Chalil rückte näher an das Kohlebecken, das er
sich gegen die klamme Winterkälte hatte bringen lassen, und brütete
über den Papieren, die ihm vor einigen Tagen zugestellt worden
waren. Er hatte die letzten Tage in Trauer verbracht, doch jetzt
nahm er sich zusammen, um die notwendigen Angelegenheiten zu
regeln. Sein einstiger Lehrherr Zacharias war verstorben und hatte
ihn in seinem Testament großzügig bedacht. Neben einigen Legaten an
seine wenigen leiblichen Verwandten, hatte Chalil den größten Teil
seines Vermögens geerbt. Es waren allerdings kaum Münzen oder
sonstige Wertgegenstände im Inventar seines Nachlasses aufgeführt
gewesen. Der bis zum letzten Atemzug klug agierende Finanzmann
hatte seinen Barbesitz in Wechsel an verschiedene Banken gewandelt
und eine Reihe von Schuldscheinen gesammelt. Chalil pfiff leise
durch die Lippen, als er eine Summe von 1500 Gulden auf einem
Schuldschein Siegfrieds von Restwangen fand, den dieser vor seinem
Tod nicht mehr eingelöst hatte. Zusammen mit einem Papier
Siegfrieds, das Chalil schon seit ihrer Flucht in seinem Besitz
hatte, konnte er von Restwangen, wann immer es ihm passte,
zweitausendfünfhundert Gulden einfordern. Eine Summe, die auch
einen wohlhabenden Lehnsherrn in große Bedrängnis bringen konnte.
Chalil addierte die Summen auf sämtlichen vor ihm liegenden
Urkunden, um sich einen ungefähren Überblick über sein neues
Vermögen zu verschaffen. Der Alte hatte ihn in seinem Testament
gebeten, weise mit dem Erbe
umzugehen, und ihn ermahnt zu bedenken, dass es die Taten sind, die
einen Mann ausmachen, nicht sein Erbteil.
Fast drei Jahre waren er und Marie nun quer durch Europa gereist und hatten in den höchsten Adelskreisen verkehrt. Nachdem sie sich von Franziska auf das Feinste hatten einkleiden lassen, besuchten der Prinz und seine schöne Gemahlin die vornehmsten Fürstenhöfe des Kontinents. Die Vielzahl und Eleganz ihrer Kleider wurden rasch sprichwörtlich, und Franziskas Werkstatt erhielt Aufträge aus allen Ecken und Enden des Erdteils. Wo immer Marie und Chalil sich aufhielten, schien man es ihnen an Eleganz und Schönheit gleichtun zu wollen. Im Gefolge des Prinzen reisten sogar ein Schneidergeselle und mehrere Näherinnen, die Kunden unmittelbar vor Ort bedienen und die gut situierten örtlichen Schneidermeister im Anfertigen von Knopfkleidern unterweisen konnten. Besonders kunstvolle und teure Knöpfe führte die Reisegruppe in kleinen Kästchen mit sich, und Chalil präsentierte diese in den höchsten Kreisen persönlich.
Natürlich wurden Knöpfe nun von vielen Handwerkern hergestellt, doch Franziskas Manufaktur hatte jahrelangen Vorsprung und dank der herrlichen Kleider aus ihrer Werkstatt einen beispiellosen Ruf. Franziska und ihre Teilhaber waren wohlhabend geworden, natürlich auch der gute alte Walram, der vor wenigen Monaten als hoch angesehener Mann entschlafen war.
Vor einem Jahr hatten Franziska und der alte Meister Trudbert an Sohnes statt angenommen, ein schlauer Schachzug, denn Franziska konnte so die Schneiderei als Witwenbetrieb weiterführen, bis der Sohn in der Lage wäre, das Geschäft zu übernehmen, wie es die Nürnberger Zunftordnung gebot, und konnte ihr Wirken somit praktisch unbegrenzt fortsetzen.
Franziska hatte ursprünglich wenig Grund dazu gesehen, dem Sultan eines fernen Landes, von dem sie bisher keinerlei Vorstellung hatte, zu seinem Thron zu verhelfen. Erst als Maries Vater ihr erklärt hatte, dass dieser Mann ein Garant für Frieden und Wohlstand im östlichen Mittelmeer zu werden versprach und sich unbegrenzte Handelsmöglichkeiten eröffnen würden, hatte sie schließlich zugestimmt und einen Teil ihres Geldes zur Unterstützung des fremden Herrschers zur Verfügung gestellt. Außerdem hatte sie Vertrauen in Chalils kaufmännische Weitsicht.
Der Plan, den Chalil sich überlegt hatte, um den unbekannten Vetter zu seinem Thron zu verhelfen, war einfach. Er würde in den Adelshäusern seine eigene Geschichte erzählen – und die war abenteuerlich genug, da müsste er keine Märchen erfinden. Das geheime Leben der Eltern in Akkon, ihr früher Tod, seine Adoption durch einen französischen Edelmann und der Übertritt zum Christentum, die abenteuerliche Flucht nach Europa und seine Lehrjahre bei einem reichen Kaufmann und Geldverleiher. Er kannte alle drei Religionen des einen Gottes aus eigener Erfahrung, was sonst kaum jemand von sich behaupten konnte und was ihn auch beim Klerus zu einem interessanten Gesprächspartner machte, zumal er sich ja für das Christentum entschieden hatte. Schließlich erzählte er von seinem königlichen Vetter, der Beziehungen zu den Edlen des Abendlandes aufbauen wollte und deshalb den Prinzen als Botschafter ausgesandt hatte, ihnen seine persönliche Aufwartung zu machen. Chalil ließ die Herrschaften erkennen, dass Ägypten ein reiches Land war, mit dem es sich lohnte, Geschäftsbeziehungen aufzubauen und Bündnisse zu schließen. In den schillerndsten Farben schilderte er die Reichtümer des Ostens und die Handelsmöglichkeiten mit den asiatischen Seefahrerstaaten, die nach Warenaustausch mit Europa gierten. Sein Vetter wollte als Mittler zwischen Orient und Okzident in die Geschichte eingehen und gab sich deshalb größte Mühe, das Wohlwollen der abendländischen Fürsten zu gewinnen. Chalil schenkte so manchem Regenten eines der Gemälde des Sultans, für die er selbst Modell gesessen hatte und die dank Henris Schilderungen dem jungen Monarchen tatsächlich ähnlich sahen. Auch an-Nasir war sehr schlank, trug einen kurzen Bart und hatte die gleichen schwarzen Augen und wie Chalil ein ebenmäßiges ovales Gesicht. Auf den Bildern schmückte den Sultan eine seltsame orientalische Kopfbedeckung, die sein nobles und exotisches Äußeres unterstrich. Das Abbild des geheimnisvollen jungen Fürsten übte auf Männer wie auch Frauen eine seltsame Faszination aus.
Die Saat begann rasch aufzugehen: Schon bald
wurden Botschaften nach Kairo gesandt, die den Monarchen der
Freundschaft der Fürsten versicherten, meist in Verbindung mit
großzügigen Geschenken, die das Gedächtnis des Sultans an seine
ersten Verbündeten stützen sollten.
An-Nasirs Name wurde in ganz Europa bekannt,
und die Aussicht, über ein friedliches und dem Westen
aufgeschlossenes Ägypten an die Schätze Afrikas zu kommen und
darüber hinaus Zugang zu den Seehandelswegen des Roten Meeres und
des Indischen Ozeans bis tief nach Asien zu erhalten, ließ seine
Freundschaft in höchstem Maße erstrebenswert erscheinen. Auch reiche Kaufherren wie die
Schürstab in Nürnberg nutzten die Gunst der Stunde, sich mit dem
königlichen Vetter über künftige Handelsbeziehungen zu
beratschlagen und dem Sultan für seine Aktivitäten in Europa
großzügigen Kredit einzuräumen.
Henri und Rochus waren im vergangenen Sommer wieder zu ihm gereist, um ihm zur Seite zu stehen und ihn zu beraten. Der Schutz des Lebens des jungen Fürsten schien nunmehr gewährleistet zu sein, denn er war binnen kurzer Zeit viel zu bekannt und als Handelspartner der europäischen Fürsten viel zu wichtig geworden, als dass man ihn einfach still und leise hätte beseitigen können. Die Regenten des Mameluckenstaates mussten sich zähneknirschend eingestehen, dass sie ohne die Symbolkraft an-Nasirs wenig Wertschätzung im Rest der Welt genossen. Dennoch war der Sultan noch immer ein Gefangener im eigenen Land und ohne seinen ersehnten Thron.
Nachdem es Chalil gelungen war, aus seinem
Vetter, den er noch nie gesehen hatte, einen bekannten Mann zu
machen, begann er, an dessen Vermögen zu arbeiten, indem er einen
kräftigen Teil des Gewinns, den er selbst mit Franziskas Knöpfen
und Kleidern und seinen eigenen Geschäften erzielte, über ein
Florentiner Bankhaus nach Ägypten leitete. Auch den Löwenanteil von
Zacharias' Nachlass und die von Franziska zur Verfügung gestellte
Summe würde er dem Sultan zukommen lassen. Er sollte Männer, Waffen
und was er sonst noch für einen Umsturz in seinem Land benötigte,
beschaffen. Chalil betrachtete dies als kluge Investition, für die
sich sein Vetter vielleicht später mit der einen oder anderen
Handels- oder Banklizenz bedanken würde.
Die
Abenddämmerung setzte ein, und er entzündete die Kerzen auf seinem
Tisch. Marie würde hoffentlich bald wieder hier sein. Natürlich
hatte er sie nicht ohne Begleitung gehen lassen, dennoch waren die
dunklen Gassen Wiens gefährlich, auch wenn der Weg zur Burg nicht
weit war. Die Näherin und der fröhliche Trudbert, die seit einiger
Zeit mit ihnen reisten, hatten die Kleider, die Franziskas
Werkstatt nach den aufgezeichneten Maßen Blanches gefertigt hatte,
mehrmals geändert, und unter der Aufsicht Maries sollten sie der
Prinzessin nun endgültig angepasst werden. Blanche war erschreckend
mager und blass geworden und hatte in den vergangenen Monaten
zahlreiche Unpässlichkeiten über sich ergehen lassen müssen. Vor
einem knappen Jahr hatte sie eine Fehlgeburt erlitten und war
danach nicht mehr wieder richtig auf die Beine gekommen. Albrecht
wartete daher noch immer auf den ersehnten Enkel.
»Es ist so schrecklich«, schluchzte Marie, als sie wenig später in den Raum stürmte und sich in Chalils Arme stürzte. »Sie war noch so jung … und so schön … und ausgerechnet heute …« Sie weinte und weinte, während Chalil ihr beruhigend den Rücken tätschelte. Sie wirkte erschöpft und überanstrengt. Der Tag hatte bereits schwer für sie begonnen. Am Morgen hatte sie der Königin ihre Aufwartung gemacht und sich für ihre Flucht vor über vier Jahren bei ihr entschuldigt. Sie erklärte ihr, dass der Prinz um sie angehalten hatte, nachdem er von ihrem Vater von seiner tatsächlichen Herkunft erfahren hatte, dass diese Verlobung sowie seine wahre Identität zu diesem Zeitpunkt jedoch noch geheim gehalten werden mussten, um den Aufbau seiner Mission in Europa nicht zu gefährden. Huldvoll hatte die Königin ihr verziehen, da Albrecht ebenfalls schon dem Sultan seine Freundschaft angeboten und zugesichert hatte. Nach diesem Gang wollte sie Blanche aufsuchen und die Übergabe und etwaige Änderung der Kleider überwachen, so hatte sie es mit Blanches Truchsess vereinbart. Doch die Frau Rudolfs war abermals erkrankt und zu schwach, um Besuch zu empfangen. Man ließ Marie warten, bis am späten Nachmittag die Kunde durch die Burg ging, dass der königliche und der herzogliche Haushalt in Trauer seien, da Gott die junge Frau zu sich gerufen hatte.
»Verstehst du … dieses Bündnis zwischen den beiden Reichen, es ist doch jetzt auch hinfällig. Und Louis …«
Chalil hielt seine Frau fest umarmt. Als das Schluchzen nachließ, setzte er sie in einen gepolsterten Sessel und legte eine Decke um ihre Schultern. Er ging nach draußen, um ihre Dienerin nach heißem Würzwein zu schicken.
»Was soll Louis denn schon geschehen?«, sagte er schließlich. »Er hat sein Lehen, das kann man ihm doch nicht so einfach wegnehmen.«
»Natürlich nicht, aber du weißt doch, wie unglücklich er war, als wir ihn in Paris getroffen haben.«
Sie hatten ein Jahr zuvor Frankreich bereist und in Paris Mitglieder der königlichen Familie und der hohen Geistlichkeit getroffen. Bei einem Festmahl hatten sie endlich Louis wiedergesehen, der in Begleitung seiner Gattin erschienen war, die sich sichtlich geehrt zeigte, dass ihr Gemahl nun mit dem ägyptischen Königshaus verwandt war. Es war nicht zu übersehen gewesen, dass Louis und Éléonore keine glückliche Ehe führten. Sie behandelten einander zwar höflich und respektvoll, doch Herzlichkeit und Fröhlichkeit sah Marie bei der jungen Frau erst, als Éléonore sich später ungezwungen mit alten Freunden aus der französischen Nobilität unterhielt.
*
Philipp hatte die Nachricht vom Tod der Halbschwester ohne sichtliche Regung aufgenommen und sogleich seine private Kapelle aufgesucht, um den Rest des Tages und die folgende Nacht dort im Gebet zu verbringen. Am folgenden Tag hatte er nach Louis geschickt und ihn beauftragt, mit einer Kondolenznachricht zu Rudolf zu reisen und vorerst als Gesandter an dessen Hof in Wien zu bleiben. Louis reiste umgehend ab, um den königlichen Befehl ohne Aufschub zu befolgen.
Er legte die gesamte Strecke zu Pferd zurück, begleitet nur von zwei einfachen Bewaffneten, die ebenfalls die weite Strecke reiten mussten. Zwei Diener folgten mit einem Fuhrwerk, um Gepäck, Waffen und sonstige persönliche Habe ihres Herrn nach Österreich zu schaffen.
Gern hätte Louis in Nürnberg haltgemacht, um sich nach Franziska zu erkundigen. Er hatte von Marie und Chalil erfahren, dass sie den Meister der Schneiderei geehelicht hatte und Mutter einer kleinen Tochter namens Katharina war. Natürlich wusste er um ihren Erfolg, schließlich trugen mittlerweile auch viele Adelige in Frankreich Knopfkleider. Der Gedanke an die junge Schneiderin schmerzte noch immer, trotz der Jahre, die seit ihrem letzten Treffen vergangen waren. Er hatte sie so tief verletzt, ungeachtet der eigenen Verzweiflung, die er selbst bei ihrer Trennung empfunden hatte, und er schämte sich seither zutiefst dafür. Die Strafe, die er dafür hatte auf sich nehmen müssen und die er mit grimmiger Geduld ertrug, war ihm nur ein geringer Trost.
Franziska
jetzt zu sehen würde wohl nur neuen Schmerz hervorrufen, vielleicht
bei ihr, vielleicht bei ihm, wahrscheinlich bei beiden. Schweren
Herzens beschloss er daher, Nürnberg zu meiden, und nächtigte in
einer Herberge weit außerhalb der Stadt.
Erst in Linz unterbrach er seine Reise für einen Tag, da er zufällig auf Marie und Chalil getroffen war, die auf dem Weg nach Bayern zu dem Sitz Meynhards waren, wo sie auf neue Nachrichten aus Ägypten warten wollten. Sie besprachen seine Lage ausgiebig. Er würde den Befehlen gehorchen, die Rudolf für ihn hatte. Ansonsten blieb ihm nichts anderes übrig als abzuwarten. So schwer es Marie fiel, sie sprach mit ihrem Bruder kein Wort über Franziska, und auch Louis brachte das Thema nicht zur Sprache. »Du hast Recht getan, nicht von ihr und dem Kind zu sprechen«, sagte Chalil zu ihr, als sie abends in ihrer Herberge alleine waren. »Es ist ihre Sache, sie müssen einander selbst wiederfinden, wenn sie sich denn finden wollen.«
»Und außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass
mein Bruder schließlich verheiratet ist«, seufzte Marie.
Der trauernde Rudolf empfing Louis, der fortan wieder Ludwig hieß, und gliederte ihn umgehend in den herzoglichen Haushalt ein. Er wurde mit der Beaufsichtigung der Grenzsicherung beauftragt und der Niederschlagung kleinerer Aufstände, die es im Herzogtum immer wieder gab. Wenigstens war er wieder ein richtiger Ritter, sagte Ludwig sich jeden Abend, wenn er sich in seiner Kammer zu Ruhe begab.
*
»Ein Brief für Euch«, sagte der Page und reichte ihm ein verschnürtes und versiegeltes Pergament. Ludwig, der gerade seinen heutigen Dienst beendet hatte, nahm es entgegen. Es schien eine wichtige Urkunde zu sein, gewiss kein Brief Chalils oder Maries. Sobald er alleine war, brach er das Siegel und rollte das Schriftstück aus seiner Umhüllung. Es war in der Tat ein offizielles Dokument, ausgestellt von einem Kirchengericht in Paris, verfasst in gut lesbarem Latein und unterfertigt und nochmals gesiegelt von einem Bischof. Er las es mehrmals und langsam. Das Schriftstück besagte, dass seine Ehe annulliert worden war, wegen mangelnder Ehefähigkeit der Braut und eines nichtigen Eheversprechens beider Brautleute. Zudem war, wie eine Untersuchung ergeben hatte, die Ehe nie vollzogen worden und die Braut noch immer virgo intacta. Die Eheleute wurden in den Familien- und Vermögensstand versetzt, den beide vor der Ehe innehatten. Schuldtitel gegeneinander bestanden nicht. Ludwig saß auf seinem Bett und starrte auf das Pergament. Er schämte sich plötzlich wegen seiner Einfältigkeit und Dummheit. Virgo intacta, eine unberührte Jungfrau. Also war er, was die Ehe mit Éléonore betraf, vom ersten Tag an belogen und betrogen worden. Er sah sich selbst, wie er sie zartfühlend und edel wieder und wieder seiner Ritterlichkeit und seiner Geduld versichert hatte und seine eigenen Bedürfnisse nur außerhalb des Ehebettes gestillt hatte. Was bin ich nur für ein Esel, dachte er bitter.