Der Adrenalinpegel steigt

»Okay, wo ist die Kupplung?«

Ich zeigte auf den Hebel am linken Griff. Es war ein Fehler, rechts loszulassen. Das schwere Motorrad schwankte unter mir und drohte mich umzuwerfen. Ich packte den Griff wieder und versuchte das Ding gerade zu halten.

»Jacob, das kippt immer um«, klagte ich.

»Wenn du erst mal fährst, ist das anders«, versprach er. »Und wo ist die Bremse?«

»Hinter meinem rechten Fuß.«

»Falsch.«

Er nahm meine rechte Hand und legte sie um den Gashebel.

»Aber du hast doch gesagt …«

»Das ist die Bremse, die du brauchst. Das Bremspedal benutzt du jetzt noch nicht, das ist für später, wenn du alles im Griff hast.«

»Das finde ich aber komisch«, sagte ich misstrauisch. »Sind die Bremsen nicht beide wichtig?«

»Vergiss das Bremspedal, okay? Hier …« Er legte seine Hand über meine und drückte den Bremshebel mit mir zusammen herunter. »So bremst man. Nicht vergessen.« Er drückte meine Hand noch einmal herunter.

»Okay«, sagte ich.

»Gas?«

Ich drehte den rechten Griff.

»Gangschaltung?«

Ich stieß mit der linken Wade dagegen.

»Sehr gut. Ich glaube, du hast alles drauf. Jetzt musst du nur noch losfahren.«

»Hm-hm«, murmelte ich, mehr brachte ich nicht heraus. Mein Magen krampfte sich merkwürdig zusammen und ich hatte Angst, meine Stimme könnte versagen. Ich hatte Panik. Ich redete mir ein, dass ich keine Angst zu haben brauchte. Das Schlimmste auf der Welt hatte ich schon hinter mir. Warum sollte ich mich da noch vor irgendetwas fürchten? Sogar dem Tod müsste ich lachend ins Auge blicken können.

Mein Magen war nicht ganz überzeugt.

Ich starrte auf die lange unbefestigte Straße, die zu beiden Seiten von dichtem, mattem Grün begrenzt wurde. Die Straße war feucht und sandig.

»Jetzt musst du die Kupplung halten«, befahl Jacob.

Ich legte die Hand um die Kupplung.

»Das ist jetzt ganz wichtig«, sagte Jacob. »Lass sie nicht los, okay? Stell dir vor, ich hätte dir eine scharfe Handgranate gegeben. Der Splint ist gezogen und du hältst den Bügel runter.«

Ich drückte fester zu.

»Gut. Meinst du, du kannst sie mit dem Kickstarter anlassen?«

»Wenn ich den Fuß bewege, kippe ich um«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen, während ich mit der Hand die scharfe Handgranate umklammerte.

»Okay, dann mach ich das. Nicht die Kupplung loslassen.«

Er ging einen Schritt zurück und trat dann plötzlich mit einem Fuß das Pedal. Es gab ein kurzes, reißendes Geräusch, und durch den Ruck geriet das Motorrad ins Wanken. Ich wäre fast umgekippt, aber Jake fing das Motorrad auf, bevor es mich zu Boden riss.

»Ganz ruhig«, sagte er aufmunternd. »Hast du die Kupplung noch?«

»Ja«, sagte ich atemlos.

»Stell die Füße auf – ich versuch’s noch mal.« Sicherheitshalber legte er eine Hand hinten auf den Sitz.

Er musste noch viermal treten, bis das Motorrad ansprang. Es grollte unter mir wie ein wütendes Tier. Ich hielt die Kupplung so fest, dass mir die Finger wehtaten.

»Jetzt versuch mal Gas zu geben«, sagte er. »Ganz vorsichtig. Und die Kupplung nicht loslassen.«

Zögernd drehte ich am rechten Griff. Obwohl es nur eine ganz kleine Bewegung war, knurrte das Motorrad unter mir. Jetzt klang es nicht nur wütend, sondern auch hungrig. Jacob lächelte zufrieden.

»Weißt du noch, wie man den ersten Gang einlegt?«, fragte er.

»Ja.«

»Na, dann mach mal.«

»Okay.«

Er wartete ein paar Sekunden.

»Linker Fuß«, sagte er hilfsbereit.

»Ich weiß«, sagte ich und holte tief Luft.

»Willst du wirklich fahren?«, fragte Jacob. »Du siehst ziemlich ängstlich aus.«

»Alles bestens«, sagte ich schnippisch. Ich trat auf das Schaltpedal.

»Sehr gut«, lobte er. »Und jetzt ganz vorsichtig die Kupplung loslassen.«

Er trat einen Schritt zurück.

»Ich soll die Handgranate loslassen?«, fragte ich ungläubig. Kein Wunder, dass er sich in Sicherheit brachte.

»So fährt man, Bella. Mach es einfach ganz langsam.«

Als ich den Griff lockern wollte, wurde ich von einer Stimme unterbrochen, die nicht zu dem Jungen neben mir gehörte.

»Das ist waghalsig und kindisch und idiotisch, Bella«, sagte die Samtstimme zornig.

»Oh!«, rief ich erschrocken und ließ die Kupplung los.

Das Motorrad machte einen Satz, riss mich nach vorn und kippte um, halb auf mich drauf. Der knurrende Motor erstickte.

»Bella?« Mühelos riss Jacob das schwere Motorrad hoch. »Bist du verletzt?«

Aber ich hörte nicht zu.

»Ich habe es dir ja gesagt«, murmelte die glasklare, traumhafte Stimme.

»Bella?« Jacob rüttelte mich an der Schulter.

»Alles in Ordnung«, murmelte ich benommen.

Mehr als in Ordnung. Die Stimme in meinem Kopf war wieder da. Sie klang mir immer noch in den Ohren – ein sanftes, samtenes Echo.

Schnell ging ich alle Möglichkeiten durch. Hier hatte es nichts Vertrautes gegeben – die Straße hatte ich noch nie gesehen, ich hatte etwas gemacht, was ich noch nie gemacht hatte –, kein Déjà-vu. Die Halluzinationen mussten also durch etwas anderes ausgelöst werden … Ich spürte das Adrenalin wieder durch die Adern rauschen und glaubte die Antwort zu kennen. Irgendeine Mischung aus Adrenalin und Gefahr oder vielleicht auch nur Dummheit …

Jacob zog mich hoch.

»Hast du dir den Kopf gestoßen?«, fragte er.

»Ich glaub nicht.« Ich schüttelte den Kopf versuchsweise hin und her. »Ich hab das Motorrad doch nicht kaputt gemacht, oder?«, fragte ich besorgt. Ich wollte es sofort noch mal probieren. Waghalsigkeit lohnte sich mehr, als ich gedacht hatte. Dass ich mein Versprechen gebrochen hatte, war jetzt nebensächlich. Vielleicht hatte ich herausgefunden, wie ich die Halluzinationen hervorrufen konnte – das war viel wichtiger.

»Nein. Du hast nur den Motor abgewürgt«, sagte Jacob in meine Spekulationen hinein. »Du hast die Kupplung zu schnell losgelassen.«

Ich nickte. »Komm, wir versuchen es noch mal.«

»Willst du wirklich?«, fragte Jacob.

»Klar.«

Diesmal versuchte ich den Kickstart selber. Das war verzwickt, ich musste leicht hochspringen, um das Pedal kräftig genug runterzutreten, und jedes Mal, wenn ich das versuchte, wollte das Motorrad mich umwerfen. Jacob ließ die Hand über dem Lenker schweben, damit er mich notfalls auffangen konnte.

Ich machte ein paar gute und noch mehr schlechte Versuche, bevor der Motor ansprang und dröhnend loslegte. Ich konzentrierte mich darauf, die Handgranate festzuhalten, und drehte versuchsweise am Gas. Schon bei der leisesten Berührung knurrte das Ding. Jetzt lächelte ich genau wie Jacob.

»Die Kupplung langsam loslassen«, erinnerte er mich.

»Dann willst du dich also umbringen? Ist das der Sinn der Aktion?«, fragte die andere Stimme jetzt streng.

Ich lächelte angestrengt – es funktionierte also noch – und ignorierte die Fragen. Jacob würde schon aufpassen, dass mir nichts Schlimmes zustieß.

»Fahr nach Hause zu Charlie«, befahl die Stimme. Die bloße Schönheit ihres Klangs überraschte mich. Ich konnte nicht zulassen, dass sie aus meinem Gedächtnis verschwand, ganz egal, welchen Preis ich dafür zahlen musste.

»Langsam kommen lassen«, sagte Jacob aufmunternd.

»Mach ich«, sagte ich. Es ärgerte mich ein bisschen, als ich merkte, dass die Antwort für beide passte.

Die Stimme in meinem Kopf knurrte gegen das röhrende Motorrad an.

Diesmal versuchte ich mich zu konzentrieren und mich nicht von der Stimme ablenken zu lassen, als ich den Griff ganz allmählich lockerte. Plötzlich sprang der Gang rein und ich wurde nach vorn gerissen.

Und ich flog.

Da war Wind, der vorher nicht da gewesen war, er presste mir die Haut an den Schädel und blies meine Haare so kräftig nach hinten, dass es sich anfühlte, als würde jemand daran ziehen. Den Magen hatte ich beim Start zurückgelassen; das Adrenalin rauschte mir durch den Körper und prickelte in den Adern. Die Bäume rasten an mir vorbei und verschwammen zu einer grünen Wand.

Und das war erst der erste Gang. Mein Fuß strebte schon zum Schaltpedal und ich gab mehr Gas.

»Nein, Bella!«, rief mir die honigsüße Stimme wütend ins Ohr. »Pass auf!«

Das lenkte mich von meinem Geschwindigkeitsrausch ab und ich merkte, dass die Straße hier eine Linkskurve machte. Ich fuhr immer noch geradeaus – wie man abbog, hatte Jacob mir nicht erklärt.

»Bremsen, bremsen«, murmelte ich und trat automatisch mit dem rechten Fuß nach unten, wie ich es im Auto auch immer machte.

Auf einmal hatte das Motorrad unter mir keinen festen Halt mehr, es schwankte erst zur einen Seite, dann zur anderen. Es zog mich zu der grünen Wand, und ich war zu schnell. Ich versuchte den Lenker in die andere Richtung zu drehen. Durch die plötzliche Gewichtsverlagerung wurde das Motorrad, das immer noch auf die Bäume zuraste, zu Boden gerissen.

Wieder landete das Motorrad auf mir, es dröhnte laut und schleifte mich über die nasse Erde, bis es gegen etwas Hartes stieß. Ich konnte nichts sehen, mein Gesicht war ins Moos gedrückt. Ich versuchte den Kopf zu heben, aber irgendetwas war im Weg.

Mir war schwindlig und ich war verwirrt. Es hörte sich an, als würde es aus drei verschiedenen Richtungen knurren – da war das Motorrad über mir, die Stimme in meinem Kopf und noch etwas anderes …

»Bella!«, schrie Jacob und ich hörte, wie das Röhren des anderen Motorrades erstarb.

Jetzt nagelte das Motorrad mich nicht mehr am Boden fest, und ich drehte mich auf den Rücken, um zu atmen. Alles Knurren erstarb.

»Wahnsinn«, murmelte ich. Ich war hin und weg. Das musste es sein, das Rezept für eine Halluzination – Adrenalin plus Gefahr plus Dummheit. Jedenfalls irgendwas in der Art.

»Bella!« Jacob kauerte sich erschrocken über mich. »Bella, lebst du?«

»Mir geht es super!«, sagte ich begeistert. Ich beugte die Arme und Beine. Es schien alles noch zu funktionieren. »Los, wir machen es noch mal.«

»Besser nicht.« Jacob klang immer noch besorgt. »Ich fahre dich lieber erst mal ins Krankenhaus.«

»Mir geht es aber gut.«

»Ähm, Bella? Du hast eine riesige Platzwunde an der Stirn, und das Blut strömt nur so heraus«, sagte er.

Ich schlug mir mit der Hand an die Stirn. Ja, sie war nass und klebrig. Ich roch nur das feuchte Moos auf meinem Gesicht, deshalb wurde mir nicht übel.

»Oh, das tut mir so leid, Jacob.« Ich drückte fest auf die klaffende Wunde, als könnte ich das Blut wieder in meinen Kopf zwingen.

»Wieso entschuldigst du dich dafür, dass du blutest?«, fragte er verwundert, als er meine Taille umfasste und mich hochzog. »Los. Ich fahre.« Er streckte die Hand nach dem Autoschlüssel aus.

»Was ist mit den Motorrädern?«, fragte ich, als ich ihm den Schlüssel reichte.

Er überlegte einen Moment. »Warte hier. Und nimm das.« Er zog sich das T-Shirt aus, das schon blutbefleckt war, und warf es mir zu. Ich knüllte es zusammen und drückte es mir an die Stirn. Jetzt roch ich allmählich das Blut; ich atmete tief durch den Mund und versuchte mich auf etwas anderes zu konzentrieren.

Jacob stieg auf das schwarze Motorrad, schaffte den Kickstart beim ersten Versuch und raste die Straße hinunter. Hinter ihm wirbelten Sand und Kies auf. Es sah sportlich und profimäßig aus, wie er sich über den Lenker beugte, mit gesenktem Kopf und erhobenem Blick, die glänzenden Haare peitschten ihm an den rostbraunen Rücken. Ich spürte, wie der Neid in mir aufstieg. So hatte ich auf meinem Motorrad ganz bestimmt nicht ausgesehen.

Ich wunderte mich, wie weit ich gefahren war. Als Jacob endlich beim Transporter ankam, konnte ich ihn kaum noch sehen. Er warf das Motorrad hin und rannte zum Wagen.

Er hatte es so eilig, wieder bei mir zu sein, dass er den Transporter zu einem ohrenbetäubenden Röhren antrieb. Dabei ging es mir gar nicht schlecht – der Kopf tat mir ein bisschen weh und ich hatte ein flaues Gefühl im Magen, aber die Wunde war nicht so schlimm. Kopfwunden bluteten einfach nur stärker als die meisten anderen. Er hätte sich nicht so beeilen müssen.

Bei laufendem Motor kam Jacob zu mir gerannt und legte mir den Arm wieder um die Taille.

»Okay, jetzt hebe ich dich in den Wagen.«

»Mir geht es wirklich gut«, versicherte ich ihm, als er mir hineinhalf. »Reg dich nicht auf. Es ist nur ein bisschen Blut.«

»Nur sehr viel Blut«, sagte er leise und holte mein Motorrad.

»Lass uns erst mal kurz überlegen«, sagte ich, als er im Wagen saß. »Wenn du mich jetzt zur Notaufnahme fährst, kriegt Charlie garantiert Wind davon.« Ich schaute auf meine Jeans, die vor Sand und Dreck strotzte.

»Bella, ich glaub, das muss genäht werden. Ich lasse dich nicht verbluten.«

»Ich verblute schon nicht«, versprach ich. »Aber ich möchte, dass wir erst die Motorräder zurückbringen, und dann fahren wir bei mir zu Hause vorbei. So kann ich die Beweisstücke verschwinden lassen, bevor wir zum Krankenhaus fahren.«

»Und Charlie?«

»Er hat gesagt, er muss heute arbeiten.«

»Willst du es dir nicht noch mal überlegen?«

»Vertrau mir. Ich fange immer schnell zu bluten an. Es ist viel harmloser, als es aussieht.«

Jacob war nicht ganz überzeugt – er verzog die vollen Lippen leicht nach unten, ganz untypisch für ihn –, aber er wollte auch nicht, dass ich Ärger bekam. Während er mich nach Forks fuhr, starrte ich aus dem Fenster und hielt mir das blutige T-Shirt an die Stirn.

Das Motorrad war besser, als ich zu hoffen gewagt hatte. Es hatte seinen Zweck erfüllt. Ich hatte mein Versprechen gebrochen. Ich war unnötig waghalsig gewesen. Jetzt, da wir beide wortbrüchig geworden waren, kam ich mir nicht mehr ganz so jämmerlich vor.

Und ich hatte den Schlüssel zu den Halluzinationen gefunden! Das hoffte ich jedenfalls. Ich nahm mir vor, die Theorie so bald wie möglich zu überprüfen. Vielleicht ging in der Notaufnahme alles ganz schnell und ich konnte es heute Abend schon wieder ausprobieren.

Es war großartig gewesen, die Straße entlangzusausen. Der Wind im Gesicht, die Geschwindigkeit, das Gefühl von Freiheit … das erinnerte mich an früher, als ich durch den dichten Wald geflogen war, huckepack auf seinem Rücken, während er rannte – an dieser Stelle hörte ich auf zu denken, weil die Erinnerung plötzlich zu weh tat. Ich zuckte zusammen.

»Geht es?«, fragte Jacob.

»Ja.« Ich versuchte es genauso überzeugend klingen zu lassen wie vorher.

»Übrigens«, sagte er dann, »werde ich heute Abend dein Bremspedal außer Kraft setzen.«

Zu Hause betrachtete ich mich als Erstes im Spiegel, ich sah ziemlich schaurig aus. Dicke, halb getrocknete Blutspuren an den Wangen und am Hals, die dreckigen Haare blutverklebt. Ich betrachtete alles ganz genau und stellte mir vor, das Blut wäre Farbe, damit mir nicht schlecht wurde. Ich atmete durch den Mund, so war es erträglich.

Ich wusch mich, so gut es ging. Dann stopfte ich die schmutzigen, blutigen Kleider ganz unten in meinen Wäschekorb, zog neue Jeans und ein durchgeknöpftes T-Shirt an (das musste ich nicht über den Kopf ziehen). Ich war ganz vorsichtig und schaffte das Ganze einhändig, ohne die Klamotten vollzuschmieren.

»Beeil dich!«, rief Jacob.

»Jaja«, rief ich zurück. Ich überprüfte, ob ich auch keine Spuren hinterlassen hatte, und ging die Treppe runter.

»Wie seh ich aus?«, fragte ich.

»Besser«, gab er zu.

»Seh ich so aus, als wäre ich in deiner Werkstatt gestolpert und hätte mir den Kopf an einem Hammer aufgeschlagen?«

»Ja, schon möglich.«

»Dann können wir los.«

Jacob drängte mich zur Tür hinaus und bestand darauf zu fahren. Wir waren schon auf halbem Weg zum Krankenhaus, als mir auffiel, dass er immer noch ohne T-Shirt war.

Ich machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Wir hätten eine Jacke für dich mitnehmen sollen.«

»Damit hätten wir uns aber verraten«, scherzte er. »Außerdem ist es gar nicht kalt.«

»Machst du Witze?« Ich zitterte und stellte die Heizung an.

Ich schaute Jacob an, um zu sehen, ob er nur den harten Mann markierte, damit ich mir keine Sorgen machte, aber er schien tatsächlich nicht zu frieren. Er hatte einen Arm über die Lehne meines Sitzes gelegt, während ich mich zusammengekauert hatte, damit mir warm wurde.

Jacob sah wirklich älter aus als sechzehn – nicht gerade wie vierzig, aber vielleicht sogar älter als ich. Was die Muskeln anging, war Quil ihm gar nicht so überlegen, auch wenn Jacob sich immer als Spargeltarzan bezeichnete. Die Muskeln unter seiner weichen Haut waren zwar eher lang und drahtig, aber zweifellos vorhanden. Seine Haut hatte eine so schöne Farbe, dass ich ganz neidisch wurde.

Jacob merkte, dass ich ihn beobachtete.

»Was ist?«, fragte er. Auf einmal war er befangen.

»Nichts. Es war mir nur bisher nicht aufgefallen. Weißt du, dass du irgendwie schön bist?«

Als die Worte heraus waren, hatte ich Angst, er könnte meine spontane Bemerkung falsch verstehen.

Aber er verdrehte nur die Augen. »Du hast dir den Kopf aber ziemlich fest gestoßen, was?«

»Nein, im Ernst.«

»Na dann, danke schön. Irgendwie.«

Ich grinste. »Irgendwie gern geschehen.«

Die Wunde an der Stirn musste mit sieben Stichen genäht werden. Abgesehen von dem Piksen der Betäubungsspritze tat es überhaupt nicht weh. Jacob hielt meine Hand, während Dr. Snow nähte, und ich versuchte, nicht an die Ironie der Situation zu denken.

Wir waren eine Ewigkeit im Krankenhaus. Als ich endlich fertig war, musste ich Jacob nach Hause bringen und dann schnell zurückfahren, um das Abendessen für Charlie vorzubereiten. Charlie schien mir die Geschichte abzukaufen, dass ich in Jacobs Werkstatt gefallen war. Schließlich hatte ich es früher auch ohne Motorrad schon des Öfteren in die Notaufnahme geschafft.

Diese Nacht war nicht so schlimm wie die Nacht nach dem Abend in Port Angeles, als ich die Traumstimme zum ersten Mal gehört hatte. Das Loch war wieder da, wie immer, wenn ich nicht mit Jacob zusammen war, aber es schmerzte nicht ganz so sehr. Ich schmiedete schon wieder Pläne und freute mich auf weitere Halluzinationen, und das lenkte mich ab. Außerdem wusste ich, dass es mir am nächsten Tag, wenn ich wieder mit Jacob zusammen war, bessergehen würde. Das machte das Loch und den altbekannten Schmerz erträglicher; Besserung war in Sicht. Auch der Albtraum hatte ein wenig von seiner Macht verloren. Die Leere erschreckte mich noch immer, aber ich spürte auch eine seltsame Ungeduld, wenn ich auf den Moment wartete, da ich schreiend erwachte. Ich wusste, dass der Albtraum ein Ende hatte.

Am Mittwoch darauf musste ich wieder einmal in die Notaufnahme. Ehe ich wieder zu Hause war, hatte Dr. Gerandy meinen Vater schon angerufen und ihn darauf vorbereitet, dass ich eine Gehirnerschütterung haben könnte. Er riet ihm, mich in der Nacht alle zwei Stunden zu wecken, um sicherzugehen, dass es nichts Ernstes war. Charlie guckte misstrauisch, offenbar nahm er mir meine faule Ausrede, ich sei schon wieder gestolpert, nicht so ganz ab.

»Vielleicht ist es besser, du gehst gar nicht mehr in die Werkstatt, Bella«, sagte er an dem Abend beim Essen.

Ich hatte schon Angst, Charlie würde mir La Push und damit das Motorrad ganz verbieten. Aber das würde ich auf keinen Fall aufgeben – gerade heute hatte ich die erstaunlichste Halluzination überhaupt gehabt. Fast fünf Minuten lang hatte mich die Samtstimme angeschrien, bevor ich zu abrupt gebremst und mich damit selbst gegen den Baum katapultiert hatte. Heute Nacht würde ich jeden Schmerz klaglos über mich ergehen lassen.

»Das ist aber nicht in der Werkstatt passiert«, wandte ich schnell ein. »Wir sind gewandert, und dabei bin ich über einen Stein gestolpert.«

»Seit wann wanderst du denn?«, fragte er ungläubig.

»Irgendwann musste die Arbeit bei Newton’s ja mal abfärben«, sagte ich. »Wenn man tagein, tagaus die Vorzüge der Natur verkauft, wird man irgendwann neugierig.«

Charlie sah nicht überzeugt aus.

»Ich passe in Zukunft besser auf«, versprach ich und kreuzte heimlich die Finger unterm Tisch.

»Ich hab nichts dagegen, wenn ihr in der Gegend um La Push wandert, aber bleibt in der Nähe der Stadt, ja?«

»Wieso?«

»In letzter Zeit wurden uns mehrere wilde Tiere gemeldet. Das Forstamt will der Sache nachgehen, aber vorerst …«

»Ach so, der große Bär«, sagte ich, als ich begriff, wovon er sprach. »Ja, neulich bei Newton’s waren auch zwei Wanderer, die den gesehen hatten. Meinst du, da läuft echt irgendein mutierter Riesengrizzly rum?«

Er legte die Stirn in Falten. »Irgendwas ist da. Bleibt nah an der Stadt, okay?«

»Ja klar«, sagte ich schnell. Er sah nicht so aus, als wäre er restlos überzeugt.

»Charlie wird langsam misstrauisch«, sagte ich zu Jacob, als ich ihn am Freitag nach der Schule abholte.

»Vielleicht sollten wir mit den Motorrädern mal Schluss machen.« Er sah, dass ich nicht begeistert war, und fügte hinzu: »Wenigstens für eine Woche oder so. Eine Woche könntest du dem Krankenhaus doch mal fernbleiben, oder?«

»Und was sollen wir dann machen?«, beschwerte ich mich.

Er lächelte fröhlich. »Was du willst.«

Ich dachte einen Augenblick darüber nach – darüber, was ich wollte.

Es gefiel mir ganz und gar nicht, die kurzen Momente zu verlieren, in denen ich der Erinnerung nah war, ohne dass es wehtat – wenn sie von selbst kam und ich sie nicht bewusst herbeirief. Wenn wir nicht Motorrad fahren konnten, musste ich andere Wege suchen, mich in Gefahr zu bringen, und das erforderte einiges Nachdenken und Einfallsreichtum. Die Vorstellung, in der Zwischenzeit gar nichts zu machen, war nicht sehr verlockend. Womöglich verfiel ich dann wieder in Depressionen, trotz Jake. Ich musste etwas zu tun haben …

Vielleicht gab es ja einen anderen Weg, ein anderes Rezept … einen anderen Ort.

Das Haus war natürlich keine gute Idee gewesen. Aber irgendwo musste er doch gegenwärtig sein, irgendwo anders als nur in meinem Innern. Es musste einen Ort geben, an dem er greifbarer war als an den vielen vertrauten Stellen, die immer auch mit anderen Erinnerungen beladen waren.

Mir fiel nur ein einziger Ort ein, der dafür in Frage kam. Ein Ort, der immer nur ihm und niemandem sonst gehören würde. Ein verzauberter Ort voller Licht. Die wunderschöne Lichtung, die ich nur einmal im Leben gesehen hatte, als sie von der Sonne und dem Glitzern seiner Haut erstrahlte.

Wenn ich diese Idee in die Tat umsetzte, könnte das natürlich nach hinten losgehen – es könnte gefährlich wehtun. Schon beim Gedanken daran zog es in meiner Brust vor Leere. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um mich aufrecht zu halten und mir nichts anmerken zu lassen. Aber bestimmt konnte ich dort seine Stimme hören. Und Charlie hatte ich ja schon erzählt, dass ich neuerdings wanderte …

»Worüber denkst du so angestrengt nach?«, fragte Jacob.

»Also …«, sagte ich langsam. »Ich bin mal beim, ähm, Wandern im Wald auf einer kleinen Lichtung gelandet – wunderschön. Ich weiß nicht, ob ich sie wiederfinden würde. Bestimmt nicht auf Anhieb …«

»Wir können es mit Kompass und Karte versuchen«, sagte Jacob zuversichtlich. »Weißt du noch, wo du losgegangen bist?«

»Ja, direkt bei dem Wanderweg, wo der Highway 110 endet. Ich glaube, von da aus bin ich Richtung Süden gelaufen.«

»Super. Das finden wir.« Wie immer machte Jacob bei allem mit, wozu ich Lust hatte. Und wenn es noch so abgefahren war.

Am Samstagnachmittag zog ich die Wanderschuhe an, die ich mir an dem Morgen gekauft hatte. Zum ersten Mal hatte ich den Mitarbeiterrabatt von zwanzig Prozent genutzt. Dann schnappte ich mir die neue topografische Karte von der Halbinsel Olympic und fuhr nach La Push.

Wir machten uns nicht sofort auf den Weg; erst mal streckte Jacob sich auf dem Fußboden im Wohnzimmer aus – womit das Zimmer voll war – und war sage und schreibe zwanzig Minuten damit beschäftigt, ein kompliziertes Gitternetz auf die Karte zu zeichnen. Ich hockte währenddessen auf einem Küchenstuhl und unterhielt mich mit Billy. Billy schien sich wegen unserer geplanten Wanderung überhaupt keine Sorgen zu machen. Das überraschte mich, vor allem weil Jacob ihm erzählt hatte, wo wir hingingen, denn alle anderen machten ja so ein Theater wegen der Bären, die dort gesichtet worden waren. Ich hätte Billy gern gebeten, Charlie nichts davon zu sagen, aber ich befürchtete, dass ich damit genau das Gegenteil erreichen würde.

»Vielleicht sehen wir ja den Superbären«, scherzte Jacob, ohne den Blick von seiner Zeichnung zu wenden.

Ich schaute kurz zu Billy und befürchtete schon, er würde so reagieren, wie Charlie es sicher getan hätte.

Aber Billy lachte nur. »Nehmt am besten ein Glas Honig mit, für alle Fälle.«

Jake kicherte. »Hoffentlich sind deine neuen Schuhe schnell, Bella. Mit einem kleinen Glas Honig kann man einen hungrigen Bären nicht sehr lange beschäftigen.«

»Es reicht ja, wenn ich schneller bin als du.«

»Na, dann viel Glück!«, sagte Jacob und faltete die Karte wieder zusammen. »Wir können los.«

»Viel Spaß«, brummelte Billy.

Charlie war schon ziemlich unkompliziert, aber Jacob schien es mit seinem Vater noch leichter zu haben.

Ich fuhr ganz bis zum Ende des Highways und hielt neben dem Schild, das den Ausgangspunkt des Wanderwegs markierte. Es war lange her, dass ich hier gewesen war, und mein Magen zog sich nervös zusammen. Die Sache konnte übel ausgehen. Aber wenn ich ihm damit nahekam, lohnte es sich.

Ich stieg aus und schaute in dichtes Grün.

»Hier bin ich langgegangen«, sagte ich leise und zeigte geradeaus.

»Hmm«, machte Jake.

»Was ist?«

Er schaute in die Richtung, in die ich gezeigt hatte, dann auf den deutlich markierten Weg und wieder zurück.

»Ich hätte dich so eingeschätzt, dass du dich an die Wege hältst.«

»Ich doch nicht.« Ich lächelte düster. »Ich bin eine Abenteurerin.«

Er lachte, dann holte er die Karte heraus.

»Einen Moment.« Fachkundig hielt er den Kompass, dann drehte er die Karte, bis sie richtig lag.

»Okay – die erste Linie auf dem Gitternetz. Los.«

Ich merkte, dass Jacob gern schneller gegangen wäre, aber er beschwerte sich nicht. Ich verdrängte alle Gedanken an meine letzte Wanderung in diesem Teil des Waldes, mit einem anderen Begleiter. Normale Erinnerungen waren immer noch gefährlich. Wenn ich ihnen nachgab, stand ich am Ende um Atem ringend da, die Arme um die Brust geschlungen, und wie sollte ich das Jacob erklären?

Es war leichter als erwartet, mit den Gedanken in der Gegenwart zu bleiben. Hier im Wald sah es so ähnlich aus wie überall auf der Halbinsel, und die Stimmung mit Jacob war eine völlig andere.

Er pfiff fröhlich vor sich hin – eine Melodie, die ich nicht kannte –, schwenkte die Arme und bewegte sich mühelos durch das unwegsame Unterholz. Die Schatten wirkten nicht so dunkel wie sonst, nicht mit meiner persönlichen Sonne an meiner Seite.

Alle paar Minuten schaute Jacob auf den Kompass und achtete darauf, dass wir auf einer der strahlenförmig angeordneten Linien des Gitternetzes blieben. Er schien zu wissen, was er tat. Ich wollte ihn schon dafür loben, aber ich hielt mich zurück. Zweifellos hätte er noch ein paar Jahre auf sein sowieso schon überhöhtes Alter aufgeschlagen.

Beim Wandern schweiften meine Gedanken ab, und meine Neugier regte sich. Ich hatte unser Gespräch bei den Klippen nicht vergessen – ich hatte darauf gewartet, dass er noch mal davon anfangen würde, aber es sah nicht danach aus.

»Du … Jake?«, sagte ich zögernd.

»Ja?«

»Was ist eigentlich … mit Embry? Ist er inzwischen wieder normal geworden?«

Jacob schwieg eine Weile und ging mit großen Schritten weiter. Als er ein paar Meter Vorsprung hatte, blieb er stehen und wartete auf mich.

»Nein. Er ist nicht wieder normal«, sagte Jacob, als ich ihn eingeholt hatte. Seine Mundwinkel zeigten nach unten. Er ging nicht weiter. Sofort bereute ich, dass ich davon angefangen hatte.

»Immer noch mit Sam zusammen?«

»Ja.«

Er legte mir einen Arm um die Schultern und sah so besorgt aus, dass ich ihn nicht scherzhaft abschüttelte, wie ich es sonst vielleicht getan hätte.

»Gucken sie dich immer noch komisch an?«, fragte ich halb im Flüsterton.

Jacob starrte in die Bäume. »Manchmal.«

»Und Billy?«

»Hilfreich wie immer«, sagte er in einem wütenden Ton, der mich beunruhigte.

»Unser Sofa steht dir jederzeit zur Verfügung«, sagte ich.

Er lachte und verscheuchte damit die trübsinnige Stimmung. »Aber stell dir mal vor, wie Charlie dann dastünde – wenn Billy bei der Polizei anruft und sagt, ich wär entführt worden.«

Ich stimmte in sein Lachen ein und war froh, dass er wieder der Alte war.

Als Jacob sagte, wir seien zehn Kilometer gelaufen, blieben wir stehen, gingen dann ein kleines Stück in Richtung Westen und wanderten auf einer anderen Linie des Gitternetzes zurück. Auf dem Rückweg sah alles genauso aus wie auf dem Hinweg, und ich dachte schon, dass die Suche wohl zum Scheitern verurteilt war. Das sagte ich schließlich auch, als es anfing zu dämmern und der sonnenlose Tag schon bald in eine sternlose Nacht übergehen würde. Doch Jacob war zuversichtlicher.

»Solange du dir sicher bist, dass wir von der richtigen Stelle aus loslaufen …« Er warf mir einen zweifelnden Blick zu.

»Ja, ganz sicher.«

»Dann finden wir es auch«, versprach er, fasste meine Hand und zog mich durch den dichten Farn. Auf der anderen Seite stand der Transporter. Stolz zeigte er darauf. »Vertrau mir einfach.«

»Nicht schlecht«, gab ich zu. »Aber nächstes Mal nehmen wir Taschenlampen mit.«

»Lass uns einfach immer sonntags wandern gehen. Ich konnte ja nicht wissen, dass du so langsam bist.«

Ich zog meine Hand weg und stapfte zur Fahrertür, während er leise kicherte.

»Also morgen auf ein Neues?«, fragte er, als er sich auf den Beifahrersitz setzte.

»Klar. Es sei denn, du gehst lieber ohne mich, damit du nicht in meinem Schneckentempo mitlatschen musst.«

»Ich werd’s überleben«, versicherte er mir. »Aber nimm dir für morgen lieber ein paar Pflaster mit. Ich wette, du merkst die neuen Schuhe jetzt schon.«

»Ein bisschen«, gab ich zu. Ich hatte das Gefühl, dass ich mehr Blasen als Zehen an den Füßen hatte.

»Hoffentlich sehen wir morgen den Bären. Ich bin doch ein bisschen enttäuscht.«

»Ja, ich auch«, sagte ich sarkastisch. »Vielleicht haben wir morgen ja Glück und werden aufgefressen!«

»Bären fressen keine Menschen. Wir sind nicht so lecker.« Er grinste mich im dunklen Wagen an. »Kann natürlich sein, dass du eine Ausnahme bist. Ich wette, du schmeckst gut.«

»Vielen Dank«, sagte ich und schaute weg. Er war nicht der Erste, der mir das sagte.