»Komm sofort mit. Wir müssen zu Meynhard, etwas Fürchterliches ist geschehen!« Chalil stürzte atemlos in die Werkstatt. Er war erhitzt und verschwitzt und offensichtlich nur nach Nürnberg geritten, um sie zu holen. Er klang so entschlossen, dass sie nicht zu widersprechen wagte. Sie rief nach Giso, ihrem Rossknecht, der ihren Wagen fertig machte, und versprach Chalil, sofort auf das Gut zu kommen, sobald sie ihre Tochter versorgt habe.
Der Prinz hatte schon längst wieder kehrtgemacht,
als sie sich endlich mit Katharina und in Begleitung ihres Knechts
auf den Weg machte.
Marie war in Tränen aufgelöst. Elsbeth, Meynhard und Chalil versuchten, sie zu beruhigen, doch zu groß schien ihre Erschütterung. Die Gesichter der drei Freunde waren ernst.
»Was ist denn geschehen?«, fragte Franziska und sah irritiert von einem zum anderen.
»Es ist wegen Louis«, sagte Chalil schließlich. »Oder Ludwig, wie du immer zu ihm sagtest.« Er legte wieder den Arm um Marie, die nun von Elsbeth gestützt wurde.
Franziska wurde kreidebleich. Sie sah auf ihre Tochter. »Was ist mit ihm … ist er …«
»Nein. Tot ist er Gottlob nicht. Aber so etwas Ähnliches«, sagte Meynhard schließlich mit finsterer Miene.
»Was weißt du denn über sein Schicksal, seit eurem Abschied in Wien?«, fragte Chalil Franziska vorsichtig.
»Ich habe keine Nachricht mehr von ihm erhalten, seit er nach Frankreich gereist ist«, sagte Franziska.
»Nach dem Tod Blankas hielt der französische König den Handel mit Albrecht für hinfällig und sah keinen Grund mehr, einem Gefolgsmann der Habsburger eine der schönsten Grafschaften Frankreichs anzuvertrauen. Er sandte ihn deshalb als Gesandten zu Rudolf. Kaum dass er weg war, löste ein Kirchengericht flugs seine Ehe auf und enthob ihn kurzerhand seines französischen Besitzes. Es hatte sich herausgestellt, dass die Ehe ungültig war und außerdem nie vollzogen wurde. Du weißt, was man darunter versteht?«
Franziska nickte. Sie verstand den Inhalt der
Worte, natürlich, doch wie konnte das möglich sein? Ein so hübsches
Mädchen wie Éléonore und der stattliche Ludwig? Und angesichts der
Jugend beider klang es schon höchst seltsam, dass sie niemals
miteinander das Lager geteilt haben sollten. Sie wusste nicht
recht, was sie von der Geschichte halten sollte.
»Rudolf von Habsburg ist ein Spielball seines machthungrigen Vaters Albrecht. Außerdem ist er nicht gerade der Klügste, wie ich mich schon selbst überzeugen konnte. Zu allem Unglück vertritt er die gefährliche Meinung, alle um ihn herum seien genauso beschränkt wie er selbst. Er ließ Ludwig also niedere Waffendienste verrichten und beachtete ihn nicht weiter.«
Chalil machte eine kurze Pause. »Das alles wäre ja eigentlich nicht so schlimm. Ich wollte ihm ohnedies schon zum wiederholten Male raten, er solle das Rittertum aufgeben und um seinen Abschied bitten, um endlich mit uns zusammen Handel zu treiben, doch wieder sollte es nicht dazu kommen. Einer der Gefolgsmänner Rudolfs, genauer gesagt der Kopf seiner Leibgarde, ist unser alter Freund Bero von Restwangen, dem sein eigenes Lehen anscheinend nicht mehr genügt und der nun nach Höherem strebt und sich bei Rudolf Liebkind macht. In seinem Auftrag reiste Ludwig nach Böhmen, um dem jungen König Wenzel eine bedeutende Botschaft Rudolfs zu überbringen. Just als er mit dem König allein hätte sprechen sollen, wurde dieser heimtückisch ermordet. Man bezichtigte Ludwig des Königsmords und wollte ihn gefangen nehmen, doch gelang ihm mit viel Glück eine tollkühne Flucht. Heute traf eine Nachricht von ihm ein, aus Meran. Er ist bei Hermann und Nele untergeschlüpft, dem Himmel sei Dank, dass er auf sie gestoßen ist.«
Franziska hatte schweigend zugehört und war kreidebleich. Ludwig ein Königsmörder? Ein Attentäter? Ihr Ludwig, dessen höchstes Streben gewesen war, ein ehrenvoller Ritter wie sein Vater zu werden, soll ein solches Verbrechen verübt haben?
»Bero«, sagte sie schließlich. »Bero steckt dahinter.«
»Das denken wir auch. Stell dir vor, heute ist ein königlicher Herold durch das Land gezogen, der bekannt gab, dass der würdige Rudolf böhmischer König wird. Es war bestimmt nicht Ludwig, der den Thron für ihn freigemordet hat«, sagte Chalil.
Meynhard ergriff das Wort. »Ludwig ist auf der Flucht und in großer Gefahr. Albrecht hat die Reichsacht über ihn verhängt. Wahrscheinlich, um jeglichen Verdacht von den Habsburgern oder ihren Schergen zu lenken.«
»Und … was bedeutet das?«, fragte Franziska zögernd.
»Er ist verbannt, und wenn er das Reich betritt, kann jeder ihn töten oder gefangen nehmen. Sogar gefoltert oder verstümmelt darf er werden. Er darf kein Vermögen besitzen, das vorhandene fällt der Krone zu. Hätte er Frau und Kind, würde die Acht sie ebenfalls umfassen. Auch über Personen, die einen Geächteten unterstützen, kann die Acht verhängt werden. Zumindest können sie sofort jedem beliebigen Vogt ausgeliefert und böse abgestraft werden.«
Sie wusste, was Chalil und Meynhard ihr sagen
wollten. Wenn sie Ludwig half, wäre sie in großer Gefahr. Sie und
ihre Tochter. Ihre tapferen Eltern hatten diese Gefahr bereits auf
sich genommen.
Franziska blickte von einem zum anderen. Sie sah in den Augen der Freunde die Sorge um sie und um ihr Kind, aber auch den Wunsch, Ludwig so rasch wie möglich in Sicherheit zu bringen. Er würde sich nicht ewig bei Hermann und Nele verstecken können. Alleine das Übermitteln einer so umfangreichen Nachricht war bereits ein großes Risiko gewesen.
»Also, was tun wir?«
»Dazu müsstest du dir und uns eine Frage beantworten«, sagte Chalil vorsichtig. Er zögerte einen Moment. »Wie stehst du noch zu ihm?«, fragte er schließlich.
Franziska spürte einen schmerzhaften Stich, als
setzte ihr Herzschlag aus. Sie sah Ludwig vor sich, so wie er
damals war, als sie sich ihn verliebt hatte. Ein fröhlicher
unschuldiger Knappe, jung, schön und strahlend. Doch vieles war in
der Zwischenzeit geschehen, viel Zeit vergangen. Sie hatte ihre
Liebe zu ihm verdrängt. Fragend sah sie zu Chalil und Marie. Diese
erwiderten ihren Blick voller Zuneigung, und sie hatte den
Eindruck, eine Ermunterung in den Augen beider wahrzunehmen. Sie
atmete tief durch. »Wir müssen ihm helfen. Sofort.«
Sie nahmen alle an einem Tisch Platz, um zu beratschlagen, was zu tun sei. Katharina wurde einer Magd anvertraut.
»Zunächst muss Louis so weit weg wie nur irgend möglich. Falls Bero tatsächlich hinter der ganzen Sache steckt, wird er nicht eher ruhen, bis er Louis gefasst und vor den König geschleppt hat«, sagte Chalil.
»Aber wo soll er denn hin?«, fragte Franziska.
Chalil wechselte einen kurzen Blick mit seiner Frau. »Marie und ich reisen umgehend ab und treffen ihn in Meran. Dann schiffen wir uns in Venedig ein.«
»Und wohin soll es gehen?«, fragte Meynhard nun.
»Zunächst nach Zypern. Wir werden uns mit Henri in Verbindung setzen. Entweder ziehen wir dann weiter nach Ägypten zu meinem ebenfalls hilfsbedürftigen Vetter oder wir bleiben vorerst dort. In Ägypten wäre er wahrscheinlich am sichersten.«
»Du willst ihn mit deinem Vetter zusammenbringen?«
»Falls möglich, ja. Louis hat das Kriegshandwerk erlernt, und an-Nasir braucht Soldaten. Es müsste sich eigentlich eine sinnvolle Beschäftigung für meinen Bruder finden lassen.«
Meynhard nickte. Die Idee gefiel ihm.
»Und …«, sagte Franziska leise und alle wandten sich ihr zu. »Was haben Katharina und ich damit zu tun? Ich werde hier nicht alles stehen und liegen lassen, um Hals über Kopf nach Ägypten zu fliehen. Katharina und ich bleiben hier.«
»Für euch wird es hier in Nürnberg möglicherweise nicht ungefährlich werden«, sagte Chalil. »Bero kannte uns Montardiers als Kinder. Katharina hat große Ähnlichkeit mit Marie als kleinem Mädchen. Wenn er dir vorwirft, du seist Louis' Buhlin und hättest ihn deswegen geschützt, läufst du Gefahr, dein Vermögen und womöglich deine Freiheit zu verlieren. Die Gerichte sind unberechenbar.«
»Aber was kann ich dagegen tun?«, fragte Franziska nun. »Kann ich nicht meinen Besitz irgendwie in Sicherheit bringen?«
»Das kannst du in der Tat«, sagte Meynhard, »und es ist nicht einmal schwierig, schließlich hast du einen erwachsenen Sohn, der ohnedies dein Geschäft übernehmen soll. Wir müssen mit Isaak, der Zunft und dem Stadtschreiber sprechen.«
»Und bei der Gelegenheit auch gleich das Vermögen aller Montardiers unsichtbar machen«, warf Marie ein, und ihr Gatte nickte.
*
In den folgenden beiden Tagen ordneten Franziska und Chalil mit Hilfe Isaaks, Meynhards und eines verschwiegenen Advokaten, der mit seiner Familie einer der besten bürgerlichen Kunden der Schneiderei war, die Verhältnisse Franziskas und die der Montardiers. Deren Anteile an der Manufaktur und der Schneiderei wurden Trudbert und dem Grafen überschrieben, und über den Großteil des flüssigen Vermögens waren Wechsel auf italienische Bankhäuser gezogen. Da sie in der Vergangenheit gelernt hatten, wie wichtig eine kleine Reserve war, hatten sie einige Beutel mit Gold- und Silbermünzen in einem geheimen Versteck in Franziskas Keller verstaut. Dann nahte die Stunde der Trennung.