Der junge Gesandte Restwangen war mit demselben Schiff wie Henris Familie nach Zypern gesegelt und hatte die dringenden und wichtigen Gespräche mit Heinrich, dem König von Jerusalem, und dessen Berater in Heinrichs Residenz auf Zypern geführt. Als er die Nachricht erhielt, dass man Akkon mit kümmerlichen zweitausend Mann unterstützen wollte, war er fassungslos und tief enttäuscht wieder nach Palästina zurückgekehrt und hatte umgehend seinen Dienstherrn aufgesucht.
Henri war zunächst erleichtert, als Bero ihm berichtete, dass seine Frau und die Kinder in Sicherheit waren, doch ebenso wie der junge Mann war er entsetzt darüber, als er von dem lächerlichen Umfang der Verstärkung hörte, die sie erwarten durften. »Europa hat das Heilige Land aufgegeben, so einfach ist das«, sagte er zu Bero. »Zu teuer, zu weit weg und sinnlos, dort Krieg zu führen, wenn sich zugleich auch zwischen den Reichen schon wieder die Lage zuspitzt. Der Papst hat zu wenig Macht, er musste sich den Königen fügen.«
»Ich habe den Auftrag, morgen Kundschafter auszusenden und zu berichten, wie viele Tage die Truppen von Sultan Chalil noch entfernt sind. Lange kann es nicht mehr dauern, bis die Belagerung der Stadt beginnt«, fuhr er fort.
Bero richtete sich auf. Mit dem Eifer eines jungen Kämpfers bat er: »Lasst mich die Mamelucken ausspähen. Ich werde Euch alle Auskünfte liefern. Ich reite noch heute Nacht los.«
Henri lächelte. Der junge Ritter erinnerte ihn an sich selbst, an den Beginn seiner Karriere als Kundschafter und Diplomat. Er nickte. »So sei es, doch ruht Euch zuvor noch ein paar Stunden aus. Nehmt Euch eine Handvoll Männer und macht Euch kurz vor dem Morgengrauen auf den Weg, begebt Euch aber nicht unnötig in Gefahr. Es ist ohnedies offensichtlich, dass die Mamelucken vor der Tür stehen. Sobald Ihr sie seht, macht Ihr kehrt und berichtet mir.«
Sie nahmen ein bescheidenes Abendmahl zu sich,
dann entließ Henri Bero, damit dieser sich auf den
frühmorgendlichen Ritt vorbereiten konnte. Bero wusste, welche
Männer er auswählen musste, sodass diese Aufgabe schnell erledigt
sein würde. Bevor er einen entsprechenden Befehl erteilte, marschierte er jedoch in den Hafen, um
mit dem Kapitän eines Schnellseglers zu sprechen, der ihm bei
seiner Ankunft aufgefallen war.
Lange vor Sonnenaufgang verließen sie die Stadt und ritten zunächst nach Südosten. Nach etwa zehn Meilen kamen sie an den Fuß eines Berges, dessen Spitze nicht bewaldet war und gute Weitsicht bot. Bero ritt voran. Als die Sonne das Land in das erste Morgenlicht tauchte, hatten sie den Aussichtspunkt erreicht und überblickten die sich vor ihnen ausbreitende Ebene. Da wurden sie einer Menschenmenge gewärtig, wie sie noch keiner von ihnen je gesehen hatte. Das mameluckische Heer lagerte weniger als drei Meilen entfernt. Eine schier endlose, wogende Masse aus Männern, Tieren, Wagen und den massiven Türmen der Belagerungsgeräte. Aus Osten stießen weitere Truppen zu ihnen. Die Staubwolken reichten bis zum Horizont. Wenn sie am heutigen Tag losmarschierten, würden sie noch am Abend die Stadt erreichen und sie von jeglichem Zugang zum Land abschneiden. Ab sofort würde Akkon nur noch auf dem Seeweg zu erreichen oder zu verlassen sein.
Bero dachte an seinen Plan und war stolz auf sich, dass ihm dieser rechtzeitig eingefallen war. Es sollte nicht sein Schicksal sein, mit der Stadt zu fallen.
Er erteilte den Befehl zur Rückkehr. Sie ritten den Berg hinab und nach Westen, auf die nahe gelegene Küste zu. Als sie die Straße zur Stadt erreichten, erteilte Bero den Befehl, sie zu überqueren und nach einem kurzen Querfeldeinritt den Weg zu einer abgelegenen Bucht einzuschlagen. Die Männer sahen ihn fragend an, doch er ritt wortlos voran, bis der Weg steiler wurde und er von seinem Pferd abstieg. Vorsichtig führte er es am Zügel bergab. Die Männer folgten seinem Beispiel. Die kleine Bucht lag abgeschieden, war von oben kaum einsehbar und hatte keinen anderen Zugang als diesen Pfad, wenn man von der Seeseite absah. Schließlich erreichten sie den steinigen Strand. »Was …«, konnte einer seiner drei Begleiter noch rufen, als ein barfüßiger Mann hinter einem großen Felsblock hervorsprang und seine Klinge in den Hals des Soldaten stieß. Bero und seine Männer waren ungerüstet aufgebrochen, und außer Bero als Anführer führte keiner ein Schwert mit sich. Bero riss die Waffe, die an seinem Sattel hing, aus ihrer Scheide, während seine beiden verbliebenen Begleiter ihre Dolche zückten. Bero sprang vor und holte zu einem beidhändigen Schlag aus, doch bevor die Klinge auf den Unbekannten niederfuhr, drehte er sich um sich selbst und spaltete einem weiteren seiner Männer den Schädel. Der Dritte, ein noch junger Bursche, erstarrte für einen Augenblick, und nur ein kurzes Keuchen entfuhr ihm, als die Klinge des barfüßigen Unbekannten in seine Seite drang.
Auf einem der Felsen, die den natürlichen Hafen umsäumten, stand ein weiterer Mann, der ein Zeichen gab. Wenig später glitt ein schlankes Schiff in die Bucht. Die Habseligkeiten der getöteten Männer sollten Teil der Entlohnung des Kapitäns sein, neben dem Gold, das Bero ihm auf Zypern aushändigen würde. Beros Pferd wurde mit Blut beschmiert in der nächsten Nacht vor die Tore der Stadt geführt.
*
Am fünften April, zwei Tage nachdem Henri seinen Kundschafter ausgesandt hatte, lag das Mameluckenheer vor Akkon. Schon nach zwei Wochen waren die Tore und Stadtmauern gestürmt und die Ritter lieferten sich mit den Angreifern verzweifelte Kämpfe, die den Untergang der letzten Kreuzfahrerfestung allerdings nicht mehr verhindern konnten.
Henri hatte die Aufgabe übernommen, Frauen und Kinder auf die allerletzten Schiffe und Boote zu bringen, die noch im Hafen lagen und die ankommenden Transportschiffe mit Flüchtlingen zu beladen. Doch es waren zu viele, die nicht rechtzeitig die Stadt verlassen konnten. Henri hoffte, dass die Wut der Angreifer in den Tagen nach der Schlacht abklingen und dass der Sultan angesichts der ohnedies gefallenen Stadt Gnade gegenüber den letzten Überlebenden walten lassen würde, wenn man ihn im Zuge einer Unterwerfung und unter Überlassung allen Eigentums unterwürfig darum bat.
Zwei Tage nach dem letzten Gefecht bot Henri sich
als Unterhändler an. Ohne Waffen und Rüstung, nur mit bloßen
Händen, trat er alsbald vor das Tor der Eisenburg, dem letzten
Rückzugsort der Belagerten, und bat, dem feindlichen Befehlshaber,
Sultan Al-Ashraf Chalil, vorgeführt zu werden.
»Akkon ist gefallen. Gebt den wenigen Bürgern, die noch leben, die Möglichkeit, in ihre Heimat zurückzukehren und von Eurem großen Sieg zu berichten. Die Levante gehört Euch. Europa wird kein Kreuzfahrerheer mehr entsenden.«
»Ihr bittet um Euer Leben?«, ließ der Sultan durch seinen Übersetzer fragen.
»Nein. Ich bitte für die Männer, Frauen und Kinder, die noch in der Burg sind. Ihr Tod bringt Euch keinen Nutzen.«
»Und die Tempelritter? Sollen wir sie einfach ziehen lassen?«
»Es sind nicht mehr viele. Sie sind keine Gefahr mehr.«
»Sie könnten wieder Männer anwerben und uns erneut angreifen.«
»Das werden sie nicht. Erweist Euch großzügig und gebt ihnen freies Geleit. Der Ruhm über Eure Gnade wird Euer Verdienst und unser Dank sein und Euer Andenken unsterblich machen.« Chalil sah ihn ohne sichtbare Regung an.
»Wir haben anders entschieden. Teilt Euren Leuten dies mit.«
Henri sah den Herrscher noch einen langen Augenblick an. Schließlich verbeugte er sich und zog sich zurück. Als er gerade das Zelt verließ, traten zwei Männer an den Sultan und flüsterten ihm ins Ohr. Einer zeigte dabei auf Henri. Der Sultan dachte nach. Schließlich antwortete er den beiden und entließ sie mit einer knappen Handbewegung.
Henri trat den Rückweg in die verwüstete Stadt an, wieder begleiteten ihn Soldaten. Sie hatten die Überreste des inneren Mauerrings passiert, als sich ihnen plötzlich zwei schwarz gekleidete Männer in den Weg stellten. Beide trugen offene Schwerter. Die Soldaten traten zurück und der eine der Männer zwang Henri in die Knie und beugte sein Haupt, während der andere hinter ihn trat. Es war sinnlos, sich zu wehren. Seine letzten Gedanken wollte Henri seiner Familie widmen.