Wie eine Familie
Ich lehnte mich an Jacob, während ich den Blick auf der Suche nach den anderen Werwölfen in den Wald schweifen ließ. Als sie hinter den Bäumen hervorkamen, waren sie nicht das, was ich erwartet hatte. Ich hatte immer noch das Bild der Wölfe im Kopf gehabt. Jetzt waren sie nur vier sehr große halbnackte Jungs.
Wieder erinnerten sie mich an Brüder, an Vierlinge. Ihre Bewegungen, als sie sich auf der anderen Straßenseite aufstellten, waren beinahe synchron; sie hatten alle die gleichen langen, gewölbten Muskeln unter der rostbraunen Haut, das gleiche kurzgeschnittene schwarze Haar, und selbst ihre Mimik änderte sich zeitgleich.
Anfangs sahen sie neugierig und abwartend aus. Als sie mich entdeckten, wie ich mich halb hinter Jacob versteckte, wurden sie alle im selben Moment wütend.
Sam war immer noch der Größte, obwohl Jacob ihn schon fast eingeholt hatte. Sam ging eigentlich nicht mehr als Junge durch. Sein Gesicht war älter – nicht in dem Sinn, dass er Falten hätte oder gealtert aussähe, aber es war reifer, ein abgeklärter Ausdruck lag darin.
»Was ist passiert, Jacob?«, wollte er wissen.
Einer der anderen, die ich nicht kannte – Jared oder Paul –, drängte sich an Sam vorbei und platzte heraus, ehe Jacob die Sache erklären konnte.
»Warum kannst du dich nicht an die Regeln halten, Jacob?«, schrie er. »Was denkst du dir bloß dabei? Ist sie wichtiger als alles andere – als der ganze Stamm? Als die Leute, die umgebracht werden?«
»Sie kann uns helfen«, sagte Jacob ruhig.
»Helfen!«, rief der wütende Junge. Seine Arme fingen an zu zittern. »O ja, ganz bestimmt! Wahrscheinlich kann das Vampirliebchen es gar nicht erwarten, uns zu helfen!«
»Sprich nicht so über sie!«, rief Jacob.
Ein Schaudern durchfuhr den anderen Jungen, lief über seine Schultern und seinen Rücken herunter.
»Paul! Ganz ruhig!«, befahl Sam.
Paul schüttelte den Kopf hin und her, nicht aus Trotz, sondern als ob er versuchte, sich zu konzentrieren.
»Mensch, Paul«, murmelte einer der anderen Jungen, vermutlich Jared. »Reiß dich mal zusammen.«
Paul ließ den Kopf zu ihm herumfahren und fletschte verärgert die Zähne. Dann wanderte sein Blick zu mir. Jacob stellte sich vor mich.
Das gab den Ausschlag.
»Ja, nimm sie nur in Schutz!«, brüllte Paul außer sich. Noch ein Schaudern, ein Zucken durchfuhr seinen Körper. Er warf den Kopf zurück, und jetzt kam ein richtiges Brüllen aus seiner Kehle.
»Paul!«, riefen Jacob und Sam gleichzeitig.
Paul schien vornüberzufallen, er bebte heftig. Kurz bevor er den Boden berührte, ertönte ein lautes, scharfes Reißen, und der Junge explodierte.
Dunkelsilbernes Fell platzte aus ihm heraus und verschmolz zu einer Gestalt, die mehr als fünfmal so groß war wie er – eine monströse Gestalt, geduckt, sprungbereit.
Der Wolf bleckte die Zähne, und wieder erhob sich ein Knurren in seiner gewaltigen Brust. Der Blick seiner dunklen, zornigen Augen war auf mich gerichtet.
Im selben Moment rannte Jacob über die Straße und direkt auf das Monster zu.
»Jacob!«, schrie ich.
Mitten im Lauf wurde auch Jacob plötzlich geschüttelt. Mit dem Kopf voran sprang er in die Luft.
Wieder war ein scharfes Reißen zu hören, und jetzt explodierte auch Jacob. Er platzte aus seiner Haut – schwarze und weiße Stofffetzen flogen in die Luft. Die Verwandlung ging so schnell vor sich, dass ich sie, hätte ich nur einmal geblinzelt, nicht mitbekommen hätte. Jacob war in der Luft, und im nächsten Moment war er schon der riesige rostbraune Wolf – so riesig, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie er in Jacobs Körper passen sollte.
Er ging geradewegs auf den anderen Werwolf los. Wie Donnergrollen hallte ihr wütendes Knurren von den Bäumen wider.
Dort, wo Jacob verschwunden war, flatterten die schwarzen und weißen Stofffetzen, die Reste seiner Kleidung, zu Boden.
»Jacob!«, schrie ich wieder und taumelte vorwärts.
»Bleib, wo du bist, Bella«, befahl Sam. Bei dem Gebrüll der kämpfenden Wölfe konnte ich ihn kaum verstehen. Sie schnappten und bissen, sie versuchten mit ihren scharfen Zähnen die Kehle des anderen zu erwischen. Der Jacob-Wolf schien überlegen zu sein, er war deutlich größer als der andere und anscheinend auch stärker. Immer wieder rammte er die Schulter gegen den grauen Wolf und stieß ihn zurück in den Wald.
»Bringt sie zu Emily«, rief Sam den anderen zu, die den Kampf gespannt verfolgten. Jacob hatte den grauen Wolf von der Straße gedrängt und sie verschwanden im Wald, doch ihr Knurren war immer noch laut zu hören. Sam lief hinter ihnen her und kickte im Laufen seine Schuhe fort. Als er in den Wald rannte, zitterte er am ganzen Leib.
Das Knurren und Beißen entfernte sich. Plötzlich verstummten die Geräusche und auf der Straße war es ganz still.
Einer der Jungen prustete los.
Ich starrte ihn an – meine Augen waren weit aufgerissen und fühlten sich so starr an, als könnte ich gar nicht mehr blinzeln.
Offenbar lachte der Junge über meinen Gesichtsausdruck. »Na, so was kriegst du wohl nicht alle Tage zu sehen«, kicherte er. Er kam mir entfernt bekannt vor – er hatte ein schmaleres Gesicht als die anderen … Embry Call.
»Ich schon«, grummelte Jared. »Tagtäglich.«
»Ach was, Paul kriegt doch nicht jeden Tag einen Wutanfall«, widersprach Embry, immer noch grinsend. »Höchstens an zwei von drei Tagen.«
Jared hob etwas Weißes vom Boden auf. Er hielt es hoch und zeigte es Embry, in schlappen Streifen hing es von seiner Hand herab.
»Total zerfetzt«, sagte Jared. »Billy hat gesagt, das ist das letzte Paar, das er sich leisten kann – jetzt muss Jacob wohl barfuß laufen.«
»Der hier hat überlebt«, sagte Embry und hob einen weißen Turnschuh hoch. »Jake muss eben auf einem Bein hüpfen«, fügte er lachend hinzu.
Jared sammelte verschiedene Stofffetzen auf. »Nimm Sams Schuhe mit, ja? Alles Übrige kann in den Müll.«
Embry nahm die Schuhe, dann lief er dorthin, wo Sam im Wald verschwunden war. Kurz darauf kam er mit einer abgeschnittenen Jeans überm Arm zurück. Jared sammelte die zerrissenen Überbleibsel von Jacobs und Pauls Sachen ein und knüllte sie zusammen. Erst jetzt schien ihm wieder einzufallen, dass ich auch noch da war.
Er betrachtete mich prüfend.
»Du wirst doch nicht ohnmächtig oder übergibst dich oder so?«, wollte er wissen.
»Ich glaub nicht«, stieß ich hervor.
»Du siehst nicht so gut aus. Setz dich lieber mal hin.«
»Okay«, murmelte ich. Zum zweiten Mal an diesem Morgen legte ich den Kopf zwischen die Knie.
»Jake hätte uns warnen sollen«, beschwerte sich Embry.
»Er hätte seine Freundin nicht hierherbringen dürfen. Was hat er sich dabei gedacht?«
»Tja, jetzt ist der Wolf aus dem Sack.« Embry seufzte. »Da kommt noch einiges auf dich zu, Jake.«
Ich hob den Kopf und starrte die beiden Jungen an, die das alles offenbar so locker nahmen. »Macht ihr euch gar keine Sorgen um die beiden?«, fragte ich.
Embry blinzelte überrascht. »Wieso sollten wir uns denn Sorgen machen?«
»Sie könnten sich doch gegenseitig verletzen!«
Embry und Jared lachten schallend.
»Ich hoffe, Paul kriegt ein bisschen was von ihm ab«, sagte Jared. »Das würde ihm ganz recht geschehen.«
Ich wurde blass.
»Ja, ganz bestimmt!«, rief Embry. »Hast du Jake denn nicht gesehen? Selbst Sam hätte sich nicht so im Flug verwandeln können. Er hat gesehen, dass Paul die Beherrschung verlor, und er hat – wie lange? – eine halbe Sekunde gebraucht, um ihn anzugreifen. Der Junge ist begnadet.«
»Paul kämpft aber schon länger. Ich wette zehn Dollar, dass er ihn verwundet.«
»Die Wette gilt. Jake ist ein Naturtalent. Paul hat keine Chance.«
Grinsend reichten sie sich die Hand.
Ich versuchte mich damit zu beruhigen, dass sie sich keine Sorgen machten, aber das brutale Bild der kämpfenden Werwölfe ließ sich nicht verscheuchen. Mir drehte sich der Magen um, der sich wund und leer anfühlte, ich hatte Kopfschmerzen vor Sorge.
»Los, wir gehen zu Emily. Sie hat bestimmt was zu essen für uns.« Embry schaute zu mir herab. »Kannst du uns mitnehmen?«
»Klar«, stieß ich mühsam hervor.
Jared zog eine Augenbraue hoch. »Vielleicht ist es besser, wenn du fährst, Embry. Sie sieht immer noch so aus, als ob sie sich jeden Moment übergibt.«
»Gute Idee. Wo ist der Schlüssel?«, fragte Embry.
»Steckt.«
Embry öffnete die Beifahrertür. »Rein mit dir«, sagte er fröhlich, hob mich mit einer Hand hoch und verfrachtete mich auf den Sitz. Er taxierte den verbleibenden Platz. »Du musst hinten rein«, sagte er zu Jared.
»Kein Problem. Ich hab sowieso einen schwachen Magen. Ich will nicht dadrin sein, wenn sie loskotzt.«
»Ich glaub nicht, dass sie so zimperlich ist. Schließlich gibt sie sich mit Vampiren ab.«
»Fünf Dollar?«, fragte Jared.
»Abgemacht. Ich hab aber ein schlechtes Gewissen, wenn ich dich so abzocke.«
Embry stieg ein und ließ den Motor an, während Jared behände auf die Ladefläche sprang. Kaum waren wir allein, sagte Embry leise zu mir: »Bitte nicht kotzen, ja? Ich hab nur zehn Dollar, und wenn Paul Jacob erwischt hat …«
»Okay«, flüsterte ich.
Embry fuhr zurück zum Dorf.
»Hey, wie hat Jake es überhaupt geschafft, die Anordnung zu umgehen?«
»Die … was?«
»Ähm, den Befehl. Du weißt schon, nichts auszuplaudern. Wie hat er es dir erzählt?«
»Ach so«, sagte ich und dachte daran, wie Jake letzte Nacht versucht hatte, die Wahrheit herauszuwürgen. »Er hat es mir nicht erzählt. Ich hab es erraten.«
Embry schürzte die Lippen, er sah überrascht aus. »Hmm. Ja, das geht wohl.«
»Wohin fahren wir?«, fragte ich.
»Zu Emily. Sie ist Sams Freundin … oder mittlerweile ist sie wohl seine Verlobte. Die anderen kommen dann nach, wenn Sam ihnen für das, was gerade passiert ist, eins auf den Deckel gegeben hat. Und wenn Paul und Jake ein paar neue Klamotten aufgetrieben haben, falls Paul überhaupt noch welche hat.«
»Weiß Emily …?«
»Ja. Und he, starr sie nicht an. Sonst wird Sam sauer.«
Ich runzelte die Stirn. »Wieso sollte ich sie anstarren?«
Embry schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. »Du hast ja gerade selbst gesehen, dass man gefährlich lebt, wenn man sich mit Werwölfen abgibt.« Er wechselte schnell das Thema. »Es macht dir doch nichts aus, was wir mit dem schwarzhaarigen Blutsauger auf der Lichtung gemacht haben, oder? Es hat nicht so ausgesehen, als wärst du mit ihm befreundet, aber …« Embry zuckte die Achseln.
»Nein, ich war nicht mit ihm befreundet.«
»Ein Glück. Wir wollen keinen Streit anfangen, du weißt schon, nicht den Vertrag brechen.«
»Ach ja, vor ewigen Zeiten hat Jake mir mal von einem Vertrag erzählt. Wieso brecht ihr den Vertrag, wenn ihr Laurent umbringt?«
»Laurent«, wiederholte er und schnaubte, als fände er es lustig, dass der Vampir einen Namen hatte. »Na ja, genau genommen befanden wir uns im Revier der Cullens. Außerhalb unseres Gebiets dürfen wir keinen von ihnen angreifen, jedenfalls keinen Cullen, es sei denn, sie brechen den Vertrag als Erste. Wir wussten nicht, ob der Schwarzhaarige ein Verwandter von ihnen war oder so. Es sah so aus, als ob du ihn kanntest.«
»Wie können sie den Vertrag brechen?«
»Indem sie einen Menschen beißen. Jake war nicht scharf darauf, es so weit kommenzulassen.«
»Ach so. Ähm, danke, dass ihr nicht gewartet habt.«
»War uns ein Vergnügen.« Es klang so, als meinte er das ganz wörtlich.
Embry fuhr an dem letzten Haus an der Landstraße vorbei und bog dann in einen schmalen Schotterweg ein. »Dein Transporter ist aber eine lahme Ente«, bemerkte er.
»Tut mir leid.«
Am Ende des Weges stand ein winziges Haus, das irgendwann einmal grau gewesen war. Neben der verwitterten blauen Tür war nur ein einziges kleines Fenster, aber der Blumenkasten darunter war voller leuchtender Ringelblumen in Orange und Gelb, die dem Haus etwas Fröhliches gaben.
Embry öffnete die Wagentür und schnupperte. »Mmm, Emily kocht.«
Jared sprang von der Ladefläche und ging zur Tür, aber Embry hielt ihn auf. Er schaute mich bedeutungsvoll an und räusperte sich.
»Ich hab meine Brieftasche grad nicht dabei«, sagte Jared.
»Macht nichts. Ich werd’s mir merken.«
Sie gingen die eine Stufe zum Haus hoch und marschierten, ohne anzuklopfen, hinein. Zaghaft folgte ich ihnen.
Wie in Billys Haus gab es auch hier eine kleine Wohnküche. Eine junge Frau mit seidiger, kupferfarbener Haut und langen, glatten, rabenschwarzen Haaren stand an der Anrichte neben der Spüle. Sie nahm große Muffins aus einer Dose und legte sie auf einen Pappteller. Einen Augenblick lang dachte ich, Embry hätte mir gesagt, ich sollte Emily nicht anstarren, weil sie so schön war.
Dann fragte sie mit melodischer Stimme: »Habt ihr Hunger?«, und drehte sich zu uns herum, ein Lächeln auf der einen Gesichtshälfte.
Die rechte Gesichtshälfte war vom Haaransatz bis zum Kinn von drei dicken Narben entstellt. Obwohl sie längst verheilt waren, waren sie immer noch rot. Eine Narbe zog ihr rechtes Auge, dunkel und mandelförmig, am Augenwinkel nach unten, eine andere verzerrte die rechte Seite ihres Mundes zu einer ständigen Grimasse.
Ich war heilfroh, dass Embry mich gewarnt hatte, und guckte schnell auf die Muffins in ihren Händen. Sie dufteten herrlich – nach frischen Blaubeeren.
»Oh«, sagte Emily überrascht. »Wer ist das denn?«
Ich schaute auf und versuchte mich auf ihre linke Gesichtshälfte zu konzentrieren.
»Bella Swan«, sagte Jared und zuckte die Achseln. Offensichtlich hatten sie schon über mich gesprochen. »Wer sonst?«
»Dann hat Jacob es also doch irgendwie hingekriegt«, murmelte sie. Sie starrte mich an, und keine der Hälften ihres einst schönen Gesichts war freundlich. »Du bist also das Vampirmädchen.«
Ich merkte, wie ich mich versteifte. »Ja. Und du bist das Wolfsmädchen?«
Sie lachte, ebenso wie Embry und Jared. Die linke Hälfte ihres Gesichts taute auf. »So kann man es sagen.« Sie wandte sich zu Jared. »Wo ist Sam?«
»Bella, ähm, hat Paul heute Morgen überrascht.«
Emily verdrehte das gesunde Auge. »Ach, Paul«, seufzte sie. »Glaubst du, sie bleiben lange weg? Ich wollte gerade mit den Eiern anfangen.«
»Keine Sorge«, sagte Embry. »Falls sie sich verspäten, sorgen wir schon dafür, dass nichts verkommt.«
Emily lachte in sich hinein, dann öffnete sie den Kühlschrank. »Das glaub ich sofort«, sagte sie. »Bella, hast du Hunger? Nimm dir doch einen Muffin.«
»Danke.« Ich nahm mir einen und begann daran zu knabbern. Er schmeckte köstlich, und es tat gut, etwas in den angegriffenen Magen zu bekommen. Embry nahm sich den dritten und schob ihn ganz in den Mund.
»Lass deinen Brüdern auch ein paar«, mahnte Emily und schlug ihm leicht mit einem Holzlöffel auf den Kopf. Das Wort »Brüder« überraschte mich, aber die anderen schienen sich nicht zu wundern.
»Fresssack«, sagte Jared.
Ich lehnte mich an die Anrichte und beobachtete die drei, die sich neckten, als wären sie eine Familie. Emilys Küche sah freundlich und hell aus, mit weißen Schränken und hellen Holzdielen. Auf dem kleinen runden Tisch stand ein angesprungener blauweißer Porzellankrug, der übervoll mit Wildblumen war. Embry und Jared schienen sich hier ganz zu Hause zu fühlen.
Emily verrührte eine gigantische Menge Eier, mehrere Dutzend, in einer großen gelben Schüssel. Sie hatte die Ärmel ihres lavendelfarbenen T-Shirts hochgeschoben, und ich sah, dass die Narben über ihren rechten Arm bis zum Handrücken liefen. Embry hatte Recht, wenn man sich mit Werwölfen abgab, lebte man wirklich gefährlich.
Die Haustür ging auf und Sam kam herein.
»Emily«, sagte er, und in seiner Stimme lag so viel Liebe, dass ich mich schämte und mir wie ein Eindringling vorkam, als er mit einem Schritt den Raum durchmaß und ihr Gesicht in seine großen Hände nahm. Er beugte sich zu ihr herab und küsste die dunklen Narben auf ihrer rechten Wange, bevor er ihre Lippen küsste.
»He, lass das gefälligst sein«, beschwerte sich Jared. »Ich esse.«
»Dann iss und halt die Klappe«, sagte Sam und küsste wieder Emilys entstellten Mund.
»Bah!«, stöhnte Embry.
Das hier war schlimmer als jeder romantische Film, es war so echt, dass es jubelte vor Freude und Leben und wahrer Liebe. Ich legte den Muffin hin und verschränkte die Arme vor der leeren Brust. Ich starrte auf die Blumen und versuchte ihr Glück und das entsetzliche Pochen meiner Wunden auszublenden.
Als Jacob und Paul hereinkamen, war ich dankbar für die Ablenkung, und gleichzeitig völlig irritiert, als ich sah, dass sie lachten. Paul boxte Jacob in die Schulter und Jacob konterte mit einem Nierenschlag. Sie lachten wieder. Beide waren offenbar heil geblieben.
Jacob schaute sich um, bis er mich sah – allein und unbeholfen in der hintersten Ecke der Küche.
»Hi, Bella«, sagte er vergnügt. Auf dem Weg zu mir schnappte er sich zwei Muffins vom Tisch. »Tut mir leid wegen vorhin«, sagte er leise. »Wie geht’s dir?«
»Ganz gut, keine Sorge. Die Muffins sind lecker.« Ich nahm meinen Muffin wieder und knabberte daran. Kaum war Jacob an meiner Seite, tat es in meiner Brust nicht mehr so weh.
»O nein!«, jammerte Jared plötzlich.
Ich schaute auf, und er und Embry inspizierten gerade einen verblassenden rosa Kratzer auf Pauls Unterarm. Embry grinste frohlockend.
»Fünfzehn Dollar!«, brüllte er.
»Warst du das?«, flüsterte ich Jacob zu, als mir die Wette wieder einfiel.
»Ich hab ihn kaum berührt. Bis Sonnenuntergang ist davon nichts mehr zu sehen.«
»Bis Sonnenuntergang?« Ich betrachtete den Kratzer auf Pauls Arm. Komisch, er sah aus, als wäre er schon mehrere Wochen alt.
»Das ist typisch für Wölfe«, flüsterte Jacob.
Ich nickte und versuchte, nicht verstört auszusehen.
»Bei dir alles in Ordnung?«, fragte ich leise.
»Ich hab keinen Kratzer abgekriegt.« Er sah ziemlich selbstgefällig aus.
»He, Jungs«, rief Sam mit lauter Stimme, und alle in dem kleinen Raum verstummten. Emily stand am Herd und schob ihre Eiermischung in einer großen Pfanne herum, aber Sams Hand lag noch immer an ihrer Hüfte. »Jacob hat Neuigkeiten für uns.«
»Ich weiß jetzt, was die Rothaarige will«, sagte Jacob an Jared und Embry gerichtet. »Das wollte ich euch vorhin schon erzählen.« Er trat gegen den Stuhl, auf den Paul sich gesetzt hatte.
»Und?«, fragte Jared.
Jacobs Miene wurde ernst. »Sie will tatsächlich ihren Gefährten rächen – aber das war gar nicht der schwarzhaarige Blutsauger, den wir getötet haben. Die Cullens haben letztes Jahr ihren Gefährten um die Ecke gebracht, und jetzt ist sie hinter Bella her.«
Obwohl das für mich nichts Neues war, zitterte ich.
Jared, Embry und Emily starrten mich mit offenem Mund an.
»Sie ist doch nur ein Mädchen«, protestierte Embry.
»Ich hab nicht behauptet, dass es logisch ist. Aber das ist der Grund, weshalb sie versucht hat, an uns vorbeizukommen. Sie wollte nach Forks.«
Sie starrten mich immer noch mit offenem Mund an, eine ganze Weile. Ich duckte mich.
»Na super«, sagte Jared schließlich, und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. »Damit hätten wir einen Köder.«
Mit verblüffender Geschwindigkeit schnappte Jacob sich einen Dosenöffner von der Anrichte und zielte damit auf Jareds Kopf. Blitzschnell fuhr Jareds Hand hoch, und er fing den Dosenöffner gerade noch, bevor er im Gesicht getroffen wurde.
»Bella ist keine Beute.«
»Du weißt, was ich meine«, sagte Jared unerschrocken.
»Dann ändern wir also unsere Strategie«, sagte Sam, ohne auf ihr Gezänk einzugehen. »Wir lassen ein paar Schlupflöcher und gucken, ob sie drauf reinfällt. Wir müssen uns dann zwar aufteilen, und das gefällt mir nicht. Aber wenn sie wirklich hinter Bella her ist, wird sie wahrscheinlich nicht versuchen, das auszunutzen.«
»Quil wird wohl sehr bald zu uns stoßen«, murmelte Embry. »Dann können wir uns in zwei gleich große Gruppen aufteilen.«
Alle senkten den Blick. Ich schaute Jacob ins Gesicht, und er sah so verzweifelt aus wie gestern Nachmittag. Hier in dieser fröhlichen Küche schienen sie mit ihrem Schicksal im Reinen zu sein, doch keiner der Werwölfe wünschte seinem Freund dasselbe.
»Na, darauf wollen wir uns lieber nicht verlassen«, sagte Sam leise, dann sprach er in normaler Lautstärke weiter: »Paul, Jared und Embry übernehmen das äußere Gelände, Jacob und ich das innere. Wenn wir sie gestellt haben, kommen wir alle zusammen.«
Emily gefiel es offensichtlich nicht, dass Sam in der kleineren Gruppe war. Als ich ihre Unruhe bemerkte, schaute ich zu Jacob und machte mir auch Sorgen.
Sam fing meinen Blick auf. »Jacob meint, dass es am besten ist, wenn du dich so viel wie möglich hier in La Push aufhältst. Nur für alle Fälle. Hier wird sie dich nicht so leicht finden.«
»Und was ist mit Charlie?«, fragte ich.
»Das Basketballturnier ist immer noch im Gang«, sagte Jacob. »Da dürften Billy und Harry es hinkriegen, dass Charlie die meiste Zeit hier ist, wenn er nicht arbeitet.«
»Moment mal«, sagte Sam und hob eine Hand. Sein Blick huschte zu Emily und dann wieder zu mir. »Das ist Jacobs Vorschlag, aber du musst für dich selbst entscheiden. Du solltest die Risiken ganz genau abwägen. Heute Morgen hast du gesehen, wie leicht es hier gefährlich werden kann, wie schnell die Sache aus dem Ruder läuft. Wenn du dich dafür entscheidest, bei uns zu bleiben, kann ich nicht für deine Sicherheit garantieren.«
»Ich werde ihr nichts tun«, murmelte Jacob und senkte den Blick.
Sam tat so, als hätte er nichts gehört. »Wenn es irgendeinen anderen Ort gibt, an dem du dich sicher fühlst …«
Ich biss mir auf die Lippe. Wo könnte ich hin, ohne jemand anders in Gefahr zu bringen? Wieder schrak ich davor zurück, Renée in die Sache hineinzuziehen – sie auch in Gefahr zu bringen, nur weil ich Zielscheibe war … »Ich will Victoria nicht irgendwo anders hinlocken«, flüsterte ich.
Sam nickte. »Da hast du Recht. Es ist besser, wenn sie hier ist, wo wir der Sache ein Ende bereiten können.«
Ich zuckte zusammen. Ich wollte nicht, dass Jacob oder einer der anderen Victoria ein Ende bereitete. Ich schaute Jake ins Gesicht – er sah gelassen aus, fast so, wie ich ihn kannte, bevor die Wolfsgeschichte angefangen hatte, und es schien ihn überhaupt nicht zu belasten, dass er auf Vampirjagd gehen sollte.
»Ihr seid doch vorsichtig, oder?«, fragte ich mit einem hörbaren Kloß im Hals.
Die Jungs prusteten erheitert los. Alle lachten mich aus – bis auf Emily. Ich begegnete ihrem Blick, und auf einmal konnte ich in ihrem entstellten Gesicht eine Symmetrie erkennen. Ihr Gesicht war immer noch schön, und es war bewegt von einer Sorge, die noch viel heftiger war als meine. Ich musste den Blick abwenden, ehe die Liebe, die sich hinter dieser Sorge verbarg, mir wieder wehtat.
»Das Essen ist fertig«, verkündete sie dann, und vergessen war die Strategiebesprechung. Die Jungs stürmten an den Tisch – der winzig war und so aussah, als könnten sie ihn jeden Moment zum Einsturz bringen – und verschlangen in Rekordgeschwindigkeit die Eier aus der überdimensionalen Pfanne, die Emily in die Mitte gestellt hatte. Emily aß, wie ich, an die Anrichte gelehnt, um dem Tumult am Tisch zu entgehen, und schaute den Jungs liebevoll zu. Sie waren ihre Familie, das sah man ihr an.
Alles in allem war es ein wenig anders, als ich es von einem Rudel Werwölfe erwartet hätte.
Ich verbrachte den Tag in La Push, größtenteils bei Billy. Er sprach Charlie zu Hause und auf der Wache auf den Anrufbeantworter, und zum Abendessen kam Charlie mit zwei Pizzen an. Es war nur gut, dass er große geholt hatte, denn eine davon aß Jacob ganz allein auf.
Es entging mir nicht, dass Charlie uns beide den ganzen Abend misstrauisch beäugte, vor allem Jacob, der sich so verändert hatte. Er fragte ihn nach seinen Haaren, aber Jacob zuckte nur die Achseln und sagte, so sei es praktischer.
Ich wusste, dass Jacob, sobald Charlie und ich fort waren, wieder losziehen würde – er würde wieder als Wolf herumlaufen, wie er es mit Unterbrechungen schon den ganzen Tag getan hatte. Ständig lagen er und seine »Brüder« auf der Lauer und warteten auf ein Zeichen von Victorias Rückkehr. Aber da sie sie letzte Nacht von den heißen Quellen vertrieben hatten – Jacob zufolge hatten sie sie fast bis nach Kanada gejagt –, musste sie erst einen neuen Vorstoß wagen.
Ich machte mir keine Hoffnung, dass sie aufgeben könnte. So ein Glück hatte ich nicht.
Nach dem Abendessen begleitete Jacob mich zu meinem Transporter und wartete darauf, dass Charlie zuerst losfuhr.
»Du brauchst heute Nacht keine Angst zu haben«, sagte Jacob, während Charlie so tat, als käme er mit seinem Gurt nicht zurecht. »Wir sind im Wald und passen auf.«
»Ich hab keine Angst um mich selbst«, versprach ich.
»Du bist albern. Vampire jagen macht Spaß. Das ist noch das Beste an dem ganzen Schlamassel.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin vielleicht albern, aber du bist echt gestört.«
Er kicherte. »Ruh dich mal aus, Bella, Schatz. Du siehst müde aus.«
»Ich werd’s versuchen.«
Charlie drückte ungeduldig auf die Hupe.
»Bis morgen«, sagte Jacob. »Komm morgen früh gleich vorbei.«
»Mach ich.«
Ich fuhr voraus, und Charlie fuhr hinter mir her. Ich achtete kaum auf die Scheinwerfer im Rückspiegel. Stattdessen überlegte ich, wo Sam und Jared und Embry und Paul wohl herumliefen. Ich fragte mich, ob Jacob schon zu ihnen gestoßen war.
Als wir zu Hause waren, lief ich schnell zur Treppe, aber Charlie holte mich sofort ein.
»Was ist los, Bella?«, fragte er, bevor ich entwischen konnte. »Ich dachte, Jacob wäre Mitglied in einer Gang und ihr beiden hättet Streit.«
»Wir haben uns wieder vertragen.«
»Und die Gang?«
»Ich weiß nicht – Jungs in dem Alter kann man einfach nicht verstehen. Die sind mir ein Rätsel. Aber ich hab Sam Uley und seine Verlobte kennengelernt, Emily. Sie macht einen netten Eindruck.« Ich zuckte die Schultern. »War wohl alles nur ein Missverständnis.«
Seine Miene veränderte sich. »Ich wusste gar nicht, dass Sam und Emily es jetzt offiziell gemacht haben. Das freut mich. Armes Mädchen.«
»Weißt du, was mit ihr passiert ist?«
»Sie wurde von einem Bären angegriffen, während der Laichzeit der Lachse – ein schrecklicher Unfall. Das ist jetzt über ein Jahr her. Ich hab gehört, dass es Sam unheimlich mitgenommen hat.«
»Das ist ja furchtbar«, sagte ich. Vor über einem Jahr. Jede Wette, dass es passiert war, als es nur einen Werwolf in La Push gab. Ich schauderte bei der Vorstellung, wie Sam sich jedes Mal fühlen musste, wenn er Emilys Gesicht sah.
In dieser Nacht lag ich lange wach und versuchte die Ereignisse des Tages zu ordnen. Ich rollte den Tag von hinten auf, angefangen beim Abendessen mit Billy, Jacob und Charlie über den langen Nachmittag bei den Blacks, wo ich ungeduldig auf Jacobs Auftauchen gewartet hatte, und Emilys Küche bis zu dem schockierenden Kampf der Werwölfe und dem Gespräch mit Jacob am Strand …
Ich musste an das denken, was Jacob heute Morgen gesagt hatte – dass ich eine Heuchlerin sei. Ich wollte mich nicht so sehen – aber machte ich mir da vielleicht nur etwas vor?
Ich rollte mich zusammen. Nein, Edward war kein Mörder. Selbst in seiner dunkleren Vergangenheit hatte er wenigstens niemals Unschuldige umgebracht.
Aber wenn es so gewesen wäre? Wenn er sich, während ich ihn kannte, genauso verhalten hätte wie jeder andere Vampir? Wenn Menschen im Wald verschwunden wären, genau wie jetzt? Hätte ich mich dann von ihm ferngehalten?
Ich schüttelte traurig den Kopf. Liebe ist irrational, dachte ich wieder. Je mehr man jemanden liebte, desto unlogischer wurde alles.
Ich drehte mich um und versuchte an etwas anderes zu denken – und ich dachte an Jacob und seine Brüder, wie sie durch die Nacht liefen. Ich schlief ein mit dem Gedanken an die Wölfe, die mich, unsichtbar im Dunkel der Nacht, vor Gefahren beschützten. Als ich träumte, war ich wieder im Wald, doch ich streifte nicht umher. Ich hielt Emilys vernarbte Hand, während wir in die Schatten starrten und ungeduldig auf die Rückkehr unserer Werwölfe warteten.