertaschentücher im Haus habe.
Vor der Gans findet die Bescherung für die Kinder statt. »Netter Weihnachtsbaum!«, schnieft Andreas höflich.
»Den habe ich besorgt!« Bei diesen Worten lächelt Papa sogar.
Die Tanne ist nicht besonders groß – wir haben sie auf den Küchenhocker gestellt, über den ich eine rote Weihnachtstischdecke geworfen habe. Unser kleines, dickes Bäumchen ist mit Mamas Christbaumkugeln, Sternen und Bienenwachskerzen bestückt – sowie mit von Papa sorgfältig aufgefädelten Schokokringeln.
Wir zünden die Kerzen an und singen für die Mädchen »Alle Jahre wieder«. Papa kann den Text auswendig und zieht uns mit. Sogar Andreas krächzt mit belegter Stimme vor sich hin.
Die Kinder machen große Augen, als wir ihnen die Geschenke zeigen. In ihrem Alter ist das Auspacken noch viel schöner als das eigentliche Geschenk. Verstehen können sie das Fest nicht – aber es gefällt ihnen. Von Papa bekommen sie Spielzeugtiere, die mit einem Stab geschoben werden können, von mir neue Förmchen für die Sandkiste und von Andreas zwei Steckspiele aus buntem Holz.
Dann steht endlich die Gans auf dem Tisch. Papa zieht naserümpfend über die Fertigklöße her, die Amélie und Lisa-Marie aber ausgezeichnet schmecken.
Andreas muss natürlich nachfragen: »Hätte man die Gans nicht mit ein bisschen Knoblauch anbraten sollen?«
»Manche Dinge ändern sich nie!«, ätzt Papa.
Trotzdem scheint das Essen die gereizten Gemüter zu beruhigen.
Doch dann bricht Papa einen Streit vom Zaun. Er streift Andreas, der zusammengekauert am Küchentisch hockt und mit beiden Händen zusammengeknülltes Toilettenpapier umklammert, mit einem strafenden Blick und raunzt: »Hol dir gefälligst eine Plastiktüte für deine Rotzfahnen. Ich will mich nicht anstecken.«
Andreas quält sich hoch und schlurft hüstelnd, schniefend und leise meckernd Richtung Speisekammer. Während ich die Reste abräume und die Spülmaschine bestücke, verfransen sich Papa und Andreas in einer unerquicklichen Diskussion darüber, ob man im Winter schneller Erkältungen bekommt und – wenn ja – woran das liegen könnte. Während Andreas damit argumentiert, dass Erkältungen durch Viren ausgelöst werden und mit dem Wetter wenig zu tun haben, führt Papa seine Lebenserfahrung ins Feld. »Im Winter wird man leichter kalt – daher doch auch der Begriff Erkältung. Ich kann mich noch an den harten Winter 48/49 erinnern. Erzähl mir nichts!«
Nachdem ich den fettigen Gänsebräter sauber geschrubbt habe, sammle ich das Geschenkpapier zusammen und versuche meine Enttäuschung zu unterdrücken. So habe ich mir dieses Weihnachtsfest mit den Kindern nicht vorgestellt: Ich mache Küchendienst, räume auf, bringe die Mädchen zu Bett – und Papa und Andreas giften sich an.
Andreas unterbricht seinen Disput kurz und fragt in meine Richtung: »Kannst du mal Wasser zum Inhalieren aufsetzen? Ich brauche auch noch ein Handtuch und eine Schüssel.«
Bevor ich dem Impuls nachgebe, ihm das Wasser ins Gesicht zu kippen, wie er es verdient hätte, greife ich nach der Mülltüte und stürme wortlos aus der Tür. Im Rausgehen höre ich Papas keckernde Stimme: »Das soll wohl heißen: Mach dir dein Wasser selbst heiß, oder?« Wenigstens er scheint sich an diesem Abend prächtig zu amüsieren.
Bei den Müllcontainern reiße ich die erstbeste Klappe auf, stopfe die Mülltüte hinein und lasse den Deckel krachend zufallen. In diesem Moment werde ich von hinten umarmt, und eine heisere Stimme raunt in mein Ohr: »Überraschung!«
Ich fahre herum, knalle mit dem Kinn gegen den Hals einer Magnum-Champagnerflasche und spüre dann Simons warme Lippen auf meinen. »Bist du wahnsinnig?«, wehre ich mich. Mein Herz rast – allerdings vor Schreck, denn im dunklen Hof habe ich niemanden erwartet, am allerwenigsten Simon. Und so frage ich zum zweiten Mal an diesem Abend: »Was machst du denn in Hamburg?«
Simon hat offenbar einen anderen Empfang erwartet. »Hast du meine Postkarte nicht bekommen?«, fragt er gekränkt.
Ich erinnere mich. »Doch, natürlich, die mit dem Flugzeug drauf? Das ist doch schon Monate her!«
»Das war ein A 319,« stellt Simon richtig. »Hast du sie nicht gelesen?«
Simon stellt die Champagnerflasche auf den Boden und wirbelt mich herum. »Ich hab doch vom Wiedersehen mit meinem alten Leben geschrieben!« Er legt seine Hände auf meine Hüften und zieht mich an sich. »Verstehst du denn nicht, was ich gemeint habe?« Seine Stimme wird leiser, und obwohl ich mich stocksteif halte, zieht er mich noch enger an sich heran. »Ich habe Champagner mitgebracht. Also lass uns da weitermachen, wo wir Ostern aufgehört haben …« Er vergräbt seine Lippen in meinen Haaren. »Ich dachte mir schon, dass es bei meinem Eltern total öde werden würde. Und jetzt bin ich hier!«
Mir ist mittlerweile so kalt, dass meine Zähne klappern. Ich bringe kein Wort heraus. Simon legt den Arm um meine Schultern, greift nach der Flasche und geleitet mich fürsorglich ins Haus. »Du musst erst mal wieder warm werden, meine Süße«, flüstert er mir ins Ohr und schlingt seine Arme wie Tentakel um mich.
In der Wärme des Hausflurs komme ich langsam wieder zu mir. »Simon, das geht nicht!«, sage ich entschieden, mache mich los und fliehe in die Küche.
»Franzi, Süße! Lass uns doch erst einmal reden!«, ruft er mir nach. »Ich mach jetzt den Schampus auf, und dann setzen wir uns gemütlich vor den Kamin!« Mit diesen Worten betritt er hinter mir den Raum und prallt zurück, als er Papa und Andreas am Küchentisch sitzen sieht. Vor Andreas steht eine Schüssel, aus der heißer Wasserdampf aufsteigt, und er hat ein Handtuch über den Schultern.
Papa grinst hinterhältig. »Hallo, Simon – da freue ich mich aber! Ich wollte schon immer mal gemütlich mit dir vor dem Kaminfeuer sitzen.« Zu Andreas gewandt spöttelt er: »Schade, dass du mit deinem Schnupfen den Champagner nicht schmecken kannst.«
Andreas schnappt zurück: »Und bedauerlich für dich, dass du zu deinen Blutdruckmitteln keinen Alkohol trinken darfst!« Er verschwindet wieder röchelnd unter dem Handtuch.
Simon blickt von Papa zu Andreas und zurück und schließlich zu mir. Ich lehne regungslos an der Anrichte und habe das Gefühl, eine Fremde in meinem eigenen Leben zu sein. Das kann doch nicht ich sein? Diese vom Kochen und Saubermachen verschwitzte Frau, die in ihrer Küche drei Psychopathen bewirtet? Wo ist nur Lilli, die die Männer mit ihrem trockenen Humor in die Schranken gewiesen hätte? Zu meiner Enttäuschung und Ratlosigkeit addieren sich Traurigkeit und ein Gefühl von Verlorenheit. All das ballt sich zu einem dicken Kloß in meinem Hals zusammen, den ich nicht schlucken kann.
Andreas linst unter dem Handtuch hervor. Nach einem Blick auf mein Gesicht legt er das Handtuch weg, steht auf und nähert sich mir mit rotem Gesicht. »Nun sieh bloß mal, was du angerichtet hast!«, blafft er Papa an. »Franziska, fang jetzt bitte nicht an zu weinen!« Er will seinen Arm um mich legen. Doch Simon kommt ihm zuvor und drückt Andreas beiseite. »Wenn sie weint, dann vor allem, weil du hier bist!«
Sie fangen an zu streiten. Papa quittiert diesen Hahnenkampf mit einem zufriedenen Lachen.
Das gibt mir den Rest. »Was denkt ihr euch eigentlich?«, platzt es aus mir heraus.
Die Männer verstummen.
Dafür werde ich umso lauter. »Ist das hier ein Auffanglager für weihnachtlich Gestörte?« Simon will etwas sagen, aber ich schneide ihm das Wort ab. »Du bist noch nicht dran!« Und dann halte ich die erste Standpauke meines Lebens und nehme mir jeden einzeln vor. »Ihr seid jetzt alle mal still und hört mir zu. Papa: Das Einzige, was du zum Weihnachtsessen beigetragen hast, sind kluge Ratschläge und jede Menge Kritik! Und du, Andreas? Du setzt dich an den gedeckten Tisch und erwartest Krankenschwesterdienste, weil du erkältet bist! Warum sehen Männer eigentlich bei jedem kleinen Schnupfen sofort den Sensenmann ums Haus schleichen?« Ich hole tief Luft. »Und jetzt zu dir, Simon! Was hast du dir dabei gedacht? Dass du mich mit einer läppischen Postkarte als heißblütige Gespielin für dein Weihnachtsprogramm buchen kannst? Oder als alternatives Show-Programm, weil du dich bei deinen Eltern langweilst?« Ich warte keine Antwort ab, reiße im Flur meine Winterjacke vom Haken und stürme aus dem Haus. Im Hof halte ich kurz an, um Tina eine SOS-SMS zu schreiben: »Hilfe!« Als ich durch die Hofeinfahrt laufe, piept schon ihre Antwort: »Zu mir oder zu dir?«
Ich winke einem Taxi, das gerade glücklicherweise die Wiesenstraße entlangfährt. Beim Einsteigen simse ich zurück: »Bin unterwegs!« Erst im Auto fällt mir ein, dass ich die Kinder nicht mitgenommen habe.
Als ich eine Viertelstunde später vor Tinas Tür stehe, ist meine Wut schon fast verraucht, und ich möchte am liebsten wieder nach Hause, um nach den Mädchen zu sehen.
Tina hält mich erfreut, verwundert und leicht angeschickert zurück. »Nun beruhige dich erst einmal. Die Mädchen haben doch geschlafen, als du weggegangen bist. Amélies Vater ist bei ihnen und der ist Arzt! Weiterhin ist da noch dein Vater, mit dem sie vertraut ist, und auch Simon kennen beide seit ihrer Geburt!«
Sie zieht mich aufs Sofa und drückt mir ein Glas Sekt in die Hand. »Du hast schließlich nicht vor, nach Papua-Neuguinea auszuwandern!« Ihre Augen blitzen unternehmungslustig. »Wie wäre es, wenn wir beide einfach feiern gehen?«
Ich schiebe die Unterlippe vor. »Weiß nicht.«
»Ach, komm schon! Carpe diem! Wenn du schon mal drei Babysitter gratis hast …« Ich lasse mir ihr Angebot durch den Kopf gehen. Tina hat recht. Die Kinder sind gut aufgehoben, meine Helden können ein bisschen Zeit zum Nachdenken verkraften, und ich habe schon lange mit Tina keinen Abend mehr allein verbracht. Also nicke ich. »Also gut, wo soll’s denn hingehen?«
Tina schränkt schnell ein: »Aber getanzt wird nicht! Kein Freestyle, kein Gehopse, keine gequälten Elefanten!« Kritisch begutachtet sie meine Jeans und die blaue Bluse. Dann zieht sie mich wieder vom Sofa hoch. »Mal sehen, was mein Kleiderschrank für dich hergibt.«
Als wir eine Stunde später die Bar »20Up!« im Empire Riverside Hotel betreten, sieht man mir mein häusliches Drama nicht mehr an. Die dunkle Hose von Tina kneift nur leicht im Bund, und ihre silberweiße Satinbluse wirkt festlich, aber nicht zu aufgedonnert.
Tina selbst trägt ihr Etuikleid aus weinroter Wildseide, das sie vor einem halben Jahr voller Begeisterung erstanden hat. Bis zum heutigen Abend hatte sie noch keine Gelegenheit, es zu tragen. Doch in dieser Umgebung wirkt es angemessen.
Leise Musik und gedämpftes Licht empfangen uns in der nur spärlich besetzten Bar. Wir finden einen Platz auf dem Sofa direkt vor einer der sieben Meter hohen Panoramascheiben. Unter uns funkeln die Lichter des Hafens. »Wir sind hier neunzig Meter hoch«, weiß Tina. Wir besuchen beide zum ersten Mal diese Bar, über die Tina einen Artikel in einer Frauenzeitschrift gelesen hat. »Ich bin ein bisschen aufgeregt«, gesteht sie. »Jedenfalls sind wir im richtigen Alter«, stellt sie nach einem kurzen Blick durch den Raum fest. »Wir sind noch nicht mal die Ältesten.«
Wir bestellen jede ein Glas Rotwein, hören der Musik zu und sehen auf den Hafen. Ab und zu seufzt eine von uns »Schön!«, und die andere nickt.
Ich versuche, meine Gedanken an Andreas, Papa und Simon zu verdrängen und mir um die Mädchen keine Sorgen zu machen. Tina sieht sich immer wieder verstohlen im Raum um, summt manchmal eine Melodie mit und entspannt sich zusehends. »Ich bin so froh, dass du noch vorbeigekommen bist!«
»Danke. Es ist auch schön, dass du mich mitgenommen hast.«
»Dabei wollte ich erst auf den Kiez in eine Disco.«
»Ach?«
»Ja. Ich dachte, sich allein zu betrinken ist doch kein abendfüllendes Programm. Aber ich wusste nicht wirklich, wohin mit mir. Ich wollte mich gerade aufhübschen, als du geklingelt hast.« Sie sieht wieder über den Hafen. »Weißt du was? Ich habe gerade große Erkenntnisse! Du bist trotz der Kinder noch nicht vermuttert. Und ich habe das Gefühl, dass ich heute Abend anfange, mich mit meinem Alter anzufreunden.«
»Von welchem Alter redest du?« Ich erzähle Tina von Papas Kontakt zu einer gewissen, mir noch unbekannten Hedi.
Tina grinst. »Vielleicht ist ein Tangokurs doch keine so schlechte Idee!«
Ihr Handy piepst. Sie blickt auf das Display und hält es mir hin. »Jetzt kannst du wirklich feiern.«
Ich lese. »Falls Franzi bei dir, bitte kurze Antwort. Mit den Kindern alles o.k. Andreas.«
Ich muss lächeln. Tina stößt mich an. »Nanu, was war das eben für ein Lächeln?«
»Ein erleichtertes!«, wehre ich ab. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Ich empfinde mehr als Erleichterung. Monatelang war ich allein für die Mädchen verantwortlich, habe alle Ängste und Sorgen eigenverantwortlich durchgestanden. Jetzt ist Andreas da – und »unsere« Kinder sind bei ihm gut aufgehoben. Aber diese Freude ist ein sehr zartes, zerbrechliches Gefühl, das ich instinktiv selbst vor Tina verbergen will.
Sie sieht mich immer noch an. »Schreibst du ihm zurück?«
»Auf keinen Fall! Sollen die sich ruhig noch ein paar Gedanken machen!«
Also tippt Tina ein kurzes »Franzi hier. Alles gut. Tina« und schickt die SMS ab. Dann greift sie zum Glas. »So, und jetzt lass uns weiterfeiern!«
Wir stoßen an.
»Fröhliche Weihnachten!« Ein leicht graumelierter Anzugträger prostet uns vom Nebensofa zu. Er erinnert mich mit seinem offenen Lächeln und den kurzen Stoppelhaaren ein wenig an den Kassierer in meiner Sparkassenfiliale.
Tina lächelt geschmeichelt. »Danke gleichfalls!«
Darauf stoßen wir alle an, wobei sich der Graumelierte als Erich vorstellt, und den asiatischen Herrn, mit dem er zusammensitzt, als seinen Zufallsbekannten Cheng. Wir plaudern für eine Weile. Dabei erfahren wir, dass Erich mit seiner Frau Streit gehabt und in der Bar Asyl gesucht hat, während Cheng in Hamburg gestrandet ist. In einem Mischmasch aus Englisch und Deutsch erzählt er, dass er Geschäftsmann und erstmals in Deutschland sei – er war nicht auf die arbeitsfreien Weihnachtsfeiertage eingestellt. Selbstironisch lächelt er. »Cheng heißt ›erfolgreich‹, success, ja? Kein gut proof für mein Name!«
Nach einer Weile schlägt Erich vor, dass wir uns zusammensetzen. Cheng lädt uns ein. Erich blickt aus dem Fenster und zeigt auf zwei Schiffe, die sich im Hafeneingang aneinander vorbeischieben. »So sind wir heute Abend auch«, sagt er. »Wie Schiffe, die einander zufällig begegnen.«
Cheng versteht ihn sofort. »Like ships in the sea!«
Wir stoßen wieder an. Und wie es manchmal unter Fremden vorkommt, erzählen wir einander erstaunlich persönliche Geschichten. Cheng berichtet von den Hoffnungen, die seine Familie in ihn setzt, und den Opfern, die seine Eltern für seine Ausbildung gebracht haben. Tina gesteht offen ihre Angst vor dem Alter, ich amüsiere die anderen mit einer naturgetreuen Wiedergabe meines Wutausbruchs in der Küche. Erich beichtet sein Gefühl, dass seine Frau ihn für einen Versager hält, weil er in seinem Versicherungsbüro kürzlich zum zweiten Mal bei der Beförderung zum Abteilungsleiter übergangen worden ist.
»Ich glaube, ich bin nicht der einzige stranded person!«, sagt Cheng.
Erich gibt zu, dass er den Streit mit seiner Frau letztlich selbst vom Zaun gebrochen hat, weil er seinen Schwiegervater nicht ausstehen kann. »Keiner kann den leiden, nicht mal meine Frau. Aber es ist halt ihr Vater.« Schuldbewusst runzelt er die Stirn. »Und jetzt habe ich sie mit dem Kerl allein gelassen.«
Cheng klopft ihm aufmunternd auf die Schulter. »Morgen ist neuer Tag!« Und er fügt lachend hinzu: »Und morgen Schwiegervater ist gone!«
Wir verlassen die Bar erst in den frühen Morgenstunden. Als wir auf die Straße treten und zum Taxistand laufen, erklingt Akkordeonmusik. In einem Hauseingang kauert ein dick vermummter Straßenmusikant, der sein Spiel unterbricht, als er uns sieht. Auffordernd hält er uns seine Hand hin. »Kleingeld?«
Cheng greift sofort in seine Tasche. »Spielen für uns?«
»Was du wollen?«, fragt der Musikant mit starkem slawischem Akzent. Man sieht von ihm nur die Augen. Alles andere ist hinter Mütze und Schal verborgen. Seine Hände stecken in Handschuhen, die alte, runzlige Finger freilassen.
»Wie wäre es mit einem Walzer?«, fragt Erich.
Der Musikant nickt und beginnt zu spielen.
»Das ist der Dornröschen-Walzer von Tschaikowski«, verkündet Erich zur allgemeinen Überraschung. »Tja, ich habe mal ein halbes Jahr Geigenunterricht gehabt«, erzählt er. Dann verbeugt er sich vor mir, bietet mir galant den Arm und wirbelt mich sicher und gekonnt im Walzertakt über den Fußgängerweg. Und ich, die ich zuletzt in der Tanzstunde Walzer getanzt habe, schwebe mit ihm die Straße entlang. »Du tanzt gut«, sagt er bei einer Drehung. »Aber, nimm’s mir nicht übel: Am liebsten tanze ich mit meiner Frau!«
Ich verspüre einen eifersüchtigen Stich. Wie schön wäre es, wenn Andreas diesen Satz einmal gesagt hätte! Doch wir haben nie miteinander getanzt. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass sich Tina und Cheng ebenfalls wiegen. Der Asiate bewegt sich leicht und geschmeidig und hat die Augen geschlossen. So tanzen wir durch die leere Straße.
Nach einer Weile wird Erich langsamer, dann beugt er sich über meine Hand, deutet einen Handkuss an und tritt zurück. »Vielen Dank für diesen Weihnachtsabend, Franziska!«, sagt er. »Und viel Glück mit deinen Männern.« Er winkt Cheng und Tina zu und verschwindet mit schnellen Schritten in die Dunkelheit.
Cheng überlässt das erste Taxi Tina und mir. Wir verabschieden uns herzlich mit vielen Verbeugungen und Gelächter. Cheng nötigt uns beiden seine Visitenkarten auf.
»Hongkong!«, liest Tina und verspricht: »Natürlich besuche ich dich, wenn ich das nächste Mal dort bin!«
Als ich mich aus dem Rückfenster des Taxis nach ihm umblicke, steht er noch neben dem Akkordeonspieler. Wir fahren erst zur Wiesenstraße, dann fährt Tina weiter zu sich. »Wir telefonieren morgen!«, ruft sie zum Abschied.
Auf Zehenspitzen tappe ich in mein Haus. Mich erwartet ein wahrlich weihnachtliches Bild. Im Wohnzimmer vor dem erloschenen Kamin liegen auf einem Lager aus Bett-und Wolldecken meine heiligen drei Könige Papa, Andreas und Simon. Statt Gold und Myrrhe haben sie den Christkindern Amélie und Lisa-Marie, die in einer Buggy-Krippe schlafen, Spielkarten und Bierflaschen in großer Anzahl dargeboten. Während Bim fast in ihrer Decke versinkt, liegt Mi auf dem Rücken, und ich streiche sanft über ihre Stirn und dann über ihre Händchen, greife nach ihrem rechten Daumen. Mir fällt der Flohmarktverkauf meiner Bastelsachen ein, der uns damals fast dreißig Euro eingebracht hat. Ich denke an Lillis Überzeugung, dass ich mir mit meinen Bastelsachen ein Geschenk gemacht habe und von dem Geld, für das wir Nudeln essen gegangen sind, der rechte Daumen von Amélie gewachsen ist. Wie sehr mir Lilli fehlt.
Über dem Nachtlager blinkt ein silberblauer Weihnachtsstern, den jemand an der Deckenlampe befestigt hat. Andreas schläft mit offenem Mund und schnarcht leise wegen seiner verstopften Schnupfennase. Von Papa sehe ich nur einen Zipfel grauer Haare über dem Rand der blauen Wolldecke. Die beiden anderen habe ihm das Sofa überlassen. Auch er schnarcht gleichmäßig. Simon hat sich zusammengerollt und sieht im Schlaf wieder so jung aus, wie er ist. Er hat seine Decke weggestrampelt. Ich ziehe sie sanft hoch. Dabei wird er wach und sieht mich verwundert an. Schnell lege ich den Finger auf den Mund. Ich will die anderen nicht wecken.
Simon nimmt meine Hand. Er sieht mich bittend an. Ich mache mit meinem Kopf eine Bewegung in Richtung Küche und forme mit meinem Mund lautlos das Wort »Kaffee«.
Simon nickt. Wir schleichen aus dem Zimmer und schließen die Tür hinter uns.
»Mach du den Kaffee – ich schäume die Milch auf«, schlage ich vor. Bald sitzen wir vor zwei Milchkaffee-Bechern.
»Wo warst du denn?«, fragt Simon. Ich erzähle von Tina, von Erich und von Cheng.
Simon grinst. »Klingt nach einem spannenden Abend!« Er rümpft die Nase. »Da war es doch gut, dass es hier gestern so gekracht hat.«
»Gut?«
»Na, sonst hättest du wohl kaum in dieser schicken Bar gefeiert!«
»Und ihr hättet euch nicht gepflegt betrunken!«
»Das war Andreas’ Idee. Der ist spätnachts noch zur Tankstelle, weil es hier nichts mehr zu trinken gab.« Er nickt gut gelaunt. »Andreas ist wirklich nett. Wir hatten am Ende viel Spaß miteinander. Hermann ist ja ein leidenschaftlicher Skatspieler – und hat uns ordentlich abgezockt. Der Weihnachtsstern ist übrigens von mir: ein Mitbringsel aus Frankreich. Andreas fand den so gut, dass er ihn sofort aufhängen wollte.«
»Und die Mädchen?«
»Die sind irgendwann wach geworden. Wir haben hier gesessen, gespielt und getrunken – ach, und die Reste von der Gans haben wir auch noch verputzt. Um vier Uhr meldete sich das Babyphon. Hermann ist dann rauf und hat erst Amélie, dann Lisa-Marie geholt. Andreas hat ihre Flaschen gemacht, und dann haben wir eine Stunde mit ihnen gespielt. Das war’s auch schon.« Simon rührt in seinem Kaffee und wirft mir einen nachdenklichen Blick zu. Schließlich sagt er: »Wegen gestern Abend … Ich glaube, ich muss mich entschuldigen.« Er legt seine Hand auf meine. »Du hattest recht mit deinem Vorwurf. Ich wollte wieder zurück in die Sorglosigkeit unseres Sommers!«
»Aber wir haben uns doch getrennt!«
Simon nickt. »Ja, ich weiß. Und das ist auch gut so. Aber … weißt du, mit dir war Sex … wunderschön und vor allem … unverbindlich.«
»Unverbindlich?«
Simon presst die Lippen aufeinander und nickt. »Mit dir war Sex eben Sex und keine Auftaktveranstaltung für weibliche Lebensträume. Du hast bereits ein Kind – also wolltest du keins von mir. Du warst frisch geschieden – also wolltest du mich nicht heiraten. Du wohnst in einem Haus – also wolltest du keines mit mir bauen. Mit den Mädchen, die ich jetzt treffe, ist das anders.«
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Mädchen um die zwanzig schon über Familienplanung nachdenken!«, wende ich ein.
Simon runzelt die Stirn. »Nein, nicht direkt. Aber irgendwie ist das bei den meisten schon im Hinterkopf. Vordergründig geht es vor allem darum, dass man ständig Zeit mit ihnen verbringen soll, um Ausschließlichkeit und so was.«
Ich denke an die vielen Male, die Simon auf sein Fahrrad gestiegen und aus meinem Alltag geradelt ist. Daran, dass er sich manchmal tagelang nicht gemeldet hat. Mir hat das auch weh getan, und ich kann mir vorstellen, dass es für ein junges, verliebtes Mädchen die Hölle ist. Wie hat Lilli immer gelitten, wenn David keine Zeit für sie hatte! Doch mir ist auch klar, dass hinter Simons Aufregung noch mehr steckt.
»Sag mal, bist du verliebt?«
Simon sieht mich verblüfft an – wie ertappt. Also liege ich mit meiner Vermutung richtig. Irgendeine Frau setzt Simon die Pistole auf die Brust. Oder zumindest spürt er die Pistole.
»Also?«
Simon wird rot und grinst verlegen. »Erwischt. Sie heißt Denise und ist Krankenschwester.«
»Und?«
»Sie ist anders als die Mädchen hier. Und auch sonst.«
»Das macht dir Angst?«
»Zähneklappernde Angst! Und gleichzeitig habe ich das Gefühl, ohne sie zu sterben.«
Und deswegen fliehst du vor ihr und versuchst den Teufel mit einem aufgewärmten erotischen Abenteuer mit deiner Ex auszutreiben? So ist das wohl. Die Ängste, die Zweifel, die Irrtümer, Versuche, Bauchlandungen und Ekstasen – jeder muss da durch. Und es schmerzt mal mehr, mal weniger. Ich begreife das vielleicht ziemlich spät.
Laut sage ich: »Ohne Liebe tut das Leben eben noch viel mehr weh.«
Simon sagt: »Du warst die erste erwachsene Frau in meinem Leben. Ich werde dich nie vergessen.«
Ich lächele ihn an. »Und ich werde immer an dich denken, wenn ich mit Amélie und Lisa-Marie Schiffchen falte.«