Wettlauf mit der Zeit
Wir erreichten die Maschine in allerletzter Sekunde, und dann begann eine wahre Tortur. Das Flugzeug stand auf dem Rollfeld, während die Stewards und Stewardessen gemächlich den Gang auf und ab gingen und kontrollierten, ob die Taschen auch alle richtig in den Gepäckfächern untergebracht waren. Die Piloten lehnten sich aus dem Cockpit und plauderten mit ihnen, wenn sie vorbeikamen. Alice hielt mich an der Schulter fest und sorgte dafür, dass ich auf dem Sitz blieb, während ich nervös auf und ab hüpfte.
»So ist es immer noch schneller, als wenn wir laufen würden«, ermahnte sie mich leise.
Ich nickte im Takt zu meinem Gehüpfe.
Endlich entfernte sich das Flugzeug träge vom Flughafengebäude und begann so langsam zu beschleunigen, dass es eine Qual war. Kurz vor dem Abheben erwartete ich irgendein Gefühl von Erleichterung, doch meine rasende Ungeduld legte sich nicht.
Noch bevor wir die endgültige Flughöhe erreicht hatten, nahm Alice ihr Mobiltelefon von dem Tischchen am Sitz vor ihr und wandte der Stewardess, die sie missbilligend ansah, den Rücken zu. Irgendetwas in meinem Blick hielt die Stewardess davon ab, herüberzukommen und Alice zurechtzuweisen.
Ich versuchte auszublenden, was Alice Jasper mit gedämpfter Stimme erzählte, denn ich wollte die Worte nicht noch einmal hören. Einige drangen trotzdem zu mir durch.
»Ich bin mir nicht sicher, ich sehe ihn dauernd etwas anderes tun, er entscheidet sich immer wieder um … Ein Amoklauf durch die Stadt, die Wachen niederschlagen, auf der großen Piazza ein Auto über den Kopf stemmen … alles Mögliche, was sie bloßstellen würde – er weiß, dass er sie damit am schnellsten zum Handeln zwingen könnte … Nein, kannst du nicht.« Alice’ Stimme wurde immer leiser, bis ich sie kaum noch verstehen konnte, obwohl ich direkt neben ihr saß. Umso konzentrierter lauschte ich. »Sag Emmett, dass er das lassen soll … Dann fahr Emmett und Rosalie hinterher und hol sie zurück … Überleg doch mal, Jasper. Was wird er wohl tun, wenn er einen von uns sieht?«
Sie nickte. »Genau. Ich glaube, Bella ist unsere einzige Chance, wenn wir überhaupt eine haben … Ich tue mein Möglichstes, aber bereite Carlisle auf das Schlimmste vor – es sieht nicht gut aus.«
Dann lachte sie, und ihre Stimme stockte. »Daran habe ich auch schon gedacht … Ja, versprochen.« Ihre Stimme wurde flehend. »Nein, komm mir nicht hinterher. Ich verspreche es dir, Jasper. Irgendwie komme ich da raus … Und ich liebe dich.«
Sie legte auf und lehnte sich mit geschlossenen Augen in den Sitz zurück. »Ich hasse es, ihn anzulügen.«
»Du musst mir alles erzählen, Alice«, flehte ich. »Ich verstehe das nicht. Warum hast du Jasper gesagt, er soll Emmett aufhalten? Warum sollen sie nicht kommen und uns helfen?«
»Aus zwei Gründen«, flüsterte sie, immer noch mit geschlossenen Augen. »Den ersten habe ich ihm genannt. Wir könnten versuchen, Edward selbst aufzuhalten – wenn Emmett ihn zu fassen bekäme, könnten wir ihn womöglich aufhalten und davon überzeugen, dass du lebst. Aber wir können uns ja nicht an Edward heranschleichen. Und wenn er merkt, dass wir hinter ihm her sind, beeilt er sich nur umso mehr. Dann wirft er womöglich einen Buick durch eine Mauer oder so, und dann bringen die Volturi ihn um. Womit wir beim zweiten Grund wären, und den konnte ich Jasper nicht verraten. Denn wenn sie dort sind und die Volturi Edward töten, dann würde es zum Kampf kommen. Bella.« Sie schlug die Augen auf und sah mich flehend an. »Wenn wir nur die leiseste Chance hätten zu gewinnen … wenn wir vier meinen Bruder retten könnten, indem wir für ihn kämpfen, dann wäre es etwas anderes. Doch das können wir nicht, und ich will Jasper nicht auf diese Weise verlieren.«
Ich begriff, warum sie mit ihrem Blick um Verständnis flehte. Sie schützte Jasper, auf unsere Kosten – und vielleicht auch auf Edwards Kosten. Ich konnte sie verstehen, ich machte ihr keinen Vorwurf. Ich nickte.
»Aber kann Edward dich nicht hören?«, fragte ich. »Weiß er nicht, sobald er deine Gedanken hört, dass ich lebe und dass das Ganze völlig unnötig ist?«
Nicht dass sein Verhalten sich irgendwie rechtfertigen ließ, so oder so. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass er so auf meinen vermeintlichen Tod reagieren konnte. Es war völlig absurd! Ich erinnerte mich noch schmerzlich genau an seine Worte an jenem Tag auf dem Sofa, als wir zuschauten, wie Romeo und Julia sich umbrachten, erst sie, dann er. Ich hatte nicht vor, ohne dich weiterzuleben, hatte er gesagt, als wäre das die einzig logische Konsequenz. Doch die Worte, die er im Wald gesagt hatte, als er mich verließ, hatten das alles zunichtegemacht – mit aller Macht.
»Wenn er zuhören würde, könnte er das«, erklärte sie. »Aber ob du es glaubst oder nicht, man kann auch in Gedanken lügen. Selbst wenn du gestorben wärst, würde ich versuchen, ihn aufzuhalten. Und dann würde ich ›Sie lebt, sie lebt‹ denken, so fest ich könnte. Und das weiß er.«
Ich knirschte frustriert mit den Zähnen.
»Wenn ich das hier irgendwie ohne dich machen könnte, Bella, würde ich dich nicht in solch eine Gefahr bringen. Es ist nicht richtig.«
»Sei nicht albern. Ich bin die Letzte, um die du dir Sorgen machen solltest.« Ich tat ihre Bedenken mit einem ungeduldigen Kopfschütteln ab. »Was hast du eigentlich damit gemeint, als du gesagt hast, du musstest Jasper anlügen?«
Sie lächelte grimmig. »Ich habe ihm versprochen, mich aus dem Staub zu machen, bevor sie auch mich umbringen. Das kann ich überhaupt nicht versprechen – unmöglich.« Sie sah mich eindringlich an, als wollte sie mich dazu bringen, die Gefahr ernster zu nehmen.
»Wer sind diese Volturi?«, flüsterte ich. »Warum sind sie so viel gefährlicher als Emmett, Jasper, Rosalie und du?« Es war schwer, sich das vorzustellen.
Sie atmete tief durch und warf dann plötzlich einen finsteren Blick über meine Schulter. Ich wandte mich zur anderen Seite und sah gerade noch, dass der Mann auf dem Platz am Gang rasch wegschaute, als würde er uns gar nicht beachten. Mit seinem dunklen Anzug, der Krawatte und dem Laptop auf den Knien wirkte er wie ein Geschäftsmann. Während ich ihn verärgert anstarrte, klappte er den Computer auf und setzte sich demonstrativ einen Kopfhörer auf.
Ich beugte mich näher zu Alice hinüber. Als sie mir die Geschichte zuflüsterte, berührten ihre Lippen fast meine Ohren.
»Ich war überrascht, dass du den Namen kennst«, sagte sie. »Dass du sofort geschaltet hast, als ich sagte, er sei auf dem Weg nach Italien. Ich hatte gedacht, ich müsste es dir erklären. Was hat Edward dir erzählt?«
»Er hat nur gesagt, dass sie eine alte, mächtige Familie sind – fast wie eine königliche Familie. Und dass man sie sich nicht zum Feind machen sollte, es sei denn, man möchte … sterben«, flüsterte ich. Das letzte Wort brachte ich nur mit Mühe heraus.
»Du musst verstehen«, sagte sie, jetzt langsam und überlegt, »dass wir Cullens in mehr als einer Hinsicht einzigartig sind, mehr … als du weißt … Es ist … nicht normal, dass so viele von uns friedlich zusammenleben. Bei Tanyas Familie ist es auch so, und Carlisle vermutet, dass es die Enthaltsamkeit ist, die es uns leichter macht, zivilisiert zu sein und Bindungen einzugehen, die auf Liebe beruhen und nicht bloß auf Überlebensinstinkt und Eigennutz. Selbst James’ kleiner Dreierzirkel war schon ungewöhnlich groß – und du hast gesehen, wie problemlos Laurent ihn verlassen hat. Unsereins ist im Allgemeinen allein oder zu zweit unterwegs. Soweit ich weiß, sind wir Cullens die größte existierende Familie, mit einer Ausnahme, den Volturi. Ursprünglich waren sie zu dritt: Aro, Caius und Marcus.«
»Ich habe sie gesehen«, murmelte ich. »Auf dem Bild in Carlisles Arbeitszimmer.«
Alice nickte. »Im Laufe der Zeit kamen noch zwei Frauen hinzu, und seitdem sind die fünf eine Familie. Genau weiß ich es nicht, aber ich vermute, ihr hohes Alter ist der Grund dafür, dass sie so friedlich zusammenleben können. Sie sind über dreitausend Jahre alt. Es mag auch sein, dass sie ihrer Talente wegen toleranter sind als andere. Wie Edward und ich haben auch Aro und Marcus besondere Fähigkeiten.«
Ehe ich nachfragen konnte, fuhr sie schon fort: »Vielleicht ist es auch nur ihre Liebe zur Macht, die sie zusammenhält. Königliche Familie ist eine treffende Beschreibung.«
»Aber wenn es nur fünf sind …«
»Die fünf bilden die Familie«, verbesserte sie mich. »Da sind die Wachen noch nicht mitgezählt.«
Ich atmete tief durch. »Das klingt … gefährlich.«
»Das ist es auch«, sagte sie. »Als wir das letzte Mal von ihnen gehört haben, gab es neun ständige Wachen. Dann gibt es noch andere, die eher … vorübergehend sind. Das wechselt. Und viele von ihnen haben ebenfalls besondere, ungeheure Talente; Talente, gegen die meine Künste aussehen wie ein simpler Zaubertrick. Die Volturi wählen sie gezielt nach ihren Begabungen aus.«
Ich öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Ich wollte gar nicht so genau wissen, wie schlecht unsere Aussichten wirklich waren.
Sie nickte, als wüsste sie genau, was ich dachte. »Sie haben nicht oft Auseinandersetzungen mit anderen. Niemand ist so dumm, sich mit ihnen anzulegen. Sie bleiben in ihrer Stadt und verlassen sie nur, wenn die Pflicht ruft.«
»Die Pflicht?«, fragte ich.
»Hat Edward dir nicht erzählt, was sie tun?«
»Nein«, sagte ich verdutzt.
Alice blickte noch einmal über meinen Kopf hinweg zu dem Geschäftsmann, dann legte sie ihre kalten Lippen wieder an mein Ohr.
»Es hat seine Gründe, dass er sie die königliche Familie genannt hat … die herrschende Klasse. Im Laufe der Jahrtausende haben sie es übernommen, für die Einhaltung unserer Regeln zu sorgen, was nichts anderes heißt, als Missetäter zu bestrafen. Darum kümmern sie sich akribisch.«
Ich riss entsetzt die Augen auf. »Es gibt Regeln?«, fragte ich viel zu laut.
»Pst!«
»Hätte mir das nicht mal jemand erzählen können?«, flüsterte ich wütend. »Ich meine … ich wollte ein … ich wollte eine von euch werden! Hätte mir nicht mal jemand die Regeln erklären können?«
Alice kicherte leise über meine Reaktion. »So kompliziert ist es gar nicht, Bella. Es gibt nur eine wesentliche Einschränkung – und wenn du nachdenkst, kommst du wahrscheinlich von selbst drauf.«
Ich dachte nach. »Nein, keine Ahnung.«
Sie schüttelte enttäuscht den Kopf. »Vielleicht liegt es zu sehr auf der Hand. Wir müssen unsere Existenz geheim halten.«
»Ach so«, murmelte ich. Das lag allerdings auf der Hand.
»Das ist äußerst wichtig, und die meisten von uns müssen nicht daran erinnert werden«, fuhr sie fort. »Aber nach ein paar Jahrhunderten fängt der eine oder andere an, sich zu langweilen. Oder dreht durch. Wie auch immer. Und dann schreiten die Volturi ein, bevor sie oder wir Übrigen kompromittiert werden können.«
»Dann will Edward …«
»Er hat vor, sie in ihrer eigenen Stadt zu verraten – der Stadt, die sie heimlich schon seit dreitausend Jahren beherrschen, seit der Zeit der Etrusker. Sie sind so darauf bedacht, ihre Stadt zu schützen, dass sie die Jagd innerhalb der Stadtmauern verboten haben. Volterra ist wahrscheinlich die sicherste Stadt der Welt – zumindest was Vampirangriffe angeht.«
»Aber du hast doch gesagt, dass sie die Stadt nicht verlassen. Wovon leben sie denn dann?«
»Sie verlassen die Stadt tatsächlich nicht. Sie lassen sich ihre Nahrung von außen bringen, manchmal von sehr weit her. Auf diese Weise haben die Wachen etwas zu tun, wenn sie nicht gerade Abtrünnige liquidieren oder Volterra vor Verrat schützen …«
»Vor Situationen wie dieser, vor Edward«, beendete ich ihren Satz. Es fiel mir inzwischen erstaunlich leicht, seinen Namen auszusprechen. Wieso eigentlich? Vielleicht, weil ich nicht vorhatte, noch viel länger zu leben, ohne ihn zu sehen. Oder überhaupt zu leben, falls wir zu spät kamen. Es war tröstlich zu wissen, dass es bald vorbei sein würde.
»Ich wage zu bezweifeln, dass sie eine Situation wie diese schon einmal erlebt haben«, murmelte sie gereizt. »Es gibt nicht viele selbstmörderische Vampire.«
Ein Laut entfuhr mir, ganz leise nur, doch Alice schien zu verstehen, dass es ein Schmerzensschrei war. Sie schlang ihren dünnen starken Arm um meine Schultern.
»Wir tun, was wir können, Bella. Es ist noch nicht zu spät.«
»Noch nicht.« Ich ließ mich von ihr trösten, obwohl ich wusste, dass sie uns keine großen Chancen gab. »Und wenn wir es vermasseln, kriegen uns die Volturi.«
Alice erstarrte. »Du sagst das, als wäre es etwas Gutes.«
Ich zuckte die Achseln.
»Hör auf damit, Bella, sonst kehren wir in New York um und fliegen zurück nach Forks.«
»Was?«
»Du weißt genau, was ich meine. Wenn wir zu spät kommen, um Edward zu retten, werde ich alles tun, um dich zurück zu Charlie zu bringen, und ich will nicht, dass du mir Schwierigkeiten machst. Hast du verstanden?«
»Klar, Alice.«
Sie rückte ein wenig von mir ab, so dass sie mir einen wütenden Blick zuwerfen konnte. »Keinen Ärger.«
»Großes Indianerehrenwort«, murmelte ich.
Sie verdrehte die Augen.
»Und jetzt muss ich mich konzentrieren. Ich will versuchen zu sehen, was er vorhat.«
Sie ließ den Arm um meine Schulter liegen, doch ihr Kopf sank zurück in das Polster. Sie schloss die Augen, legte eine Hand an die Wange und rieb mit den Fingerspitzen über die Schläfe.
Eine ganze Weile beobachtete ich sie fasziniert. Irgendwann wurde sie vollkommen reglos, ihr Gesicht war wie versteinert. Minuten vergingen, und hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gedacht, sie wäre eingeschlafen. Ich wagte nicht, sie zu stören.
Ich versuchte an irgendetwas Unverfängliches zu denken. Auf keinen Fall durfte ich über die Schrecken nachdenken, die uns bevorstanden, oder, noch schlimmer, die Möglichkeit, dass wir versagten, jedenfalls nicht, wenn ich nicht laut schreien wollte.
Ich durfte mir aber auch keine Hoffnungen machen. Wenn ich ganz, ganz großes Glück hatte, konnte ich Edward vielleicht irgendwie retten. Doch ich durfte mir nicht einbilden, dass ich dann mit ihm zusammenbleiben könnte. Ich war genau wie vorher, nichts Besonderes. Es war also abwegig zu glauben, dass er jetzt plötzlich wieder mit mir zusammen sein wollte. Ihn zu sehen und ihn ein zweites Mal zu verlieren …
Ich kämpfte gegen den Schmerz an. Das war der Preis, den ich zahlen musste, wenn ich ihm das Leben retten wollte. Ich war bereit, ihn zu zahlen.
Im Flugzeug lief jetzt ein Spielfilm, und mein Nachbar schaute gespannt zu. Ich sah, wie die Figuren sich über den kleinen Bildschirm bewegten, aber ich konnte nicht mal sagen, ob es ein Liebesfilm oder ein Horrorstreifen war.
Nach einer Ewigkeit begann das Flugzeug mit dem Sinkflug auf New York City. Alice blieb in ihrer Trance. Ich zauderte, streckte die Hand aus, um sie zu berühren, und zog sie wieder zurück. Das ging bestimmt zehnmal so, bevor das Flugzeug mit einem Rums aufsetzte.
»Alice«, sagte ich schließlich. »Alice, wir müssen aussteigen.«
Ich berührte sie am Arm.
Ganz langsam öffnete sie die Augen. Sie schüttelte einen Augenblick den Kopf.
»Gibt’s was Neues?«, fragte ich leise, da ich mir deutlich bewusst war, dass der Mann neben mir lauschte.
»Nicht richtig«, sagte sie so leise, dass ich es kaum verstand. »Er kommt näher. Er überlegt gerade, wie er seine Bitte vorbringen soll.«
Wir mussten uns beeilen, um unseren Anschlussflug zu erreichen, doch das war gut – besser als langes Warten. Sobald das Flugzeug in der Luft war, schloss Alice wieder die Augen und glitt in die gleiche Starre wie vorher zurück. Ich wartete so geduldig wie möglich. Als es draußen dunkel wurde, ließ ich das Rollo hoch, aber die Finsternis vor dem Fenster anzustarren war auch nicht besser, als das Rollo anzustarren.
Ich war froh darüber, dass ich monatelange Übung darin hatte, meine Gedanken zu beherrschen. Statt über die schrecklichen Möglichkeiten nachzugrübeln, die ich – egal was Alice sagte – nicht überleben wollte, konzentrierte ich mich auf geringfügigere Probleme. Zum Beispiel, was ich Charlie erzählen würde, falls ich zurückkam. Dieses Problem war so heikel, dass ich zu keiner befriedigenden Lösung kam, solange ich auch nachdachte. Und Jacob? Er hatte versprochen, auf mich zu warten, aber galt dieses Versprechen noch? Würde ich ganz alleine in Forks enden, ohne irgendjemanden? Dann wollte ich lieber gar nicht überleben, ganz gleich, wie die Sache ausging.
Als Alice mich an der Schulter rüttelte, kam es mir vor, als wären nur wenige Sekunden vergangen – ich hatte nicht gemerkt, dass ich eingeschlafen war.
»Bella«, flüsterte sie, doch ihre Stimme war ein wenig zu laut in der abgedunkelten Kabine voller schlafender Menschen.
Ich war sofort hellwach – so lange hatte ich offensichtlich nicht geschlafen.
»Ist was passiert?«
Alice’ Augen schimmerten in dem schwachen Licht der Leselampe in der Reihe hinter uns.
»Ja.« Sie lächelte grimmig. »Etwas Gutes. Sie beratschlagen noch, aber es steht schon fest, dass sie ihm eine Absage erteilen werden.«
»Die Volturi?«
»Natürlich, Bella, hör mir doch mal zu. Ich weiß jetzt, was sie ihm sagen werden.«
»Erzähl’s mir.«
Ein Steward kam auf Zehenspitzen den Gang herunter. »Kann ich den Damen ein Kissen bringen?« Sein gedämpftes Flüstern war ein einziger Vorwurf für unser vergleichsweise lautes Gespräch.
»Nein, vielen Dank.« Alice schenkte ihm ein so reizendes Lächeln, dass er sich völlig benommen umdrehte und den Gang hinunterstolperte.
»Erzähl’s mir«, hauchte ich fast lautlos.
Sie flüsterte mir ins Ohr. »Sie sind an ihm interessiert … sie glauben, seine Fähigkeit könnte ihnen nützlich sein. Sie wollen ihm einen Platz in ihrer Familie anbieten.«
»Was wird er tun?«
»Das kann ich noch nicht sagen, aber ich wette, es wird spannend.« Sie grinste wieder. »Das ist die erste gute Nachricht … endlich. Sie sind neugierig; im Grunde wollen sie ihn nicht zerstören – ›Verschwendung‹ wird Aro es nennen – und das könnte reichen. Dann ist er gezwungen, sich etwas einfallen zu lassen, und je länger er dafür braucht, umso besser für uns.«
Das reichte nicht, um mich optimistisch zu stimmen; und ich war auch bei weitem nicht so erleichtert wie sie. Es war immer noch gut möglich, dass wir zu spät kamen. Und falls ich gar nicht erst in die Stadt der Volturi gelangte, würde ich Alice nicht daran hindern können, mich wieder nach Hause zu schleppen.
»Alice?«
»Ja?«
»Eins versteh ich nicht. Wie kannst du das so deutlich sehen? Und dann siehst du manchmal Dinge, die in weiter Ferne liegen … und die dann gar nicht passieren.«
Sie kniff die Augen zusammen. Ob sie ahnte, woran ich dachte?
»Ich sehe es klar und deutlich, weil es jetzt gerade und ganz in unserer Nähe geschieht, und weil ich mich sehr darauf konzentriere. Das, was in weiter Ferne liegt und einfach auf mich einstürmt – das sind nur Schnipsel, vage Möglichkeiten. Hinzu kommt, dass ich meinesgleichen leichter sehen kann als Menschen. Bei Edward ist es noch einfacher, weil er mir so nahe steht.«
»Mich siehst du aber auch manchmal«, erinnerte ich sie.
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht so deutlich.«
Ich seufzte. »Schade, dass du bei mir nicht Recht behalten hast. Mit dem, was du ganz am Anfang gesehen hast, noch bevor wir uns kennengelernt haben …«
»Wovon redest du?«
»Da hast du gesehen, dass ich eine von euch werde.« Ich formte die Worte fast nur mit den Lippen.
Sie seufzte. »Damals lag das durchaus im Bereich des Möglichen.«
»Damals«, wiederholte ich.
»Weißt du, Bella, eigentlich …« Sie zögerte, doch dann sprach sie schnell weiter. »Ehrlich gesagt finde ich das Ganze inzwischen mehr als lächerlich. Ich überlege hin und her, ob ich dich nicht eigenhändig verwandeln soll.«
Starr vor Schreck sah ich sie an. Ich wehrte mich sofort gegen ihre Worte. Eine solche Hoffnung durfte ich gar nicht erst aufkommen lassen, falls sie es sich doch wieder anders überlegte.
»Habe ich dich jetzt erschreckt?«, fragte sie. »Ich dachte, das wolltest du.«
»Das will ich auch!«, sagte ich atemlos. »Oh, Alice, tu’s jetzt! Dann könnte ich dir viel besser helfen – und wäre dir nicht länger ein Klotz am Bein. Beiß mich!«
»Pst!«, warnte sie mich. Der Steward schaute schon wieder in unsere Richtung. »Sei vernünftig«, flüsterte sie. »Dafür haben wir jetzt nicht genug Zeit. Wir müssen morgen Volterra erreichen. Du würdest dich tagelang vor Schmerzen winden.« Sie verzog das Gesicht. »Und ich glaube nicht, dass die anderen Passagiere es sonderlich gut aufnehmen würden.«
Ich biss mir auf die Lippe. »Wenn du es nicht jetzt gleich tust, überlegst du es dir bestimmt wieder anders.«
»Nein.« Sie runzelte unglücklich die Stirn. »Ich glaube nicht. Er wird wütend sein, aber was soll er schon machen?«
Mein Herz schlug schneller. »Nichts.«
Sie lachte leise und seufzte dann. »Du vertraust mir zu sehr, Bella. Ich weiß nicht mal genau, ob ich es kann. Womöglich bringe ich dich noch um.«
»Darauf lasse ich es ankommen.«
»Du bist wirklich seltsam, sogar für einen Menschen.«
»Danke.«
»Nun ja, im Augenblick ist das sowieso alles Theorie. Erst mal müssen wir den morgigen Tag überleben.«
»Wo du Recht hast …« Doch wenn wir diesen Tag überlebten, hatte ich wenigstens etwas, worauf ich hoffen konnte. Falls Alice ihr Versprechen hielt – und falls sie mich nicht umbrachte –, dann konnte Edward so vielen Zerstreuungen hinterherlaufen, wie er wollte, und ich konnte ihm folgen. Ich würde es gar nicht zulassen, dass er sich zerstreuen ließ. Wenn ich schön und stark wäre, bräuchte er so etwas vielleicht gar nicht.
»Versuch noch ein bisschen zu schlafen«, sagte sie. »Ich wecke dich, wenn’s was Neues gibt.«
»In Ordnung«, murmelte ich, obwohl ich mir sicher war, dass auf Schlaf jetzt nicht mehr zu hoffen war. Alice zog die Füße auf den Sitz, schlang die Arme um die Beine und legte die Stirn auf die Knie. Sie schaukelte vor und zurück und konzentrierte sich.
Ich lehnte den Kopf an und betrachtete sie, und als Nächstes sah ich, dass sie das Rollo zuzog und die schwache Dämmerung am östlichen Himmel ausblendete.
»Was ist los?«, murmelte ich.
»Sie haben ihm eine Absage erteilt«, sagte sie leise. Ich merkte sofort, dass ihre Begeisterung verflogen war.
Vor Panik blieben mir die Worte fast im Hals stecken. »Was hat er jetzt vor?«
»Zuerst war es ein großer Wirrwarr. Ich bekam nur Flimmerbilder, so schnell änderte er seine Pläne.«
»Was für Pläne?«, drängte ich.
»Eine Stunde lang war es ganz schlimm«, flüsterte sie. »Er beschloss, auf die Jagd zu gehen.«
Sie schaute mich an und sah, dass ich nichts begriff.
»In der Stadt«, erklärte sie mir. »Es war ganz knapp. Erst im letzten Moment hat er sich dagegen entschieden.«
»Er möchte Carlisle nicht enttäuschen«, murmelte ich.
»Wahrscheinlich«, sagte sie.
»Haben wir genug Zeit?« Während ich das sagte, änderte sich der Druck in der Kabine. Ich spürte, wie sich das Flugzeug abwärtsneigte.
»Hoffentlich – wenn er bei seinem letzten Plan bleibt, vielleicht.«
»Was hat er vor?«
»Er hält sich an die einfachste Methode. Er tritt einfach hinaus in die Sonne.«
Er tritt einfach hinaus in die Sonne. Das war alles.
Das würde reichen. Das Bild von Edward auf der Lichtung – glühend, schimmernd, als bestünde seine Haut aus einer Million Diamanten – war in meine Erinnerung gebrannt. Niemand, der das gesehen hatte, würde es je vergessen. Das konnten die Volturi unmöglich zulassen. Nicht, wenn sie wollten, dass ihre Stadt auch weiterhin kein Aufsehen erregte.
Ich schaute in das leicht graue Glühen, das durch die Fenster drang. »Wir kommen zu spät«, flüsterte ich, und vor Panik versagte mir die Stimme.
Sie schüttelte den Kopf. »Im Augenblick neigt er zum Melodramatischen. Er will das größtmögliche Publikum haben, also wird er die große Piazza wählen, direkt unter dem Glockenturm. Die Mauern sind dort hoch. Er wird warten, bis die Sonne direkt im Zenit steht.«
»Dann haben wir bis Mittag?«
»Wenn wir Glück haben. Wenn er bei seinem Entschluss bleibt.«
Der Pilot verkündete über die Bordsprechanlage, zuerst auf Französisch und dann auf Englisch, dass wir nun landen würden. Es machte »pling«, und die Lämpchen für die Sicherheitsgurte leuchteten auf.
»Wie weit ist es von Florenz nach Volterra?«
»Kommt ganz drauf an, wie schnell man fährt … Bella?«
»Ja?«
Sie sah mich forschend an. »Hast du eigentlich was gegen Autodiebstahl?«
Wenige Schritte neben mir hielt mit quietschenden Reifen ein leuchtend gelber Porsche, quer über dem Heck stand in kursiven silbernen Lettern das Wort TURBO. Alle Leute auf dem überfüllten Flughafenvorplatz starrten auf das Auto.
»Mach schon, Bella!«, rief Alice ungeduldig durch das geöffnete Beifahrerfenster.
Ich lief hinüber, sprang in den Wagen und dachte, dass ich ebenso gut einen schwarzen Strumpf über dem Gesicht tragen könnte.
»Mensch, Alice«, beschwerte ich mich. »Konntest du nicht ein noch auffälligeres Auto klauen?«
Der Innenraum war mit schwarzem Leder verkleidet, die Scheiben waren getönt. Man fühlte sich geborgen im Wageninnern, wie in der Nacht.
Alice fädelte sich bereits – mit viel zu hoher Geschwindigkeit – durch den dichten Flughafenverkehr, huschte in winzige Lücken zwischen den Autos, während ich immer wieder zusammenzuckte und nach dem Sicherheitsgurt suchte.
»Entscheidend ist«, sagte sie, »ob ich ein schnelleres Auto hätte klauen können, und das glaube ich nicht. Ich hatte Glück.«
»Das wird uns an der Straßensperre bestimmt ein Trost sein.«
Sie lachte trällernd. »Vertrau mir, Bella. Wenn eine Straßensperre errichtet wird, dann höchstens hinter uns.« Und zum Beweis trat sie fest aufs Gas.
Ich hätte wohl aus dem Fenster schauen sollen, als zuerst Florenz und dann die Landschaft der Toskana an uns vorbeisausten. Dies war meine allererste Reise überhaupt, und vielleicht auch meine letzte. Doch Alice’ Fahrstil jagte mir Angst ein, obwohl ich wusste, dass ich ihr am Steuer vertrauen konnte. Außerdem hatte ich viel zu große Panik, um die Hügel oder die von Mauern umgebenen Städte, die aus der Ferne aussahen wie Burgen, überhaupt wahrzunehmen.
»Kannst du noch mehr sehen?«
»Irgendetwas ist da im Gange«, murmelte Alice. »Ein Fest oder so. In den Straßen sind ganz viele Menschen und rote Fahnen. Der Wievielte ist heute?«
Ich war mir nicht ganz sicher. »Vielleicht der Fünfzehnte?«
»Das nenne ich Ironie des Schicksals. Heute ist der Tag des heiligen Markus.«
»Und das heißt?«
Sie kicherte finster. »Die Stadt feiert jedes Jahr ein Fest. Der Legende nach vertrieb vor tausendfünfhundert Jahren ein christlicher Missionar namens Pater Marcus – der Marcus der Volturi – alle Vampire aus Volterra. Der Legende nach ist er in Rumänien den Märtyrertod gestorben, nachdem er versucht hatte, die Vampirplage zu bekämpfen. Das ist natürlich Unsinn – in Wirklichkeit hat er die Stadt nie verlassen. Aber daher kommt dieser ganze abergläubische Kram mit Kreuzen und Knoblauch und dergleichen. Pater Marcus hat sie schließlich erfolgreich eingesetzt. Und Volterra wird nicht mehr von Vampiren geplagt, also scheint es zu funktionieren.« Ihr Lächeln war zynisch. »Inzwischen ist es mehr ein Stadtfest und eine Würdigung der Polizei, schließlich ist Volterra eine erstaunlich sichere Stadt. Und das hält man der Polizei zugute.«
Allmählich dämmerte mir, was sie mit »Ironie des Schicksals« gemeint hatte. »Die sind bestimmt nicht begeistert, wenn Edward ihnen ausgerechnet am Festtag des heiligen Markus alles vermasselt, was?«
Sie schüttelte verbissen den Kopf. »Nein. Sie werden sehr schnell eingreifen.«
Ich wandte den Blick ab und musste mich beherrschen, um mir nicht zu fest auf die Unterlippe zu beißen. Bluten war im Moment nicht besonders empfehlenswert.
Die Sonne stand erschreckend hoch am blassblauen Himmel.
»Er hat immer noch vor, es am Mittag zu tun?«, fragte ich.
»Ja. Er hat beschlossen zu warten. Und sie warten auf ihn.«
»Sag mir, was ich tun soll.«
Sie hielt den Blick auf die kurvenreiche Straße gerichtet – die Tachonadel berührte das rechte Ende der Anzeige.
»Du brauchst gar nichts zu tun. Er muss dich nur sehen, bevor er in die Sonne tritt. Und er muss dich sehen, bevor er mich sieht.«
»Wie sollen wir das hinkriegen?«
Ein kleines rotes Auto schien rückwärtszufahren, als Alice an ihm vorbeibretterte.
»Wir fahren so weit es geht heran, und dann läufst du in die Richtung, die ich dir zeige.«
Ich nickte.
»Gib Acht, dass du nicht stolperst«, fügte sie hinzu. »Für Gehirnerschütterungen haben wir heute keine Zeit.«
Ich stöhnte auf. Das wäre typisch für mich – alles zu verderben, aus reiner Ungeschicklichkeit die Welt zu zerstören.
Die Sonne stieg immer höher, während wir ihr entgegenrasten. Sie stand zu strahlend hell am Himmel, und das versetzte mich in Panik. Vielleicht entschloss er sich, gar nicht bis zum Mittag zu warten.
»Da«, sagte Alice plötzlich und zeigte auf die von Mauern umgebene Stadt auf dem nächsten Hügel.
Ich starrte hinüber und spürte den allerersten Anflug einer neuen Angst. Seit gestern Morgen – es schien eine Woche her zu sein –, als Alice am Fuß der Treppe seinen Namen ausgesprochen hatte, hatte mich nur eine einzige Angst beherrscht. Doch als ich jetzt auf die alten ockerfarbenen Mauern und Türme starrte, die den steilen Hügel krönten, spürte ich, wie mich eine andere, selbstsüchtigere Angst durchströmte.
Vermutlich war die Stadt sehr schön. Mir jagte sie nichts als Angst und Schrecken ein.
»Volterra«, verkündete Alice mit ausdrucksloser, eisiger Stimme.