Zurück auf der Lichtung

Jacob ließ nichts von sich hören.

Als ich das erste Mal anrief, ging Billy dran und sagte, Jacob liege immer noch im Bett. Ich wurde misstrauisch und fragte, ob Billy mit ihm beim Arzt gewesen sei. Billy sagte ja, aber aus irgendeinem unbestimmten Grund glaubte ich ihm nicht richtig. An den folgenden beiden Tagen rief ich mehrmals täglich an, aber es ging nie jemand ans Telefon.

Am Samstag beschloss ich, ihn zu besuchen, ob wir verabredet waren oder nicht. Aber das kleine rote Haus war verlassen. Ich bekam einen Schreck – ging es Jacob so schlecht, dass er ins Krankenhaus musste? Auf dem Heimweg fuhr ich beim Krankenhaus vorbei, aber die Schwester an der Anmeldung sagte, weder Jacob noch Billy seien dort gewesen.

Als Charlie von der Arbeit nach Hause kam, bat ich ihn, sofort Harry Clearwater anzurufen. Ängstlich wartete ich, während Charlie mit seinem alten Freund plauderte; das Gespräch schien sich endlos zu ziehen, ohne dass Jacob auch nur erwähnt wurde. Offenbar war Harry selbst im Krankenhaus gewesen … irgendwelche Herzuntersuchungen. Charlie zog die Stirn in Falten, aber Harry machte Scherze und spielte es herunter, bis Charlie wieder lachte. Erst dann erkundigte er sich nach Jacob, und jetzt war ich am falschen Ende der Leitung, denn Charlie machte nur immer »hmmm« und »ach so«. Ich trommelte mit den Fingern auf die Arbeitsplatte neben ihm, bis er seine Hand auf meine legte, damit ich aufhörte.

Schließlich legte Charlie auf und drehte sich zu mir um.

»Harry sagt, es gab Probleme mit den Telefonleitungen, deshalb bist du nicht durchgekommen. Billy war mit Jake beim Arzt in La Push, und es sieht wohl so aus, als hätte er das pfeiffersche Drüsenfieber. Er ist sehr schlapp, und Billy sagt, er darf keinen Besuch bekommen«, berichtete er.

»Keinen Besuch?«, fragte ich ungläubig.

Charlie zog eine Augenbraue hoch. »Und jetzt versuch bitte ein bisschen Geduld zu haben, Bella. Billy wird schon wissen, was für Jake am besten ist. Er ist bestimmt bald wieder auf den Beinen.«

Ich bedrängte ihn nicht weiter. Er machte sich zu große Sorgen um Harry. Das war ganz klar das wichtigere Thema. Stattdessen ging ich direkt hoch in mein Zimmer und setzte mich an den Computer. Im Internet fand ich ein medizinisches Wörterbuch und gab »pfeiffersches Drüsenfieber« ein.

Ich wusste darüber nur, dass man sich beim Küssen anstecken konnte, was bei Jake ausgeschlossen war. Ich überflog die Symptome – Fieber hatte er auf jeden Fall gehabt, aber alles andere? Keine fürchterlichen Halsschmerzen, keine Erschöpfung, keine Kopfschmerzen, jedenfalls nicht, bevor er an dem Kinoabend nach Hause gefahren war. Er hatte gesagt, er sei »fit wie ein Turnschuh«. Konnte die Krankheit wirklich so plötzlich kommen? In dem Artikel klang es so, als ginge es mit Hals- und Kopfschmerzen los …

Ich starrte auf den Bildschirm und fragte mich, warum ich das eigentlich tat. Warum war ich so … so misstrauisch, als würde ich Billy die Geschichte nicht abkaufen? Wieso sollte Billy Harry anlügen?

Wahrscheinlich benahm ich mich albern. Ich machte mir einfach Sorgen, und ehrlich gesagt hatte ich Angst, weil ich Jacob nicht sehen durfte – es machte mich nervös.

Schnell las ich den Rest des Artikels durch und suchte nach weiteren Informationen. Ich hielt inne, als ich las, dass pfeiffersches Drüsenfieber länger als einen Monat dauern konnte.

Einen Monat? Mir blieb der Mund offen stehen.

Aber so lange konnte Billy das mit dem Besuchsverbot nicht durchziehen. Völlig ausgeschlossen. Jake würde durchdrehen, wenn er so lange im Bett liegen müsste, ohne mit jemandem reden zu können.

Wovor hatte Billy überhaupt Angst? In dem Artikel stand, dass man, wenn man am pfeifferschen Drüsenfieber erkrankt war, körperliche Anstrengung vermeiden sollte, aber da stand nicht, dass man keinen Besuch bekommen durfte. Die Krankheit war nicht besonders ansteckend.

Ich gebe Billy eine Woche, dachte ich, dann fahre ich hin. Eine Woche war großzügig bemessen.

Eine Woche war lang. Mittwoch war ich überzeugt, dass ich es bis Samstag nicht aushalten würde.

Als ich beschlossen hatte, Billy und Jacob eine Woche in Ruhe zu lassen, hatte ich nicht damit gerechnet, dass Jacob sich an Billys Regel halten würde. Jeden Tag, wenn ich aus der Schule kam, rannte ich zum Telefon und sah nach, ob etwas auf dem Anrufbeantworter war. Aber das war nie der Fall.

Ich verstieß dreimal gegen meinen Vorsatz und versuchte ihn zu erreichen, aber die Telefonleitungen funktionierten offenbar immer noch nicht.

Ich war viel zu oft zu Hause und viel zu viel allein. Ohne Jacob und unsere Ablenkungen kam alles, was ich verdrängt hatte, wieder hoch. Die Träume wurden wieder schlimmer. Ich konnte das Ende nicht mehr voraussehen. Da war nur die entsetzliche Leere – die Hälfte der Zeit im Wald, die andere Hälfte in dem verlassenen Farnmeer, wo es inzwischen auch das weiße Haus nicht mehr gab. Manchmal war Sam Uley im Wald und beobachtete mich. Ich beachtete ihn nicht – seine Gegenwart hatte nichts Tröstliches, sie linderte die Einsamkeit nicht. Sie hielt mich nicht davon ab, mit einem Schrei zu erwachen, Nacht für Nacht.

Das Loch in meiner Brust war schlimmer denn je. Ich hatte geglaubt, ich hätte es unter Kontrolle, aber jeden Morgen musste ich mich zusammenkrümmen, die Arme um den Oberkörper pressen und um Atem ringen.

Ich kam allein nicht gut zurecht.

So war ich grenzenlos erleichtert, als ich eines Morgens erwachte – schreiend natürlich – und mir einfiel, dass Samstag war. Heute konnte ich Jacob anrufen. Und wenn die Telefonleitungen immer noch nicht funktionierten, würde ich einfach nach La Push fahren. So oder so würde der Tag heute besser werden als die vergangene einsame Woche.

Ich wählte, dann wartete ich, ohne mir große Hoffnungen zu machen. Als Billy beim zweiten Klingeln dranging, war ich ganz überrascht.

»Hallo?«

»Oh, hey, das Telefon geht wieder! Hi, Billy. Hier ist Bella. Ich wollte nur fragen, wie es Jacob geht. Kann man ihn schon besuchen? Ich dachte, ich könnte vielleicht vorbeikommen …«

»Tut mir leid, Bella«, unterbrach Billy mich, und ich fragte mich, ob er nebenbei Fernsehen guckte, er wirkte so unkonzentriert. »Er ist nicht da.«

»Ach so.« Ich brauchte einen Moment. »Dann geht es ihm also besser?«

»Ja.« Billy zögerte ein kleines bisschen zu lange. »Es hat sich rausgestellt, dass es doch nicht das pfeiffersche Drüsenfieber war. Irgendein anderer Virus.«

»Aha. Und … wo ist er?«

»Er ist mit ein paar Freunden unterwegs nach Port Angeles – ich glaube, sie wollen später noch ins Kino gehen oder so. Er ist den ganzen Tag unterwegs.«

»Na, da bin ich aber erleichtert. Ich hatte mir solche Sorgen gemacht. Wie schön, dass er schon wieder ausgehen kann.« Mein Geplapper kam mir selbst total gekünstelt vor.

Es ging Jacob besser, aber nicht so gut, dass er mich anrufen konnte. Stattdessen war er mit Freunden ausgegangen. Ich hockte zu Hause und vermisste ihn von Stunde zu Stunde mehr. Ich war einsam, besorgt, gelangweilt, verlassen – und jetzt war ich außerdem verzweifelt, als ich einsehen musste, dass ihm die Woche, in der wir uns nicht sehen konnten, offenbar ganz und gar nichts ausgemacht hatte.

»Wolltest du irgendwas Bestimmtes?«, fragte Billy höflich.

»Nein, eigentlich nicht.«

»Also, ich werd ihm ausrichten, dass du angerufen hast«, versprach Billy. »Tschüss, Bella.«

»Tschüss«, sagte ich, aber da hatte er schon aufgelegt.

Einen Augenblick stand ich reglos mit dem Telefon in der Hand da.

Offenbar hatte Jacob es sich doch anders überlegt, ganz wie ich befürchtet hatte. Er schien meinen Rat zu befolgen und seine Zeit nicht länger mit einem Mädchen zu vergeuden, das seine Gefühle nicht erwiderte. Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich.

»Ist irgendwas?«, fragte Charlie, als er die Treppe runterkam.

»Nein, nein«, log ich und legte auf. »Billy hat gesagt, Jacob geht es besser. Es war doch nicht das pfeiffersche Drüsenfieber. Ein Glück.«

»Kommt er her oder fährst du hin?«, fragte Charlie zerstreut, während er den Kühlschrank durchforstete.

»Weder noch«, gestand ich. »Er ist mit anderen Freunden unterwegs.«

Mein Ton ließ ihn jetzt doch aufhorchen. Er sah mich plötzlich beunruhigt an, seine Hände, in denen er eine Packung mit Käsescheiben hielt, erstarrten.

»Ist es nicht noch ein bisschen früh fürs Mittagessen?«, fragte ich so locker wie möglich, um ihn abzulenken.

»Nein, ich packe mir nur was ein, was ich mit zum Fluss nehmen kann.«

»Ach so, gehst du angeln?«

»Na ja, Harry hat angerufen … und es regnet nicht …« Während er sprach, legte er verschiedene Lebensmittel auf den Tisch. Auf einmal blickte er wieder auf, als wäre ihm gerade etwas eingefallen. »Wär’s dir vielleicht lieber, wenn ich hierbleibe, jetzt, wo Jake keine Zeit hat?«

»Ist schon in Ordnung, Dad«, sagte ich und versuchte gleichgültig zu klingen. »Bei schönem Wetter beißen die Fische doch besser.«

Er starrte mich unschlüssig an. Ich wusste, dass er sich Sorgen machte und Angst hatte, mich allein zu lassen, falls ich wieder anfangen sollte, »Trübsal zu blasen«.

»Nein, wirklich, Dad, ich glaub, ich rufe Jessica an«, schwindelte ich schnell. Lieber allein sein, als ständig von ihm beobachtet zu werden. »Wir schreiben eine Matheklausur, für die wir lernen müssen. Da könnte ich ihre Hilfe gebrauchen.« Der letzte Satz stimmte. Aber ich würde wohl ohne ihre Hilfe auskommen müssen.

»Das ist eine gute Idee. Du warst so viel mit Jacob zusammen, deine anderen Freunde denken bestimmt schon, du hast sie vergessen.«

Ich lächelte und nickte, als ob ich etwas darauf gäbe, was meine anderen Freunde dachten.

Charlie wollte sich zum Gehen wenden, aber dann drehte er sich mit besorgter Miene noch mal zu mir um. »He, ihr lernt doch hier oder bei Jess, nicht?«

»Klar, wo sonst?«

»Na ja, ich möchte nur, dass du dich vom Wald fernhältst, vergiss das bitte nicht.«

In meiner Verwirrung brauchte ich einen Moment, bis ich schaltete. »Schon wieder Ärger mit den Bären?«

Charlie nickte und runzelte gleichzeitig die Stirn. »Ein Wanderer wird vermisst – die Ranger fanden sein Lager heute Morgen verlassen vor, von ihm selbst keine Spur. Da waren Spuren von richtig großen Tieren … die können natürlich auch später gekommen sein, weil sie den Proviant gerochen haben … Jedenfalls wollen sie jetzt Fallen aufstellen.«

»Aha«, sagte ich unbestimmt. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu; die Situation mit Jacob machte mir mehr zu schaffen als die Möglichkeit, von einem Bären gefressen zu werden.

Ich war froh darüber, dass Charlie es eilig hatte. Er wartete nicht ab, bis ich Jessica anrief, also musste ich kein Theater spielen. Stattdessen tat ich so, als würde ich meine Schulbücher zusammensuchen, um sie in die Tasche zu packen; das war fast zu viel des Guten, und wäre Charlie nicht so versessen darauf gewesen, endlich loszukommen, hätte es vielleicht sein Misstrauen geweckt.

Ich war so beschäftigt damit, beschäftigt zu wirken, dass der schrecklich leere Tag, der vor mir lag, erst auf mich einstürzte, als ich Charlie wegfahren sah. Ich brauchte nur zwei Minuten auf das stumme Telefon in der Küche zu starren, bis mein Entschluss feststand, nicht zu Hause zu bleiben. Ich überlegte, was ich machen könnte.

Jessica anzurufen kam nicht in Frage. Offenbar war sie zur anderen Seite übergelaufen.

Ich könnte nach La Push fahren und mein Motorrad holen – ein reizvoller Gedanke bis auf ein kleines Problem: Wer sollte mich anschließend in die Notaufnahme bringen?

Oder … die Karte und der Kompass waren schon in meinem Transporter. Ich glaubte das Prinzip so weit verstanden zu haben, dass ich mich nicht verlaufen würde. Vielleicht konnte ich heute zwei weitere Linien des Gitternetzes ausschließen, und dann wären wir, wenn Jacob mich denn irgendwann mal wieder mit seiner Gegenwart zu beehren gedachte, wieder ein Stück weiter. Ich weigerte mich, darüber nachzudenken, wann das sein würde. Oder ob es überhaupt jemals sein würde …

Ich hatte ganz leichte Gewissensbisse, als ich daran dachte, was Charlie dazu sagen würde, aber die schob ich beiseite. Ich konnte heute nicht schon wieder zu Hause hocken.

Ein paar Minuten später war ich auf der inzwischen vertrauten Straße. Ich hatte die Fenster heruntergekurbelt, fuhr, so schnell mein Transporter es erlaubte, und versuchte den Wind im Gesicht zu genießen. Es war bewölkt, aber fast trocken – für Forks ein richtig schöner Tag.

Für die Vorbereitungen brauchte ich länger als Jacob. Nachdem ich an der üblichen Stelle geparkt hatte, musste ich eine gute Viertelstunde die kleine Kompassnadel und die Markierungen auf der inzwischen abgegriffenen Karte studieren. Als ich mir einigermaßen sicher war, dass ich der richtigen Linie des Gitternetzes folgte, machte ich mich auf den Weg in den Wald.

Heute schienen alle Tiere im Wald unterwegs zu sein, so als freuten sie sich darüber, dass es ausnahmsweise trocken war. Aber trotz der zwitschernden und krächzenden Vögel, der Insekten, die mir lärmend um den Kopf surrten, und der Feldmäuse, die hin und wieder durchs Gebüsch huschten, wirkte der Wald heute irgendwie unheimlicher als sonst; er erinnerte mich an meinen letzten Albtraum. Das lag natürlich nur daran, dass ich allein unterwegs war; ich vermisste Jacobs sorgloses Pfeifen und das Geräusch von zwei weiteren Füßen, die über den feuchten Boden stapften.

Das Unbehagen wuchs, als ich tiefer in den Wald eindrang. Das Atmen wurde schwerer – nicht wegen der Anstrengung, sondern weil mir das blöde Loch in der Brust wieder Probleme bereitete. Ich schlang die Arme fest um den Körper und versuchte den Schmerz zu verbannen. Fast hätte ich wieder kehrtgemacht, aber der Gedanke, dass die ganze Anstrengung umsonst gewesen sein sollte, widerstrebte mir zu sehr.

Während ich weitermarschierte, betäubte der Takt meiner Schritte allmählich meine Gedanken und auch den Schmerz. Schließlich wurde mein Atem wieder regelmäßig, und ich war froh, dass ich nicht aufgegeben hatte. Ich wurde langsam besser darin, mich durchs Dickicht zu schlagen, und kam jetzt schneller voran.

Ich merkte gar nicht richtig, wie viel schneller ich vorankam. Nach meiner Schätzung hatte ich erst ungefähr sechs Kilometer zurückgelegt und hatte noch nicht angefangen, nach der Lichtung zu suchen. Da zwängte ich mich durch den Farn, der mir hier bis zur Brust ging, trat durch einen niedrigen Bogen aus zwei Weinblattahornbäumen und landete schwindelerregend plötzlich auf der Lichtung.

Es war dieselbe Lichtung, das wusste ich sofort. Ich hatte noch nie eine andere Lichtung gesehen, die so symmetrisch war. Sie war so rund, als hätte jemand in der Absicht, einen makellosen Kreis zu formen, die Bäume herausgerissen, ohne in dem wogenden Gras eine Spur dieses Gewaltakts zu hinterlassen. Von Osten her hörte ich leise den Fluss plätschern.

Ohne Sonnenschein war die Lichtung längst nicht so beeindruckend, aber sie war trotzdem sehr schön und friedlich. Für Wildblumen war es nicht die richtige Jahreszeit, der Boden war dicht mit hohem Gras bewachsen, das in der leichten Brise wehte wie ein See, der sich im Wind kräuselt.

Es war derselbe Ort … doch er hielt nicht das, was ich mir von ihm versprochen hatte.

Die Enttäuschung traf mich fast sofort. Ich sackte zusammen und kniete keuchend am Rand der Lichtung.

Wozu noch weitergehen? Hier war nichts zu finden. Nichts als die Erinnerungen, die ich jederzeit herbeirufen könnte, wenn ich bereit wäre, den dazugehörigen Schmerz zu ertragen. Und der Schmerz, der mich jetzt übermannte, traf mich mit voller Wucht. Ohne ihn hatte dieser Ort nichts Besonderes. Ich wusste nicht genau, was ich hier zu spüren gehofft hatte, aber die Lichtung war verlassen und leer wie jener andere Ort. Es war wie in meinen Albträumen. In meinem Kopf drehte sich alles.

Wenigstens war ich allein gekommen. Als mir das bewusst wurde, war ich dankbar. Wenn ich die Lichtung mit Jacob zusammen entdeckt hätte … dann hätte ich nicht vor ihm verbergen können, in welch einen Abgrund mich das stürzte. Wie hätte ich ihm erklären sollen, dass ich in Stücke zerfiel, dass ich mich ganz fest zusammenrollen musste, damit das Loch mich nicht auseinanderriss? Ich war froh, keine Zuschauer zu haben.

Und ich brauchte auch niemandem zu erklären, warum ich es so eilig hatte, wieder fortzukommen. Jacob hätte erwartet, dass ich nach all den Mühen, diese blöde Lichtung zu finden, länger hierbleiben wollte als ein paar Sekunden. Aber ich versuchte schon wieder auf die Füße zu kommen und mich aufzurappeln, um zu fliehen. Von diesem leeren Ort ging mehr Schmerz aus, als ich ertragen konnte – wenn es sein musste, würde ich eben davonkriechen.

Wie gut, dass ich allein war!

Allein. Mit grimmiger Befriedigung wiederholte ich das Wort, als ich mich trotz der Schmerzen zum Aufstehen zwang. Genau in dem Moment trat etwa dreißig Schritte nördlich von mir jemand aus dem Wald.

Ein Wirbelsturm der Gefühle stürzte innerhalb einer Sekunde auf mich ein. Im ersten Moment war ich überrascht, ich war fernab von allen Wanderwegen und hatte nicht damit gerechnet, jemandem zu begegnen. Als ich die reglose Gestalt dann näher betrachtete und die völlige Starre und die bleiche Haut registrierte, durchzuckte mich die Hoffnung. Wütend unterdrückte ich sie und kämpfte gegen den ebenso heftigen Schmerz an, der mich überkam, als ich das Gesicht unter dem schwarzen Haar sah und erkannte, dass es nicht das Gesicht war, das ich zu sehen gehofft hatte. Dann kam die Angst; zwar war das hier nicht das Gesicht, um das ich trauerte, aber doch so ähnlich, dass ich wusste: Der Mann dort ist kein verirrter Wanderer.

Und da endlich erkannte ich ihn.

»Laurent!«, rief ich freudig überrascht.

Das war eine unlogische Reaktion. Ich hätte bei der Angst Halt machen sollen.

Als wir uns kennenlernten, hatte Laurent zu James’ Zirkel gehört. An der Jagd hatte er sich damals nicht beteiligt – an der Jagd auf mich –, aber nur, weil er Angst hatte: Die Gruppe, unter deren Schutz ich stand, war größer als seine. Sonst hätte es anders ausgesehen – er hätte damals keinerlei Bedenken gehabt, seinen Durst an mir zu stillen. Inzwischen hatte er sich natürlich verändert; er war ja nach Alaska gegangen und hatte dort bei dem anderen zivilisierten Clan gelebt, bei der anderen Familie, die aus ethischen Gründen kein Menschenblut trank. Wie die … aber ich brachte es nicht über mich, ihren Namen zu denken.

Ja, Angst wäre das logischere Gefühl gewesen, aber ich empfand nur eine überwältigende Befriedigung. Jetzt war die Lichtung wieder ein verzauberter Ort. Es war ein dunklerer Zauber als der, den ich erwartet hatte, aber doch ein Zauber. Hier war die Verbindung, nach der ich gesucht hatte. Der wenn auch sehr entfernte Beweis dafür, dass es ihn in der Welt, in der ich lebte, irgendwo gab.

Laurent sah noch haargenau so aus wie beim letzten Mal. Wahrscheinlich war es albern und sehr menschlich zu denken, er müsste sich im Laufe des Jahres verändert haben. Aber da war etwas … ich kam nicht darauf, was es war.

»Bella?«, fragte er. Er wirkte überraschter als ich.

»Das weißt du noch.« Ich lächelte. Es war lächerlich, sich darüber zu freuen, dass ein Vampir sich an meinen Namen erinnerte.

Er grinste. »Mit dir hätte ich hier nicht gerechnet.« Nachdenklich schlenderte er auf mich zu.

»Sollte es nicht eher umgekehrt sein? Schließlich wohne ich hier. Aber ich dachte, du wärst nach Alaska gegangen.«

Etwa zehn Schritte von mir entfernt blieb er stehen und legte den Kopf schräg. Er hatte das schönste Gesicht, das ich seit Ewigkeiten gesehen hatte. Ich betrachtete ihn mit einem seltsam gierigen Gefühl von Befreiung. Endlich jemand, bei dem ich mich nicht verstellen musste – jemand, der alles schon wusste, was ich niemals sagen könnte.

»Das stimmt«, sagte er. »Ich bin nach Alaska gegangen. Ich hätte nur nicht gedacht … Als ich das Haus der Cullens verlassen vorfand, glaubte ich, sie seien fortgezogen.«

»Ach.« Als ich den Namen hörte, musste ich mir auf die Lippe beißen, weil die Wunde wieder anfing zu pochen. Ich brauchte eine Sekunde, um mich zu fangen. Laurent sah mich gespannt an und wartete.

»Ja, sie sind weggezogen«, brachte ich schließlich heraus.

»Hmm«, sagte er. »Es wundert mich, dass sie dich hiergelassen haben. Warst du nicht ihr kleiner Liebling?« Er sah nicht so aus, als wollte er mich kränken.

Ich lächelte trocken. »So was in der Art.«

»Hmm«, sagte er, jetzt wieder nachdenklich.

Genau in diesem Moment begriff ich, warum er genauso aussah wie damals – zu sehr wie damals. Nachdem Carlisle uns erzählt hatte, dass Laurent bei Tanyas Familie lebte, hatte ich ihn mir, die wenigen Male, da ich an ihn dachte, mit den gleichen goldenen Augen vorgestellt, die auch die Cullens – ich zwang mich, den Namen zu denken, und zuckte zusammen – hatten. Die alle guten Vampire hatten. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück, und der Blick seiner dunkelroten Augen folgte mir neugierig.

»Kommen sie oft vorbei?«, fragte er, immer noch beiläufig, doch er neigte sich leicht zu mir.

»Lüg«, flüsterte die wunderschöne Samtstimme aus meiner Erinnerung beschwörend.

Beim Klang seiner Stimme zuckte ich zusammen, aber eigentlich hätte ich nicht überrascht sein dürfen. Befand ich mich nicht in der schlimmsten Gefahr, die man sich vorstellen konnte? Dagegen war Motorradfahren doch Kinderkram.

Ich gehorchte der Stimme.

»Hin und wieder.« Ich versuchte, es leichthin und unangestrengt klingen zu lassen. »Mir ist es nie oft genug. Du weißt ja, wie leicht sie neue Zerstreuung finden …« Ich geriet ins Plaudern. Ich musste mich zusammenreißen.

»Hmm«, sagte er wieder. »Das Haus roch so, als stünde es schon eine ganze Weile leer …«

»Du musst besser lügen, Bella«, drängte die Stimme.

Ich versuchte es. »Ich muss Carlisle unbedingt sagen, dass du vorbeigekommen bist. Es wird ihm bestimmt leidtun, dass er dich verpasst hat.« Ich tat so, als müsste ich einen Moment überlegen. »Aber vielleicht sollte ich es … Edward« – ich brachte den Namen kaum heraus, und mein verzerrter Gesichtsausdruck machte den ganzen Bluff zunichte – »gegenüber lieber nicht erwähnen. Er gerät immer so leicht in Rage … na, du weißt schon. Diese ganze Geschichte mit James ist für ihn immer noch ein rotes Tuch.« Ich verdrehte die Augen und machte eine wegwerfende Handbewegung, als wäre das für mich alles lange vergessen, aber in meiner Stimme klang leichte Hysterie durch. Ich fragte mich, ob er das merkte.

»Ach ja?«, fragte Laurent leicht misstrauisch.

Ich antwortete nur kurz, um meine Panik nicht zu verraten. »Mm-hmm.«

Laurent trat lässig zur Seite und schaute sich auf der kleinen Lichtung um. Es entging mir nicht, dass er mir dadurch näher gekommen war. Die Stimme in meinem Kopf knurrte leise.

»Und wie ist es so in Denali? Carlisle hat erzählt, dass du jetzt bei Tanya lebst.« Meine Stimme war zu hoch.

Er antwortete nicht gleich. »Ich mag Tanya sehr gern«, sagte er nachdenklich. »Und ihre Schwester Irina noch mehr … Ich bin noch nie irgendwo so lange geblieben, und die Annehmlichkeiten und der Reiz des Neuen gefallen mir. Doch die Einschränkungen machen mir zu schaffen … Es wundert mich, dass die anderen so lange durchhalten.« Er lächelte mich verschwörerisch an. »Manchmal schummele ich.«

Ich konnte nicht schlucken. Mein Fuß wollte einen Schritt rückwärts machen, aber ich erstarrte, als der Blick seiner roten Augen nach unten huschte und die Bewegung erahnte.

»Ach so«, sagte ich mit schwacher Stimme. »Ja, Jasper hat auch seine Probleme damit.«

»Nicht bewegen«, flüsterte die Samtstimme. Ich versuchte zu gehorchen. Es war schwer, fast unmöglich, dem Fluchtinstinkt zu widerstehen.

»Ach ja?« Das schien Laurent zu interessieren. »Sind sie deshalb fortgegangen?«

»Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Zu Hause ist Jasper mehr auf der Hut.«

»Ja«, sagte Laurent. »So ist das bei mir auch.«

Er machte einen Schritt auf mich zu, diesmal ganz gezielt.

»Hat Victoria dich eigentlich gefunden?«, fragte ich atemlos. Ich musste ihn unbedingt ablenken. Es war die erste Frage, die mir einfiel, und kaum dass ich sie ausgesprochen hatte, bereute ich sie auch schon. Victoria – die mich zusammen mit James gejagt hatte und dann verschwunden war – war die Letzte, an die ich in diesem Augenblick denken wollte.

Doch bei der Frage hielt er inne.

»Ja«, sagte er und blieb zögernd stehen. »Genau genommen bin ich hierhergekommen, um ihr einen Gefallen zu tun …« Er verzog das Gesicht. »Aber hierüber wird sie nicht erfreut sein.«

»Worüber?«, fragte ich sofort, damit er weitersprach. Er schaute von mir weg in die Bäume. Ich nutzte die Situation aus und ging heimlich einen Schritt zurück.

Er schaute mich wieder an und lächelte – so sah er aus wie ein schwarzhaariger Engel.

»Darüber, dass ich dich töten werde«, säuselte er verführerisch.

Ich taumelte noch einen Schritt zurück. Bei dem verzweifelten Knurren in meinem Kopf konnte ich kaum etwas hören.

»Das hätte sie gern selbst erledigt«, sprach er unbekümmert weiter. »Sie ist ein wenig … verärgert über dich, Bella.«

»Über mich?«, piepste ich.

Er schüttelte den Kopf und lachte in sich hinein. »Ich weiß, mir erscheint es ja auch etwas altmodisch. Aber James war ihr Gefährte, und dein Edward hat ihn getötet.«

Selbst jetzt, da ich dem Tod so nah war, schnitt mir sein Name in die offenen Wunden wie ein Sägemesser.

Laurent bemerkte meine Reaktion nicht. »Sie fand es angemessener, dich zu töten als Edward – ein fairer Handel, ein Gefährte für den anderen. Sie hat mich gebeten, ein bisschen für sie auszukundschaften. Ich hätte nicht gedacht, dass du so leicht zu fassen bist. Also ist ihr Plan möglicherweise hinfällig – das wäre sicherlich nicht die Rache, die sie sich vorgestellt hat, denn wenn er dich hier so schutzlos zurücklässt, kannst du ihm nicht sehr viel bedeuten.«

Noch ein Schlag, noch ein Riss durch die Brust.

Laurent verlagerte leicht das Gewicht, und ich taumelte einen weiteren Schritt zurück.

Er runzelte die Stirn. »Aber ich fürchte, sie wird es mir trotzdem übelnehmen.«

»Warum wartest du dann nicht auf sie?«, brachte ich mühsam hervor.

Ein boshaftes Grinsen trat auf sein Gesicht. »Du hast mich im falschen Moment erwischt, Bella. Hierher kam ich nicht in Victorias Auftrag – ich war auf der Jagd. Ich bin ziemlich durstig, und bei deinem Geruch … läuft mir das Wasser im Munde zusammen.«

Laurent schaute mich anerkennend an, als wäre das ein Kompliment.

»Droh ihm«, befahl die geliebte Täuschung mit angstverzerrter Stimme.

»Er wird wissen, dass du es warst«, flüsterte ich gehorsam. »Damit kommst du nicht davon.«

»Und warum nicht?« Laurents Grinsen wurde noch breiter. Er schaute sich in der kleinen Lichtung um. »Mit dem nächsten Regen wird der Geruch weggespült. Niemand wird deine Leiche finden – du wirst einfach als vermisst gelten, wie so viele, viele andere Menschen. Edward hat keinen Grund, an mich zu denken, falls er überhaupt Wert darauf legt, Nachforschungen anzustellen. Nimm es nicht persönlich, Bella. Ich habe einfach nur Durst.«

»Bitte ihn«, bat meine Halluzination.

»Bitte nicht«, keuchte ich.

Laurent schüttelte den Kopf. Seine Miene war freundlich. »Du musst es einmal so sehen, Bella. Du hast großes Glück, dass ich derjenige bin, der dich gefunden hat.«

»Ach ja?«, sagte ich unhörbar und ging schwankend einen weiteren Schritt zurück.

Laurent folgte mir geschmeidig und anmutig.

»Ja«, versicherte er mir. »Ich mache es ganz schnell. Du wirst gar nichts spüren, das verspreche ich dir. Na ja, Victoria werde ich später etwas anderes erzählen, damit sie besänftigt ist. Aber wenn du wüsstest, was sie sich für dich ausgedacht hat, Bella …« Langsam schüttelte er den Kopf, fast als ekele er sich. »Dann wärst du mir dankbar, das schwöre ich dir.«

Entsetzt starrte ich ihn an.

Er schnupperte, als ihm der Duft meiner Haare ins Gesicht wehte. »Mir läuft das Wasser im Munde zusammen«, sagte er wieder und atmete tief ein.

Ich machte mich auf den Sprung gefasst, kniff die Augen zusammen und wich unwillkürlich zurück, und in meinem Hinterkopf hallte entfernt Edwards wütendes Brüllen. Sein Name sprengte alle Mauern, die ich errichtet hatte, um ihn fernzuhalten. Edward, Edward, Edward. Ich würde sterben. Es spielte keine Rolle, wenn ich jetzt an ihn dachte. Edward, ich liebe dich.

Durch die zusammengekniffenen Augen sah ich, wie Laurent plötzlich der Atem stockte und wie er den Kopf ruckartig nach links drehte. Ich traute mich nicht, ihn aus den Augen zu lassen und seinem Blick zu folgen, obwohl er mich kaum ablenken oder austricksen musste, um mich zu überwältigen. Ich war zu überrascht, um Erleichterung zu empfinden, als er sich langsam von mir entfernte.

»Das gibt es doch nicht«, sagte er so leise, dass ich ihn kaum verstand.

Nun musste ich doch hinsehen. Ich suchte die Lichtung ab und hielt Ausschau nach dem Etwas, das mein Leben um ein paar Sekunden verlängert hatte. Erst sah ich nichts, und mein Blick huschte zurück zu Laurent, der es jetzt eilig hatte wegzukommen. Sein Blick war immer noch starr auf den Wald gerichtet.

Da sah ich es, eine riesige schwarze Gestalt, die vorsichtig, leise wie ein Schatten hinter den Bäumen hervorkam und zielstrebig auf den Vampir zumarschierte. Es war ein gigantisches Wesen – groß wie ein Pferd, aber massiger und viel muskulöser. Es öffnete leicht die längliche Schnauze und entblößte dabei eine Reihe dolchähnlicher Schneidezähne. Zwischen den Zähnen ließ es ein schauerliches Knurren ertönen, das über die Lichtung dröhnte wie ein Donnerhall.

Der Bär. Nur, dass es überhaupt kein Bär war. Doch das musste das Vieh sein, das den ganzen Wirbel verursacht hatte. Aus der Entfernung würde jeder es für einen Bären halten. Welches andere Tier könnte so riesig und kräftig sein?

Nur zu gern wäre ich in der glücklichen Lage gewesen, es aus der Entfernung zu sehen. Stattdessen trottete es drei Meter vor mir leise durchs Gras.

»Rühr dich nicht vom Fleck«, flüsterte Edwards Stimme.

Ich starrte das gewaltige Vieh an. Mir schwindelte, als ich es zu benennen versuchte. In der Gestalt und der Art, sich zu bewegen, ähnelte es eindeutig einem Hund. Schreckerstarrt, wie ich war, fiel mir nur eine Möglichkeit ein. Doch ich hätte nie gedacht, dass ein Wolf so riesig werden könnte.

Wieder kam ein dröhnendes Knurren aus seiner Kehle, und ich schauderte.

Laurent wich zum Waldrand zurück, und trotz meiner Panik war ich verwirrt. Warum zog sich Laurent zurück? Sicher, das Tier war riesengroß, aber es war doch nur ein Tier. Weshalb sollte ein Vampir Angst vor einem Tier haben? Und Laurent hatte wirklich Angst. Er hatte die Augen vor Schreck weit aufgerissen, genau wie ich.

Als sollte meine Frage damit beantwortet werden, bekam der Riesenwolf plötzlich Gesellschaft. Zwei weitere gigantische Viecher kamen leise auf die Lichtung geschlichen und stellten sich zu beiden Seiten des ersten Wolfs auf. Einer war tiefgrau, der andere braun, beide waren etwas kleiner als der erste. Der graue Wolf kam ganz in meiner Nähe zwischen den Bäumen hervor, den Blick auf Laurent geheftet.

Bevor ich reagieren konnte, kamen zwei weitere Wölfe und stellten sich mit den übrigen zu einem V auf, wie Gänse, die gen Süden ziehen. Und das rostbraune Monster, das als Letztes durchs Gebüsch zockelte, war so nah, dass ich es hätte berühren können.

Unwillkürlich schrie ich auf und machte einen Satz zurück – das Dümmste, was ich tun konnte. Ich erstarrte wieder und wartete darauf, dass sich die Wölfe mir zuwandten, der wesentlich leichteren Beute. Einen kurzen Moment wünschte ich, Laurent würde endlich loslegen und das Wolfsrudel überwältigen – das dürfte für ihn kein Problem sein. Von den beiden Alternativen, die ich sah, war die, von Wölfen gefressen zu werden, höchstwahrscheinlich die schlimmere.

Der Wolf, der mir am nächsten war, der rostbraune, wandte mir bei meinem Aufschrei leicht den Kopf zu.

Seine Augen waren dunkel, fast schwarz. Er starrte mich den Bruchteil einer Sekunde an. Der tiefe Blick wirkte zu intelligent für ein wildes Tier.

Als er mich anstarrte, musste ich plötzlich – voller Dankbarkeit – an Jacob denken. Wenigstens war ich allein zu dieser verzauberten Lichtung voller dunkler Monster gegangen. Wenigstens musste Jacob nicht mit mir sterben. Ich würde nicht schuld an seinem Tod sein.

Dann knurrte der Anführer leise, und der rostbraune Wolf schaute schnell wieder zu Laurent.

Laurent starrte auf das Wolfsrudel, unverhohlener Schreck im Blick. Ich konnte ihn verstehen. Aber ich war völlig perplex, als er ohne Vorwarnung herumwirbelte und zwischen den Bäumen verschwand.

Er lief weg.

Sofort waren die Wölfe hinter ihm her, mit wenigen kräftigen Sätzen stürmten sie über die Lichtung. Sie knurrten dabei so laut, dass ich mir instinktiv die Ohren zuhielt. Als sie im Wald verschwunden waren, verebbte das Geräusch erstaunlich schnell.

Und dann war ich wieder allein.

Meine Knie gaben nach und ich fiel vornüber, ein Schluchzen stieg mir in der Kehle auf.

Ich wusste, dass ich wegmusste, und zwar sofort. Wie lange würden die Wölfe Laurent verfolgen, ehe sie kehrtmachten, um über mich herzufallen? Oder würde Laurent sie angreifen? Würde er zurückkommen?

Doch zunächst konnte ich mich nicht bewegen, meine Arme und Beine zitterten und ich wusste nicht, wie ich hochkommen sollte.

Mein Denken war vor lauter Angst, Schreck und Verwirrung gelähmt. Ich begriff nicht, was ich da gerade gesehen hatte.

Ein Vampir dürfte nicht vor übergroßen Hunden davonlaufen, und seien sie noch so riesig. Was konnten ihre Zähne seiner Granithaut schon anhaben?

Und die Wölfe hätten um Laurent einen großen Bogen machen müssen. Selbst wenn sie durch ihre außergewöhnliche Größe gelernt hatten, sich vor nichts zu fürchten, so war es doch unlogisch, dass sie Jagd auf ihn machten. Ich bezweifelte, dass seine eisige Haut appetitlich roch. Warum ließen sie eine warmblütige leichte Beute wie mich links liegen, um Laurent hinterherzurennen?

Ich kapierte es nicht.

Eine kalte Brise fegte über die Lichtung, und das Gras wogte, als würde etwas hindurchlaufen.

Ich rappelte mich auf und wich zurück, obwohl der Wind friedlich an mir vorbeiwehte. Vor lauter Panik stolperte ich fast, als ich Hals über Kopf in den Wald rannte.

Die nächsten Stunden waren die reinste Qual. Um aus dem Wald herauszufinden, brauchte ich dreimal so lange wie für den Weg zur Lichtung. Zuerst achtete ich überhaupt nicht darauf, wo ich hinlief, ich wollte einfach nur weg. Als ich wieder so weit bei Sinnen war, dass mir der Kompass einfiel, war ich schon tief in dem unbekannten, bedrohlichen Wald. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich den Kompass auf den matschigen Boden legen musste, um ihn lesen zu können. Alle paar Minuten blieb ich stehen, legte den Kompass wieder hin und überprüfte, ob ich immer noch nach Nordwesten ging, und dann, wenn nicht alles von dem schmatzenden Geräusch meiner hektischen Schritte übertönt wurde, hörte ich das leise Geflüster unsichtbarer Wesen, die sich in den Blättern bewegten.

Ich zuckte vor dem Ruf eines Eichelhähers zurück und fiel in das dichte Gestrüpp junger Fichten. Dabei zerkratzte ich mir die Arme und verklebte mir die Haare mit Fichtensaft. Als ein Eichhörnchen plötzlich vor mir auf eine Tanne huschte, schrie ich so laut, dass es mir selbst in den Ohren wehtat.

Endlich sah ich, dass der Weg aus dem Wald herausführte. Ich kam auf einer verlassenen Straße heraus, etwa anderthalb Kilometer südlich von meinem Transporter. Obwohl ich so erschöpft war, joggte ich die ganze Strecke bis zu meinem Wagen. Als ich mich ins Fahrerhaus gehievt hatte, schluchzte ich schon wieder. Wütend verriegelte ich beide Türen, bevor ich den Autoschlüssel aus der Tasche holte. Das Röhren des Motors war tröstlich und vertraut. Es half mir, die Tränen zurückzuhalten, als ich, so schnell mein Wagen es zuließ, in Richtung Forks fuhr.

Als ich nach Hause kam, hatte ich mich ein wenig beruhigt, aber ich war immer noch ziemlich mitgenommen. Charlies Streifenwagen stand in der Einfahrt – ich hatte gar nicht bemerkt, wie spät es war. Es dämmerte schon.

»Bella?«, sagte Charlie, als ich die Haustür hinter mir zuschlug und schnell den Schlüssel herumdrehte.

»Ja, ich bin’s.« Meine Stimme war wacklig.

»Wo warst du?«, schimpfte er und erschien mit drohender Miene in der Küchentür.

Ich zögerte. Wahrscheinlich hatte er bei den Stanleys angerufen. Ich sollte mich also besser an die Wahrheit halten.

»Ich war wandern«, gab ich zu.

Er sah mich streng an. »Wolltest du nicht eigentlich zu Jessica?«

»Mir war heute nicht nach Mathe.«

Charlie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich dachte, ich hätte dich gebeten, nicht in den Wald zu gehen.«

»Ja, ich weiß. Keine Sorge, wird nicht wieder vorkommen.« Ich schauderte.

Erst jetzt schien er mich richtig anzusehen. Mir fiel ein, dass ich einige Zeit auf dem Waldboden verbracht hatte, bestimmt sah ich ziemlich wüst aus.

»Was ist passiert?«, wollte Charlie wissen.

Wieder entschied ich, dass es am besten war, die Wahrheit oder jedenfalls einen Teil der Wahrheit zu erzählen. Ich war zu erschüttert, um so zu tun, als wäre ich frohgemut durch die Wälder gestapft.

»Ich hab den Bären gesehen.« Das sollte ruhig herauskommen, doch meine Stimme war hoch und zittrig. »Aber es ist gar kein Bär – es ist eine Art Wolf. Und es sind fünf. Ein großer schwarzer, ein grauer, ein rostbrauner …«

Charlie riss die Augen vor Entsetzen weit auf. Schnell kam er auf mich zu und packte mich bei den Schultern.

»Ist alles in Ordnung?«

Ich nickte schwach.

»Erzähl mir, was passiert ist.«

»Sie haben mich nicht weiter beachtet. Aber als sie weg waren, bin ich abgehauen und ziemlich oft hingefallen.«

Er ließ meine Schultern los und umarmte mich. Eine lange Weile sagte er nichts.

»Wölfe«, murmelte er.

»Was?«

»Die Ranger haben gesagt, dass es keine Bärenspuren sind – aber Wölfe werden doch nicht so groß …«

»Die waren riesig

»Wie viele, hast du gesagt, waren es?«

»Fünf.«

Charlie schüttelte den Kopf und runzelte besorgt die Stirn. Dann sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: »Und von jetzt an keine Wanderungen mehr.«

»Versprochen«, sagte ich aus tiefstem Herzen.

Charlie rief auf der Wache an, um zu berichten, was ich gesehen hatte. Ich schwindelte ein bisschen, was die genaue Stelle anging – ich behauptete, ich sei auf dem Wanderweg Richtung Norden gewesen. Charlie sollte nicht erfahren, wie tief ich trotz seiner Warnung in den Wald gegangen war, und vor allem wollte ich nicht, dass irgendwer dort herumwanderte, wo Laurent womöglich nach mir suchte. Bei dem Gedanken wurde mir übel.

»Hast du Hunger?«, fragte Charlie, als er aufgelegt hatte.

Ich schüttelte den Kopf, obwohl mein Magen ganz leer sein musste. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen.

»Ich bin nur müde«, sagte ich und ging zur Treppe.

»He«, sagte Charlie. Er klang auf einmal wieder misstrauisch. »Hattest du nicht gesagt, Jacob wär heute den ganzen Tag weg?«

»Das hat Billy gesagt«, antwortete ich. Die Frage verwirrte mich.

Er schaute mir einen Moment ins Gesicht, schien aber zufrieden mit dem, was er sah.

»Hm.«

»Wieso?«, fragte ich. In seiner Frage hatte der Vorwurf mitgeschwungen, ich hätte ihn heute Morgen belogen. Und zwar nicht nur in Bezug auf das Mathelernen mit Jessica.

»Na ja, als ich Harry abgeholt hab, da hab ich unterwegs vor dem Laden Jacob mit ein paar Kumpels gesehen. Ich hab ihm zugewinkt, aber er … na ja, vielleicht hat er mich auch gar nicht gesehen. Ich glaub, er hatte Streit mit seinen Kumpels. Er sah komisch aus, als würde er sich über irgendwas aufregen. Und … er hat sich verändert. Man kann ja direkt zugucken, wie der wächst! Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, ist er wieder ein Stück größer.«

»Billy hat gesagt, Jake und seine Freunde wollten nach Port Angeles ins Kino. Wahrscheinlich haben sie nur auf jemanden gewartet, der mitwollte.«

»Aha.« Charlie nickte und ging zurück in die Küche.

Ich stand im Flur und dachte darüber nach, dass Jacob Streit mit seinen Freunden hatte. Ich fragte mich, ob er Embry auf die Sache mit Sam angesprochen hatte. Vielleicht war das der Grund dafür, dass er mich heute versetzt hatte. Wenn das bedeutete, dass er die Sache mit Embry klären konnte, ging das in Ordnung.

Bevor ich nach oben in mein Zimmer ging, überprüfte ich noch einmal, ob die Haustür abgeschlossen war. Ich wusste, dass das albern war. Was könnte ein Schloss schon gegen die Monster ausrichten, die ich heute Nachmittag gesehen hatte? Für die Wölfe dürfte die Klinke ausreichen, weil sie keinen Daumen zum Greifen hatten. Aber wenn Laurent hierherkäme …

Oder … Victoria.

Ich legte mich ins Bett, aber ich zitterte zu sehr, um an Schlaf überhaupt zu denken. Ich rollte mich unter der Decke zusammen und sah den schrecklichen Tatsachen ins Auge.

Ich konnte nichts tun. Es gab keine Vorsichtsmaßnahmen, die ich treffen könnte. Ich konnte mich nirgendwo verstecken. Es gab niemanden, der mir helfen konnte.

Mit einem elenden Gefühl im Bauch wurde mir bewusst, dass die Lage sogar noch schlimmer war. Denn all das galt auch für Charlie. Zwar hatten sie es auf mich abgesehen, aber mein Vater, der im Nebenzimmer schlief, war nur eine Haaresbreite von mir entfernt. Mein Geruch würde sie hierherführen, ob ich zu Hause war oder nicht …

Die Angst schüttelte mich, bis mir die Zähne klapperten.

Um mich zu beruhigen, stellte ich mir das Unmögliche vor: Ich malte mir aus, die großen Wölfe hätten Laurent im Wald eingeholt und den Unsterblichen genauso erledigt, wie sie es mit jedem normalen Menschen gemacht hätten. Obwohl das eine absurde Vorstellung war, hatte sie etwas Tröstliches. Wenn die Wölfe ihn gefasst hatten, konnte er Victoria nicht erzählen, dass ich hier ganz allein war. Wenn er nicht zurückkam, dachte sie vielleicht, ich stünde immer noch unter dem Schutz der Cullens. Wenn die Wölfe so einen Kampf doch nur gewinnen könnten …

Meine guten Vampire würden nie wiederkommen; wie angenehm war die Vorstellung, die anderen könnten auch verschwinden.

Ich kniff die Augen fest zu und wartete auf den Schlaf – ich konnte es fast nicht erwarten, dass der Albtraum begann. Besser als das blasse, schöne Gesicht, das mich jetzt hinter meinen Lidern anlächelte.

In meiner Phantasie waren Victorias Augen schwarz vor Durst und leuchtend vor Erwartung, genüsslich bleckte sie die blitzenden Zähne. Ihre orangeroten Haare loderten wie das Feuer und flatterten ihr wild ums Gesicht.

Ich hatte wieder Laurents Worte im Ohr: Wenn du wüsstest, was sie sich für dich ausgedacht hat …

Ich presste mir die Faust vor den Mund, um nicht loszuschreien.