Das Ende
Am nächsten Morgen fühlte ich mich abscheulich. Ich hatte nicht gut geschlafen, mein Arm brannte und der Kopf tat mir weh. Es half auch nicht gerade, dass Edward kühl und distanziert aussah, als er mir schnell einen Kuss auf die Stirn drückte und durchs Fenster verschwand. Der Gedanke an die Zeit, die ich schlafend verbracht hatte, machte mir Angst; ich fürchtete, dass er wieder über Richtig und Falsch nachgedacht hatte, während er mich betrachtet hatte. Durch die Angst wurde das Pochen in meinem Kopf noch heftiger.
Wie üblich wartete Edward vor der Schule auf mich, aber irgendetwas stimmte immer noch nicht. In seinem Blick lag etwas, das ich nicht einordnen konnte und das mir Angst machte. Einerseits wollte ich nicht über den vergangenen Abend reden, andererseits fürchtete ich, dass es vielleicht noch schlimmer war, das Thema zu meiden.
Er öffnete mir die Autotür.
»Wie geht es dir?«
»Super«, log ich und zuckte zusammen, als das Geräusch der zuschlagenden Tür in meinem Kopf widerhallte.
Schweigend gingen wir nebeneinanderher, er passte sich meinen kürzeren Schritten an. Es gab so viele Fragen, die ich gern gestellt hätte, aber die meisten mussten warten, weil sie sich an Alice richteten: Wie ging es Jasper heute Morgen? Was hatten sie besprochen, als ich weg war? Was hatte Rosalie gesagt? Und das Wichtigste, was sah Alice jetzt in ihren merkwürdigen, unvollkommenen Zukunftsvisionen? Konnte sie erraten, was Edward dachte, weshalb er so trübsinnig war? Gab es irgendeine Grundlage für die unbestimmten Ängste, die ich nicht abschütteln konnte?
Der Vormittag zog sich in die Länge. Ich konnte es kaum erwarten, Alice zu sehen, obwohl kein richtiges Gespräch möglich sein würde, solange Edward dabei war. Edward blieb die ganze Zeit reserviert. Ab und zu fragte er nach meinem Arm, und dann log ich.
Normalerweise war Alice mittags vor uns in der Cafeteria, sie musste ja nicht mit einer lahmen Ente wie mir Schritt halten. Aber heute war sie nicht an unserem Tisch, wartete nicht wie sonst mit einem Tablett voller Essen, das sie dann doch nicht anrührte.
Edward sagte nichts dazu, dass sie nicht da war. Ich fragte mich, ob ihr Unterricht länger dauerte – bis ich Conner und Ben sah, die mit ihr in der vierten Stunde Französisch hatten.
»Wo ist Alice?«, fragte ich besorgt.
Edward schaute auf den Müsliriegel, den er langsam zwischen den Fingerspitzen zerrieb, während er antwortete: »Sie ist bei Jasper.«
»Wie geht es ihm?«
»Er ist für eine Weile weggefahren.«
»Was? Wohin?«
Edward zuckte die Schultern. »Irgendwohin.«
»Und Alice auch«, sagte ich in stiller Verzweiflung. Natürlich ging sie mit, wenn Jasper sie brauchte.
»Ja. Sie wird eine Weile fort sein. Sie hat versucht, ihn zu überreden, nach Denali zu fahren.«
In Denali lebte die andere Gruppe außergewöhnlicher Vampire – guter Vampire wie die Cullens. Tanya und ihre Familie. Ich hatte hin und wieder von ihnen gehört. Edward war im letzten Winter zu ihnen geflüchtet, als er es nach meiner Ankunft nicht in Forks aushielt. Und Laurent, der Zivilisierteste aus James’ kleinem Zirkel, war dorthin gefahren, anstatt sich mit James gegen die Cullens zu verbünden. Es war nur logisch, dass Alice Jasper ermutigt hatte, dorthin zu reisen.
Ich schluckte, um den Kloß loszuwerden, den ich auf einmal im Hals hatte. Ich senkte den Kopf und ließ die Schultern hängen. Ich hatte schreckliche Schuldgefühle. Jetzt hatte ich sie auch noch vertrieben, genau wie Rosalie und Emmett. Ich war eine Zumutung.
»Tut dein Arm noch weh?«, fragte er besorgt.
»Wen interessiert schon mein bescheuerter Arm?«, murmelte ich verärgert.
Er antwortete nicht und ich vergrub den Kopf in den Händen.
Gegen Ende des Schultages wurde unser Schweigen langsam albern. Ich hatte wenig Lust, als Erste zu reden, aber offenbar hatte ich keine andere Wahl, wenn ich wollte, dass er wieder mit mir sprach.
»Kommst du später noch vorbei?«, fragte ich, als er mich – schweigend – zu meinem Transporter begleitete. Er kam immer vorbei.
»Später?«
Ich war erleichtert darüber, dass er überrascht wirkte. »Ich muss arbeiten. Mrs Newton hat doch gestern mit mir getauscht, damit ich freihatte.«
»Ach ja«, murmelte er.
»Du kommst doch vorbei, wenn ich zu Hause bin, oder?« Ich war mir plötzlich nicht mehr sicher, und das war ein schreckliches Gefühl.
»Wenn du willst.«
»Ich will immer«, erinnerte ich ihn, vielleicht mit etwas mehr Nachdruck, als es der Situation angemessen war.
Ich rechnete damit, dass er lachen oder zumindest über meine Worte lächeln würde. Aber er reagierte gar nicht.
»Na gut«, sagte er unbeteiligt.
Er gab mir noch einen Kuss auf die Stirn, bevor er die Autotür zuschlug. Dann kehrte er mir den Rücken zu und schritt würdevoll zu seinem Wagen.
Erst als ich vom Parkplatz heruntergefahren war, erfasste mich Panik, und als ich beim Sportgeschäft ankam, konnte ich kaum normal atmen.
Er braucht nur Zeit, sagte ich mir. Er kommt schon darüber hinweg. Er war einfach traurig, dass jetzt alle vier weg waren. Aber Alice und Jasper würden bald wiederkommen und Rosalie und Emmett sicher auch. Wenn es sein musste, würde ich mich in Zukunft von dem großen weißen Haus am Fluss fernhalten – ich würde keinen Fuß mehr dorthin setzen. Das wäre nicht schlimm. Alice könnte ich weiterhin in der Schule sehen. Sie musste ja wieder zur Schule gehen, oder? Und zweifellos würde ich Carlisle regelmäßig in der Notaufnahme begegnen.
Eigentlich war das, was gestern Abend passiert war, nicht der Rede wert. Es war nichts passiert. Ich war hingefallen – das passierte mir ständig. Im Vergleich zu den Ereignissen im letzten Frühjahr war es eine absolute Bagatelle. James hatte mich übel zugerichtet, ich hatte so viel Blut verloren, dass ich fast gestorben wäre – und doch hatte Edward die endlosen Wochen im Krankenhaus viel besser weggesteckt als das hier. Lag es daran, dass es diesmal kein Feind war, vor dem er mich beschützen musste? Dass es sein eigener Bruder war?
Vielleicht wäre es besser, wenn er mit mir fortginge, bevor seine Familie ganz auseinanderbrach. Als ich mir vorstellte, wie viel Zeit wir dann für uns allein haben würden, war ich schon etwas weniger deprimiert. Wenn er dieses Schuljahr noch durchhielt, könnte Charlie nichts dagegen sagen. Wir könnten zusammen aufs College gehen oder zumindest so tun, als ob, wie Rosalie und Emmett. Bestimmt konnte Edward noch ein Jahr warten. Was war für einen Unsterblichen schon ein Jahr? Selbst mir kam es nicht besonders lang vor.
Ich sprach mir so lange Mut zu, bis ich in der Lage war, aus dem Wagen zu steigen und ins Geschäft zu gehen. Mike Newton war heute vor mir da, und er lächelte und winkte, als ich hereinkam. Ich nahm meine Arbeitsweste und nickte unbestimmt in seine Richtung. Ich träumte immer noch davon, mit Edward an irgendeinen exotischen Ort zu fliehen.
Mike riss mich aus meinen Träumereien. »Wie war dein Geburtstag?«
»Hmpf«, murmelte ich. »Ich bin froh, dass er vorbei ist.«
Mike schaute mich aus dem Augenwinkel an, als wäre ich verrückt.
Die Arbeit zog sich hin. Ich dachte nur daran, Edward wiederzusehen, und betete, dass er das Schlimmste an dieser Sache, worin sie auch genau bestehen mochte, bis dahin überwunden hätte. Es ist nichts, sagte ich mir immer wieder. Alles wird wieder wie vorher.
Die Erleichterung, die ich empfand, als ich in unsere Straße einbog und Edwards silbernen Wagen vor unserem Haus sah, war überwältigend und berauschend. Und es beunruhigte mich sehr, dass ich so empfand.
Schnell ging ich ins Haus, und noch bevor ich ganz durch die Tür war, rief ich: »Dad? Edward?«
In diesem Moment hörte ich die unverkennbare Titelmelodie einer Sportsendung aus dem Wohnzimmer.
»Wir sind hier«, rief Charlie.
Ich hängte meinen Regenmantel an den Haken und ging schnell um die Ecke.
Edward saß im Sessel, mein Vater auf dem Sofa. Beide hatten den Blick auf den Fernseher geheftet. Bei meinem Vater war das normal. Nicht so bei Edward.
»Hallo«, sagte ich schwach.
»Hallo, Bella«, sagte mein Vater, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. »Wir haben gerade kalte Pizza gegessen. Ich glaube, es steht noch was auf dem Tisch.«
»Gut.«
Ich wartete in der Tür. Endlich schaute Edward mit einem höflichen Lächeln zu mir herüber. »Ich komme gleich nach«, versprach er. Dann schaute er wieder zum Fernseher.
Ich blieb noch einen Moment stehen und starrte ihn geschockt an. Keiner von beiden schien es zu bemerken. Ich spürte so etwas wie Panik in mir aufsteigen und floh in die Küche.
Die Pizza interessierte mich nicht. Ich setzte mich auf einen Stuhl, zog die Knie ans Kinn und schlang die Arme um die Beine. Irgendetwas war völlig verkehrt, vielleicht noch verkehrter, als ich ahnte. Immer noch hörte man den Fernseher im Hintergrund laufen.
Ich versuchte die Fassung zurückzugewinnen und ruhig nachzudenken. Was ist das Schlimmste, was passieren kann?, dachte ich. Bei der Vorstellung zuckte ich zusammen. Das war eindeutig die falsche Frage. Es kostete mich große Anstrengung, richtig zu atmen.
Okay, dachte ich, was ist das Schlimmste, was ich überleben kann? Diese Frage gefiel mir auch nicht besonders. Aber ich ging die Alternativen durch, die ich heute erwogen hatte.
Mich von Edwards Familie fernhalten. Er würde sicher nicht erwarten, dass das auch Alice betraf. Aber wenn Jasper tabu war, könnte ich auch nicht mehr so viel Zeit mit ihr verbringen. Ich nickte – damit könnte ich leben.
Oder weggehen. Vielleicht wollte er nicht bis zum Ende des Schuljahrs warten, vielleicht musste es sofort sein.
Vor mir auf dem Tisch lagen die Geschenke von Charlie und Renée noch so, wie ich sie ausgepackt hatte; die Kamera von Charlie, die ich bei den Cullens gar nicht hatte ausprobieren können, und daneben das Album von meiner Mutter. Ich strich über den schönen Einband und seufzte beim Gedanken an sie. Die lange Zeit ohne sie, die schon hinter mir lag, machte den Gedanken an eine noch längere Trennung keineswegs leichter. Und Charlie würde ganz einsam und allein zurückbleiben. Beide wären schrecklich verletzt …
Aber wir würden doch wiederkommen, oder? Wir würden sie natürlich besuchen, nicht wahr?
Ich war mir nicht sicher, wie die Antwort auf diese Fragen lautete.
Ich legte eine Wange ans Knie und starrte auf die Geschenke meiner Eltern. Ich hatte ja von Anfang an gewusst, dass es nicht immer einfach sein würde, mit Edward zusammen zu sein. Und schließlich dachte ich gerade über das Worst-Case-Szenario nach, über das Allerschlimmste, was ich überleben könnte …
Wieder berührte ich das Album und schlug die erste Seite auf. Dort waren schon kleine Fotoecken für das erste Bild eingeklebt. So schlecht war die Idee gar nicht, ein paar Erinnerungen an mein Leben hier festzuhalten. Ich verspürte den seltsamen Drang, direkt loszulegen. Vielleicht blieb ich ja nicht mehr lange in Forks.
Ich spielte mit der Handschlaufe an der Kamera und dachte über das erste Foto auf dem Film nach. War es möglich, dass es ihm ähnlich sah? Ich konnte es mir kaum vorstellen. Aber er schien nicht zu befürchten, dass nichts drauf sein könnte. Ich kicherte beim Gedanken an sein sorgloses Lachen gestern Abend. Doch dann blieb mir das Kichern im Hals stecken. So vieles hatte sich geändert, so plötzlich. Mir wurde ein bisschen schwindlig davon, als stünde ich am Rand einer viel zu hohen Klippe.
Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken. Ich schnappte mir die Kamera und ging die Treppe hoch.
Eigentlich hatte sich mein Zimmer in den siebzehn Jahren, die meine Mutter jetzt schon weg war, nicht sonderlich verändert. Die Wände waren immer noch hellblau, vor dem Fenster hingen dieselben vergilbten Spitzengardinen. Statt des Kinderbettchens stand da jetzt ein richtiges Bett, aber meine Mutter würde die Decke wiedererkennen, die nachlässig darübergeworfen war – ein Geschenk meiner Großmutter.
Trotzdem machte ich ein Foto von meinem Zimmer. Heute Abend konnte ich nicht viel anderes aufnehmen – draußen war es zu dunkel –, und das Gefühl wurde immer stärker, es war jetzt fast ein Zwang. Bevor ich Forks verlassen musste, wollte ich alles festhalten.
Etwas würde sich verändern. Das spürte ich genau. Es war keine angenehme Aussicht, nicht jetzt, da alles gerade genau so war, wie es sein sollte.
Ich ließ mir Zeit, als ich mit der Kamera in der Hand wieder hinunterging. Ich versuchte das Flattern im Bauch zu ignorieren, das sich einstellte, als ich an die eigenartige Distanz in Edwards Blick dachte. Er würde darüber hinwegkommen. Wahrscheinlich machte er sich Sorgen, dass ich mich aufregen würde, wenn er mich bat, mit ihm wegzugehen. Ich würde ihm Zeit lassen, alles zu verarbeiten, ohne mich einzumischen. Und wenn er mich dann fragte, war ich vorbereitet.
Ich hatte die Kamera gezückt, als ich heimlich um die Ecke schaute. Ich war mir sicher, dass ich Edward nicht überrumpeln konnte, doch er schaute nicht auf. Ich schauderte kurz, als ob eine eiskalte Hand nach meinem Herzen griffe, ich versuchte sie zu ignorieren und knipste das Foto.
In dem Moment schauten sie beide zu mir. Charlie runzelte die Stirn. Edwards Miene war leer und ausdruckslos.
»Was soll das, Bella?«, beschwerte sich Charlie.
»Ach, komm schon.« Ich zwang mich zu lächeln, als ich mich vor dem Sofa auf den Boden setzte. »Du kennst doch Mom. Bestimmt ruft sie bald an und will wissen, ob ich meine Geschenke auch benutze. Also muss ich schnell loslegen, damit sie nicht beleidigt ist.«
»Aber warum musst du unbedingt mich fotografieren?«, grummelte er.
»Weil du so gut aussiehst«, sagte ich betont locker. »Außerdem hast du mir die Kamera geschenkt, da musst du dich auch als Objekt zur Verfügung stellen.«
Er nuschelte irgendwas Unverständliches.
»Hey, Edward«, sagte ich scheinbar gleichgültig. »Mach doch mal eins von Dad und mir zusammen.«
Ich warf ihm die Kamera zu, wobei ich seinem Blick angestrengt auswich, und kniete mich neben die Sofalehne. Charlie seufzte.
»Dann musst du aber mal lächeln, Bella«, murmelte Edward.
Ich gab mein Bestes, und dann leuchtete der Blitz auf.
»Los, ich mach mal eins von euch beiden«, schlug Charlie vor. Ich wusste, dass er nur von sich selbst ablenken wollte.
Edward stand auf und warf ihm lässig die Kamera zu.
Ich stellte mich neben Edward, und es kam mir merkwürdig gezwungen vor. Er legte mir eine Hand leicht auf die Schulter und ich legte ihm den Arm fest um die Mitte. Ich hätte ihm gern ins Gesicht gesehen, aber ich traute mich nicht.
»Lächeln, Bella«, mahnte Charlie mich wieder.
Ich holte tief Luft und lächelte. Dann wurde ich vom Blitz geblendet.
»Das reicht für heute Abend«, sagte Charlie, schob die Kamera in eine Ritze zwischen den Sofakissen und setzte sich darauf. »Du musst heute ja nicht den ganzen Film vollknipsen.«
Edward ließ die Hand von meiner Schulter sinken und wand sich beiläufig aus meiner Umarmung. Dann setzte er sich wieder in den Sessel.
Ich zögerte und setzte mich wieder neben das Sofa. Plötzlich hatte ich solche Angst, dass meine Hände zitterten. Ich presste sie an den Bauch, um sie zu verstecken, legte das Kinn auf die Knie und starrte auf den Bildschirm, ohne etwas zu sehen.
Als die Sendung zu Ende war, hatte ich mich keinen Millimeter vom Fleck bewegt. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Edward sich erhob.
»Ich fahre dann mal«, sagte er.
Charlie schaute nicht von der Werbung auf. »Tschüss.«
Ungelenk stand ich auf – ich war steif vom langen Stillsitzen – und begleitete Edward zur Tür hinaus. Er steuerte direkt auf seinen Wagen zu.
»Bleibst du noch?«, fragte ich ohne Hoffnung in der Stimme.
Ich hatte mit seiner Antwort gerechnet, deshalb tat es nicht ganz so weh.
»Heute nicht.«
Ich fragte nicht, warum.
Er stieg ein und fuhr davon, während ich reglos dastand. Ich merkte kaum, dass es regnete. Ich wartete, ohne zu wissen, worauf, bis die Tür hinter mir aufging.
»Bella, was machst du denn da?«, fragte Charlie, der sich wunderte, dass ich allein und triefnass dastand.
»Nichts.« Ich drehte mich um und schlich zurück ins Haus.
Es war eine lange Nacht, in der ich kaum Ruhe fand.
Sobald es anfing zu dämmern, stand ich auf. Mechanisch zog ich mich für die Schule an und wartete darauf, dass die Wolken heller wurden. Als ich eine Schale Cornflakes gegessen hatte, entschied ich, dass es hell genug war, um Fotos zu machen. Ich knipste meinen Transporter und die Vorderseite des Hauses. Dann machte ich noch ein paar Aufnahmen von dem Wald hinterm Haus. Komischerweise kam er mir heute gar nicht so düster vor wie sonst. Mir wurde klar, dass er mir fehlen würde – das Grün, die Zeitlosigkeit, das Geheimnis des Waldes. All das.
Ich packte die Kamera in die Schultasche und fuhr los. Ich versuchte mich auf mein neues Projekt zu konzentrieren und nicht darüber nachzudenken, ob Edward in der vergangenen Nacht über die Sache hinweggekommen war oder nicht.
Ich hatte nicht nur Angst, ich war auch ungeduldig. Wie lange sollte das dauern?
Es dauerte den ganzen Vormittag. Er ging schweigend neben mir her, ohne mich richtig anzuschauen. Ich versuchte mich auf den Unterricht zu konzentrieren, aber selbst Englisch konnte mich nicht fesseln. Mr Berty musste seine Frage nach Lady Capulet zweimal wiederholen, bis ich merkte, dass ich dran war. Edward sagte mir die richtige Antwort vor, dann ignorierte er mich wieder.
Beim Mittagessen ging das Schweigen weiter. Ich hätte jeden Moment losschreien können, und um mich abzulenken, beugte ich mich über die unsichtbare Grenze am Tisch und sprach Jessica an.
»He, Jess!«
»Was gibt’s, Bella?«
»Kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte ich und fasste in meine Tasche. »Meine Mutter möchte, dass ich Fotos von meinen Freunden mache. Knips mal ein paar Bilder von allen Leuten, ja?«
Ich reichte ihr die Kamera.
»Klar.« Grinsend drehte sie sich um und machte einen Schnappschuss von Mike mit vollem Mund.
Wie zu erwarten, folgte nun die reinste Fotoschlacht. Ich sah, wie sie die Kamera herumreichten, wie sie kicherten und flirteten und sich darüber beschwerten, dass sie fotografiert wurden. Es kam mir ziemlich kindisch vor. Aber vielleicht war ich heute nur nicht in der Stimmung für Leute, die sich ganz normal benahmen.
»Oh-oh«, sagte Jessica entschuldigend, als sie mir die Kamera wiedergab. »Ich glaub, wir haben den ganzen Film verballert.«
»Schon in Ordnung. Ich hatte schon alles fotografiert, was ich wollte.«
Nach der Schule begleitete Edward mich schweigend zum Parkplatz. Ich musste heute wieder arbeiten, und ausnahmsweise war ich froh darüber. Offenbar half es ihm nicht, Zeit mit mir zu verbringen. Vielleicht half es, wenn er allein war.
Auf dem Weg zu Newton’s brachte ich den Film zum Fotogeschäft und holte die Abzüge nach der Arbeit ab. Zu Hause begrüßte ich Charlie nur flüchtig, schnappte mir einen Müsliriegel aus der Küche und sauste mit den Fotos unterm Arm in mein Zimmer.
Ich setzte mich aufs Bett und öffnete den Umschlag mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen. Es war albern, aber irgendwie war ich immer noch halb darauf gefasst, dass auf dem ersten Foto nichts zu sehen sein würde.
Als ich es herausnahm, schnappte ich laut nach Luft. Edward sah genauso schön aus wie in Wirklichkeit. Auf dem Foto schaute er mich mit dem warmen Blick an, den ich in den letzten Tagen vermisst hatte. Es war fast unheimlich, dass jemand so gucken konnte. Nicht mit tausend Worten könnte man dieses Foto beschreiben.
Schnell ging ich den ganzen Stapel einmal durch, dann legte ich drei Fotos nebeneinander aufs Bett.
Das erste Bild war das von Edward in der Küche, nachsichtige Belustigung lag in seinem warmen Blick. Das zweite war das von Edward und Charlie, wie sie die Sportsendung anschauten. Edward sah extrem verändert aus. Sein Blick war vorsichtig, reserviert. Sein Gesicht war immer noch atemberaubend schön, aber kälter, lebloser, eher wie eine Skulptur.
Das letzte war das Bild von Edward und mir, wie wir steif nebeneinanderstanden. Edwards Gesicht war wie auf dem zweiten Bild, kalt und statuenhaft. Aber das war nicht das Schlimmste an diesem Foto. Der Gegensatz zwischen uns beiden stach schmerzlich ins Auge. Er sah aus wie ein junger Gott. Ich sah völlig durchschnittlich aus, selbst für ein menschliches Wesen fast beschämend unauffällig. Angewidert drehte ich das Foto um.
Anstatt Hausaufgaben zu machen, steckte ich die Fotos ins Album. Mit Kugelschreiber schrieb ich Namen und Datum unter jedes Foto. Als ich bei dem Bild von Edward und mir angelangt war, faltete ich es, ohne allzu lange hinzusehen, in der Mitte und steckte es dann ein, mit der Edward-Seite nach oben.
Als ich fertig war, tat ich die übrigen Abzüge – ich hatte alle Fotos zweimal abziehen lassen – in einen Umschlag und schrieb einen langen Dankesbrief an Renée.
Edward war immer noch nicht gekommen. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass ich seinetwegen so lange aufblieb, aber natürlich war es so. Ich versuchte mich zu erinnern, wann er das letzte Mal weggeblieben war, ohne sich zu entschuldigen, ohne anzurufen … Es war noch nie vorgekommen.
Wieder eine Nacht, in der ich schlecht schlief.
In der Schule wiederholte sich das stumme, frustrierende, grässliche Muster der letzten beiden Tage. Als ich Edward auf dem Parkplatz warten sah, war ich noch erleichtert, aber das legte sich schnell. Er war unverändert, womöglich noch distanzierter.
Ich konnte mich kaum noch an den Grund für diese verkorkste Situation erinnern. Mein Geburtstag kam mir endlos lang her vor. Wenn Alice bloß wiederkommen würde, und zwar bald. Bevor die Sache noch mehr aus dem Ruder lief.
Aber darauf konnte ich nicht zählen. Wenn ich heute nicht endlich richtig mit Edward reden konnte, würde ich morgen zu Carlisle gehen, beschloss ich. Irgendwas musste ich einfach unternehmen.
Nach der Schule würden Edward und ich uns aussprechen, das nahm ich mir fest vor. Ich würde keine Ausrede akzeptieren.
Er begleitete mich zu meinem Transporter, und ich bereitete mich innerlich darauf vor, eine Aussprache zu verlangen.
»Hast du etwas dagegen, wenn ich heute vorbeikomme?«, fragte er, kurz bevor wir bei meinem Wagen waren, und kam mir damit zuvor.
»Natürlich nicht.«
»Jetzt gleich?«, fragte er und hielt mir die Tür auf.
»Klar.« Ich versuchte gelassen zu bleiben, obwohl mir sein drängender Ton nicht gefiel. »Ich wollte nur unterwegs noch einen Brief an Renée einwerfen. Wir treffen uns dann bei mir.«
Er schaute auf den dicken Briefumschlag, der auf dem Beifahrersitz lag. Plötzlich langte er über meinen Sitz und schnappte sich den Umschlag.
»Ich mache das«, sagte er ruhig. »Dann bin ich immer noch vor dir da.« Er lächelte das schiefe Lächeln, das ich so liebte, aber es war verkehrt. Es erreichte seine Augen nicht.
»Okay«, sagte ich. Es gelang mir nicht, das Lächeln zu erwidern. Er machte die Autotür zu und ging zu seinem Wagen.
Er war tatsächlich schneller als ich. Als ich in die Einfahrt fuhr, parkte er auf Charlies Platz. Das war ein schlechtes Zeichen. Er hatte also nicht vor zu bleiben. Ich schüttelte den Kopf, holte einmal tief Luft und versuchte mir Mut zu machen.
Als ich ausstieg, kam auch er aus seinem Wagen und ging auf mich zu. Er nahm mir die Schultasche ab. Das war normal. Aber dann legte er sie wieder auf den Sitz. Das war nicht normal.
»Komm, wir machen einen Spaziergang«, schlug er mit unbewegter Stimme vor und nahm meine Hand.
Ich antwortete nicht. Mir fiel nicht ein, wie ich hätte widersprechen können, obwohl das mein erster Impuls war. Der Vorschlag gefiel mir nicht. Das ist falsch, das ist vollkommen falsch, sagte die Stimme in meinem Kopf.
Aber er wartete meine Antwort gar nicht ab. Er zog mich zum östlichen Rand des Grundstücks, dorthin, wo es an den Wald grenzte. Widerstrebend folgte ich ihm und versuchte trotz der aufsteigenden Panik klar zu denken. Genau das wollte ich doch, sagte ich mir. Eine Gelegenheit, über alles zu reden. Warum also schnürte die Angst mir die Kehle zu?
Wir waren kaum ein paar Schritte in den Wald gegangen, als er stehen blieb. Wir waren noch gar nicht richtig auf dem Weg – ich konnte das Haus noch sehen. Schöner Spaziergang.
Edward lehnte sich an einen Baum und starrte mich an. Seine Miene war unergründlich.
»Na gut, reden wir«, sagte ich. Das kam entschlossener heraus, als mir zu Mute war.
Er holte tief Luft.
»Bella, wir müssen abreisen.«
Jetzt holte ich auch tief Luft. Das war eine annehmbare Möglichkeit. Darauf war ich vorbereitet. Trotzdem musste ich noch einmal nachfragen.
»Warum jetzt? Noch ein Jahr …«
»Bella, es ist an der Zeit. Wie lange könnten wir noch in Forks bleiben? Carlisle geht kaum für dreißig durch, und jetzt muss er sich schon für dreiunddreißig ausgeben. Wir hätten ohnehin bald wieder neu anfangen müssen.«
Seine Antwort verwirrte mich. Ich dachte, wir müssten abreisen, damit seine Familie in Frieden leben konnte. Wieso mussten wir fort, wenn sie auch wegzogen? Ich starrte ihn an und versuchte seine Worte zu begreifen.
Er starrte mit kaltem Blick zurück.
Als ich begriff, dass ich ihn falsch verstanden hatte, wurde mir übel.
»Wenn du wir sagst …«, flüsterte ich.
»Ich rede von mir und meiner Familie.« Jedes Wort klar und deutlich.
Mechanisch schüttelte ich den Kopf hin und her, als könnte ich ihn auf diese Weise frei bekommen. Er wartete ohne ein Anzeichen von Ungeduld. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich wieder etwas sagen konnte.
»Gut«, sagte ich. »Dann komme ich mit euch.«
»Das geht nicht, Bella. Da, wo wir hingehen … das ist nicht der richtige Ort für dich.«
»Wo du bist, ist immer der richtige Ort für mich.«
»Ich bin nicht gut für dich, Bella.«
»Sei nicht albern.« Das sollte wütend klingen, aber es klang nur flehend. »Du bist das Beste in meinem Leben.«
»Meine Welt ist nichts für dich«, sagte er grimmig.
»Was mit Jasper passiert ist – das war nichts, Edward! Gar nichts!«
»Hm, man hätte auf jeden Fall damit rechnen müssen«, sagte er.
»Du hast es versprochen! In Phoenix hast du versprochen zu bleiben …«
»Solange es gut für dich ist«, korrigierte er mich.
»Nein! Dir geht es um meine Seele, stimmt’s?«, rief ich zornig, die Worte platzten aus mir heraus – aber irgendwie hörte es sich immer noch flehend an. »Carlisle hat mir davon erzählt, aber das ist mir egal, Edward. Es ist mir egal! Du kannst meine Seele haben. Ohne dich will ich sie nicht – sie gehört dir schon jetzt!«
Er holte tief Luft und starrte lange zu Boden. Sein Mund verzog sich ein ganz kleines bisschen. Als er schließlich aufschaute, hatte sein Blick sich verändert, er war jetzt noch härter – als wäre das flüssige Gold gefroren.
»Bella, ich möchte dich nicht dabeihaben.« Er sagte es langsam und betonte jedes einzelne Wort, und dabei sah er mich mit seinem kalten Blick an, während ich die Bedeutung seiner Worte erfasste.
Eine Weile schwiegen wir beide, während ich die Worte in Gedanken mehrmals wiederholte und sie nach ihrem eigentlichen Sinn durchforstete.
»Du … willst mich nicht … haben?« Ich probierte die Worte aus, und es verwirrte mich, wie sie in dieser Reihenfolge klangen.
»Nein.«
Verständnislos starrte ich ihm in die Augen. Er starrte zurück, und nichts Entschuldigendes lag in seinem Blick. Seine Augen waren wie aus Topas – hart und klar und sehr tief. Es kam mir vor, als könnte ich meilenweit in sie hinabblicken, doch nirgends in den bodenlosen Tiefen sah ich etwas, das im Widerspruch zu seinen Worten gestanden hätte.
»Tja, das ändert die Lage.« Es wunderte mich selbst, wie ruhig und vernünftig das herauskam. Wahrscheinlich, weil ich wie betäubt war. Ich begriff nicht, was er mir da sagte. Es war völlig absurd.
Er wandte den Blick ab und schaute in die Bäume, dann sagte er: »Natürlich werde ich dich immer in gewisser Weise lieben. Doch was neulich geschehen ist, hat mir gezeigt, dass sich etwas ändern muss. Denn ich bin … ich bin es leid, immerzu etwas vorgeben zu müssen, was ich nicht bin. Ich bin kein Mensch.« Jetzt schaute er mich wieder an, und die eisige Glätte seines perfekten Gesichts war tatsächlich unmenschlich. »Ich habe das viel zu lange zugelassen, und das tut mir leid.«
»Nein.« Meine Stimme war nur noch ein Flüstern; jetzt drang mir die Wahrheit allmählich ins Bewusstsein und tröpfelte wie Säure durch meine Adern. »Tu das nicht.«
Er sah mich nur an, und sein Blick verriet mir, dass meine Worte viel zu spät kamen. Er hatte es schon getan.
»Du bist nicht gut für mich, Bella.« Jetzt drehte er das, was er vorhin gesagt hatte, um, und darauf konnte ich nichts mehr erwidern. Niemand wusste besser als ich, dass ich nicht gut genug für ihn war.
Ich öffnete den Mund zu einer Antwort und schloss ihn dann wieder. Er wartete geduldig, das Gesicht frei von jeder Gefühlsregung. Ich versuchte es noch einmal.
»Wenn … wenn du es so willst.«
Er nickte.
Mein ganzer Körper wurde taub. Vom Hals an abwärts hatte ich überhaupt kein Gefühl mehr.
»Aber um einen Gefallen möchte ich dich noch bitten, wenn es nicht zu viel verlangt ist«, sagte er.
Ich wusste nicht, was er in meinem Blick gesehen hatte, denn als Reaktion darauf flackerte ganz kurz etwas über sein Gesicht. Doch bevor ich es deuten konnte, waren seine Züge schon wieder zu der unbewegten Maske erstarrt.
»Was du willst«, versprach ich, jetzt mit etwas kräftigerer Stimme.
Als ich ihn ansah, schmolzen seine eisigen Augen. Das Gold wurde wieder flüssig, mit überwältigender Intensität brannte sich sein Blick in meinen.
»Tu nichts Dummes oder Waghalsiges«, befahl er und war auf einmal gar nicht mehr distanziert. »Begreifst du, was ich sage?«
Ich nickte hilflos.
Sein Blick wurde wieder kühl und unnahbar. »Ich denke selbstverständlich an Charlie. Er braucht dich. Pass auf dich auf – ihm zuliebe.«
Wieder nickte ich. »Ja«, flüsterte ich.
Jetzt wirkte er ein kleines bisschen entspannter.
»Und ich verspreche dir im Gegenzug auch etwas«, sagte er. »Ich verspreche dir, dass du mich heute zum letzten Mal siehst. Ich werde nicht zurückkehren. Ich werde dich nicht noch einmal einer solchen Gefahr aussetzen. Du kannst dein Leben ungestört von mir weiterleben. Es wird so sein, als hätte es mich nie gegeben.«
Offenbar hatten meine Knie angefangen zu zittern, denn plötzlich schwankten die Bäume. Ich hörte, dass das Blut schneller als sonst hinter meinen Ohren pulsierte. Seine Stimme klang jetzt weiter weg.
Er lächelte sanft. »Keine Sorge. Du bist ein Mensch – deine Erinnerung ist löchrig wie ein Sieb. Bei euch heilt die Zeit alle Wunden.«
»Und deine Erinnerungen?«, fragte ich. Es hörte sich an, als wäre mir etwas im Hals stecken geblieben, als würde ich ersticken.
»Nun ja« – er zögerte einen kurzen Moment –, »ich werde nichts vergessen. Aber wir … wir finden immer schnell Zerstreuung.« Er lächelte, es war ein stilles Lächeln, das seine Augen nicht erreichte.
Er ging einen Schritt zurück. »Das wäre dann wohl alles. Wir werden dich nicht mehr belästigen.«
Die Tatsache, dass er in der Mehrzahl sprach, ließ mich aufhorchen – dabei hätte ich nicht gedacht, dass ich überhaupt noch irgendetwas bemerken würde.
»Alice kommt nicht mehr wieder«, sagte ich. Ich wusste nicht, wie er mich hören konnte – die Worte kamen lautlos heraus –, doch er schien zu verstehen.
Langsam schüttelte er den Kopf und ließ mein Gesicht dabei nicht aus den Augen.
»Nein. Sie sind alle fort. Ich bin geblieben, um mich von dir zu verabschieden.«
»Alice ist weg?«, fragte ich ungläubig.
»Sie wollte dir auf Wiedersehen sagen, aber ich konnte sie überzeugen, dass ein glatter Bruch besser für dich ist.«
Mir war schwindlig und ich konnte mich kaum konzentrieren. Seine Worte wirbelten in meinem Kopf herum, und ich hatte die Stimme des Arztes im Krankenhaus von Phoenix im Ohr, als er mir im letzten Frühjahr die Röntgenbilder gezeigt hatte. Hier sehen Sie, dass es ein glatter Bruch ist. Dabei war er mit dem Finger über die Aufnahme von meinem verletzten Knochen gefahren. Das ist gut. Heilt leichter und schneller.
Ich versuchte normal zu atmen. Ich musste mich konzentrieren, um aus diesem Albtraum herauszufinden.
»Leb wohl, Bella«, sagte er mit derselben ruhigen, friedlichen Stimme.
»Warte!«, brachte ich mühsam heraus. Ich streckte die Arme nach ihm aus und zwang meine gefühllosen Beine vorwärts.
Einen Moment lang dachte ich, auch er würde die Arme nach mir ausstrecken. Doch seine kalten Hände umfassten meine Handgelenke und drückten meine Arme sanft herunter. Er beugte sich zu mir herab und drückte mir einen ganz leichten, flüchtigen Kuss auf die Stirn. Ich schloss die Augen.
»Pass auf dich auf.« Die Worte waren ein kühler Hauch auf meiner Haut.
Dann erhob sich eine leichte, unnatürliche Brise. Ich riss die Augen auf. Die Blätter eines kleinen Weinblattahorns bebten von dem leichten Wind, den Edward aufgewirbelt hatte.
Er war weg.
Obwohl ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, folgte ich ihm mit wackligen Beinen in den Wald. Seine Spur war augenblicklich ausgelöscht worden. Es gab keine Fußabdrücke, die Blätter waren wieder unbewegt, doch ohne nachzudenken, ging ich weiter. Ich konnte nichts anderes tun, ich musste weitergehen. Wenn ich aufhörte, nach ihm zu suchen, wäre es vorbei.
Die Liebe, das Leben … alles vorbei.
Immer weiter ging ich. Zeit spielte keine Rolle, während ich mich langsam durch das dichte Unterholz zwängte. Stunden schienen zu vergehen, dann wieder nur Sekunden. Die Zeit war wie eingefroren, weil der Wald immer gleich aussah, ganz egal, wie weit ich ging. Ich befürchtete allmählich, dass ich im Kreis lief, noch dazu in einem sehr kleinen Kreis, doch ich ging weiter. Immer wieder strauchelte ich, und je dunkler es wurde, desto häufiger fiel ich hin.
Schließlich stolperte ich – um mich herum war es jetzt so schwarz, dass ich keine Ahnung hatte, woran mein Fuß hängengeblieben war – und blieb liegen. Ich drehte mich auf die Seite, so dass ich atmen konnte, und rollte mich auf dem nassen Farngestrüpp zusammen.
Als ich da lag, hatte ich das Gefühl, dass mehr Zeit vergangen war, als mir bewusst war. Ich hatte keine Ahnung, wie lange der Einbruch der Dunkelheit her war. War es hier nachts immer so dunkel? Bestimmt fand normalerweise ein wenig Mondlicht den Weg durch die Wolken und die Lücken im Blätterdach zum Waldboden.
Nicht so in dieser Nacht. Heute war der Himmel tiefschwarz. Vielleicht gab es heute keinen Mond – eine Mondfinsternis, Neumond.
Neumond. Ich zitterte, obwohl mir nicht kalt war.
Es war lange Zeit schwarz, ehe ich sie rufen hörte.
Jemand rief meinen Namen. Die Rufe wurden durch das nasse Dickicht um mich herum gedämpft, aber ich hörte eindeutig meinen Namen. Die Stimme erkannte ich nicht. Ich überlegte, ob ich antworten sollte, aber ich war zu benommen und es dauerte lange, bis mir klarwurde, dass ich eigentlich antworten müsste. Und da waren die Rufe schon wieder verstummt.
Irgendwann später wurde ich vom Regen geweckt. Ich war wohl nicht richtig eingeschlafen; ich befand mich in einer Art gefühlloser Starre. Ich hielt mit aller Kraft an dem tauben Gefühl fest, das mich davor bewahrte zu begreifen, was ich nicht verstehen wollte.
Der Regen war etwas lästig. Er war kalt. Ich löste die Arme von den Beinen und hielt sie mir übers Gesicht.
In dem Moment hörte ich wieder die Rufe. Diesmal waren sie weiter entfernt, und manchmal klang es, als würden mehrere Stimmen gleichzeitig rufen. Ich versuchte tief zu atmen. Mir fiel wieder ein, dass ich antworten müsste, aber bestimmt würden sie mich gar nicht hören. Ob ich überhaupt laut genug rufen konnte?
Plötzlich war da noch ein anderes Geräusch, erschreckend nah. Eine Art Schnüffeln, das Geräusch eines Tiers. Es hörte sich nach einem großen Tier an. Ich überlegte, ob ich Angst haben müsste. Ich hatte keine Angst, ich war immer noch wie betäubt. Es spielte keine Rolle. Das Schnüffeln verschwand.
Der Regen hörte nicht auf, und ich spürte, wie sich das Wasser unter meiner Wange sammelte. Ich versuchte genug Kraft aufzubringen, um den Kopf zu drehen, als ich das Licht sah.
Zuerst war es nur ein schwacher Schein im fernen Gebüsch. Dann wurde es immer heller, es leuchtete breitflächig, anders als der schmale Strahl einer Taschenlampe. Jetzt drang das Licht durch den nächsten Busch, und ich sah, dass es eine Gaslaterne war, aber mehr sah ich nicht – das helle Licht blendete mich einen Augenblick lang.
»Bella.«
Es war eine tiefe Stimme, die ich noch nie gehört hatte, aber es lag ein Erkennen darin. Der Mann rief meinen Namen nicht suchend; er sprach nur aus, dass er mich gefunden hatte.
Ich schaute nach oben – unendlich hoch kam es mir vor – in das dunkle Gesicht, das ich jetzt über mir sah. Mir war nur undeutlich bewusst, dass der Fremde wahrscheinlich bloß deshalb so groß wirkte, weil ich immer noch am Boden lag.
»Hat dich jemand verletzt?«
Ich wusste, dass die Worte etwas bedeuteten, aber ich konnte nur verwirrt gucken. Was spielte das jetzt für eine Rolle?
»Bella, ich bin Sam Uley.«
Der Name sagte mir nichts.
»Charlie hat mich geschickt, um nach dir zu suchen.«
Charlie? Das erinnerte mich an etwas, und ich versuchte mich zu konzentrieren. Auch wenn alles andere egal war, Charlie nicht.
Der große Mann reichte mir eine Hand. Ich starrte sie an und wusste nicht, was ich damit machen sollte.
Seine schwarzen Augen sahen mich einen Moment lang prüfend an, dann zuckte er die Schultern. Mit einer schnellen, geschmeidigen Bewegung zog er mich hoch und hob mich auf.
Schlaff hing ich in seinen Armen, als er mit schnellen Schritten durch den nassen Wald ging. Ein Teil von mir wusste, dass ich mich darüber aufregen müsste, dass ein Fremder mich wegtrug. Aber in meinem Innern war nichts mehr, das sich hätte aufregen können.
Es kam mir nicht lange vor, bis Lichter da waren und ein Gewirr von tiefen männlichen Stimmen. Sam Uley verlangsamte seinen Schritt, als er sich der Gruppe näherte.
»Ich hab sie!«, rief er dröhnend.
Das Stimmengewirr verstummte, um sich gleich darauf noch heftiger zu erheben. Gesichter beugten sich in einem schwindelerregenden Wirbel über mich. In dem Durcheinander konnte ich nur Sams Stimme einigermaßen verstehen, denn mein Ohr lag an seiner Brust.
»Nein, ich glaube nicht, dass sie verletzt ist«, sagte er zu jemandem. »Sie sagt immer nur ›Er ist weg‹.«
Hatte ich das laut gesagt? Ich biss mir auf die Lippe.
»Bella, Schatz, wie geht es dir?«
Das war die Stimme, die ich überall erkannt hätte – selbst so, vor Sorge verzerrt.
»Charlie?« Meine Stimme klang merkwürdig und klein.
»Ich bin hier, Kleines.«
Etwas Kühles wurde unter mich geschoben, und dann roch ich das Leder der Sheriffjacke meines Vaters. Charlie schwankte unter meinem Gewicht.
»Vielleicht ist es besser, wenn ich sie trage«, schlug Sam Uley vor.
»Ich hab sie schon«, sagte Charlie ein wenig außer Atem.
Er ging langsam und angestrengt. Ich hätte ihn gern gebeten, mich abzusetzen, damit ich selbst gehen könnte, aber ich fand meine Stimme nicht.
Überall waren Laternen, die von den anderen Leuten getragen wurden. Es kam mir vor wie ein Umzug. Oder ein Trauermarsch. Ich schloss die Augen.
»Jetzt sind wir gleich zu Hause, Schatz«, murmelte Charlie von Zeit zu Zeit.
Ich schlug die Augen wieder auf, als ich hörte, wie eine Tür aufgeschlossen wurde. Wir waren auf der Veranda unseres Hauses, und der große dunkle Mann namens Sam hielt Charlie die Tür auf, einen Arm zu uns ausgestreckt, als wollte er mich notfalls auffangen, falls Charlie die Kräfte verließen.
Aber Charlie schaffte es, mich durch die Tür zu tragen und mich aufs Sofa im Wohnzimmer zu legen.
»Dad, ich bin doch klatschnass«, protestierte ich schwach.
»Das macht nichts«, sagte er mit rauer Stimme. Dann sprach er zu jemand anders. »Decken sind im Schrank oben auf der Treppe.«
»Bella?«, sagte eine neue Stimme. Ich sah den grauhaarigen Mann an, der sich über mich beugte, und nach einigen zähen Sekunden erkannte ich ihn.
»Dr. Gerandy?«, murmelte ich.
»Ja«, sagte er. »Bist du verletzt, Bella?«
Ich brauchte eine Weile, um darüber nachzudenken. Die Erinnerung an die Frage von Sam Uley im Wald verwirrte mich. Sams Frage war ähnlich, aber nicht ganz genauso gewesen: Hat dich jemand verletzt?, hatte er gesagt. Der Unterschied kam mir irgendwie bedeutsam vor.
Dr. Gerandy wartete. Eine seiner grauen Augenbrauen hob sich und die Falten auf seiner Stirn vertieften sich.
»Ich bin nicht verletzt«, log ich. So, wie er es meinte, war die Antwort ja richtig.
Er legte mir eine warme Hand auf die Stirn und hielt die Finger an meinen Puls. Ich beobachtete seine Lippen, als er stumm zählte, den Blick auf die Armbanduhr gerichtet.
»Was war los?«, fragte er beiläufig.
Ich erstarrte unter seiner Hand und spürte Panik aufsteigen.
»Hast du dich im Wald verlaufen?«, half er nach. Mir war bewusst, dass noch andere Leute zuhörten. Drei große Männer mit dunklen Gesichtern – vermutlich kamen sie aus La Push, dem Quileute-Indianerreservat an der Küste –, darunter Sam Uley, standen nah beisammen und starrten mich an. Mr Newton war da mit Mike und auch Angelas Vater, Mr Weber; sie schauten mich weniger auffällig an als die Fremden. Aus der Küche und von draußen waren noch mehr tiefe Stimmen zu hören. Offenbar hatte die halbe Stadt nach mir gesucht.
Charlie war mir am nächsten. Er beugte sich vor, um meine Antwort zu hören.
»Ja«, flüsterte ich. »Ich hab mich verlaufen.«
Der Arzt nickte nachdenklich und tastete vorsichtig die Drüsen unter meinem Kinn ab. Charlies Miene wurde hart.
»Bist du müde?«, fragte Dr. Gerandy.
Ich nickte und schloss gehorsam die Augen.
»Ich glaube nicht, dass ihr etwas fehlt«, sagte der Arzt kurz darauf gedämpft zu Charlie. »Sie ist nur erschöpft. Sie soll sich ausschlafen; morgen komme ich dann noch mal vorbei und untersuche sie.« Er schwieg einen Augenblick. Er hatte wohl auf die Uhr geschaut, denn er fügte hinzu: »Oder genauer gesagt heute.«
Das Sofa quietschte, als sie beide aufstanden.
»Stimmt es?«, flüsterte Charlie. Ihre Stimmen waren jetzt weiter weg und schwer zu verstehen. »Sind sie weggezogen?«
»Dr. Cullen hat uns gebeten, nichts zu sagen«, antwortete Dr. Gerandy. »Das Angebot kam ganz überraschend, sie mussten sich sofort entscheiden. Carlisle wollte kein großes Aufheben um seinen Weggang machen.«
»Eine kleine Vorwarnung hätte aber nicht geschadet«, grummelte Charlie.
Dr. Gerandy klang schuldbewusst, als er antwortete: »Ja, hm, in dieser Situation wäre das nicht schlecht gewesen.«
Ich wollte nichts mehr hören. Ich tastete nach dem Rand der Decke, die jemand über mich gelegt hatte, und zog sie mir über die Ohren.
Die Nacht verbrachte ich zwischen Schlafen und Wachen. Ich hörte, wie Charlie sich im Flüsterton bei den freiwilligen Helfern bedankte, die sich einer nach dem anderen verabschiedeten. Ich spürte seine Hand auf meiner Stirn und dann das Gewicht einer zusätzlichen Decke. Mehrmals klingelte das Telefon und er beeilte sich abzunehmen, bevor es mich stören konnte. In gedämpftem Ton beruhigte er die Anrufer.
»Ja, wir haben sie gefunden. Sie hatte sich verlaufen. Jetzt geht es ihr gut«, sagte er immer wieder.
Ich hörte die Sprungfedern des Sessels ächzen, als er sich darin für die Nacht einrichtete.
Ein paar Minuten später klingelte wieder das Telefon.
Stöhnend erhob Charlie sich, und dann stolperte er schnell in die Küche. Ich zog mir die Decke noch weiter über den Kopf, weil ich dasselbe Gespräch nicht noch einmal mit anhören wollte.
»Ja?«, sagte Charlie und gähnte.
Dann veränderte sich seine Stimme; als er jetzt wieder sprach, klang er deutlich wacher. »Wo?« Es folgte eine Pause. »Sind Sie sich sicher, dass es außerhalb des Reservats ist?« Wieder eine kurze Pause. »Aber was soll da denn brennen?« Das klang besorgt und verwundert zugleich. »Wissen Sie was, ich rufe da mal an und erkundige mich, was los ist.«
Als er jetzt eine Nummer wählte, lauschte ich aufmerksamer.
»Hallo, Billy, hier ist Charlie – tut mir leid, dass ich so früh anrufe … nein, es geht ihr gut. Sie schläft … Danke, aber deshalb rufe ich nicht an. Grad hat mich Mrs Stanley angerufen, sie sagt, dass sie aus ihrem Zimmer im ersten Stock Feuer über den Klippen gesehen hat, aber ich hab ihr nicht so richtig … Was!« Plötzlich klang er gereizt, vielleicht sogar verärgert. »Und warum machen die das? Hm-hm. Ach, wirklich?« Das klang sarkastisch. »Na, bei mir brauchst du dich nicht zu entschuldigen. Ja, ja. Stellt einfach sicher, dass sich das Feuer nicht ausbreitet … Ich weiß, ich weiß, es wundert mich, dass sie es bei diesem Wetter überhaupt geschafft haben, die anzuzünden.«
Charlie zögerte, dann fügte er widerstrebend hinzu: »Danke, dass du Sam und die anderen Jungs hochgeschickt hast. Du hattest Recht – sie kennen den Wald wirklich besser als wir. Sam hat sie gefunden, dafür hast du was gut bei mir … Ja, bis später«, sagte er, immer noch aufgebracht, dann legte er auf.
Als er wieder ins Wohnzimmer schlurfte, murmelte Charlie wütend vor sich hin.
»Was ist los?«, fragte ich.
Schnell kam er zu mir.
»Tut mir leid, dass ich dich geweckt hab, Schatz.«
»Brennt es irgendwo?«
»Es ist nichts«, versicherte er mir. »Da haben nur ein paar Leute auf den Klippen Feuer gemacht.«
»Feuer?«, fragte ich. Meine Stimme klang nicht neugierig. Sie klang tot.
Charlie runzelte die Stirn. »Ein paar jugendliche Rowdys aus dem Reservat«, erklärte er.
»Warum?«, fragte ich tonlos.
Ich merkte, dass er nicht antworten wollte. Er schaute zu Boden. »Sie feiern die Neuigkeit.« Bitterkeit lag in seiner Stimme.
Es gab nur eine Neuigkeit, an die ich denken konnte, sosehr ich mich auch dagegen sträubte. Und dann kapierte ich plötzlich. »Weil die Cullens weg sind«, flüsterte ich. »In La Push können sie die Cullens nicht leiden – daran hatte ich nicht mehr gedacht.«
Die Quileute pflegten ihren Aberglauben, und sie betrachteten die kalten Wesen, die Bluttrinker, als Feinde ihres Stammes. Es gab auch Legenden über die Sintflut und über Werwölfe, die ihre Vorfahren gewesen waren. Für die meisten waren das nur Geschichten, Folklore. Aber es gab auch ein paar, die daran glaubten. Charlies guter Freund Billy Black gehörte dazu, obwohl sogar sein Sohn Jacob das Ganze als dummen Aberglauben abtat. Billy hatte mir geraten, mich von den Cullens fernzuhalten …
Der Name wühlte etwas in mir auf, und das Etwas begann sich an die Oberfläche zu graben, doch ich wollte mich ihm nicht stellen.
»Es ist lächerlich«, stieß Charlie hervor.
Eine Weile saßen wir schweigend da. Der Himmel draußen war nicht mehr schwarz. Irgendwo hinter dem Regen ging die Sonne wieder auf.
»Bella?«, sagte Charlie.
Unbehaglich schaute ich ihn an.
»Er hat dich im Wald alleingelassen?«, fragte er.
Ich überging die Frage. »Woher wusstest du, wo du mich findest?« Ich versuchte noch immer vor der unausweichlichen Wahrheit zu fliehen, die mich jetzt schnell einholte.
»Von deinem Zettel«, antwortete Charlie verdutzt. Er fasste in die Hintertasche seiner Jeans und holte ein abgenutztes Stück Papier heraus. Es war schmutzig und feucht und zerknittert vom vielen Auseinander- und wieder Zusammenfalten. Charlie hielt es mir hin. Die krakelige Handschrift sah meiner zum Verwechseln ähnlich.
Bin mit Edward spazieren, auf dem Waldweg, stand darauf. Komme bald wieder, B.
»Als du nicht wiederkamst, hab ich bei den Cullens angerufen, aber da ist niemand ans Telefon gegangen«, sagte Charlie leise. »Dann hab ich im Krankenhaus angerufen, und Dr. Gerandy hat mir erzählt, dass Carlisle weg ist.«
»Wo sind sie hin?«, murmelte ich.
Er starrte mich an. »Hat Edward dir das nicht erzählt?«
Ich schüttelte den Kopf und schauderte. Der Klang seines Namens ließ das Etwas frei, das in meinem Innern wühlte – einen Schmerz, dessen Wucht mich kalt erwischte und der mir schlagartig den Atem raubte.
Charlie schaute mich zweifelnd an. »Carlisle hat eine Stelle an einem großen Krankenhaus in Los Angeles angenommen. Sie haben ihm bestimmt einen Haufen Kohle geboten.«
Das sonnige L.A. Die letzte Stadt, in die sie in Wirklichkeit ziehen würden. Mein Albtraum von dem Spiegel fiel mir wieder ein … das helle Sonnenlicht, das von seiner Haut abstrahlte …
Der Schmerz zerriss mich, als ich sein Gesicht vor mir sah.
»Ich möchte wissen, ob Edward dich mitten im Wald alleingelassen hat«, wiederholte Charlie.
Sein Name ließ mich innerlich wieder vor Qual erbeben. Panisch schüttelte ich den Kopf und versuchte verzweifelt, dem Schmerz zu entkommen. »Es war meine Schuld. Er ist gegangen, als wir auf dem Weg waren, ganz nah am Haus … aber ich wollte ihm hinterhergehen.«
Charlie setzte zu einer Antwort an; wie ein kleines Kind hielt ich mir die Ohren zu. »Ich kann darüber nicht sprechen, Dad. Ich möchte in mein Zimmer.«
Bevor er etwas sagen konnte, rappelte ich mich vom Sofa auf und taumelte zur Treppe.
Jemand war im Haus gewesen und hatte einen Zettel für Charlie geschrieben, damit er mich finden konnte. Als mir das klarwurde, kam mir ein furchtbarer Verdacht. Ich rannte in mein Zimmer, schloss die Tür hinter mir ab und lief zu meinem CD-Player.
Alles sah genauso aus, wie ich es verlassen hatte. Ich drückte oben auf den CD-Player. Der Verschluss ging auf, und langsam hob sich der Deckel des Geräts.
Darin war nichts.
Das Fotoalbum von Renée lag neben dem Bett auf dem Boden, wo ich es zuletzt hingelegt hatte. Mit zitternder Hand schlug ich die erste Seite auf.
Ich brauchte nicht weiterzublättern. Kein Foto steckte mehr in den kleinen Ecken. Die Seite war leer bis auf das, was ich an den unteren Rand geschrieben hatte: Edward Cullen in Charlies Küche, 13. Sept.
Da hörte ich auf. Ich war mir sicher, dass er gründliche Arbeit geleistet hatte.
Es wird so sein, als hätte es mich nie gegeben, das hatte er mir versprochen.
Ich spürte den glatten Holzboden unter den Knien, dann unter den Handflächen und dann an der Wange. Ich hoffte ohnmächtig zu werden, aber zu meiner Enttäuschung verlor ich nicht das Bewusstsein. Die Wellen des Schmerzes, die bis jetzt nur an mir geleckt hatten, erhoben sich jetzt turmhoch, überspülten mich und zogen mich unter Wasser.
Ich tauchte nicht wieder auf.