Eine Abstimmung für die Ewigkeit

Er war nicht begeistert, das war ihm deutlich anzusehen. Aber dann nahm er mich ohne weitere Diskussionen in die Arme und sprang leichtfüßig aus dem Fenster. Er landete ohne den kleinsten Ruck, wie eine Katze. Es war doch etwas höher, als ich gedacht hatte.

»Also gut«, sagte er, und die Missbilligung in seiner Stimme war unüberhörbar. »Auf geht’s.«

Er half mir auf seinen Rücken, und dann rannte er los. Obwohl es so lange her war, kam es mir ganz vertraut vor. Offenbar gehörte das zu den Dingen, die man nie verlernte, so wie Radfahren.

Es war still und dunkel, als er durch den Wald lief, sein Atem ging langsam und gleichmäßig – es war so dunkel, dass die Bäume, die an uns vorbeiflogen, fast unsichtbar waren und ich nur an dem Luftstrom im Gesicht merkte, wie schnell wir waren. Die Luft war feucht; sie brannte nicht in den Augen wie der Wind auf der Piazza in Volterra, und das war tröstlich. Ebenso tröstlich war die Nacht nach der entsetzlichen Helligkeit dort. Wie die Decke, unter der ich als Kind oft gespielt hatte, fühlte sich die Dunkelheit vertraut und sicher an.

Ich erinnerte mich daran, dass ich früher vor Angst die Augen schließen musste, wenn wir so schnell durch den Wald gerast waren. Jetzt kam mir das albern vor. Ich ließ die Augen weit geöffnet, legte das Kinn auf seine Schulter und die Wange an seinen Hals. Die Geschwindigkeit war berauschend. Das war hundertmal besser als Motorradfahren.

Ich drehte mein Gesicht zu ihm und drückte meine Lippen auf seinen kalten, harten Nacken.

»Danke«, sagte er, während die schwarzen Bäume schemenhaft an uns vorbeirasten. »Heißt das, du bist zu dem Schluss gekommen, dass du wach bist?«

Ich lachte, es war ein leichtes, natürliches Lachen, ganz unangestrengt. Es hörte sich richtig an. »Das kann man nicht sagen. Eher dass ich versuche, nicht aufzuwachen. Nicht heute Nacht.«

»Irgendwann werde ich mir dein Vertrauen wieder verdienen«, sagte er leise, mehr zu sich selbst. »Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«

»Dir vertraue ich ja«, versicherte ich ihm. »Aber mir nicht.«

»Das musst du mir mal erklären.«

Daran, dass der Wind nachließ, merkte ich, dass er jetzt nicht mehr rannte, und ich nahm an, dass es nicht mehr weit bis zum Haus war. Ich meinte sogar den Fluss zu hören, der irgendwo in der Nähe vorbeirauschte.

»Na ja …« Ich suchte nach den richtigen Worten. »Ich vertraue nicht darauf, dass ich … genug bin. Dass ich dich verdiene. Ich habe gar nichts, womit ich dich halten könnte.«

Er blieb stehen und holte mich von seinem Rücken herunter. Seine sanften Hände ließen mich nicht los; nachdem er mich wieder auf die Füße gesetzt hatte, umarmte er mich ganz fest und zog mich an seine Brust.

»Du hältst mich für immer und ewig«, flüsterte er. »Daran darfst du nie zweifeln.«

Aber wie sollte ich das nicht tun?

»Du hast mir immer noch nicht verraten …«, murmelte er.

»Was?«

»Was dein größtes Problem ist.«

»Einmal darfst du raten.« Seufzend tippte ich ihm mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze.

Er nickte. »Ich bin schlimmer als die Volturi«, sagte er grimmig. »Das habe ich wohl nicht anders verdient.«

Ich verdrehte die Augen. »Die Volturi könnten mich schlimmstenfalls umbringen.«

Er wartete mit wachsamem Blick.

»Du kannst mich verlassen«, erklärte ich. »Die Volturi, Victoria … die sind nichts dagegen.«

Selbst in der Dunkelheit sah ich, dass sich sein Gesicht schmerzhaft verzog – es erinnerte mich an seinen Gesichtsausdruck, als Jane ihn mit ihrem Blick gequält hatte; mir wurde elend und ich bereute, dass ich die Wahrheit gesagt hatte.

»Nicht«, flüsterte ich und berührte sein Gesicht. »Sei nicht traurig.«

Halbherzig zog er einen Mundwinkel hoch, aber das Lächeln erreichte seine Augen nicht. »Könnte ich dir doch nur begreiflich machen, dass ich dich gar nicht verlassen kann«, flüsterte er. »Vermutlich wird nur die Zeit dich überzeugen können.«

Die Idee gefiel mir. »Einverstanden«, sagte ich.

Er sah immer noch gequält aus, und ich versuchte ihn abzulenken.

»Kann ich denn jetzt, wo du hierbleibst, meine Sachen wiederhaben?«, fragte ich so leichthin wie möglich.

Ich hatte Erfolg, jedenfalls teilweise: Er lachte. Doch sein Blick war immer noch unglücklich. »Deine Sachen waren nie weg«, verriet er mir. »Ich wusste, dass das nicht richtig war, denn ich hatte dir ja Frieden ohne Erinnerungen versprochen. Es war dumm und kindisch, aber ich wollte, dass etwas von mir bei dir blieb. Die CD, die Fotos, die Tickets – das ist alles unter den Dielen in deinem Zimmer.«

»Was?«

Er nickte, und meine offensichtliche Freude über diese Kleinigkeit schien ihn aufzuheitern – wenn auch nicht genug, um den Schmerz aus seinem Gesicht zu verscheuchen.

»Ich glaube«, sagte ich langsam, »ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht … womöglich habe ich es die ganze Zeit gewusst.«

»Was hast du gewusst?«

Eigentlich wollte ich nur den gequälten Ausdruck aus seinem Blick vertreiben, doch als ich es sagte, klang es wahrer, als ich gedacht hatte.

»Irgendetwas in mir, vielleicht mein Unterbewusstsein, hat nie richtig geglaubt, dass es dir egal ist, ob ich lebe oder sterbe. Wahrscheinlich hab ich deshalb auch die Stimmen gehört.«

Eine Weile war es sehr still. »Stimmen?«, fragte er tonlos.

»Na ja, nur eine Stimme. Deine. Das ist eine lange Geschichte.« Als er mich misstrauisch ansah, bereute ich, dass ich davon angefangen hatte. Würde er mich für verrückt halten, wie alle anderen? Hatten sie etwa Recht? Wenigstens war der Ausdruck auf seinem Gesicht, so als würde etwas ihn innerlich verbrennen, verschwunden.

»Ich habe Zeit.« Er klang unnatürlich gelassen.

»Es ist ziemlich armselig.«

Er wartete.

Ich wusste nicht, wie ich es erklären sollte. »Weißt du noch, dass Alice gesagt hat, ich wär unter die Extremsportler gegangen?«

»Du bist zum Spaß von einer Klippe gesprungen«, sagte er ausdruckslos.

»Ähm, ja, genau. Und davor, mit dem Motorrad …«

»Motorrad?«, sagte er. Ich kannte seine Stimme gut genug, um zu merken, dass unter der äußeren Ruhe etwas brodelte.

»Das habe ich Alice wohl nicht erzählt.«

»Nein.«

»Also, das war so … Weißt du, ich hatte herausgefunden, dass … wenn ich etwas Gefährliches oder Dummes machte … dann konnte ich mich besser an dich erinnern«, gestand ich und kam mir dabei total gestört vor. »Dann wusste ich wieder, wie deine Stimme klingt, wenn du wütend bist. Ich konnte dich hören, als würdest du direkt neben mir stehen. Meistens versuchte ich, nicht an dich zu denken, aber in solchen Momenten tat es nicht so weh – es war, als würdest du mich wieder beschützen. Als ob du nicht wolltest, dass mir etwas zustößt. Und jetzt frage ich mich, ob ich dich wohl deshalb so deutlich hören konnte, weil ich insgeheim immer wusste, dass du mich noch liebst …«

Und wieder klangen die Worte echt, als ich sie aussprach. Irgendwo tief im Innern erkannte ich, dass es die Wahrheit war.

Seine Stimme klang erstickt. »Du … hast … dein Leben aufs Spiel gesetzt … um meine Stimme …«

»Schsch«, unterbrach ich ihn. »Warte mal. Ich glaub, ich hab gerade eine Erleuchtung.«

Ich dachte an die Nacht in Port Angeles, als ich die erste Halluzination hatte. Ich hatte zwei mögliche Erklärungen gehabt. Wahnsinn oder Wunschdenken. Eine dritte Möglichkeit hatte ich nicht gesehen.

Aber was, wenn …

Wenn man nun ernsthaft an etwas glaubte, aber völlig danebenlag? Wenn man sich so darauf versteift hatte, dass man die Wahrheit gar nicht in Betracht zog? Ließ sich die Wahrheit dann zum Schweigen bringen oder versuchte sie ans Licht zu kommen?

Möglichkeit drei: Edward liebte mich. Das Band zwischen uns ließ sich weder durch Distanz noch durch Zeit durchtrennen. Und ganz gleich, wie viel außergewöhnlicher oder schöner oder geistreicher oder vollkommener er war, so war er doch genauso unwiederbringlich verwandelt wie ich. So wie ich immer zu ihm gehören würde, so würde er auf immer mir gehören.

Hatte ich versucht, mir das klarzumachen?

»Oh!«

»Bella?«

»Oh. Gut. Jetzt verstehe ich.«

»Deine Erleuchtung?«, fragte er, und seine Stimme war wacklig und angespannt.

»Du liebst mich«, sagte ich verwundert. Wieder durchströmte mich das Gefühl, dass es wahr war.

Obwohl er immer noch besorgt aussah, breitete sich das schiefe Lächeln, das ich so liebte, auf seinem Gesicht aus. »Ja, so ist es.«

Mein Herz schwoll an, als wollte es meine Rippen sprengen. Es füllte meine Brust aus und schnürte mir die Kehle zu, so dass ich nicht sprechen konnte.

Er wollte mich tatsächlich so, wie ich ihn wollte – für immer. Er wollte nur deshalb so verzweifelt, dass ich sterblich blieb, weil er um meine Seele bangte, weil er mir das Menschliche nicht nehmen wollte. Verglichen mit der Angst, er könnte mich nicht wollen, kam mir dieses Hindernis – meine Seele – fast unbedeutend vor.

Er nahm mein Gesicht fest in seine kalten Hände und küsste mich, bis mir so schwindlig war, dass sich der Wald drehte. Dann legte er seine Stirn an meine, und ich war nicht die Einzige, die heftiger atmete als sonst.

»Du hast das besser hinbekommen als ich, weißt du?«, sagte er.

»Was hab ich besser hinbekommen?«

»Zu überleben. Du hast dich wenigstens bemüht. Du bist morgens aufgestanden, hast versucht, Charlie etwas vorzuspielen, bist zur Schule gegangen. Wenn ich nicht gerade auf Verfolgungsjagd war, dann war ich … zu nichts zu gebrauchen. Ich konnte nicht bei meiner Familie sein – ich konnte mit niemandem zusammen sein. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich mehr oder weniger eingeigelt und dem Unglück hingegeben habe.« Er lächelte verschämt. »Das war noch viel armseliger, als Stimmen zu hören.«

Ich war sehr erleichtert darüber, dass er mich zu verstehen schien – es war tröstlich, dass das für ihn alles einleuchtend war. Jedenfalls schaute er mich nicht so an, als hielte er mich für verrückt. Er schaute mich an, als ob … er mich liebte.

»Nur eine Stimme«, verbesserte ich ihn.

Er lachte, dann zog er mich fest an seine Seite und führte mich weiter.

»Ich mache das hier nur, damit du deinen Willen bekommst.« Während er mit großen Schritten weiterging, zeigte er vor sich in die Dunkelheit, wo groß und schwach schimmernd das Haus auftauchte. »Es ist völlig unerheblich, was sie sagen.«

»Es betrifft sie jetzt aber auch.«

Er zuckte gleichmütig die Schultern.

Er führte mich durch die offene Haustür in das dunkle Haus und schaltete das Licht an. Der Raum war genauso, wie ich ihn in Erinnerung hatte – der Flügel und die weißen Sofas und die helle, massive Treppe. Kein Staub, keine weißen Laken.

Edward rief ihre Namen, ohne die Stimme zu erheben. »Carlisle? Esme? Rosalie? Emmett? Jasper? Alice?« Sie würden ihn hören.

Carlisle stand plötzlich neben mir, als wäre er die ganze Zeit dort gewesen. »Herzlich willkommen, Bella.« Er lächelte. »Was können wir für dich tun? Angesichts der frühen Stunde nehme ich an, dass dies kein ganz gewöhnlicher Besuch ist?«

Ich nickte. »Ich möchte sofort mit euch allen sprechen, wenn das geht. Es ist wichtig.«

Während ich das sagte, schaute ich Edward ins Gesicht. Er guckte missbilligend, aber ergeben. Als ich wieder zu Carlisle schaute, sah auch er Edward an.

»Natürlich«, sagte Carlisle. »Lasst uns doch in das andere Zimmer gehen.«

Carlisle führte uns durch das helle Wohnzimmer, dann hinüber ins Esszimmer, und knipste die Lichter an. Das Zimmer hatte ebenso weiße Wände und eine so hohe Decke wie das Wohnzimmer. In der Mitte stand unter einem niedrig hängenden Kronleuchter ein großer, glänzender ovaler Tisch mit acht Stühlen. Carlisle bot mir einen Platz am Kopf des Tisches an.

Bis dahin hatte ich noch nie gesehen, dass die Cullens den Esstisch benutzten – er war nur Requisite. Sie aßen nicht im Haus.

Kaum hatte ich mich hingesetzt, sah ich, dass wir nicht allein waren. Esme war Edward gefolgt, und hinter ihr kam einer nach dem anderen die ganze Familie herein.

Carlisle setzte sich zu meiner Rechten und Edward zu meiner Linken. Auch die anderen nahmen leise Platz. Alice grinste mich an, sie wusste schon Bescheid. Emmett und Jasper sahen neugierig aus, und Rosalie lächelte mich zaghaft an. Ich lächelte genauso schüchtern zurück. Wir mussten uns erst noch aneinander gewöhnen.

Carlisle nickte mir zu. »Du hast das Wort.«

Ich schluckte. Es machte mich nervös, dass sie mich alle so anstarrten. Edward nahm unterm Tisch meine Hand. Ich schaute ihn verstohlen an, aber er beobachtete die anderen, er sah sehr angespannt aus.

»Also«, sagte ich. »Ich hoffe, Alice hat euch schon erzählt, was in Volterra passiert ist?«

»Alles«, versicherte mir Alice.

Ich sah sie vielsagend an. »Und das unterwegs?«

»Das auch.« Sie nickte.

»Gut.« Ich seufzte erleichtert. »Dann sind wir alle auf dem gleichen Stand.«

Sie warteten geduldig, während ich meine Gedanken zu ordnen versuchte.

»Also, ich habe ein Problem«, begann ich. »Alice hat den Volturi versprochen, dass ich eine von euch werde. Sie werden jemanden schicken, der das kontrolliert, und das ist bestimmt nichts Gutes – das sollten wir vermeiden. Denn jetzt betrifft es auch euch alle. Das tut mir leid.« Ich schaute ihre schönen Gesichter eins nach dem anderen an, wobei ich mir das allerschönste bis zuletzt aufbewahrte. Edward hatte die Mundwinkel nach unten verzogen. »Aber wenn ihr mich nicht wollt, werde ich mich nicht aufdrängen, ganz gleich, ob Alice dazu bereit ist oder nicht.«

Esme öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ich hob einen Finger, ich war noch nicht zu Ende.

»Bitte lass mich ausreden. Ihr alle wisst, was ich möchte. Und bestimmt wisst ihr auch, wie Edward darüber denkt. Ich glaube, die einzige Möglichkeit, zu einer gerechten Entscheidung zu kommen, ist eine Abstimmung. Wenn ihr beschließt, dass ihr mich nicht wollt, dann … dann werde ich wohl allein nach Italien zurückgehen. Ich kann nicht zulassen, dass sie hierherkommen.« Ich runzelte unwillkürlich die Stirn, als ich mir das vorstellte.

In Edwards Brust war ein schwaches Grollen zu hören. Ich achtete nicht darauf.

»Ihr sollt wissen, dass ich so oder so keinen von euch in Gefahr bringen werde. Ich möchte jetzt, dass ihr darüber abstimmt, ob ich ein Vampir werden soll oder nicht.«

Das Wort »Vampir« sprach ich mit einem halben Lächeln aus, dann nickte ich Carlisle zu, damit er anfangen sollte.

»Einen Moment«, unterbrach Edward.

Ich schaute ihn wütend an. Er guckte gleichmütig zurück und drückte meine Hand.

»Vor der Abstimmung möchte ich noch etwas hinzufügen.«

Ich seufzte.

»Es betrifft die Gefahr, auf die Bella sich bezieht«, fuhr er fort. »Ich glaube nicht, dass wir uns da allzu große Sorgen machen müssen.«

Jetzt kam Leben in sein Gesicht. Er legte die freie Hand auf den glänzenden Tisch und beugte sich vor.

»Es gab mehr als einen Grund dafür«, fing er an und schaute in die Runde, »dass ich Aro am Ende nicht die Hand reichen wollte. Sie haben eine Kleinigkeit außer Acht gelassen, und die wollte ich ihnen nicht verraten.« Er grinste.

»Und das wäre?«, sagte Alice. Ich sah bestimmt genauso skeptisch aus wie sie.

»Die Volturi sind sehr zuversichtlich, und dazu haben sie auch guten Grund. Wenn sie jemanden finden wollen, dann schaffen sie das auch. Erinnerst du dich an Demetri?« Er schaute mich an.

Ich schauderte. Er nickte und fuhr fort.

»Er spürt Menschen auf – das ist seine Gabe, deshalb ist er bei ihnen. Die ganze Zeit, während wir dort waren, habe ich ihre Gehirne nach etwas durchforstet, was uns retten könnte. Ich habe versucht, so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Und ich habe herausgefunden, wie Demetris Gabe funktioniert. Er ist ein Tracker – und er ist noch tausendmal begabter als James. Sein Talent ist entfernt mit dem verwandt, was ich mache oder Aro. Er schnappt das … Aroma? Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll … den Tenor … der Gedanken eines anderen auf, und dem folgt er dann. Es funktioniert über unglaubliche Entfernungen. Doch nach Aros kleinen Experimenten, nun ja …« Edward zuckte die Achseln.

»Du glaubst, er kann mich nicht finden«, platzte ich heraus.

»Da bin ich mir sicher«, sagte er überzeugt. »Er verlässt sich ganz und gar auf Demetris übersinnliche Fähigkeit. Wenn die bei dir nicht funktioniert, werden sie blind sein.«

»Und was haben wir damit gewonnen?«

»Alice wird uns sagen können, wann sie einen Besuch planen, und dann verstecke ich dich. Sie werden vollkommen hilflos sein«, sagte er hämisch. »Das wird wie die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen!«

Er und Emmett wechselten einen Blick und grinsten beide.

Ich fand das Ganze unlogisch. »Aber dich können sie doch finden«, erinnerte ich ihn.

»Und ich kann auf mich selbst aufpassen.«

Emmett lachte und streckte seinem Bruder die Hand hin.

»Ausgezeichneter Plan, Bruder«, sagte er begeistert.

Edward streckte den Arm aus und schlug ein.

»Nein«, zischte Rosalie.

»Absolut nicht«, stimmte ich ihr zu.

»Nett«, sagte Jasper anerkennend.

»Idioten«, murmelte Alice.

Esme schaute Edward nur wütend an.

Ich straffte mich und versuchte mich zu konzentrieren. Das hier war meine Versammlung.

»Na gut. Edward hat euch eine Alternative gezeigt, die ihr in Betracht ziehen könnt«, sagte ich kühl. »Lasst uns jetzt abstimmen.«

Diesmal schaute ich Edward an; ich wollte es hinter mich bringen und seine Meinung als Erstes hören. »Möchtest du, dass ich ein Mitglied eurer Familie werde?«

Seine Augen wurden hart und pechschwarz. »Nicht so. Du wirst ein Mensch bleiben.«

Ich nickte kurz und geschäftsmäßig, dann machte ich weiter.

»Alice?«

»Ja.«

»Jasper?«

»Ja«, sagte er mit ernster Stimme. Ich war ein wenig überrascht – ich war mir keineswegs sicher gewesen, dass er für mich stimmen würde –, doch ich verkniff mir eine Reaktion und fuhr fort.

»Rosalie?«

Sie zögerte und biss sich auf die volle, perfekte Unterlippe. »Nein.«

Ich ließ mir nichts anmerken und wandte den Kopf, um zum Nächsten überzugehen, doch sie hob die Hände.

»Ich möchte es gern erklären«, bat sie. »Es ist nicht so, dass ich irgendetwas gegen dich als Schwester hätte. Aber … dies ist nicht das Leben, das ich mir selbst ausgesucht hätte. Mir wäre es damals lieber gewesen, wenn jemand für mich mit Nein gestimmt hätte.«

Ich nickte langsam, dann wandte ich mich an Emmett.

»Aber sicher!« Er grinste. »Uns fällt bestimmt noch was anderes ein, wie wir uns mit diesem Demetri anlegen können.«

Ich musste ein Grinsen unterdrücken und schaute Esme an.

»Ja, natürlich, Bella. Für mich gehörst du jetzt schon zur Familie.«

»Danke, Esme«, murmelte ich und schaute zu Carlisle.

Plötzlich war ich nervös und bereute es, dass ich ihn nicht als Erstes gefragt hatte. Ich war mir sicher, dass seine Stimme das meiste Gewicht hatte, sie wog schwerer als jede Mehrheit.

Carlisle sah mich nicht an.

»Edward«, sagte er.

»Nein«, stöhnte Edward. Er hatte die Zähne zusammengebissen und die Oberlippe zurückgezogen.

»Es ist die einzig sinnvolle Möglichkeit«, beharrte Carlisle. »Du hast dich dafür entschieden, nicht ohne sie zu leben, daher bleibt mir keine Wahl.«

Edward ließ meine Hand los und rückte vom Tisch ab. Er stolzierte aus dem Zimmer und knurrte leise vor sich hin.

»Jetzt weißt du wohl, wie ich entschieden habe«, sagte Carlisle seufzend.

Ich starrte immer noch Edward nach. »Danke«, murmelte ich.

Aus dem anderen Zimmer kam ein ohrenbetäubender Knall.

Ich zuckte zusammen und sagte schnell: »Das war alles, was ich wissen wollte. Ich danke euch. Dafür, dass ihr mich bei euch behalten wollt. Ich empfinde ganz genauso für euch wie ihr für mich.«

Sofort war Esme bei mir und schlang mir die kalten Arme um den Körper.

»Liebste Bella«, hauchte sie.

Ich erwiderte ihre Umarmung. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Rosalie vor sich auf den Tisch schaute, und mir wurde bewusst, dass meine Worte auch anders aufgefasst werden konnten.

»Also, Alice«, sagte ich, als Esme mich losließ. »Wo willst du es machen?«

Alice starrte mich mit schreckgeweiteten Augen an.

»Nein! Nein! NEIN!«, brüllte Edward, der jetzt wieder ins Zimmer stürmte. Ehe ich auch nur blinzeln konnte, war er bei mir, er beugte sich über mich, das Gesicht vor Wut verzerrt. »Hast du den Verstand verloren?«, rief er. »Bist du wahnsinnig geworden?«

Ich duckte mich und hielt mir die Ohren zu.

»Ähm, Bella«, fiel Alice ängstlich ein. »Ich glaube nicht, dass ich schon so weit bin. Das bedarf einiger Vorbereitung …«

»Du hast es versprochen«, erinnerte ich sie und funkelte sie unter Edwards Arm hindurch an.

»Ich weiß, aber … Im Ernst, Bella! Ich habe keine Ahnung, wie ich es anstellen soll, dich dabei nicht umzubringen.«

»Du schaffst das schon«, sagte ich ermutigend. »Ich vertraue dir.«

Edward knurrte zornig.

Alice schüttelte schnell den Kopf und schaute mich panisch an.

»Carlisle?« Ich wandte mich zu ihm.

Edward fasste mir ans Kinn und zwang mich, ihn anzusehen. Mit der anderen Hand gab er Carlisle zu verstehen, dass er schweigen sollte.

Carlisle achtete nicht darauf. »Ich könnte es machen«, beantwortete er meine Frage. Ich hätte gern sein Gesicht gesehen. »Es bestünde keine Gefahr, dass ich die Beherrschung verlieren würde.«

»Das hört sich doch gut an.« Ich hoffte, dass er mich verstehen konnte; Edward hielt mein Kinn so fest, dass ich kaum sprechen konnte.

»Moment mal«, sagte Edward zwischen den Zähnen. »Es muss ja nicht jetzt gleich sein.«

»Es gibt keinen Grund, weshalb es nicht jetzt gleich sein sollte«, nuschelte ich.

»Mir würde da schon der eine oder andere einfallen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte ich aufgebracht. »Und jetzt lass mich los.«

Er gab mein Gesicht frei und verschränkte die Arme vor der Brust. »In etwa drei Stunden wird Charlie hier sein und dich suchen. Ich würde es ihm glatt zutrauen, dass er die Polizei einschaltet.«

»Allen dreien«, fügte er hinzu.

Das war das Schwerste. Charlie, Renée. Jetzt auch noch Jacob. Die Menschen, die ich verlieren und denen ich wehtun würde. Es wäre mir lieber, wenn nur ich zu leiden hätte, aber ich wusste, dass das unmöglich war.

Andererseits schadete ich ihnen noch mehr, wenn ich ein Mensch blieb. Charlie setzte ich durch meine bloße Nähe ständig der Gefahr aus. Jake setzte ich einer noch größeren Gefahr aus, indem ich seine Feinde in das Gebiet zog, das er bewachen musste. Und Renée – ich konnte es noch nicht mal riskieren, meine Mutter zu besuchen, weil ich befürchten musste, meine tödlichen Probleme mit zu ihr zu nehmen.

Ich zog Gefahren magnetisch an, damit hatte ich mich inzwischen abgefunden.

Es musste mir gelingen, nicht nur mich selbst zu schützen, sondern vor allem die, die mir nahestanden, selbst wenn das hieß, dass ich nicht mit ihnen zusammen sein konnte. Ich musste stark sein.

»Wir sind doch alle dafür, möglichst wenig Aufsehen zu erregen«, sagte Edward, immer noch zwischen zusammengebissenen Zähnen, zu Carlisle gewandt. »Und deshalb schlage ich vor, dass wir dieses Gespräch verschieben, zumindest so lange, bis Bella mit der Schule fertig ist und nicht mehr bei Charlie wohnt.«

»Das ist ein vernünftiger Einwand, Bella«, sagte Carlisle.

Ich stellte mir vor, wie Charlie reagieren würde, wenn er heute Morgen aufwachte und nach allem, was er diese Woche hatte durchmachen müssen – erst Harrys Tod, dann mein plötzliches Verschwinden –, mein Bett leer vorfände. Das hatte er nicht verdient. So lange war es ja gar nicht mehr hin bis zum Schulabschluss …

Ich schob die Lippen vor. »Ich werd’s mir überlegen.«

Edwards Kiefermuskeln entspannten sich.

»Es ist besser, wenn ich dich jetzt nach Hause bringe«, sagte er. Er war jetzt ruhiger, hatte es aber eindeutig eilig, mich von hier fortzubringen. »Nur für den Fall, dass Charlie früher wach wird.«

Ich schaute Carlisle an. »Wenn ich mit der Schule fertig bin?«

»Du hast mein Wort.«

Ich holte tief Luft, lächelte und wandte mich wieder an Edward: »Gut. Du kannst mich nach Hause bringen.«

Schnell führte Edward mich aus dem Haus, ehe Carlisle mir noch weitere Versprechungen machen konnte. Er brachte mich zum Hintereingang hinaus, so dass ich nicht sehen konnte, was im Wohnzimmer zu Bruch gegangen war.

Auf dem Rückweg schwiegen wir. Ich hatte gewonnen und war darüber ziemlich zufrieden. Natürlich hatte ich auch Angst, aber daran versuchte ich nicht zu denken. Wieso sollte ich mir den Schmerz ausmalen – den körperlichen oder seelischen? Ich würde erst daran denken, wenn es gar nicht mehr anders ging.

Als wir bei mir zu Hause angekommen waren, sauste Edward die Wand hoch und zu meinem Fenster hinein. Dann löste er meine Arme von seinem Nacken und setzte mich aufs Bett.

Ich glaubte ziemlich genau zu wissen, was er dachte, aber als ich sein Gesicht sah, war ich überrascht. Er sah nicht wütend aus, eher abschätzend. Er ging in meinem dunklen Zimmer schweigend auf und ab, während ich ihn mit wachsendem Misstrauen ansah.

»Egal, was du im Schilde führst, es wird nicht funktionieren«, sagte ich.

»Scht, ich denke nach.«

»Grrrm«, stöhnte ich, ließ mich aufs Bett fallen und zog mir die Decke über den Kopf.

Ich hörte nichts, aber plötzlich war er bei mir und zog die Decke zurück, so dass er mich ansehen konnte. Er lag neben mir. Er strich mir die Haare von der Wange.

»Wenn es dir nichts ausmacht, wäre es mir sehr lieb, wenn du dein Gesicht nicht verbergen würdest. Ich habe viel zu lange ohne deinen Anblick gelebt. Jetzt … musst du mir eine Frage beantworten.«

»Was?«, fragte ich widerstrebend.

»Wenn du einen einzigen Wunsch frei hättest, ganz egal welchen, was würdest du dir dann wünschen?«

Ich sah ihn skeptisch an. »Dich.«

Er schüttelte ungeduldig den Kopf. »Etwas, was du noch nicht hast.«

Ich war mir nicht sicher, worauf er hinauswollte, deshalb überlegte ich genau, ehe ich antwortete. Dann sagte ich etwas, was sowohl wahr als auch so gut wie unmöglich war.

»Ich würde mir wünschen … dass Carlisle es nicht machen muss. Sondern dass du mich verwandelst.«

Ich behielt ihn argwöhnisch im Auge und erwartete einen Wutanfall wie bei ihm zu Hause. Zu meiner Überraschung blieb seine Miene unverändert. Er sah immer noch nachdenklich aus.

»Was würdest du dafür geben?«

Ich traute meinen Ohren nicht. Ich starrte in sein gelassenes Gesicht und platzte mit der Antwort heraus, ohne groß zu überlegen.

»Alles.«

Er lächelte schwach, dann verzog er den Mund. »Fünf Jahre?«

Bestimmt guckte ich ebenso wütend wie entsetzt.

»Du hast gesagt, alles«, erinnerte er mich.

»Ja, aber … du würdest die Zeit nutzen, um dich herauszuwinden. Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Außerdem ist es zu gefährlich, ein Mensch zu bleiben – jedenfalls für mich. Also, alles, aber nicht das

Er runzelte die Stirn. »Drei Jahre?«

»Nein!«

»Ist es dir denn gar nichts wert?«

Ich dachte darüber nach, wie sehr ich es mir wünschte. Lieber ein Pokerface aufsetzen, beschloss ich, und nicht zeigen, wie sehr. So hatte ich mehr Verhandlungsspielraum. »Ein halbes Jahr?«

Er verdrehte die Augen. »Das reicht nicht.«

»Dann ein Jahr«, sagte ich. »Das ist mein letztes Wort.«

»Gib mir wenigstens zwei.«

»Ausgeschlossen. Neunzehn lass ich mir ja noch gefallen. Aber es kommt nicht in Frage, dass ich auch nur in die Nähe der Zwanzig gerate. Wenn du dein Leben lang ein Teenager bleibst, will ich das auch.«

Er dachte einen Augenblick darüber nach. »Na gut. Lassen wir die Fristen beiseite. Wenn du willst, dass ich es mache – dann musst du nur eine Bedingung erfüllen.«

»Bedingung?« Meine Stimme wurde tonlos. »Was für eine?«

Sein Blick war vorsichtig – er sprach langsam. »Heirate mich vorher.«

Ich starrte ihn an und wartete. »Okay. Wo bleibt die Pointe?«

Er seufzte. »Du verletzt meinen Stolz, Bella. Ich habe dir gerade einen Heiratsantrag gemacht, und du hältst es für einen Witz.«

»Edward, sei bitte ernst.«

»Ich bin todernst.« Er sah mich zutiefst aufrichtig an.

»Aber sicher«, sagte ich, und ich merkte, dass ich leicht hysterisch klang. »Ich bin erst achtzehn.«

»Und ich bin fast hundertzehn. Es wird Zeit, dass ich sesshaft werde.«

Ich wandte den Blick ab und schaute zum dunklen Fenster hinaus. Ich versuchte die Panik in den Griff zu bekommen, bevor ich mich verriet.

»Weißt du, heiraten steht bei mir nicht gerade ganz oben auf der Liste. Für Renée und Charlie war es so was wie der Todeskuss.«

»Interessante Wortwahl.«

»Du weißt schon, was ich meine.«

Er holte tief Luft. »Jetzt erzähl mir bitte nicht, dass du Angst hast, dich zu binden«, sagte er ungläubig, und ich wusste, worauf er abzielte.

»Nicht direkt«, sagte ich ausweichend. »Ich hab … ich hab Angst vor Renée. Sie hat ziemlich deutliche Ansichten zum Thema Heiraten unter dreißig.«

»Wäre es ihr lieber, wenn du eine von den ewigen Verdammten würdest, als zu heiraten?« Er lachte düster.

»Du hältst das für einen Witz.«

»Bella, wenn man die Verpflichtung, die man mit der Ehe eingeht, damit vergleicht, was es bedeutet, die eigene Seele zu verschachern, um bis in alle Ewigkeit ein Dasein als Vampir zu fristen …« Er schüttelte den Kopf. »Wenn du nicht den Mut aufbringst, mich zu heiraten, dann …«

»Und«, unterbrach ich ihn. »Wenn ich es täte? Wenn ich dir sagen würde, du sollst jetzt mit mir nach Las Vegas fahren? Wäre ich dann in drei Tagen ein Vampir?«

Er lächelte, und seine Zähne blitzten im Dunkeln. Er nahm mich beim Wort. »Natürlich«, sagte er. »Ich hole schon mal den Wagen.«

»Verdammt«, murmelte ich. »Ich geb dir anderthalb Jahre.«

»Kommt nicht in Frage.« Er grinste. »Ich bestehe auf dieser Bedingung.«

»Gut. Dann lasse ich es Carlisle machen, wenn ich mit der Schule fertig bin.«

»Wenn es dir so lieber ist.« Er zuckte die Achseln, und jetzt war sein Lächeln absolut engelsgleich.

»Du bist unmöglich«, stöhnte ich. »Ein Monster.«

Er kicherte. »Willst du mich deshalb nicht heiraten?«

Ich stöhnte wieder.

Er beugte sich zu mir; seine nachtdunklen Augen glühten, und ich konnte nicht mehr richtig denken. »Bitte, Bella?«, hauchte er.

Einen Augenblick vergaß ich zu atmen. Als ich wieder zu mir kam, schüttelte ich schnell den Kopf und versuchte den Nebel aus meinen Gedanken zu verscheuchen.

»Hätte ich mehr Erfolg bei dir, wenn ich Zeit gehabt hätte, einen Ring zu besorgen?«

»Nein! Keine Ringe!« Ich schrie es beinahe.

»Jetzt hast du ja gesagt«, flüsterte er.

»Ups.«

»Charlie steht gleich auf, ich verschwinde lieber«, sagte Edward resigniert.

Mein Herzschlag setzte aus.

Er schaute mir ins Gesicht. »Wäre es kindisch, wenn ich mich in deinem Schrank verstecke?«

»Nein!«, flüsterte ich begeistert. »Bitte bleib.«

Edward lächelte und verschwand.

Aufgewühlt lag ich im Dunkeln und wartete darauf, dass Charlie hereinkam. Edward wusste genau, was er tat, und ich wäre jede Wette eingegangen, dass sein angeblich verletzter Stolz Teil des Schlachtplans war. Natürlich konnte ich immer noch Carlisles Angebot annehmen, aber jetzt, mit der Möglichkeit vor Augen, dass Edward mich selbst verwandelte, wollte ich es unbedingt. Er war wirklich gerissen.

Die Tür ging einen Spalt auf.

»Guten Morgen, Dad.«

»Oh, hallo, Bella.« Offenbar war es ihm peinlich, dass ich ihn ertappt hatte. »Ich wusste nicht, dass du schon wach bist.«

»Ja. Ich hab nur gewartet, bis du aufwachst, damit ich in die Dusche kann.« Ich stand auf.

»Warte«, sagte Charlie und schaltete das Licht an. Ich blinzelte in das grelle Licht und gab mir alle Mühe, nicht zum Schrank zu schauen. »Ich muss erst mal mit dir reden.«

Ich schnitt eine Grimasse. Ich hatte vergessen, Alice nach einer guten Ausrede zu fragen.

»Du weißt, dass du Ärger kriegst.«

»Ja, schon klar.«

»Ich bin in den letzten drei Tagen fast wahnsinnig geworden. Da komme ich von Harrys Beerdigung nach Hause und du bist spurlos verschwunden. Von Jacob höre ich nur, dass du mit Alice Cullen abgehauen bist und in Schwierigkeiten steckst. Du hast keine Telefonnummer hinterlassen und nichts von dir hören lassen. Ich wusste nicht, wo du warst und wann – oder ob – du wieder nach Hause kommst. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie … wie …« Er atmete heftig ein, bevor er weitersprach. »Kannst du mir einen einzigen Grund nennen, weshalb ich dich nicht auf der Stelle nach Jacksonville schicken sollte?«

Ich kniff die Augen zusammen. Er wollte mir also drohen. Aber das konnte ich auch. Ich setzte mich auf und schlang mir die Decke um. »Weil ich nicht gehe.«

»Einen Moment mal, mein Fräulein …«

»Hör mal, Dad, ich übernehme die volle Verantwortung für alles, was ich gemacht habe, und von mir aus kannst du mir den Hausarrest meines Lebens verpassen. Ich erledige sämtliche Hausarbeit und die Wäsche und den Abwasch, bis du der Meinung bist, ich hätte meine Lektion gelernt. Und du hast bestimmt auch jedes Recht, mich rauszuschmeißen – aber nach Florida gehe ich trotzdem nicht.«

Er wurde puterrot im Gesicht. Er atmete ein paarmal durch, ehe er antwortete.

»Würdest du mir dann bitte mal erklären, wo du gesteckt hast?«

Oh, verdammt. »Es war … ein Notfall.«

Er zog die Augenbrauen hoch und wartete auf die Fortsetzung meiner grandiosen Erklärung.

Ich blies die Wangen auf und pustete geräuschvoll aus. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen, Dad. Es war vor allem ein Missverständnis. Klatsch und Tratsch. Und das ist dann irgendwie aus dem Ruder gelaufen.«

Er wartete misstrauisch.

»Weißt du, Alice hatte Rosalie erzählt, dass ich von der Klippe gesprungen bin …« Weil ich so eine schlechte Lügnerin war, versuchte ich verzweifelt, eine Geschichte hinzukriegen, die der Wahrheit möglichst nahe kam, doch ehe ich weitersprechen konnte, erinnerte Charlies entsetzter Gesichtsausdruck mich daran, dass er von dem Klippensprung noch gar nichts gewusst hatte.

Oje, oje. Als wäre ich nicht sowieso schon erledigt.

»Ach, das hab ich dir noch gar nicht erzählt«, brachte ich mühsam heraus. »Ist auch nicht der Rede wert. Ich war mit Jake schwimmen und wir hatten ein bisschen Spaß … Jedenfalls hat Rosalie Edward davon erzählt, und er hat sich furchtbar aufgeregt. Bei ihr klang es irgendwie so, als wollte ich mich umbringen oder so. Und Alice konnte ihn nicht erreichen, deshalb hat sie mich nach … nach L.A. geschleppt, damit ich es ihm persönlich erklären konnte.« Ich zuckte die Schultern und hoffte verzweifelt, dass mein unbeabsichtigtes Geständnis ihn nicht zu sehr von der großartigen Erklärung ablenkte, die ich ihm gerade geliefert hatte.

Charlies Miene war versteinert. »Wolltest du dich wirklich umbringen, Bella?«

»Nein, natürlich nicht. Jake und ich hatten nur Spaß zusammen. Wir sind von der Klippe gesprungen. Das machen die Jungs aus La Push andauernd. Wie gesagt, nicht der Rede wert.«

Charlies Gesicht war jetzt nicht mehr versteinert, sondern rot vor Wut. »Was geht das Edward Cullen überhaupt an?«, schimpfte er. »Die ganze Zeit hat er dich ohne ein Wort hängenlassen …«

Ich unterbrach ihn. »Das war auch ein Missverständnis.«

Er wurde wieder rot. »Dann ist er also zurück?«

»Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie sind alle wieder da.«

Er schüttelte den Kopf, die Ader auf seiner Stirn pochte. »Ich möchte, dass du dich von ihm fernhältst, Bella. Ich traue ihm nicht über den Weg. Der ist nichts für dich. Ich will nicht, dass er dich noch mal so fertigmacht.«

»In Ordnung«, sagte ich kurz angebunden.

Charlie war bass erstaunt. »Ach.« Er musste sich einen Augenblick sammeln und atmete vor Überraschung laut aus. »Ich hätte gedacht, du würdest dich auf die Hinterbeine stellen.«

»Tu ich auch.« Ich sah ihm geradewegs in die Augen. »Ich meinte: In Ordnung, dann ziehe ich aus.«

Ihm traten fast die Augen aus dem Kopf und sein Gesicht wurde dunkelrot. Mein Entschluss geriet ins Wanken, denn jetzt machte ich mir plötzlich Sorgen um seine Gesundheit. Er war genauso alt wie Harry …

»Dad, ich möchte ja gar nicht ausziehen«, sagte ich in milderem Ton. »Ich hab dich lieb und ich weiß, dass du dir Sorgen machst, aber du musst mir vertrauen. Und wenn du willst, dass ich bleibe, musst du versuchen, die Sache mit Edward ein bisschen entspannter zu sehen. Willst du, dass ich hierbleibe, oder nicht?«

»Das ist unfair, Bella. Du weißt, dass ich dich bei mir haben möchte.«

»Dann sei nett zu Edward, denn er wird da sein, wo ich bin.« Ich sagte es voller Zuversicht. Meine Erleuchtung wirkte immer noch nach.

»Nicht in meinem Haus«, tobte Charlie.

Ich seufzte tief. »Am besten, wir vertagen die Diskussion. Denk einfach ein paar Tage darüber nach, ja? Aber vergiss nicht, dass Edward und ich nur im Doppelpack zu haben sind.«

»Bella …«

»Denk drüber nach«, sagte ich. »Und könntest du mich jetzt bitte einen Moment allein lassen? Ich muss unbedingt unter die Dusche.«

Charlies Gesicht war von einem eigenartigen Lila, aber er ging, und er knallte die Tür hinter sich zu. Ich hörte ihn wütend die Treppe hinunterstampfen.

Ich warf die Decke ab, und da war Edward auch schon, er saß im Schaukelstuhl, als hätte er die ganze Zeit dort gesessen.

»Tut mir leid«, flüsterte ich.

»Ach, ich hätte wesentlich Schlimmeres verdient«, murmelte er. »Verdirb es dir meinetwegen bitte nicht mit Charlie.«

»Mach dir deswegen keine Sorgen«, flüsterte ich. Ich suchte meine Sachen fürs Badezimmer und saubere Klamotten zusammen. »Ich verderbe es mir nicht mehr als nötig mit ihm. Oder willst du mir etwa sagen, dass ich nirgendwo hinkann?« Ich riss in gespieltem Entsetzen die Augen auf.

»Du würdest in ein Haus mit lauter Vampiren ziehen?«

»Da wäre jemand wie ich vermutlich am sichersten. Außerdem …« Ich grinste. »Wenn Charlie mich rausschmeißt, brauchen wir auch nicht zu warten, bis ich mit der Schule fertig bin, oder?«

Er biss die Zähne zusammen. »Kannst du es denn gar nicht abwarten bis zur ewigen Verdammnis?«, sagte er leise.

»Daran glaubst du doch selbst nicht.«

»Ach, nein?«, sagte er wütend.

»Nein.«

Er schaute mich finster an und wollte etwas sagen. Aber ich fiel ihm ins Wort.

»Wenn du wirklich glauben würdest, dass du deine Seele verloren hast, dann hättest du sofort kapiert, was los war, als ich dich in Volterra gefunden hatte. Dann hättest du nicht gedacht, wir wären beide tot. Aber du hast gesagt: Erstaunlich. Carlisle hatte Recht«, erinnerte ich ihn triumphierend. »Du hast die Hoffnung also doch noch nicht ganz aufgegeben.«

Ausnahmsweise war Edward einmal sprachlos.

»Also lass uns doch gemeinsam hoffen, ja?«, schlug ich vor. »Nicht, dass es irgendwie wichtig wäre. Wenn du bei mir bleibst, brauche ich keinen Himmel.«

Langsam stand er auf, nahm mein Gesicht in seine Hände und schaute mir in die Augen. »Für immer«, schwor er, immer noch überwältigt.

»Mehr verlange ich nicht«, sagte ich und reckte mich auf die Zehenspitzen, damit ich meine Lippen auf seine drücken konnte.