Nadelstiche
Carlisle bewahrte als Einziger die Ruhe. Seine leise, gebieterische Stimme sprach von jahrhundertelanger Erfahrung in der Notaufnahme.
»Emmett, Rose, bringt Jasper hinaus.«
Emmett lächelte ausnahmsweise einmal nicht und nickte. »Komm, Jasper.«
Jasper wehrte sich gegen Emmetts unnachgiebigen Griff, er wand sich und versuchte nun, seinen Bruder zu erwischen. Er sah immer noch nicht zurechnungsfähig aus.
Edward war kalkweiß, als er herumfuhr und sich schützend über mich warf. Zwischen den Zähnen entfuhr ihm ein tiefes, warnendes Knurren. Ich war mir sicher, dass er nicht atmete.
Ein eigenartig selbstgefälliger Ausdruck lag auf Rosalies überirdisch schönem Gesicht. Sie stellte sich vor Jasper, wobei sie eine sichere Entfernung zu seinen Zähnen wahrte, und half Emmett, ihn durch die Glastür zu bugsieren, die Esme ihnen aufhielt, eine Hand vor Mund und Nase gepresst.
Scham spiegelte sich in Esmes herzförmigem Gesicht. »Es tut mir so leid, Bella«, rief sie, als sie den anderen in den Garten folgte.
»Lass mich durch, Edward«, murmelte Carlisle.
Eine Sekunde verging, dann nickte Edward langsam und nahm eine entspanntere Haltung ein.
Carlisle kniete neben mir nieder und beugte sich über meinen Arm, um ihn zu untersuchen. Ich merkte, dass mein Gesicht vor Schreck erstarrt war, und versuchte meine Züge zu entspannen.
»Hier, Carlisle«, sagte Alice und reichte ihm ein Handtuch.
Er schüttelte den Kopf. »Zu viele Splitter in der Wunde.« Er langte zum Tisch und riss einen langen schmalen Streifen von der Tischdecke ab. Damit umwickelte er meinen Arm über dem Ellbogen, um das Blut zu stoppen. Vom Geruch des Bluts wurde mir schwindelig und in meinen Ohren rauschte es.
»Bella«, sagte Carlisle sanft. »Soll ich dich ins Krankenhaus fahren oder dich hier behandeln?«
»Hier, bitte«, flüsterte ich. Wenn er mich ins Krankenhaus brachte, könnte ich das nicht vor Charlie geheim halten.
»Ich hole dir deine Tasche«, sagte Alice.
»Komm, wir bringen sie zum Küchentisch«, sagte Carlisle zu Edward.
Mühelos hob Edward mich hoch, während Carlisle weiter auf meinen Arm drückte.
»Wie geht es dir, Bella?«, fragte Carlisle.
»Ganz gut.« Meine Stimme war einigermaßen fest, und darüber war ich froh.
Edwards Gesicht war wie versteinert.
Alice war da. Carlisles schwarze Tasche stand schon auf dem Tisch, und eine kleine, aber lichtstarke Schreibtischlampe brannte. Edward drückte mich sanft auf einen Stuhl, und Carlisle zog sich einen weiteren heran. Er machte sich sofort an die Arbeit.
Edward stand schützend über mir, er atmete immer noch nicht.
»Geh doch, Edward«, sagte ich leise.
»Ich werde schon damit fertig«, sagte er. Doch sein Kiefer war angespannt, und seine Augen brannten, weil er gegen ein Verlangen ankämpfte, das bei ihm noch viel stärker war als bei den anderen.
»Du brauchst hier nicht den Helden zu spielen«, sagte ich. »Carlisle kann mich auch ohne deine Hilfe verarzten. Geh lieber an die frische Luft.«
Ich zuckte zusammen, als Carlisle irgendetwas mit meinem Arm machte und ich einen stechenden Schmerz verspürte.
»Ich bleibe«, sagte Edward entschlossen.
»Warum bist du so masochistisch?«, murmelte ich.
Jetzt mischte Carlisle sich ein. »Edward, du könntest dich ebenso gut auf die Suche nach Jasper machen, sonst ist er bald zu weit weg. Sicher ist er wütend auf sich selbst, und ich bezweifle, dass er im Augenblick auf jemand anders als dich hören wird.«
»Ja«, stimmte ich sofort ein. »Such Jasper.«
»Genau, mach dich mal nützlich«, fügte Alice hinzu.
Edwards Augen wurden schmal, als wir so auf ihn einstürmten, dann nickte er kurz und rannte schnell durch die Hintertür nach draußen. Ich war mir sicher, dass er seit meinem Missgeschick kein einziges Mal geatmet hatte.
Ein dumpfes, taubes Gefühl breitete sich in meinem Arm aus. Zwar löschte es den stechenden Schmerz aus, doch jetzt erinnerte ich mich wieder an die Schnittwunde, und ich konzentrierte mich voll auf Carlisles Gesicht, um mir nicht vorzustellen, was seine Hände machten. Sein Haar leuchtete golden im Lampenlicht, während er sich über meinen Arm beugte. Ich spürte ein leichtes Unwohlsein in der Magengrube, aber ich wollte mich auf keinen Fall so zimperlich anstellen wie sonst. Es tat nicht weh, ich merkte nur ein leichtes Ziehen, das ich zu ignorieren versuchte. Kein Grund für Übelkeit, schließlich war ich kein kleines Kind mehr.
Hätte Alice nicht direkt hinter Carlisle gestanden, hätte ich nicht bemerkt, dass sie aufgab und sich aus dem Zimmer stahl. Mit einem kleinen entschuldigenden Lächeln auf den Lippen verschwand sie durch die Küchentür.
»Na, das wären dann alle«, sagte ich seufzend. »Ein Zimmer leer fegen kann ich immerhin.«
»Es ist nicht deine Schuld«, versuchte Carlisle mich zu trösten. Er lachte in sich hinein. »Das hätte jedem passieren können.«
»Hätte«, sagte ich. »Aber normalerweise passiert so was nur mir.«
Er lachte wieder.
Seine Gelassenheit war verblüffend, zumal sie im völligen Gegensatz zu der Reaktion der anderen stand. Ich konnte keine Spur von Nervosität in seinem Gesicht ausmachen. Seine Bewegungen bei der Arbeit waren schnell und sicher. Das einzige Geräusch außer unserem ruhigen Atem war das leise Pling, Pling, als die winzigen Glassplitter einer nach dem anderen auf den Tisch fielen.
»Wie schaffst du das?«, wollte ich wissen. »Selbst Alice und Esme …« Ich ließ den Satz in der Luft hängen und schüttelte verwundert den Kopf. Obwohl die anderen der üblichen Ernährungsweise von Vampiren ebenso radikal abgeschworen hatten wie Carlisle, war er doch der Einzige, der den Geruch meines Bluts ertragen konnte, ohne unter der enormen Versuchung zu leiden. Garantiert war die Situation für ihn sehr viel schwieriger, als es den Anschein hatte.
»Jahrelange Übung«, sagte er. »Ich nehme den Geruch kaum noch wahr.«
»Glaubst du, es wäre schwerer, wenn du länger nicht im Krankenhaus wärst und nichts mit Blut zu tun hättest?«
»Vielleicht.« Er zuckte die Schultern, aber seine Hände blieben ruhig. »Ich hatte noch nie das Bedürfnis nach einem längeren Urlaub.« Er lächelte mich strahlend an. »Dafür macht mir meine Arbeit zu viel Spaß.«
Pling, pling, pling. Ich war erstaunt, wie viele Splitter in meinem Arm steckten. Ich hätte gern einmal kurz geguckt, wie das Häufchen anwuchs, aber ich wollte mich ja nicht übergeben, und da wäre das auf jeden Fall kontraproduktiv gewesen.
»Was macht dir daran denn Spaß?«, fragte ich. Mir kam das absurd vor – wie viele Jahre Kampf und Selbstverleugnung musste es ihn gekostet haben, bis er diese Arbeit so mühelos ertragen konnte! Außerdem wollte ich, dass er weiterredete; die Unterhaltung lenkte mich von dem mulmigen Gefühl im Magen ab.
Als er antwortete, war sein Blick ruhig und nachdenklich. »Hmm. Das Schönste ist für mich, wenn meine … besonderen Fähigkeiten es mir erlauben, jemanden zu retten, der sonst verloren wäre. Es tut gut zu wissen, dass ich dazu beitragen kann, das Leben mancher Menschen zu verbessern. Und mein Geruchssinn ist bisweilen sogar sehr hilfreich bei der Diagnose.« Er verzog einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln.
Während er meinen Arm noch einmal ganz genau untersuchte, um sicherzugehen, dass er alle Splitter entfernt hatte, grübelte ich über seine Worte nach. Dann kramte er in seiner Tasche nach weiteren Instrumenten und ich versuchte nicht an Nadel und Faden zu denken.
»Du gibst dir große Mühe, etwas wiedergutzumachen, an dem du gar nicht schuld bist«, sagte ich, während ich ein neues schmerzhaftes Ziehen an der Haut spürte. »Ich meine, du wolltest doch gar nicht so sein.«
»Ich wüsste nicht, dass ich versuche etwas wiedergutzumachen«, widersprach er. »Ich musste mich einfach entscheiden, was ich mit dem, was mir gegeben war, anfangen wollte, so ist das im Leben.«
»Das klingt aber zu einfach.«
Er untersuchte meinen Arm noch einmal. »So«, sagte er und durchtrennte einen Faden. »Fertig.« Er strich mit einem überdimensionierten Wattestäbchen, das mit einer sirupfarbenen Flüssigkeit getränkt war, gründlich über die Wunde. Es roch merkwürdig und mir wurde schwindlig. Der Sirup brannte auf der Haut.
»Jedenfalls am Anfang«, bohrte ich nach, während er ein langes Stück Mull auf die Wunde drückte und festklebte. »Wie bist du überhaupt darauf gekommen, einen anderen Weg einzuschlagen als den naheliegendsten?«
Seine Lippen formten sich zu einem feinen Lächeln. »Hat Edward dir die Geschichte nicht erzählt?«
»Doch. Aber ich versuche zu verstehen, was du gedacht hast …«
Plötzlich war seine Miene wieder ernst, und ich fragte mich, ob er an dasselbe dachte wie ich. Daran, was ich wohl denken würde, wenn ich in derselben Situation wäre – ich weigerte mich, war zu denken.
»Du weißt, dass mein Vater ein Geistlicher war«, sagte er nachdenklich, während er den Tisch zweimal gründlich mit nassem Mull abwischte. Der Geruch von Alkohol brannte mir in der Nase. »Er hatte eine recht strenge Weltanschauung, die ich bereits vor meiner Verwandlung in Zweifel zu ziehen begann.« Carlisle sammelte den blutigen Mull und die Glassplitter in einer leeren Kristallschale. Selbst als er ein Streichholz anzündete, begriff ich noch nicht, was er vorhatte. Dann ließ er das Streichholz auf den alkoholgetränkten Stoff fallen. Eine kleine Stichflamme schoss empor, und ich zuckte zusammen.
»Entschuldigung«, sagte er. »Das sollte genügen … Mit dem Glauben, wie mein Vater ihn pflegte, hatte ich also nie übereingestimmt. Und doch hat mich in den nahezu vierhundert Jahren seit meiner Geburt nichts je daran zweifeln lassen, dass es Gott in der einen oder anderen Form gibt. Nicht einmal meine eigene Existenz.«
Ich tat so, als würde ich meinen Verband betrachten, um meine Überraschung über die Wendung des Gesprächs zu verbergen. Religion hätte ich in Anbetracht der Umstände am wenigsten erwartet. In meinem eigenen Leben spielte der Glaube eigentlich keine Rolle. Charlie betrachtete sich als Lutheraner, weil seine Eltern das auch gewesen waren, aber sonntags hielt er Gottesdienst am Fluss mit einer Angel in der Hand. Renée versuchte es hin und wieder mit der Kirche, aber ebenso wie ihre flüchtigen Affären mit Tennis, Töpfern, Yoga und Französisch war diese Laune auch schon wieder vorüber, ehe ich sie mitbekommen hatte.
»Das alles klingt aus dem Munde eines Vampirs gewiss etwas absurd.« Er grinste, weil er wusste, dass es mich immer noch schockierte, wenn sie das Wort so beiläufig benutzten. »Doch ich hoffe, dass dieses Leben noch einen Sinn hat, selbst für uns. Es ist sehr gewagt, das gebe ich zu«, fuhr er leichthin fort. »Wir sind vermutlich ohnehin verdammt. Doch auch, wenn es vielleicht töricht ist, so hoffe ich, dass man uns den Versuch bis zu einem gewissen Grad anrechnen wird.«
»Ich glaube nicht, dass das töricht ist«, murmelte ich. Ich konnte mir niemanden vorstellen, Gott eingeschlossen, der von Carlisle nicht beeindruckt wäre. Außerdem könnte ich nur einen Himmel akzeptieren, zu dem auch Edward Zutritt hätte. »Und das glaubt bestimmt auch sonst keiner.«
»Ehrlich gesagt bist du die Allererste, die meiner Meinung ist.«
»Sehen die anderen das nicht so?«, fragte ich überrascht und dachte dabei nur an einen Bestimmten.
Wieder erriet Carlisle, in welche Richtung meine Gedanken gingen. »Edward stimmt mir bis zu einem bestimmten Punkt zu. Es gibt einen Gott und einen Himmel … und eine Hölle. Aber er glaubt nicht, dass es für unseresgleichen ein Leben nach dem Tod gibt.« Carlisle sprach sehr leise, er starrte aus dem großen Fenster über dem Waschbecken in die Finsternis. »Verstehst du, er glaubt, wir hätten unsere Seele verloren.«
Sofort dachte ich an Edwards Worte von heute Nachmittag: Es sei denn, man will sterben – oder was auch immer unsereins dann tut. Die Glühbirne über meinem Kopf wurde eingeschaltet.
»Darum geht es ihm eigentlich, oder?«, sagte ich. »Deshalb macht er solche Probleme, was mich angeht.«
Carlisle sprach langsam. »Ich schaue ihn an, meinen … Sohn. Seine Kraft, seine Güte, was für einen Geist er versprüht … und das bestärkt mich umso mehr in meiner Hoffnung und meinem Glauben. Es ist undenkbar, dass für jemanden wie Edward danach nichts mehr kommen sollte.«
Ich nickte heftig.
»Aber wenn ich glauben würde, was er glaubt …« Sein Blick war unergründlich, als er mich ansah. »Wenn du das glauben würdest – könntest du ihm seine Seele rauben?«
Dass er die Frage so stellte, machte eine Antwort unmöglich. Hätte er gefragt, ob ich meine Seele für Edward aufs Spiel setzen würde, wäre die Antwort einfach gewesen. Aber würde ich Edwards Seele aufs Spiel setzen? Ich verzog unglücklich den Mund. Das war eine gemeine Frage.
»Du siehst, wo das Problem liegt.«
Ich schüttelte den Kopf und merkte, dass ich das Kinn eigensinnig vorgereckt hatte.
Carlisle seufzte.
»Es ist meine Entscheidung«, beharrte ich.
»Es ist auch die seine.« Er hob die Hand, als ich widersprechen wollte. »Er trägt die Verantwortung, wenn er dir das antut.«
»Er ist nicht der Einzige, der es machen kann.« Ich sah Carlisle forschend an.
Er lachte, und die ernste Stimmung war augenblicklich durchbrochen. »O nein! Das musst du schon mit ihm aushandeln.« Aber dann seufzte er. »Das ist die Frage, die ich mir nie eindeutig beantworten kann. Ich glaube, dass ich aus dem, was mir zur Verfügung stand, größtenteils das Beste gemacht habe. Aber war es richtig, die anderen zu diesem Leben zu verdammen? Das vermag ich nicht zu sagen.«
Ich gab keine Antwort. Ich stellte mir vor, wie mein Leben aussähe, wenn Carlisle der Versuchung widerstanden hätte, sein einsames Leben zu verändern … und schauderte.
»Mein Entschluss ist Edwards Mutter geschuldet.« Carlisles Stimme war jetzt kaum mehr als ein Flüstern. Er starrte zum Fenster hinaus ins Leere.
»Seiner Mutter?« Wenn ich Edward nach seinen Eltern fragte, sagte er immer nur, dass sie vor langer Zeit gestorben seien und dass er sich kaum noch an sie erinnern könnte. Jetzt begriff ich, dass Carlisle sich sehr wohl an sie erinnerte, obwohl er sie nur kurz gekannt hatte.
»Ja. Sie hieß Elizabeth. Elizabeth Masen. Sein Vater, Edward senior, kam im Krankenhaus nicht mehr zu sich. Er starb an der ersten Grippewelle. Doch Elizabeth war fast bis zum Ende bei vollem Bewusstsein. Edward ähnelt ihr sehr – ihre Haare hatten denselben eigenartigen Bronzeton, und ihre Augen waren genauso grün wie seine.«
»Er hatte grüne Augen?«, murmelte ich und versuchte es mir vorzustellen.
»Ja …« Carlisles Blick war jetzt hundert Jahre weit weg. »Elizabeth war wahnsinnig vor Sorge um ihren Sohn. Sie nahm ihre letzten Kräfte zusammen, um ihn vom Krankenbett aus zu pflegen. Ich hatte gedacht, er würde vor ihr sterben, er war so viel schlimmer dran. Doch dann ging es ganz schnell mit ihr zu Ende. Es war kurz nach Sonnenuntergang, und ich kam, um die Ärzte abzulösen, die den ganzen Tag gearbeitet hatten. In dieser Zeit fiel es mir besonders schwer, mich zu verstellen – es gab so viel zu tun, und ich hätte keine Ruhepausen gebraucht. Es war mir unerträglich, nach Hause zu gehen, mich im Dunkeln zu verstecken und so zu tun, als schliefe ich, während so viele starben.
Als Erstes sah ich nach Elizabeth und ihrem Sohn. Ich hatte sie ins Herz geschlossen – das ist immer gefährlich, wenn man bedenkt, wie zerbrechlich Menschen sind. Ich sah sofort, dass es schlecht um sie stand. Das Fieber tobte und ihr Körper war zu schwach, um noch länger zu kämpfen. Doch als sie von ihrem Bett zu mir aufschaute, sah sie gar nicht schwach aus.
›Retten Sie ihn!‹, befahl sie mit heiserer Stimme – mehr ließen ihre Kräfte nicht zu.
›Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht‹, versprach ich und nahm ihre Hand. Das Fieber war so hoch, dass sie vermutlich nicht mehr spürte, wie unnatürlich kalt die meine war. Für sie fühlte sich jetzt alles kalt an.
›Sie müssen‹, drängte sie und klammerte sich so fest an meine Hand, dass ich mich fragte, ob sie diese Krise nicht vielleicht doch überstehen konnte. Ihre Augen waren hart wie Stein, wie Smaragde. ›Sie müssen alles tun, was in Ihrer Macht steht. Was andere nicht tun können, das müssen Sie für meinen Edward tun.‹
Sie machte mir Angst. Sie durchbohrte mich mit ihrem Blick und einen Augenblick war ich mir sicher, dass sie mein Geheimnis durchschaut hatte. Dann übermannte das Fieber sie und sie kam nicht wieder zu Bewusstsein. Eine Stunde nach ihrer Bitte starb sie.
Jahrzehntelang hatte ich darüber nachgedacht, mir einen Gefährten zu schaffen. Nur ein einziges Wesen, das mich richtig kennen würde, nicht nur das, was ich zu sein vorgab. Doch ich konnte es nie vor mir selbst rechtfertigen – einem anderen das anzutun, was man mir angetan hatte.
Da lag Edward, und er würde sterben. Es stand außer Zweifel, dass er nur noch wenige Stunden zu leben hatte. Neben ihm seine Mutter, deren Gesicht noch nicht richtig friedlich war, selbst im Tode nicht.«
Carlisle schien alles vor sich zu sehen, das vergangene Jahrhundert hatte seine Erinnerung nicht getrübt. Auch ich sah alles deutlich vor mir, während er erzählte – die Verzweiflung im Krankenhaus, die überwältigende Gegenwart des Todes. Edward, wie er glühend vor Fieber dalag, mit jeder Sekunde wich mehr Leben aus ihm … Ich schauderte wieder und drängte die Vorstellung beiseite.
»Elizabeths Worte hallten in meinem Kopf wider. Wie konnte sie erraten, was ich vermochte? War es wirklich möglich, dass sie sich das für ihren Sohn wünschte?
Ich sah Edward an. Trotz seiner Krankheit war er immer noch schön. Sein Gesicht hatte etwas Gutes und Reines. Ein Gesicht, wie ich es mir für meinen Sohn gewünscht hätte …
Nach all den Jahren der Unschlüssigkeit handelte ich jetzt aus einem bloßen Impuls heraus. Erst fuhr ich seine Mutter ins Leichenschauhaus, dann kam ich wieder, um ihn zu holen. Niemand bemerkte, dass er noch atmete. Nicht einmal für die Hälfte der Patienten waren genug Hände und Augen da. Im Leichenschauhaus war niemand – jedenfalls kein Lebender. Ich schlich mich mit ihm zur Hintertür hinaus und trug ihn über die Dächer zu mir nach Hause.
Ich wusste nicht genau, was zu tun war. Ich entschied mich dafür, ihm dieselben Wunden beizubringen, die man mir damals, vor so vielen Jahrhunderten in London, beigebracht hatte. Im Nachhinein tat mir das leid. Es war schmerzhafter und langwieriger als nötig.
Doch ich habe es nicht bereut. Ich habe nie bereut, dass ich Edward gerettet habe.« Er schüttelte den Kopf und landete wieder in der Gegenwart. Er lächelte mich an. »Ich glaube, ich sollte dich jetzt nach Hause bringen.«
»Das mache ich schon.« Edward kam langsam durch das düstere Wohnzimmer zu uns. Sein Gesicht war glatt und unergründlich, doch mit seinen Augen stimmte etwas nicht – etwas, was er angestrengt zu verbergen suchte. Mein Magen krampfte sich in einem unguten Gefühl zusammen.
»Carlisle kann mich bringen«, sagte ich. Ich schaute an mir herunter; mein hellblaues T-Shirt war über und über mit Blut befleckt. Meine rechte Schulter war mit dickem rosa Zuckerguss bekleckert.
»Für mich ist es kein Problem«, sagte Edward unbeteiligt. »Du musst dich sowieso umziehen. Charlie würde einen Herzinfarkt bekommen, wenn er dich so sähe. Ich sage Alice Bescheid.« Er verschwand wieder durch die Küchentür.
Ich sah Carlisle ängstlich an. »Er ist völlig außer sich.«
»Ja«, sagte Carlisle. »Heute ist genau das passiert, was er immer am meisten gefürchtet hat. Dass du in Gefahr gerätst, weil wir sind, was wir sind.«
»Er kann doch nichts dafür.«
»Du aber auch nicht.«
Ich wich dem Blick seiner schönen, klugen Augen aus. Ich war nicht seiner Meinung.
Carlisle reichte mir die Hand und half mir vom Stuhl auf. Ich folgte ihm ins Wohnzimmer. Esme war wieder da, sie wischte den Boden dort, wo ich gefallen war. Mit Salmiak, dem Geruch nach zu urteilen.
»Esme, das kann ich doch machen.« Ich merkte, dass ich schon wieder knallrot war.
»Ich bin schon fertig.« Sie lächelte mich an. »Wie geht es dir?«
»Alles okay«, sagte ich. »So schnell wie Carlisle hat mich noch keiner genäht.«
Sie kicherten beide.
Alice und Edward kamen zur Hintertür herein. Alice kam zu mir gerannt, doch Edward blieb zurück. Ich wurde aus seiner Miene nicht schlau.
»Komm mit«, sagte Alice. »Wir suchen dir was Unblutiges zum Anziehen raus.«
Sie gab mir ein T-Shirt von Esme, das eine ganz ähnliche Farbe hatte wie meins. Charlie würde garantiert nichts merken. Und der weiße Verband an meinem Arm sah, als ich nicht mehr blutbespritzt war, längst nicht mehr so besorgniserregend aus. Charlie wunderte sich nie, wenn ich einen Verband trug.
»Alice«, flüsterte ich, als sie wieder zur Tür ging.
»Ja?« Auch sie sprach gedämpft und sah mich mit schräggelegtem Kopf neugierig an.
»Wie schlimm ist es?« Ich wusste nicht, ob es Sinn hatte zu flüstern. Obwohl wir oben waren und die Tür geschlossen war, konnte er mich vielleicht hören.
Ihre Züge spannten sich an. »Das weiß ich noch nicht.«
»Wie geht es Jasper?«
Sie seufzte. »Er ist wütend auf sich selbst. Für ihn ist es eine so viel größere Anstrengung als für uns, und er leidet unter dem Gefühl, schwach zu sein.«
»Er kann nichts dafür. Sag ihm, dass ich nicht sauer auf ihn bin, okay?«
»Mach ich.«
Edward wartete an der Haustür auf mich. Als ich die Treppe hinunterkam, hielt er mir wortlos die Tür auf.
»Vergiss deine Sachen nicht!«, rief Alice, als ich langsam auf Edward zuging. Sie nahm die beiden Päckchen, eins davon halb geöffnet, holte die Kamera unter dem Flügel hervor und legte mir alles in meinen unversehrten Arm. »Du kannst mir später danken, wenn du es ausgepackt hast.«
Esme und Carlisle wünschten mir beide still eine gute Nacht. Sie warfen dem völlig teilnahmslosen Edward ebenso verstohlene Blicke zu wie ich.
Ich war erleichtert, als ich draußen war, hastig ging ich an den Laternen und den Rosen vorbei, die jetzt nur unangenehme Erinnerungen weckten. Edward ging schweigend neben mir her. Er hielt mir die Beifahrertür auf, und ich stieg widerspruchslos ein.
Auf dem Armaturenbrett prangte eine große rote Schleife an der neuen Stereoanlage. Ich riss sie ab und warf sie auf den Boden. Als Edward auf den Fahrersitz glitt, kickte ich sie unter meinen Sitz.
Er schaute weder zu mir noch zu der Anlage. Keiner von uns schaltete sie ein, und die Stille wurde durch das plötzliche Aufheulen des Motors noch deutlicher. Viel zu schnell fuhr Edward die dunkle Serpentinenstraße entlang.
Das Schweigen machte mich wahnsinnig.
»Sag doch was«, flehte ich, als er auf die Schnellstraße fuhr.
»Was soll ich denn sagen?«, fragte er abweisend.
Ich zuckte zusammen, er klang so weit weg. »Sag, dass du mir verzeihst.«
Jetzt kam eine Spur von Leben in sein Gesicht – eine Spur von Wut. »Ich dir verzeihen? Und was bitte?«
»Wenn ich besser aufgepasst hätte, wäre nichts passiert.«
»Bella, du hast dich am Papier geschnitten – darauf steht wohl kaum die Todesstrafe.«
»Trotzdem ist es meine Schuld.«
Jetzt gab es kein Halten mehr.
»Deine Schuld? Wenn du dich bei Mike Newton zu Hause geschnitten hättest, mit Jessica und Angela und deinen anderen normalen Freunden zusammen, was hätte da schlimmstenfalls passieren können? Vielleicht hätten sie kein Pflaster gefunden? Wenn du einen Stapel Glasteller umgeworfen hättest, ohne dass dich jemand hineingestoßen hätte, was hätte da passieren können? Dass du auf der Fahrt zur Notaufnahme die Autositze mit Blut befleckt hättest? Mike Newton hätte deine Hand halten können, während du genäht wurdest – ohne die ganze Zeit gegen den Drang ankämpfen zu müssen, dich umzubringen. Versuch nicht, irgendetwas davon auf deine Kappe zu nehmen, Bella – das würde meinen Ekel vor mir selbst nur noch verstärken.«
»Wie zum Teufel kommst du jetzt auf Mike Newton?«, fragte ich.
»Weil es für dich tausendmal gesünder wäre, mit Mike Newton zusammen zu sein als mit mir«, grollte er.
»Ich würde lieber sterben, als mit Mike Newton zusammen zu sein«, sagte ich. »Lieber sterben, als mit irgendwem anders zusammen zu sein als mit dir.«
»Jetzt werd bitte nicht melodramatisch.«
»Dann sag du nicht so abwegige Sachen.«
Er antwortete nicht. Mit finsterer Miene starrte er durch die Windschutzscheibe.
Ich überlegte verzweifelt, wie ich den Abend noch retten könnte. Als wir vor meinem Haus hielten, war mir immer noch nichts eingefallen.
Er schaltete den Motor aus, doch seine Hände hielten noch immer das Lenkrad umklammert.
»Bleibst du heute Nacht?«, fragte ich.
»Es ist besser, wenn ich nach Hause fahre.«
Auf keinen Fall wollte ich, dass er sich mit Gewissensbissen quälte.
»Zu meinem Geburtstag«, drängte ich.
»Du musst dich schon entscheiden – entweder willst du, dass die Leute deinen Geburtstag ignorieren, oder nicht. Es geht nur eins von beidem.« Seine Stimme war hart, aber nicht mehr so unerbittlich wie vorhin. Ich seufzte leise vor Erleichterung.
»Na gut. Ich habe mich entschieden. Ich will nicht, dass du meinen Geburtstag ignorierst. Bis gleich, oben bei mir.«
Ich sprang aus dem Wagen und wollte dann meine Päckchen herausholen. Er runzelte die Stirn.
»Du musst die nicht mitnehmen.«
»Will ich aber«, sagte ich automatisch und fragte mich, ob er mich jetzt provozieren wollte.
»Nein, willst du nicht. Carlisle und Esme haben Geld für dich ausgegeben.«
»Ich werd’s überleben.« Ungeschickt klemmte ich die Päckchen unter den gesunden Arm und schlug die Beifahrertür zu. In weniger als einer Sekunde war Edward aus dem Transporter gestiegen und an meiner Seite.
»Dann lass mich sie wenigstens für dich tragen«, sagte er und nahm sie mir ab. »Ich warte in deinem Zimmer auf dich.«
Ich lächelte. »Danke.«
»Herzlichen Glückwunsch.« Er seufzte und beugte sich herab, um meine Lippen mit seinen zu berühren.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und wollte den Kuss ausdehnen, doch er befreite sich. Er lächelte das schiefe Lächeln, das ich so liebte, und verschwand in die Dunkelheit.
Das Spiel lief immer noch; kaum war ich durch die Haustür, hörte ich auch schon den Kommentator über die Menge hinwegquasseln.
»Bella?«, rief Charlie.
»Hallo, Dad«, sagte ich, als ich um die Ecke bog. Ich hielt den Arm eng an die Seite gepresst. Der leichte Druck erzeugte einen brennenden Schmerz, und ich zog die Nase kraus. Offenbar ließ die Wirkung des Schmerzmittels nach.
»Wie war’s?« Charlie lag ausgestreckt auf dem Sofa, die nackten Füße auf die Lehne gestützt. Seine wenigen braunen Locken waren auf einer Seite platt gelegen.
»Alice hat sich selbst übertroffen. Blumen, Torte, Kerzen, Geschenke – das volle Programm.«
»Was hast du gekriegt?«
»Eine Stereoanlage für meinen Transporter.« Und noch diverse Unbekannte.
»Wow.«
»Das kannst du wohl sagen«, sagte ich. »Ich geh schlafen.«
»Bis morgen.«
Ich winkte. »Ja, bis morgen.«
»Was hast du da am Arm?«
Ich wurde rot und fluchte innerlich. »Ich bin gestolpert. Ist nicht weiter schlimm.«
»Bella«, sagte er seufzend und schüttelte den Kopf.
»Gute Nacht, Dad.«
Schnell lief ich die Treppe hoch ins Bad, wo ich für solche Nächte meinen Schlafanzug aufbewahrte. Ich hatte ihn mir an Stelle der löchrigen Sweatshirts gekauft, in denen ich sonst immer schlief. Ich schlüpfte in die Baumwollhose und das dazu passende Tank-Top und zuckte zusammen, als es an der Wunde zog. Einhändig wusch ich mir das Gesicht, putzte mir die Zähne und hüpfte dann in mein Zimmer.
Er saß mitten auf dem Bett und spielte mit einem der silbernen Päckchen herum.
»Hallo«, sagte er. Seine Stimme klang traurig. Er machte sich also immer noch Vorwürfe.
Ich lief zum Bett, schob die Geschenke weg und kletterte auf seinen Schoß.
»Hallo.« Ich schmiegte mich an seine steinerne Brust. »Kann ich jetzt meine Geschenke auspacken?«
»Woher auf einmal diese Begeisterung?«, fragte er erstaunt.
»Du hast mich neugierig gemacht.«
Ich nahm das längliche flache Päckchen, das von Carlisle und Esme sein musste.
»Darf ich?«, sagte er. Er nahm mir das Geschenk aus der Hand und zog das silberne Papier mit einer fließenden Bewegung ab. Dann gab er mir die rechteckige weiße Schachtel zurück.
»Traust du mir wirklich zu, den Deckel hochzuheben?«, murmelte ich, aber er überging die Frage.
In der Schachtel war eine längliche dicke Karte mit einer Menge Kleingedrucktem darauf. Es dauerte eine Weile, bis ich kapierte, was es war.
»Wir fliegen nach Jacksonville?« Gegen meinen Willen war ich aufgeregt. Es war ein Gutschein für Flugtickets, für Edward und mich.
»So ist es gedacht.«
»Ich fasse es nicht. Renée wird ausflippen! Aber meinst du, du hältst das aus? Da scheint die Sonne, du musst den ganzen Tag im Haus bleiben.«
»Das wird schon gehen«, sagte er, dann runzelte er die Stirn. »Hätte ich geahnt, dass du auf ein solches Geschenk angemessen reagieren kannst, hätte ich darauf bestanden, dass du es vor Carlisle und Esme auspackst. Aber ich dachte, du würdest dich beschweren.«
»Na ja, natürlich ist es zu viel. Aber ich kann ja dich mitnehmen!«
Er lachte in sich hinein. »Jetzt tut es mir leid, dass ich kein Geld für dein Geschenk ausgegeben habe. Ich hatte keine Ahnung, dass du vernünftig sein kannst.«
Ich legte die Tickets beiseite und nahm sein Geschenk. Jetzt war meine Neugier ganz entfacht. Er nahm es mir ab und packte es genauso aus wie das erste.
Er überreichte mir eine durchsichtige CD-Hülle mit einer unbedruckten CD darin.
»Was ist das?«, fragte ich verblüfft.
Statt einer Antwort nahm er die CD, langte um mich herum und schob sie in den CD-Player, der auf dem Nachttisch stand. Er schaltete das Gerät ein und wir warteten schweigend. Dann begann die Musik.
Ich lauschte sprachlos und mit großen Augen. Ich wusste, dass er auf eine Reaktion wartete, aber ich konnte nichts sagen. Tränen stiegen mir in die Augen und ich wischte sie weg, bevor sie mir über die Wangen liefen.
»Tut dein Arm weh?«, fragte er besorgt.
»Nein, es ist nicht mein Arm. Die Musik ist wunderschön, Edward. Das ist die größte Freude, die du mir machen konntest. Ich kann es gar nicht glauben.« Ich verstummte, damit ich zuhören konnte.
Es war seine Musik, seine Kompositionen. Das erste Stück auf der CD war mein Schlaflied.
»Ich dachte, du erlaubst es mir bestimmt nicht, dass ich ein Klavier kaufe, auf dem ich dir hier etwas vorspielen könnte«, erklärte er.
»Da hast du Recht.«
»Wie geht es deinem Arm?«
»Ganz gut.« In Wirklichkeit fing es unter dem Verband höllisch zu brennen an. Ich hätte gern Eis zum Kühlen gehabt. Ich hätte mich auch mit seiner Hand begnügt, aber dann hätte ich mich verraten.
»Ich hole dir ein Paracetamol.«
»Ich brauche nichts«, protestierte ich, aber er schob mich von seinem Schoß und ging zur Tür.
»Charlie«, zischte ich. Charlie wusste nicht, dass Edward häufig über Nacht blieb. Genauer gesagt, hätte ihn vermutlich der Schlag getroffen, wenn er es erfahren hätte. Aber ich hatte keine allzu großen Schuldgefühle, dass ich ihn hinterging. Wir taten ja nichts, worüber Charlie sich hätte aufregen können. Dank Edward und seiner Prinzipien …
»Ich lasse mich nicht erwischen«, versprach Edward, verschwand leise zur Tür hinaus … und war zurück, noch ehe die Tür wieder zugefallen war. Er hielt das Glas aus dem Badezimmer und das Röhrchen mit den Tabletten in der Hand.
Ohne zu widersprechen, nahm ich die Tablette, die er mir gab – ich wusste, dass ich bei einem Streit nur verlieren konnte. Außerdem fing mein Arm jetzt wirklich an wehzutun.
Im Hintergrund war immer noch leise mein Schlaflied zu hören, es war wunderschön.
»Es ist spät«, bemerkte Edward. Mit einem Arm hob er mich vom Bett, mit dem anderen zog er die Bettdecke zurück. Er legte mich hin und deckte mich sorgfältig zu. Dann legte er sich neben mich – auf die Decke, damit mir nicht kalt wurde – und legte einen Arm um mich.
Ich lehnte den Kopf an seine Schulter und seufzte glücklich.
»Noch mal danke«, flüsterte ich.
»Keine Ursache.«
Lange Zeit schwiegen wir, während ich lauschte, wie mein Schlaflied langsam ausklang. Jetzt kam ein anderes Lied. Ich erkannte Esmes Lieblingslied.
»Woran denkst du?«, flüsterte ich.
Er zögerte einen Augenblick, bevor er sagte: »Ich denke darüber nach, was richtig und was falsch ist.«
Ich spürte, wie es mir kalt über den Rücken lief.
»Weißt du noch, dass ich gesagt hab, du sollst meinen Geburtstag nicht ignorieren?«, sagte ich schnell und hoffte, dass der Ablenkungsversuch nicht allzu auffällig war.
»Ja«, sagte er misstrauisch.
»Na, und jetzt denke ich, wo doch noch mein Geburtstag ist, fände ich es schön, wenn du mich noch mal küssen würdest.«
»Du bist heute ja unersättlich.«
»Stimmt – aber tu bitte nichts, was du nicht willst«, sagte ich pikiert.
Er lachte, dann seufzte er. »Möge der Himmel verhüten, dass ich etwas tue, was ich nicht will«, sagte er in einem eigenartig verzweifelten Ton, als er mir eine Hand unters Kinn legte und mein Gesicht zu seinem heranzog.
Am Anfang war der Kuss wie immer – Edward war vorsichtig wie immer, und mein Herz reagierte so heftig wie immer. Und dann war etwas anders. Seine Lippen wurden plötzlich drängender, er fasste mir ins Haar und drückte mein Gesicht fest an seins. Und obwohl ich ihm jetzt auch in den Haaren wühlte und eindeutig dabei war, seine Grenzen zu überschreiten, hielt er mich ausnahmsweise nicht zurück. Durch die Decke spürte ich die Kälte seines Körpers, doch ich presste mich gierig an ihn.
Das Ende kam abrupt; sanft, aber bestimmt schob er mich von sich.
Keuchend fiel ich zurück aufs Kissen, in meinem Kopf drehte sich alles. Irgendetwas schob sich in meine Erinnerung, ganz schwach nur, schemenhaft …
»Entschuldige«, sagte er, auch er außer Atem. »Das war gegen die Regeln.«
»Ich hab damit kein Problem«, sagte ich keuchend.
Stirnrunzelnd sah er mich in der Dunkelheit an. »Versuch jetzt zu schlafen, Bella.«
»Nein, ich will noch einen Kuss.«
»Du überschätzt meine Selbstbeherrschung.«
»Was findest du verführerischer, mein Blut oder meinen Körper?«, fragte ich neckend.
»Unentschieden.« Gegen seinen Willen musste er grinsen. Dann wurde er wieder ernst. »Aber jetzt hör lieber auf, dein Schicksal herauszufordern, und leg dich schlafen.«
»Okay«, sagte ich und kuschelte mich noch enger an ihn. Ich war restlos erschöpft. Es war in vielerlei Hinsicht ein langer Tag gewesen, und doch war ich nicht erleichtert darüber, dass ich ihn hinter mir hatte. Als sollte morgen etwas noch Schlimmeres kommen. Was für eine alberne Vorahnung – was könnte schlimmer sein als der heutige Tag? Es war bestimmt nur der Schock, der mich jetzt einholte.
Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und legte den verletzten Arm an Edwards Schulter, damit seine kühle Haut den brennenden Schmerz linderte. Sofort ging es mir besser.
Ich schlief schon mindestens halb, als mir einfiel, woran der Kuss mich erinnert hatte: Im letzten Frühling, als er mich verlassen musste, um James von meiner Spur abzulenken, hatte er mich zum Abschied geküsst. Da hatte er nicht gewusst, wann – oder ob – wir uns wiedersehen würden. Aus irgendeinem Grund, den ich mir nicht erklären konnte, hatte in dem Kuss vorhin etwas ebenso Schmerzliches gelegen. Schaudernd glitt ich in den Schlaf, als wäre ich schon mitten in einem Albtraum.