Epilog: Einige ernste Probleme

Jetzt war wieder Normalität eingekehrt – die gute Vor-Zombie-Normalität. Schneller, als ich es für möglich gehalten hätte. Carlisle wurde von seinem Krankenhaus mit offenen Armen wieder aufgenommen; sie versuchten ihre Freude darüber, dass Esme sich mit L.A. so gar nicht hatte anfreunden können, nicht im mindesten zu verbergen. Wegen der Matheklausur, die ich durch die Reise nach Italien verpasst hatte, waren Edward und Alice im Moment besser für den Schulabschluss gerüstet als ich. Und das, wo plötzlich das College ganz oben auf meiner Prioritätenliste stand (es war mein Plan B für den Fall, dass Edwards Angebot mich doch noch davon abbringen konnte, mich nach dem Abschluss von Carlisle verwandeln zu lassen). Viele Fristen waren an mir vorbeigegangen, aber Edward brachte mir täglich einen neuen Stapel mit Bewerbungsunterlagen. Er war schon mal in Harvard gewesen, also kümmerte es ihn nicht, dass wir wegen meiner Trödelei im nächsten Jahr womöglich beide auf dem College in Port Angeles landen würden.

Charlie war nicht gut auf mich zu sprechen, und mit Edward redete er kein Wort. Immerhin durfte Edward – während bestimmter Besuchszeiten – wieder ins Haus. Aber ich durfte nicht hinaus.

Schule und Arbeit waren die einzigen Ausnahmen, und die öden gelben Wände des Klassenzimmers erschienen mir in letzter Zeit ungewöhnlich verlockend. Das lag nicht zuletzt an meinem Tischnachbarn.

Edward war zu seinem Stundenplan vom Beginn des Schuljahrs zurückgekehrt, und damit hatten wir wieder alle Kurse zusammen. Nachdem die Cullens im letzten Herbst angeblich nach L.A. gezogen waren, hatte ich mit meinem Verhalten dafür gesorgt, dass der Platz neben mir frei geblieben war. Selbst Mike, der sonst jede Gelegenheit beim Schopf ergriff, war auf Abstand geblieben. Jetzt, wo Edward wieder da war, kam es mir fast so vor, als wären die vergangenen acht Monate nur ein verstörender Albtraum gewesen.

Aber nur fast. Erstens war da die Sache mit dem Hausarrest. Und zweitens hatte es vor dem Herbst meine Freundschaft mit Jacob Black noch nicht gegeben. Und deshalb hatte ich ihn damals natürlich auch nicht vermisst.

Ich konnte nicht nach La Push fahren, und Jacob kam mich nicht besuchen. Er ging noch nicht mal ans Telefon, wenn ich anrief.

Ich versuchte ihn vor allem abends zu erreichen, wenn Charlie Edward um Punkt neun mit grimmiger Schadenfreude hinausgeworfen hatte und bevor Edward sich, sobald Charlie schlief, wieder zum Fenster hereingeschlichen hatte. Ich telefonierte am liebsten zu dieser Zeit, weil mir aufgefallen war, dass Edward jedes Mal das Gesicht verzog, wenn ich Jacob erwähnte. Er sah dann irgendwie missbilligend und argwöhnisch aus … vielleicht sogar wütend. Ich nahm an, dass er Werwölfen gegenüber ähnlich voreingenommen war wie Werwölfe gegenüber Vampiren, wenngleich er nicht so offen darüber sprach wie Jacob über die »Blutsauger«.

Also vermied ich es möglichst, Jacob zu erwähnen.

Mit Edward in der Nähe war es schwer, an traurige Dinge zu denken – selbst an meinen früheren besten Freund, der meinetwegen vermutlich gerade sehr unglücklich war. Immer wenn ich an Jake dachte, hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht öfter an ihn dachte.

Mein Märchen ging weiter. Der Prinz war zurückgekehrt, der böse Zauber gebrochen. Ich wusste nur nicht so recht, was ich mit der übrig gebliebenen Figur machen sollte. Gab es für Jacob kein glückliches Ende?

Wochen vergingen, und Jacob ging immer noch nicht ans Telefon, wenn ich anrief. Allmählich wurde es zu einer unaufhörlichen Sorge. Wie ein tropfender Wasserhahn im Hinterkopf, den ich weder abstellen noch ignorieren konnte. Tropf, tropf, tropf. Jacob, Jacob, Jacob.

Ich erwähnte ihn zwar fast nie, aber manchmal hielt ich es vor Frust und Sorge nicht mehr aus.

»Das ist einfach unverschämt!«, platzte ich eines Samstagnachmittags heraus, als Edward mich von der Arbeit abholte. Wütend zu sein war leichter, als ein schlechtes Gewissen zu haben. »Richtig beleidigend!«

Ich hatte meine Strategie geändert, weil ich hoffte, damit mehr Erfolg zu haben. Diesmal hatte ich Jake von der Arbeit aus angerufen, aber ich hatte nur einen wenig hilfsbereiten Billy ans Telefon bekommen. Wieder mal.

»Billy hat gesagt, Jake will nicht mit mir sprechen«, sagte ich wütend, während ich zuschaute, wie der Regen am Seitenfenster herunterlief. »Dass er da war und noch nicht mal die drei Schritte zum Telefon gegangen ist! Sonst sagt Billy immer, Jake wär nicht da oder er hätte zu tun oder er schliefe oder so. Ich meine, ich wusste natürlich, dass er mich anlügt, aber wenigstens hat er die Form gewahrt. Billy hasst mich jetzt wahrscheinlich auch. Das ist ungerecht!«

»Es hat nichts mit dir zu tun, Bella«, sagte Edward ruhig. »Niemand hasst dich.«

»So kommt es mir aber vor«, murmelte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Jetzt war es aus bloßer Widerborstigkeit. Es war kein Loch mehr da – ich konnte mich kaum noch an das Gefühl der Leere erinnern.

»Jacob weiß, dass wir zurück sind, und sicher hat er erfahren, dass ich wieder mit dir zusammen bin«, sagte Edward. »Er will einfach nicht in meine Nähe kommen. Die Feindschaft ist zu tief verwurzelt.«

»Das ist doch idiotisch. Er weiß, dass du nicht … wie andere Vampire bist.«

»Dennoch gibt es guten Grund, auf Abstand zu bleiben.«

Ich starrte blind aus dem Fenster und sah nur Jacobs Gesicht vor mir, das zu der bitteren Maske verzerrt war, die ich so hasste.

»Bella, wir sind, was wir sind«, sagte Edward ruhig. »Ich kann mich beherrschen, doch ich bezweifle, dass er es kann. Er ist noch sehr jung. Es würde sehr wahrscheinlich in einen Kampf ausarten, und ich weiß nicht, ob ich aufhören könnte, bevor ich ihn um…« Er brach ab und fuhr dann schnell fort: »Bevor ich ihn verletze. Das würdest du mir nicht verzeihen. Ich will nicht, dass das passiert.«

Ich dachte daran, was Jacob damals in der Küche zu mir gesagt hatte, ich hatte seine heisere Stimme genau im Ohr. Ich weiß nicht, ob ich mich genügend in der Gewalt habe … du wärst wahrscheinlich auch nicht begeistert, wenn ich deine Freundin umbringen würde. Aber damals hatte er sich in der Gewalt gehabt …

»Edward Cullen«, flüsterte ich. »Wolltest du gerade sagen bevor ich ihn umbringe? Wolltest du das sagen?«

Er wandte den Blick ab und starrte in den Regen. Die rote Ampel vor uns, die ich gar nicht bemerkt hatte, schaltete auf Grün, und er fuhr weiter, ganz langsam. Nicht so wie sonst.

»Ich würde … mir alle Mühe geben … das nicht zu tun«, sagte er schließlich.

Ich starrte ihn mit offenem Mund an, doch er starrte weiter geradeaus. Wir standen vor einem Stoppschild.

Auf einmal fiel mir ein, was mit Paris passiert, als Romeo zurückkommt. Die Regieanweisung war einfach: Sie fechten. Paris fällt.

Aber das war lächerlich. Ausgeschlossen.

Ich holte tief Luft und schüttelte den Kopf, um die Worte aus meinem Kopf zu vertreiben. »So was wird nicht passieren, es gibt also keinen Grund, sich darüber Sorgen zu machen. Und du weißt, dass Charlie jetzt schon auf die Uhr schaut. Bring mich lieber nach Hause, bevor ich zu spät komme und noch mehr Ärger kriege.«

Ich wandte ihm das Gesicht zu und lächelte halbherzig.

Jedes Mal, wenn ich sein Gesicht sah, dieses unglaublich vollkommene Gesicht, schlug mein Herz fest und gesund in meiner Brust. Diesmal raste es noch schneller als sonst. Der Ausdruck in seinem statuenhaften Gesicht kam mir nur allzu bekannt vor.

»Du hast bereits noch mehr Ärger, Bella«, flüsterte er mit unbewegten Lippen.

Ich rückte näher zu ihm heran und klammerte mich an seinen Arm, während ich seinem Blick folgte. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte – vielleicht Victoria mitten auf der Straße, ihr flammend rotes Haar flatternd im Wind, oder eine Reihe Vampire in schwarzen Umhängen … oder ein Rudel wütender Werwölfe. Aber ich sah überhaupt nichts.

»Was ist? Was ist los?«

Er holte tief Luft. »Charlie …«

»Dad!«, kreischte ich.

Jetzt sah er mich an, und sein Blick war immerhin so ruhig, dass sich meine Panik ein wenig legte.

»Charlie … wird dich wahrscheinlich nicht umbringen, aber er denkt darüber nach«, sagte Edward. Er fuhr wieder los, bog in unsere Straße ein, fuhr jedoch an unserem Haus vorbei und parkte den Wagen am Waldrand.

»Was hab ich getan?«, fragte ich atemlos.

Edward schaute schnell zurück zum Haus. Ich folgte seinem Blick, und erst jetzt sah ich, was da neben dem Streifenwagen parkte. Glänzend, knallrot, unübersehbar. Es war mein Motorrad, das in der Einfahrt prangte.

Edward hatte gesagt, dass Charlie mich am liebsten umbringen würde, also wusste er es – dass es meins war. Und es gab nur einen, der hinter diesem Verrat stecken konnte.

»Nein!«, stieß ich hervor. »Warum? Warum sollte Jacob mir das antun?« Ich konnte nicht fassen, dass er mir so in den Rücken gefallen war. Ich hatte ihm blind vertraut, er kannte alle meine Geheimnisse. Er war mein sicherer Hafen gewesen – derjenige, auf den ich immer zählen konnte. Natürlich wusste ich, dass er im Moment nicht gut auf mich zu sprechen war, aber ich hatte nicht gedacht, dass das die Grundlage unserer Freundschaft betraf. Die hatte ich für unerschütterlich gehalten!

Womit hatte ich das verdient? Charlie würde ausrasten – und, noch schlimmer, er würde sich hintergangen fühlen und sich Sorgen machen. Als ob er nicht schon genug am Hals hätte! So etwas Kleinliches und Gemeines hätte ich Jake nie zugetraut. Brennende Tränen sprangen mir in die Augen, aber es waren keine Tränen der Trauer. Ich war betrogen worden. Plötzlich war ich so wütend, dass mein Schädel pochte, als würde er gleich platzen.

»Ist er noch da?«, zischte ich.

»Ja. Er wartet auf uns«, sagte Edward und nickte zu dem schmalen Weg, der den dunklen Saum des Waldes zweiteilte.

Ich sprang aus dem Wagen und stürmte in Richtung der Bäume, die Fäuste bereits zum Schlag geballt.

Warum war Edward nur so viel schneller als ich?

Er fasste mich um die Taille, ehe ich den Weg erreicht hatte.

»Lass mich! Ich bringe ihn um! Dieser Verräter!«, rief ich in Richtung der Bäume.

»Charlie kann dich hören«, warnte Edward mich. »Und wenn du erst mal im Haus bist, mauert er womöglich die Tür zu.«

Automatisch drehte ich mich um, und alles, was ich sah, war das glänzend rote Motorrad. Ich sah buchstäblich rot. Mein Schädel fing wieder an zu pochen.

»Gib mir nur eine Runde mit Jacob, dann kümmere ich mich um Charlie.« Vergeblich versuchte ich mich zu befreien.

»Jacob Black will mich treffen. Deshalb ist er noch hier.«

Sofort hielt ich inne, meine Kampfeslust wurde im Keim erstickt. Meine Hände wurden schlaff. Sie fechten. Paris fällt.

Ich war zwar wütend, aber so wütend doch nicht.

»Um mit dir zu reden?«, fragte ich.

»Mehr oder weniger.«

»Wie viel mehr?« Meine Stimme bebte.

Edward strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Keine Sorge, er will nicht mit mir kämpfen. Er ist hier als … Sprecher des Rudels.«

»Ach so.«

Edward schaute wieder zum Haus, dann umfasste er mich fester und zog mich zum Wald. »Komm, wir müssen uns beeilen. Charlie wird ungeduldig.«

Wir brauchten nicht weit zu gehen; Jacob wartete nur ein kleines Stück oberhalb des Weges. Er lehnte an einem moosbewachsenen Baumstamm und wartete mit hartem, verbittertem Gesicht, genau wie ich es mir vorgestellt hatte. Er schaute erst mich an, dann Edward. Jacob verzog verächtlich den Mund und kam uns ein paar Schritte entgegen. Er stellte sich auf die Ballen seiner bloßen Füße und beugte sich leicht vor, die zitternden Hände zu Fäusten geballt. Er sah größer aus als bei unserer letzten Begegnung. Es war unglaublich, aber offenbar wuchs er immer noch. Wenn er neben Edward stünde, würde er ihn weit überragen.

Doch sobald wir Jacob sahen, blieb Edward stehen, so dass wir weit voneinander entfernt standen. Edward drehte sich zu ihm und schob mich hinter sich. Ich schaute an ihm vorbei zu Jacob – um ihn anklagend anzusehen.

Ich hätte gedacht, dass es mich nur noch wütender machen würde, seine aufgebrachte, zynische Miene zu sehen. Stattdessen fühlte ich mich an unser letztes Treffen erinnert, als er Tränen in den Augen gehabt hatte. Mein Zorn legte sich und verrauchte schließlich, während ich Jacob anstarrte. Es war so lange her, dass ich ihn gesehen hatte – es war schrecklich, dass unser Wiedersehen so sein sollte.

»Bella«, sagte Jacob zur Begrüßung und nickte einmal in meine Richtung, ohne Edward aus den Augen zu lassen.

»Warum?«, flüsterte ich und versuchte normal zu sprechen, obwohl ich einen Kloß im Hals hatte. »Wie konntest du mir das antun, Jacob?«

Der höhnische Ausdruck verschwand, doch seine Miene blieb hart und unbewegt. »Es ist besser so.«

»Was soll das denn heißen? Willst du, dass Charlie mich erwürgt? Oder soll er einen Herzinfarkt kriegen wie Harry? Du kannst ja noch so wütend auf mich sein, aber wie konntest du ihm das antun?«

Jacob zuckte zusammen, aber er gab keine Antwort.

»Er wollte niemandem wehtun – er wollte nur, dass du Hausarrest bekommst, damit du nicht mit mir zusammen sein kannst«, murmelte Edward und erklärte damit Jacobs unausgesprochene Gedanken.

Als Jacob Edward wieder anstarrte, sprühten seine Augen vor Hass.

»Ach, Jake«, stöhnte ich. »Ich hab doch schon Hausarrest! Was glaubst du, weshalb ich nicht nach La Push gekommen bin, um dich dafür in den Hintern zu treten, dass du nicht ans Telefon gehst?«

Jacobs Blick huschte wieder zu mir, zum ersten Mal sah er irritiert aus. »Deshalb?«, fragte er und presste dann die Lippen zusammen, als bereute er, etwas gesagt zu haben.

»Er dachte, ich wäre derjenige, der dich nicht gehen lässt«, erklärte Edward.

»Hör auf damit«, fuhr Jacob ihn an.

Edward gab keine Antwort.

Jacob schauderte einmal, dann biss er die Zähne fest zusammen und ballte die Fäuste. »Bella hat nicht übertrieben, was deine … Talente angeht«, sagte er zwischen den Zähnen. »Dann weißt du also schon, warum ich hier bin.«

»Ja«, sagte Edward leise. »Aber bevor du anfängst, muss ich etwas sagen.«

Jacob wartete, ballte abwechselnd die Fäuste und streckte die Finger, während er die Zuckungen in seinen Armen zu beherrschen versuchte.

»Danke«, sagte Edward, und seine Stimme bebte vor feierlichem Ernst. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin. Ich werde bis zum Ende meines … Daseins in deiner Schuld stehen.«

Jacob starrte ihn verdutzt an, seine Schultern waren vor Überraschung erstarrt. Er warf mir einen schnellen Blick zu, aber ich verstand genauso wenig wie er.

»Du hast dafür gesorgt, dass Bella am Leben geblieben ist«, erklärte Edward. Seine Stimme war rau und voller Inbrunst. »Als ich … es nicht getan habe.«

»Edward …«, setzte ich an, doch er hob eine Hand und sah Jacob an.

Einen kurzen Augenblick sah Jacob erstaunt aus, dann begriff er, was Edward meinte, und sein Gesicht verwandelte sich wieder in die harte Maske. »Das hab ich nicht für dich getan.«

»Ich weiß. Doch das ändert nichts daran, dass ich Dankbarkeit empfinde. Ich dachte, das solltest du wissen. Wenn es irgendetwas gibt, das in meiner Macht steht …«

Jacob hob eine Braue.

Edward schüttelte den Kopf. »Das steht nicht in meiner Macht.«

»In wessen dann?«, knurrte Jacob.

Edward schaute zu mir. »In ihrer. Ich lerne schnell, Jacob Black, und ich mache nicht zweimal denselben Fehler. Ich werde so lange hier sein, bis sie mich fortschickt.«

Für einen Augenblick war ich in seinen goldenen Blick eingetaucht. Es war nicht schwer zu erraten, was ich in dem Gespräch nicht mitbekommen hatte. Das Einzige, was Jacob von Edward wollte, war, dass er verschwand.

»Niemals«, flüsterte ich, immer noch in Edwards Blick versunken.

Jacob stieß einen würgenden Laut aus.

Widerstrebend löste ich mich von Edwards Blick und sah Jacob stirnrunzelnd an. »Wolltest du sonst noch irgendwas, Jacob? Du wolltest, dass ich Ärger kriege – sieht so aus, als hätte das geklappt. Charlie könnte mich ebenso gut ins Kloster schicken. Aber trotzdem wird er mich nicht von Edward trennen. Nichts kann uns trennen. Was willst du also noch?«

Jacob hatte den Blick immer noch auf Edward geheftet. »Ich wollte deine blutsaugenden Freunde nur an ein paar zentrale Punkte in dem Vertrag erinnern, dem sie zugestimmt haben. Nur dieser Vertrag hält mich davon ab, ihm auf der Stelle die Kehle durchzubeißen.«

»Wir haben ihn nicht vergessen«, sagte Edward, und gleichzeitig fragte ich: »Was für zentrale Punkte?«

Jacob starrte immer noch Edward an, aber er antwortete mir. »Der Vertrag ist ziemlich konkret. Wenn einer von ihnen einen Menschen beißt, ist der Waffenstillstand beendet. Beißt, nicht tötet«, betonte er. Schließlich schaute er mich an. Sein Blick war kalt.

Ich brauchte nur eine Sekunde, um den Unterschied zu begreifen, und dann schaute ich ebenso kalt zurück.

»Das geht dich überhaupt nichts an.«

»Und ob mich …«, stieß er hervor, dann versagte seine Stimme.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich mit meiner übereilten Äußerung eine so starke Reaktion hervorrufen würde. Auch wenn er gekommen war, um Edward zu warnen, hatte er das offenbar für eine reine Vorsichtsmaßnahme gehalten. Er hatte nicht gewusst – oder er wollte nicht wahrhaben –, dass ich mich bereits entschieden hatte. Dass ich für immer zu den Cullens gehören wollte.

Meine Antwort ließ Jacob am ganzen Körper zittern. Er presste die Fäuste fest an die Schläfen, kniff die Augen zu und krümmte sich zusammen, um die Krämpfe unter Kontrolle zu halten. Sein Gesicht wurde fahlgrün unter der rostbraunen Haut.

»Jake? Geht es?«, fragte ich besorgt.

Ich machte einen halben Schritt auf ihn zu, dann hielt Edward mich fest und riss mich wieder hinter sich. »Vorsicht! Er hat sich nicht in der Gewalt!«, sagte er warnend.

Doch Jacob war wieder einigermaßen bei sich, nur seine Arme zitterten noch. Hasserfüllt sah er Edward an. »Bah! Ich würde ihr nie etwas tun.«

Weder Edward noch mir entgingen die Betonung und der implizite Vorwurf. Ein leises Zischen entfuhr Edward. Automatisch ballte Jacob die Hände.

»BELLA!«, brüllte Charlie vom Haus her. »KOMM SOFORT REIN

Wir alle erstarrten und lauschten auf die Stille, die folgte.

Ich war die Erste, die wieder sprach, meine Stimme zitterte. »Mist.«

Die Wut verschwand aus Jacobs Gesicht. »Das tut mir wirklich leid«, murmelte er. »Ich musste es einfach tun – ich musste versuchen …«

»Vielen Dank auch.« Das Zittern in meiner Stimme machte den Sarkasmus zunichte. Ich starrte auf den Weg und war halb darauf gefasst, Charlie wie einen wütenden Stier durch den nassen Farn trampeln zu sehen. Ich wäre dann das rote Tuch.

»Nur eines noch«, sagte Edward zu mir, dann schaute er Jacob an. »Auf unserer Seite der Grenze haben wir keine Spur von Victoria gefunden – und ihr?«

Er kannte die Antwort, sobald sie in Jacobs Gedanken war, aber Jacob sprach sie trotzdem aus. »Zuletzt, als Bella … weg war. Wir haben so getan, als könnte sie durch unseren Ring hindurch – dabei haben wir sie immer enger eingekreist, um sie aus dem Hinterhalt zu überfallen …«

Es lief mir eiskalt über den Rücken.

»Aber dann ist sie weg wie ein geölter Blitz. Soweit wir sagen können, hat sie die Fährte der kleinen Schwarzhaarigen aufgenommen und ist abgezischt. Seitdem ist sie nicht wieder in die Nähe unseres Gebiets gekommen.«

Edward nickte. »Sollte sie zurückkommen, ist sie nicht mehr euer Problem. Wir werden …«

»Sie hat in unserem Revier gemordet«, zischte Jacob. »Sie gehört uns!«

»Nein …«, widersprach ich beiden.

»BELLA! ICH SEHE SEINEN WAGEN UND ICH WEISS, DASS DU DA BIST! WENN DU NICHT IN EINER SEKUNDE IM HAUS BIST …!« Charlie machte sich nicht die Mühe, die Drohung zu Ende zu sprechen.

»Komm«, sagte Edward.

Verzweifelt schaute ich zurück zu Jacob. Ob ich ihn je wiedersehen würde?

»Tut mir leid«, flüsterte er so leise, dass ich seine Lippen lesen musste, um ihn zu verstehen. »Leb wohl, Bella.«

»Du hast es versprochen«, erinnerte ich ihn. »Wir sind immer noch Freunde, oder?«

Jacob schüttelte langsam den Kopf, und ich glaubte an dem Kloß in meinem Hals zu ersticken.

»Du weißt, dass ich versucht habe, das Versprechen zu halten, aber … jetzt weiß ich nicht mehr, wie ich es versuchen soll. Nicht jetzt …« Er kämpfte, um die harte Maske aufrechtzuerhalten, aber sie bröckelte und fiel schließlich ganz. »Du wirst mir fehlen«, sagte er lautlos. Er streckte eine Hand nach mir aus, die Finger lang gestreckt, als wünschte er, sie könnten den Abstand zwischen uns überbrücken.

»Du mir auch«, brachte ich heraus. Ich streckte ihm die Hand entgegen.

Als wären wir miteinander verbunden, spürte ich das Echo seines Schmerzes in meinem Körper. Sein Schmerz war mein Schmerz.

»Jake …« Ich machte einen Schritt auf ihn zu. Ich wollte die Arme um seine Mitte schlingen und den unglücklichen Ausdruck von seinem Gesicht verscheuchen.

Edward zog mich wieder zu sich, um mich aufzuhalten.

»Es ist in Ordnung«, versprach ich ihm und schaute ihn zuversichtlich an. Er würde es verstehen.

Sein Blick war unergründlich, sein Gesicht ausdruckslos. Kalt. »Nein, es ist nicht in Ordnung.«

»Lass sie los«, knurrte Jacob, jetzt wieder voller Zorn. »Sie will doch!« Er machte zwei große Schritte auf uns zu. Vorfreude flammte in seinen Augen auf. Seine Brust schien anzuschwellen, als ein Schaudern hindurchfuhr.

Edward schob mich hinter sich und wirbelte herum, bis er Jacob wieder gegenüberstand.

»Nein! Edward! …!«

»ISABELLA SWAN

»Komm jetzt! Charlie ist stocksauer!« Panik lag in meiner Stimme, aber nicht wegen Charlie. »Beeil dich!«

Ich zog ihn am Arm und er entspannte sich wieder etwas. Langsam führte er mich zurück, ohne Jacob aus den Augen zu lassen.

Jacob schaute uns mit wütender, bitterer Miene an. Die Vorfreude wich aus seinen Augen, und kurz bevor der Wald uns trennte, verzog er schmerzhaft das Gesicht.

Ich wusste, dass dieser Anblick mich verfolgen würde, bis ich ihn wieder lächeln sah.

Und in diesem Moment schwor ich mir, dass ich ihn wieder lächeln sehen würde, und zwar bald. Ich würde einen Weg finden, meinen besten Freund zu behalten.

Edward hielt mich eng umschlungen, und nur deshalb liefen mir die Tränen nicht über die Wangen.

Ich hatte einige ernste Probleme.

Mein bester Freund zählte mich zu seinen Feinden.

Victoria lief immer noch frei herum und brachte alle, die ich liebte, in Gefahr.

Wenn ich nicht bald ein Vampir wurde, würden die Volturi mich umbringen.

Und jetzt sah es so aus, als würden die Quileute das selbst in die Hand nehmen, wenn ich ein Vampir würde – außerdem würden sie versuchen, meine künftige Familie umzubringen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie eine Chance hatten, aber würde mein bester Freund bei diesem Versuch womöglich ums Leben kommen?

Sehr ernste Probleme. Aber warum kamen sie mir alle plötzlich unbedeutend vor, als wir den Wald hinter uns ließen und ich den Ausdruck auf Charlies violettem Gesicht sah?

Edward drückte mich sanft. »Ich bin da.«

Ich holte tief Luft.

Das stimmte. Edward war da, und er hielt mich im Arm.

Solange das so war, konnte ich alles ertragen.

Ich straffte die Schultern und ging weiter, um meine Strafe anzutreten, Edward verlässlich an meiner Seite.