NÜRNBERG  Sommer 1307

Franziska schrie vor Freude auf, als Chalil und Marie eines schönen Morgens unverhofft in ihrer Werkstatt standen. Sie umarmte beide und schickte sofort nach Katharina, damit auch sie die Gäste begrüßte.

»Sagt, wie kommt es, dass ihr wieder zurück seid?«, fragte Franziska, während sie noch Marie an sich drückte.

»Also, das war so«, ergriff Chalil das Wort. »Ich bin mal wieder als Botschafter des Sultans auf Reisen, während Henri und Louis ihn tatkräftig beim Aufbau seines Heeres unterstützen. Als deine beiden Briefe eintrafen, wusste Louis zunächst nicht so recht, was er davon halten sollte. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass du wohl zum Schreiben des ersten Briefes gezwungen wurdest. Vom wem, erriet er ebenfalls. Schlau, nicht wahr? Den zweiten hast du aus freien Stücken verfasst, was man schon daran erkannte, dass du dabei wieder einmal mehr an ihn als an dich selbst gedacht hast. Dennoch musste er auf der Hut sein, da schließlich noch immer die Reichsacht über ihn verhängt ist.«

Franziska sah ihn erwartungsvoll an. Hatte er Ludwig am Ende gleich mitgebracht? Marie erriet ihre Gedanken und sagte rasch: »Mein Bruder ist noch in Ägypten, denn wie gesagt, der Sultan braucht ihn dringend. Aber Chalil soll den König davon überzeugen, die Reichsacht wieder aufzuheben.«

»Und wie soll das geschehen?«, fragte Franziska und gab sich Mühe, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, doch kannte sie Chalil und Marie gut genug, um zu wissen, dass die beiden nicht ohne einen Plan angereist waren.

»Oh, das wird gar nicht so schwierig. Wir machen es im Wesentlichen so, wie wir es uns ursprünglich überlegt hatten. Du weißt, Ludwig sollte sich beim Sultan neue Sporen verdienen und anschließend ruhmbedeckt wieder im Reich erscheinen. Das war unsere Idee, und so etwa werden wir sie auch umsetzen. Wir sind jetzt sozusagen als seine Quartiermacher vorausgereist. Wir haben mehrere lange und aufschlussreiche Briefe bei uns, die uns die europäischen Könige ein weiteres Mal gewogen machen sollen. An-Nasir bedankt sich überschwänglich dafür, dass der Reichskönig, der französische König als ehemaliger Lehnsherr und Seine Heiligkeit in Rom so umsichtig gewesen waren, ihm nicht nur die großzügigen Geschenke der Vergangenheit zukommen zu lassen, sondern ihm auch persönliche Hilfe durch die Sendung eines verdienten und tatkräftigen Ritters geleistet zu haben. Louis de Montardier, der ja auch schon seine allerkatholischste Majestät, den deutschen König auf den Thron gehoben hat, ist dem Sultan eine unschätzbare Hilfe bei der Rückgewinnung der eigenen Macht geworden, und er ist überzeugt, dass ihm mit seiner Hilfe die Wiedereinsetzung in seine ererbten Rechte schon bald glücken werde. Obendrein könnte an-Nasir sich vorstellen, nach seiner Regierungsübernahme das Königreich Jerusalem wieder aufleben zu lassen und die heiligsten Stätten der Christenheit, vor der er größte Hochachtung hegt, wieder dem Protektorat der Abendländer und des Heiligen Stuhls zu unterstellen. Prächtig, nicht wahr? Montardier und sein würdiger und weiser Vater, seit Jahren des Sultans bester und treuester Berater, hätten ihn von diesem klugen und weitblickenden Schritt überzeugt. Danach ergötzt der Sultan sich noch in den üblichen Schmeicheleien, und wir gehen davon aus, dass seinem abendländischen Ritter umgehend höchste Ehren zuteilwerden und sich an eine Reichsacht niemand mehr erinnern würde.«

»Und ihr geht mit diesem Vorhaben zum König?«

»Selbstverständlich! Beim Heiligen Vater waren wir bereits, auch wenn es nicht ganz einfach war, ihn zu treffen. Papst Clemens V. ist ja Franzose und pendelt ständig zwischen den wichtigsten französischen Städten. In Toulouse haben wir ihn schließlich angetroffen. Praktischerweise war er in Gesellschaft von Mitgliedern der königlichen Familie, da er eng mit König Philipp befreundet ist. Was glaubst du, wie interessiert der Papst an einer friedlichen und sogar kostenlosen Eroberung Palästinas war.«

Franziska nickte anerkennend. »Und all das war gewiss deine Idee?«

»Oh, das ist zu viel der Ehre. Henri hatte die Idee mit der Rehabilitierung Louis' durch Papst und Könige, mein Vetter und ich haben uns den Rest ausgedacht. Der unbedingte Wunsch, zu dir zu reisen, stammt allerdings von Louis selbst. Und dann gab es noch einen anderen Grund, hierherzukommen.« Chalil und Marie lächelten einander an. »Meine Frau traut den ägyptischen Hebammen nicht und wollte daher …« Franziska hörte ihm schon nicht mehr weiter zu, sondern ließ einen Freudenschrei ertönen und hielt die Freundin an den Schultern um Armeslänge von sich und betrachtete sie. Maries ohnehin weiche Züge waren noch sanfter geworden, und als sie den Umhang aufknöpfte und zur Seite schob, konnte man die leichte Wölbung ihres Bauches bereits erkennen. »Wir wissen es erst, seit wir wieder in Italien gelandet sind«, sagte sie strahlend. »Wir dachten, wir könnten hier …«

»Natürlich bleibst du hier! Noch heute muss die Hebamme dich sehen, du weißt schon, die Ordensfrau, die auch Katharina in die Welt geholt hat. Ich lasse gleich nach ihr schicken. Seine Reisen muss unser Prinz jetzt wohl erst einmal allein unternehmen. Du fährst mir nicht mehr von hier weg!« Sie umarmte die Freundin und wollte sie gar nicht mehr loslassen.

»Jetzt beruhigt euch wieder, heute kommt das Kind ja noch nicht«, versuchte Chalil sie zu unterbrechen, doch die beiden Frauen nahmen keine Notiz mehr von ihm und zogen Arm in Arm von dannen zu Franziskas Wohnung. Lächelnd blieb Chalil mit der kleinen Katharina zurück, die ihn erwartungsvoll anblickte.

»Oh, da ist ja noch jemand!«, tat der Prinz überrascht, kniete vor dem Mädchen nieder und lächelte es an. »So, mein edles Fräulein, jetzt bring mich zu deinem Bruder Trudbert, und dann wollen wir mal sehen, ob du das hier schon allein auspacken kannst.« Wie aus dem Nichts hatte er das kleine Päckchen in seine linke Hand gezaubert und hielt es absichtlich so hoch, dass die vor Freude glucksende Katharina es auch mit Springen nicht erreichen konnte.

*

Im September sandte Chalil Nachricht nach Ägypten, dass die Reichsacht aufgehoben war und Louis jederzeit wieder nach Deutschland kommen konnte. Albrecht sah nach dem Tod seines Sohnes seine Macht in Europa schwinden und hoffte auf den diplomatischen Schachzug, durch seine und seiner Männer Verdienste die christliche Oberhoheit im Heiligen Land wieder herstellen zu können. Chalil hatte dem König in einem vertraulichen Gespräch mitgeteilt, dass der Sultan Söldner brauche, und Albrecht ließ einen Elitetrupp aus Templern, Johannitern und Deutschordensrittern zusammenstellen, der sich unverzüglich auf den Weg nach Ägypten machte.

Der neue böhmische König, Heinrich von Kärnten, hatte ein Schreiben gesandt, verfasst von ihm selbst und einem seiner Bischöfe, in dem er die tiefe Verbundenheit zum Königreich Jerusalem und das brüderliche Verhältnis zum Sultan betonte. Den in Böhmen ausgebildeten Ritter Ludwig von Montardier erwähnte er als tapferen Diener von Reich und Kirche und zu jeder Zeit willkommenen Seelenbruder seiner selbst.
 

Wie so oft hatte Meynhard seine Freunde zu einem abendlichen Mahl eingeladen und unterhielt sich mit ihnen über Politik. »Johann von Schwaben, der Sohn von Albrechts Bruder Rudolf, macht sich seit einigen Monaten wichtig, da er auf größere Lehen und Ländereien hofft. Wie es aussieht, kam sein verstorbener Vater bei der Verteilung des Erbes des alten Reichskönigs Rudolf von Habsburg zu kurz, und der Sohn lässt sich das nun nicht mehr bieten. Er hat eine Reihe von Rittern um sich geschart, die allesamt auf bessere Titel und Lehen aus sind, darunter übrigens auch unser Freund Bero.«

»Denkst du, sie werden Erfolg haben?«, fragte Elsbeth, die Johann kannte und ihn als in sich gekehrten jungen Mann in Erinnerung hatte.

»Wer weiß? Albrechts ältester Sohn ist tot, und der König verliert derzeit Schlacht um Schlacht. An allen Ecken des Reiches lehnen sich Landeskönige und Herzöge auf. So hart er sie noch vor einigen Jahren einigen und maßregeln konnte, so sehr tanzen sie ihm nun auf der Nase herum. Sein zweiter Sohn Friedrich ist erst achtzehn Jahre alt und hat sich bisher noch nicht allzu sehr hervorgetan. Johann wäre zumindest ein stärkerer Nachfolger als er. Ich persönlich denke aber, dass Albrecht Johann nicht erhören wird, er aber noch mindestens zehn Jahre regieren muss, bis Friedrich anerkannt genug ist, um die Reichskrone zu tragen. Sollte er vorher sterben, geht die Krone bestimmt an ein anderes Haus.«

»Wäre das schlimm?«, fragte Franziska.

»Für uns hier in Nürnberg wohl nicht. Die Stadt lebt von den Kaufleuten und auf die kann kein König verzichten. Mir bereitet eher Frankreich Sorgen.«

»Warum das?«, fragte Franziska weiter. Diesmal antwortete Chalil.

»Philipp ist zum mächtigsten König Europas geworden, und sein Reich steht geschlossen hinter ihm. Übrigens auch die Kirche! Der letzte Konklave war von französischen Kardinälen dominiert. Der neue Papst Clemens ist Franzose und scheint darauf zu pfeifen, dass er eigentlich Bischof von Rom ist. Die Tiara hat er sich in Lyon aufsetzen lassen und seitdem Frankreich nicht mehr verlassen. Es würde mich nicht wundern, wenn er Italien ganz den Rücken kehrt und das Papsttum in Frankreich etabliert.«

»Aber, kann er das denn?« Franziska hatte schon vor Jahren erkannt, dass man auch als Kauffrau die Zusammenhänge der Politik begreifen musste, und sie war dankbar, von Meynhard und Chalil, der alle Höfe Europas kannte, zu lernen.

»Können ist nicht das Problem. Die Frage ist vielmehr, kann er der daraus entstehenden Konflikte Herr werden, und genau das scheint Philipp gut vorbereitet zu haben.«

»Ist Philipp denn ein guter König?«, fragte Franziska weiter.

»Auch das ist Ansichtssache: Er ist ein Tyrann. Seine engsten Berater haben eine Geheimpolizei installiert, die alle vermeintlichen Gegner aufspüren und ans Messer liefern soll. Ihre Vermögen füllen den Staatssäckel recht ordentlich. Im letzten Jahr hat er zum Beispiel hunderttausend Juden ausweisen lassen und den Großteil ihrer Habe konfisziert. Verwandte Isaaks leben seitdem hier in Nürnberg. Zum Glück waren sie auch Handelsherren und konnten sich hier wieder eine neue Existenz aufbauen. Aber sie hatten zusehen müssen, wie mit den Schuldscheinen, die der König hatte ausstellen lassen, ihre Häuser angezündet wurden. Er lässt Klöster schließen, zerschlägt Orden und hält seine Herzöge so klein wie möglich.«

»Aber kann das gut gehen?«

»Vorerst schon, schließlich hat er genügend Macht. Aber auch er wird nicht ewig leben, und seine Söhne gelten als gemäßigt und umsichtig. Aber es steht so gut wie fest, dass Frankreich Europa die nächsten Jahre dominieren wird, es sei denn, Albrecht fällt noch etwas ein.«

»Woran denkst du?«

»Nun, mein weiser und von Allah gesegneter Vetter hat ein symbolträchtiges Königreich zu vergeben. Zumindest sagt er das.«

»Jetzt habe ich es begriffen«, fiel Elsbeth ihm ins Wort. »Wenn Albrecht an-Nasir hilft, seinen Thron wieder zu besteigen, erhält er vielleicht zum Dank die Krone Jerusalems, und die Kirche könnte gar nicht anders, als sich ihm zuzuwenden und wieder von Frankreich abzurücken. Und das könnte Habsburg die Reichskrone erst einmal bis auf Weiteres sichern und Albrechts Familie an die Spitze des europäischen Adels stellen.«

Die Männer nickten, und Elsbeth schickte sich an, die Weinbecher nochmals zu füllen. Meynhard empfand es als modern, beim Trinken auf einen Mundschenk oder Diener zu verzichten, zumal, wenn es Politisches und Geschäftliches zu bereden galt. Franziska und Elsbeth entschuldigten sich nach einem letzten Becher. Marie hatte an der kleinen Gesellschaft ohnedies nicht teilgenommen.

»Und jetzt unter uns«, fragte Chalil den Grafen. »Was denkst du wirklich über die Reichspolitik?«

»Mit der Idee des Königreiches Jerusalem klammert Habsburg sich an einen Strohhalm, oder meinst du, an-Nasir gibt es ihm wirklich?«

»Wegen einer Handvoll Soldaten und ein paar Kisten Silber? Mein Vetter ist klug, vergiss das nicht. Er wird die Macht übernehmen, sich bei allen Helfern artig bedanken, sein Reich durch den Handel erblühen lassen und des Weiteren alle europäischen Könige schön lange hinhalten und wenn nötig gegeneinander ausspielen. Er weiß doch genau, dass nach den schlechten Erfahrungen aus den Kreuzzügen niemand mehr den Aufwand fahren würde, auch nur zu versuchen, ihm Palästina zu entreißen. Und warum sollte er es verschenken?«

»Nur Albrecht scheint das noch nicht zu durchschauen und sein schmollender Neffe ebenso wenig. Ich bleibe bei meiner Meinung: Falls der Reichskönig noch zehn Jahre herrscht, kann er die Krone für Habsburg retten, wenn nicht, kommen andere, und man wird sehen, mit wem die sich verbünden werden. Ich denke, das Reich ist mit Albrecht nicht schlecht gefahren, in der Vergangenheit gab es üblere Herrscher. Natürlich zehren die vielen kleinen Schlachten an der Substanz des Landes, doch hat er es geschafft, Deutschland aus größeren zwischenstaatlichen Konflikten herauszuhalten.«

Chalil nickte.

»Doch sprich, mein Freund«, ergriff Meynhard wieder das Wort. »Wie sind eure Pläne?«

Chalil schmunzelte. »Marie weiß es noch nicht. Es soll eine Überraschung werden. An-Nasir will, dass ich nach seiner Machtergreifung den Handel zwischen seinem Reich und den europäischen Landen koordiniere. Das heißt Lizenzen vergeben, Zölle festlegen, Beziehungen knüpfen …«

»Also all das, was du am besten kannst. Die Gefahr der Verarmung besteht dabei wohl nicht, will mir scheinen.«

»Wir werden schon durchkommen. Wir müssen zum Glück auch nicht in Ägypten leben. Im Sommer ist es dort zu heiß. Wahrscheinlich werden wir auf Zypern wohnen. Venedig hat mir allerdings auch sehr gefallen, vor allem die Banken. Ich denke, ich werde die Frau Gemahlin dabei ein Wörtchen mitreden lassen, sonst kratzen mir Franziska und Elsbeth ohnehin die Augen aus.«

Meynhard lachte kurz auf und nahm noch einen tiefen Schluck aus seinem Kelch. »Und wie siehst du die Sache mit Ludwig? Und … mit Franziska?«

Chalil seufzte kurz auf. »Marie meint, Franziska ist unverbesserlich. Sie liebt ihn noch immer genauso wie vor zehn Jahren, will es aber nicht zugeben. Wann immer die Sprache zufällig auf ihn kommt, muss sie ganz dringend ins Geschäft oder zu ihrer Tochter oder hat sonst irgendetwas Wichtiges zu tun. Ich weiß nicht, ob sie es ihm leicht machen wird, wenn er wieder auf ihrer Schwelle steht.«

»Wird er das denn?«

»Na, du stellst Fragen! Er sieht andere Frauen nicht einmal an. Er verzehrt sich geradezu nach ihr und seiner Tochter. Ich habe ihn auch so weit gebracht zu erwägen, nicht mehr mit dem Schwert in der Faust durch die Lande zu ziehen, sondern lieber mit mir gemeinsam der Diplomatie und dem Handel zu frönen.«

»Und sein Vater?«

»Der hat ihm gesagt, er soll seinem Herzen folgen. Alles andere sei wertloser Tand.«