20
Alle waren sich einig, dass sie warten wollten, bis Emily, Anne, Portia, Penelope und Miss Pink am Abend zu Bett gegangen waren, ehe sie sich abermals jenem Thema widmeten, das sie wohl alle gedanklich derzeit am meisten beschäftigte.
In der Sekunde, in der die Tür sich hinter Miss Pink geschlossen hatte, hob Helena auch schon die Hand und bat um Ruhe. »Bitte bedenkt, dass wir noch einmal ganz am Anfang beginnen müssen. Bei einer solchen Angelegenheit darf man nichts überstürzen und keine voreiligen Schlüsse ziehen. Das macht einfach keinen Sinn. Zumal wir hier ja ganz unter uns sind und nur innerhalb der Familie sprechen.«
Luc, Amelia, Lucifer und Phyllida tauschten einige rasche Blicke aus, dann nickte Luc zustimmend. Er umriss noch einmal die Diebstähle in den Kreisen der gehobenen Londoner Gesellschaft. Dann erläuterten Lucifer und Amelia, was sie an Anhaltspunkten zur Lösung dieses rätselhaften Puzzlespiels beizutragen hatten.
Schließlich fasste Luc, der zwischenzeitlich zum Kamin hinübergegangen war, noch einmal alles zusammen. »Im Augenblick haben wir noch nicht die geringste Ahnung, wer der Dieb sein könnte. Nach den bisherigen Vorfällen zu urteilen, sieht es aber ganz danach aus - egal, ob das nun bereits eine echte Spur sein mag oder eher ein Zufall -, als ob der Übeltäter...« Er hielt einen Moment inne, und sein Gesicht nahm einen harten Zug an, ehe er fortfuhr: »... als ob der Übeltäter einer von uns ist. Einer von den Ashfords.«
Helena, die so ernst und missgelaunt dreinschaute, wie Amelia sie überhaupt noch nie gesehen hatte, nickte entschieden. »Ganz genau. Man könnte meinen, es wäre eine von deinen Schwestern. Aber wie wir heute gesehen haben, scheint das doch auf der anderen Seite wiederum vollkommen unmöglich...«
Luc musterte sie einen Moment lang nachdenklich und entgegnete schließlich: »Wieso meinst du, dass das nicht möglich wäre?«
Helena starrte ihn an. Dann blinzelte sie. »Ah, ich verstehe. Du möchtest, dass ich es noch einmal mit meinen eigenen Worten sage. Nun gut. Es ist aus dem Grunde unmöglich, dass Emily oder Anne diejenige sein könnte, die dem armen General das goldene Fingerhütchen gestohlen hat, weil beide Mädchen... Wie sagt man? Sie sind doch noch vollkommen naiv, sie sind jeunes filles ingénues. Die beiden sind überhaupt nicht in der Lage, solch ein Stück erst zu stehlen und irgendwo bei sich zu verstecken und dann so zu tun, als wüssten sie von nichts. Nein, das könnten sie mir nicht vormachen. Und auch Louise und all die anderen hier ließen sich nicht dermaßen täuschen. Das ist einfach undenkbar. Außerdem sagte Amelia, dass die beiden offenbar auch nichts von dem Lorgnon in Annes Retikül gewusst hätten. Übrigens denke ich, dass das die Stielbrille von Lord Witherley sein könnte - ich werde sie mir später noch einmal genauer anschauen. Aber, um noch einmal auf die beiden Mädchen zurückzukommen... sowohl Amelias Einschätzung von Anne und Emily als auch deren Verhalten heute Nachmittag deuten darauf hin, dass sie nichts mit der ganzen Sache zu tun haben. Also, die Mädchen sind es schon einmal nicht.«
Helenas Gesichtsausdruck wurde nachdenklich und finster. »Was auf der anderen Seite bedeutet, dass wir noch immer nicht wissen, wer der Dieb ist. Aber wir müssen ihn finden, und zwar schnell, denn, nun ja, aus Sicht eines Außenstehenden sind noch immer Emily und Anne… die Hauptverdächtigen. Sollten die Gerüchte und Verdächtigungen also noch weiter um sich greifen, dann könnte das die komplette Zukunft der beiden Mädchen zerstören.«
Luc neigte den Kopf. »Danke. Ich stimme dir voll und ganz zu. Das war ein knapper, aber klarer Umriss der gesamten Situation.«
Martin, der in einem der Lehnsessel Platz genommen hatte, und Amanda, die sich auf die Armlehne gehockt hatte, schauten Luc an. »Kennen wir irgendjemanden, dem daran gelegen wäre, den Ashfords nachhaltig zu schaden?«
Nachdenklich sah Luc seinen Schwager und dessen Frau an. Amelia beobachtete, wie er einen raschen Blick mit Martin wechselte, doch letztendlich war es Minerva, die sich mit einem leidgeprüften Seufzer als Erste wieder zu Wort meldete: »Na ja, es gibt da ja schließlich immer noch Edward.«
Alle starrten sie an, doch es war Luc, dem sie schließlich traurig in die Augen blickte. »Weder du noch ich haben ihn jemals verstanden. Aber wenn man bedenkt, was er in der Vergangenheit bereits alles angestellt hat... wie kann man da mit letzter Sicherheit behaupten, dass er nicht auch diesmal der Drahtzieher sein könnte? Selbst, wenn er hiermit seinen engsten Verwandten schadet …«
Luc verzog das Gesicht zu einer Grimasse, sah Martin an und entgegnete schließlich: »Nun ja, auch wenn er hier nicht unmittelbar selbst in Aktion tritt, so könnte er doch immerhin der Anstifter hinter der ganzen Geschichte sein.«
Martin nickte. »Er könnte einen Komplizen haben, oder vielleicht sogar mehrere. Wir wissen doch alle, dass das leider nicht ausgeschlossen ist.«
»Allerdings«, warf Amelia ein, »hat Edward doch kaum Geld zur Verfügung. Zumindest nicht genug, um davon irgendwelche Komplizen bezahlen zu können.« Fragend sah sie Luc an. »Oder etwa doch?«
»Er bekommt natürlich den ihm rechtmäßig zustehenden Unterhalt. Obwohl ich bezweifle, dass er damit sonderlich viel Handlungsspielraum hat.«
»Aber genau das würde doch wiederum bestens ins Bild passen.« Lucifer streckte seine langen Beine aus und schlug die Füße übereinander. »Gehen wir doch einfach mal davon aus, dass Edward seinen Freunden verraten hat, wo sie sich die eine oder andere kleine Kostbarkeit stibitzen können. Eine solche Chance auf leichte Beute lässt sich doch kein Schurke entgehen. Zumal Edward ja wahrscheinlich noch nicht einmal etwas von dem Diebesgut abhaben wollte - ihm würde bereits das Bewusstsein reichen, dass seine Verwandtschaft wieder einmal in Schwierigkeiten steckt. Natürlich setzt das erst einmal voraus, dass Edward überhaupt diese Sorte von so genannten Freunden hat und dass diese darüber hinaus auch noch willens wären, sich von ihm anstiften zu lassen...«
Luc schüttelte ratlos den Kopf. »Edward und ich haben uns nie sonderlich nahegestanden. Genau genommen haben wir mehr als ein Jahrzehnt lang fast wie Fremde nebeneinander gelebt. Ich habe also nicht die geringste Ahnung, was für Menschen mein Bruder zu seinem Bekanntenkreis zählte.«
Lucifer starrte grimmig in die Ferne. »Dennoch, sollte Edward der Übeltäter sein, dann wird genau das natürlich auch zu seinem Plan gehören - dass keiner von uns weiß, mit wem er zusammenarbeiten könnte.«
Amelia war es im Grunde vollkommen gleich, wer hinter dem ganzen Ärger stecken mochte, solange der Spuk endlich ein Ende nahm. »Aber ganz gleich, wer bei dieser ganzen Geschichte auch der Drahtzieher sein mag, so müssen wir doch erst einmal den Dieb ausfindig machen, der hier sein Unwesen treibt - der womöglich sogar hier auf unserem Grund und Boden lebt. Und das muss schnell geschehen. Wir dürfen dem Treiben nicht noch länger tatenlos zusehen. Sonst sind wir bald an dem Punkt, dass alle möglichen Gerüchte die Runde machen und die Menschen mit den Fingern auf die Ashfords zeigen. Der derzeitige Hauptverdacht fällt auf Anne. Und...«, damit ließ sie den Blick über die Gesichter ihrer Zuhörer schweifen, erkannte überall uneingeschränktes Verständnis und Zustimmung, »und genau das dürfen wir einfach nicht zulassen.«
Arthur ließ sich gegen die Sessellehne zurücksinken, musterte entspannt die Gesellschaft und verkündete schließlich: »Wir brauchen einen Plan. Einen Plan, der den Dieb zweifelsfrei identifiziert.«
Martin beugte sich vor. »Und wir müssen jetzt zuschlagen. Ehe der Schurke noch Lunte riecht und begreift, dass wir hinter ihm her sind.«
Luc erwiderte seinen Blick und nickte. »Also - wie fassen wir den Kerl?«
»Das«, unterbrach Helena ihn, »ist doch ganz einfach.« Als daraufhin alle die Köpfe zu ihr umwandten, hob sie nur erstaunt die Brauen. »Wir müssen ihm ein so kostbares und so leicht zu stehlendes Stück quasi direkt vor die gierigen Augen halten, dass er einfach nicht widerstehen kann.«
»Eine Falle?« Luc dachte nach. Dann fragte er: »Und was wollen wir als Köder verwenden?«
Ruhig entgegnete Helena: »Auch das liegt auf der Hand. Wir nehmen mein Collier. Das mit den Perlen und Smaragden.«
Der Vorschlag hatte einen wütenden Proteststurm zur Folge. Lucifer und Arthur erklärten nachdrücklich, dass sie das auf keinen Fall dulden könnten. Das Cynster-Collier durfte nicht als Köder für einen niederträchtigen Dieb herhalten.
Ein einziger, eindringlicher Blick aus Helenas blassgrünen Augen genügte, um sie wieder zum Schweigen zu bringen. Als schließlich wieder Ruhe eingekehrt war, erklärte sie mit gelassener Stimme: »Das Collier gehört allein mir. Ich kann damit tun und lassen, was ich will. Sebastian hat es mir vor vielen Jahren einmal geschenkt. Aber es waren keinerlei Bedingungen mit dem Geschenk verbunden. Oder habt ihr etwas Besseres anzubieten, etwas, das dem Dieb noch verlockender erscheinen müsste? Ich stimme euch ja zu, dass mein Collier nun in gewisser Weise auch schon ein Teil des Familienvermögens geworden ist und natürlich innerhalb unserer Kreise bleiben sollte. Aber gerade deshalb darf ich darüber verfügen, wie ich es für richtig halte. Das gute Stück ist nicht bloß eine enorme Wertanlage, sondern darf auch durchaus einmal im Interesse der Familie eingesetzt werden. Und genau jetzt haben wir eine solche Situation, in der solch ein Stück vonnöten ist.« Sie ließ den Blick einmal über die versammelte Gesellschaft schweifen. Dann sah sie Arthur und Lucifer an. »Und ich bestimme hiermit, dass wir das Collier als Köder auslegen.«
Ihr Tonfall erinnerte alle noch einmal daran, dass Sebastian, ihr Ehemann und Devils Vater, zwar schon lange verstorben sein mochte, dass sein einstiger Einfluss jedoch noch längst nicht verblichen war und seiner Witwe noch immer den Rücken stärkte. Sie war die Matriarchin des Cynster-Clans, und niemand hatte die Macht, sich ihrem Beschluss zu widersetzen.
Amelia bemerkte, dass sowohl ihre Mutter als auch Phyllida - genau genommen sogar alle Frauen - im übertragenen Sinne geschlossen hinter Helena standen. Sie hatte ihre Meinung klar zum Ausdruck gebracht und bestimmt, was getan werden sollte. Nun lag es an den Männern, auch noch den Rest des Planes auszuarbeiten.
Das Schweigen im Raum dehnte sich immer länger aus. Luc war der Erste, der schließlich wieder das Wort ergriff. »Angenommen, wir entschließen uns tatsächlich dazu, eine Falle auszulegen... Wie genau soll diese dann konstruiert sein?«
Mit einem widerwilligen Grummeln fügte schließlich auch Lucifer sich in den Plan und erklärte: »Nun, wir müssten uns irgendeinen besonderen Anlass ausdenken, irgendeine Festlichkeit, die dem Dieb suggeriert, dass ihm damit quasi Tür und Tor offen ständen, um einen weiteren Raubzug durchzuführen.«
»Richtig«, stimmte Martin in dem für ihn so typischen, leicht gelangweilten Tonfall zu. »Vor allem müssen wir sichergehen, dass der Dieb auch wirklich erscheint. Ich meine, wenn wir schon ein so kostbares Stück wie das Collier oder etwas Ähnliches verwenden... Der Schurke muss denken, dass sich ihm eine überaus günstige Gelegenheit bietet, und dann locken wir ihn in eine Situation, in der wir ihn uns schließlich schnappen können.«
»Ihr braucht einen Köder, und ihr braucht eine Falle«, fasste Arthur die Lage zusammen. »Den Köder habt ihr. Also müsst ihr nun nur noch die Falle damit bestücken und sie schließlich zuschnappen lassen.«
Nachdenklich ließ Luc den Blick einmal in die Runde schweifen. »Also, wie sieht unsere Falle aus?«
Mehr als eine Stunde lang wurde diskutiert, argumentiert, wurden zahlreiche Vorschläge gemacht. Unterdessen gab Amelia Anweisung, den Teewagen noch einmal hereinzurollen, und Luc ließ die Portweinkaraffen bringen. Grübelnd saß die Familie zusammen, brachte immer neue Ideen vor und verwarf sie dann jedes Mal prompt wieder. Es war Minerva, die schließlich die entscheidende Eingebung hatte: »Wir denken uns irgendein Motto aus, und dann laden wir zum Tag der offenen Tür.«
Amelia sah sie nachdenklich an. »Ich bin erst kürzlich in die Familie der Ashfords eingetreten - und zufällig sind auch meine Familienangehörigen, die Cynsters, hier...« Sie schaute Luc an. »Wir könnten doch einfach eine spontane Feier geben, ein Fest für sämtliche Familien aus der Nachbarschaft.«
»Aber auch für die Pächter und die Dorfbewohner«, ergänzte Phyllida. »Auf diese Weise sind quasi alle geladen.«
»Aber wenn du tatsächlich das Collier tragen willst«, wandte Lucifer ein, und sein Ton unterstrich noch einmal sein Missfallen und zugleich auch seine Resignation vor dem Willen seiner Mutter, »dann muss es eine Abendgesellschaft sein. Du kannst solch ein Schmuckstück nicht tagsüber tragen. Das wäre dann wohl doch ein wenig zu auffällig.«
Helena neigte den Kopf. »Das stimmt.«
»Dann wird es eben ein Sommerball in Verbindung mit einer Gala zu irgendeinem Thema«, erklärte Amelia. »Und es gibt keinen Grund, der dagegenspricht, warum wir so etwas nicht auch ganz kurzfristig anberaumen könnten. Es ist eben eine impulsive Entscheidung, eine improvisierte Abendgesellschaft. Das Wetter ist einfach herrlich, ihr alle seid hier bei uns zu Besuch, also nutzen wir doch einfach die Gelegenheit und laden sämtliche Nachbarn zu einem Ball ein. Und damit auch wirklich alle kommen, soll der Ball sich über den ganzen Abend erstrecken. Sogar in den Gärten wird getanzt werden, und natürlich gibt es auch ein Feuerwerk. Der Dieb wird also mehr als genügend Gelegenheit finden, das Collier zu bewundern.«
Alle grübelten über ihre Idee nach - und nickten schließlich zustimmend.
»Also gut«, stimmte Luc zu. »Dann lasst uns nun einmal die Details besprechen.« Mit ruhigem Blick schaute er Helena an. »Wie hast du dir das Ganze vorgestellt? Wie soll es deiner Meinung nach vonstatten gehen?«
Sie lächelte und berichtete ihnen von ihrem Plan. Trotz Lucifers missmutigem Knurren und Simons, Lucs und Martins nachdenklichen Mienen fügten sich schließlich alle in ihr Vorhaben. Am frühen Abend, also noch ehe der eigentliche Ball begann, würde Helena ihr Collier ausgiebig zur Schau stellen und sich dabei ganz bewusst beständig durch die Reihen der Pächter, Nachbarn und Dorfbewohner bewegen. Währenddessen sollte sie die ganze Zeit über von zwei weiteren Damen begleitet werden, was im Übrigen keineswegs ungewöhnlich wäre. Und auch von ferne sollte sie unter konsequenter Beobachtung stehen - mindestens zwei der Männer würden sie unablässig im Auge behalten.
Dann, kurz bevor der Ball beginnen sollte, käme es zu einem Zusammentreffen von Luc und Helena mitten auf der Terrasse. Luc würde eine kurze Bemerkung über ihr Collier machen und die Herzoginwitwe dann ermahnen, dass sie es nach dem Ball unbedingt in seine Hände geben müsse - zur Sicherheit. Helena aber würde sein fast schon bevormundendes Angebot vor aller Ohren ausschlagen und entgegnen, dass der Schmuck in ihrem Zimmer bestens geschützt sei.
»Kurz darauf müsste dann das Feuerwerk stattfinden, damit sich bereits im Vorfeld alle auf der Terrasse und auf den Stufen der Gartentreppe versammelt haben und auch wirklich jeder mitbekommt, was Luc und Helena besprechen.« Amelia sah Luc an, der zustimmend nickte.
»Ich könnte dann so tun, als ob das Collier so kostbar ist, dass ich selbst vor den versammelten Gästen nicht mehr an mich halten kann und Helena unbedingt dazu drängen muss, es mir nach dem Ball zur Verwahrung auszuhändigen.« Er warf einen raschen Seitenblick zu Helena hinüber. »So wie ich es verstanden habe, ist das Collier, um das es hier geht, doch offenbar tatsächlich sehr wertvoll, oder etwa nicht?«
Lucifer schnaubte verächtlich. »Davon kannst du unbesorgt ausgehen. Drei lange Stränge makelloser, schier unbezahlbarer Perlen und drei große Smaragde in dem für sie typischen Achtkant-Schliff, die die Perlenketten quasi zusammenhalten. Dazu gehören natürlich noch passende Armbänder und Ohrgehänge.« Wieder schaute er Helena mit finsterer Miene an. Dann verzog er das Gesicht zu einer gequälten Grimasse und fügte hinzu: »Und sosehr es mich ja wurmt, das zugeben zu müssen, aber dieses Collier ist in jedem Fall der perfekte Köder für den Dieb. Denn egal, aus welchen Schurken diese Bande auch bestehen mag - bislang haben sie noch stets einen sehr guten Riecher für die wirklich wertvollen Stücke bewiesen. Und gerade das Collier und der dazugehörige Schmuck können so leicht in ihre einzelnen Juwelen zerlegt und wieder neu zusammengesetzt werden, dass es im Grunde das reinste Kinderspiel ist, daraus ein paar neue, nicht mehr wiederzuerkennende Stücke zu zaubern und diese dann zu verkaufen. Denn selbst die Smaragde könnte man, obwohl sie natürlich schon etwas ganz Besonderes sind, leicht neu fassen und ihnen somit ein ganz anderes Aussehen verleihen.«
Lucs Miene verfinsterte sich zusehends. »Tja, und so, wie du mir das nun gerade beschreibst, würde ich bei einem solchen Schmuckset wohl auch in der Tat darauf bestehen, es die Nacht über in meinen Safe einzuschließen...«
Mit einer abfälligen Handbewegung wischte Helena seinen Einspruch beiseite. »Keine Angst. Bis zu dem Zeitpunkt, wenn ich deinen überaus besorgten Vorschlag endgültig abgeschmettert habe, wird jeder wissen, dass die Kette die Nacht über in meinem Zimmer bleibt.«
»Und trotzdem gefällt mir die Idee ganz und gar nicht.« Dieser Einwurf kam von Simon. Lässig stand er neben dem Kamin, eine seiner breiten Schultern gegen die schmückende Umrandung der Feuerstelle gelehnt. Mit gerunzelter Stirn schaute er Helena an. »Das ist einfach zu riskant. Was, wenn die Schurken dir etwas antun?«
Helena setzte ein mildes Lächeln auf, das allerdings in keiner Weise ihren eisernen Willen verbarg. »Mir droht keinerlei Gefahr. Das Collier wird für alle offensichtlich auf dem Tischchen mitten im Raum liegen. Genau dort, wo eine Dame, wie ich es bin, und für die ihr Reichtum bereits selbstverständlich ist, solch ein Schmuckstück gewöhnlich liegen lassen würde. Kein Dieb wäre so dumm, seine Zeit damit zu verschwenden, erst einmal eine kleine, schwache Frau wie mich in ihrem Bett zu erschlagen. Ich stelle doch wirklich für niemanden eine Bedrohung dar.«
»Nur damit wir uns in dieser Angelegenheit auch wirklich richtig verstehen«, wandte Arthur auf ihre Erklärung hin noch einmal ein, »du versprichst mir damit doch wohl hoffentlich, und sei es auch nur, um unsere ganz und gar unrationale, männliche Sorge um dich zu beschwichtigen, dass du nicht versuchen wirst, diesen Dieb auf eigene Faust zu stellen, nicht wahr?«
Helena schaute ihn eindringlich an. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus. »Also schön, mon ami, ich verspreche es dir. Ich werde nichts tun, außer zuzuschauen. Aber damit liegt es nun allein bei euch«, sie machte eine weit ausholende Handbewegung in Richtung der Männer, »den Kerl zu fassen, ehe er mit meinem Schmuck verschwindet.« »Zumal wir, wenn wir ihn nicht zu fassen kriegen«, knurrte Lucifer, »auch nicht herausbekommen, wer der Schurke überhaupt ist.«
Die Uhren des Hauses schlugen Mitternacht. Helena stand auf, und auch die anderen Damen folgten ihrem Beispiel in dem guten Gewissen, dass sie ihren Teil zur Planung des Vorhabens bereits beigetragen hatten. Dann aber, als die Herzoginwitwe an Lucifers Stuhl vorbeiging, ließ sie den Blick noch einmal über die Runde schweifen und tätschelte ihm liebevoll den schwarzen Schopf. »Nun ruht meine ganze Hoffnung auf euch, mes enfants.«
Lucifer, der genau wie jeder andere Mann in diesem Raum Helena im Stehen um einiges überragte, starrte entschieden missmutig in die Luft.
Bis zum Mittag des folgenden Tages hatten sich sämtliche der verheirateten Männer in die Tatsache gefügt, dass es nicht mehr in ihrer Macht stand, ihre Frauen noch von Helenas Vorhaben abzubringen.
»Wir werden vor sämtliche Zugänge zu diesem Haus einen Wachposten stellen müssen.« Luc blickte auf den Grundriss, den er vor sich auf seinem Schreibtisch ausgerollt hatte. Je rechts und links von ihm, die Köpfe ebenfalls tief über den Plan des Hauses geneigt, standen Martin und Lucifer.
Auf der anderen Seite des Tisches wanderte Simon unruhig auf und ab. Sein Blick schweifte kontinuierlich zwischen den Gesichtern seines Cousins und seiner Schwäger sowie dem Plan hin und her. »Und es gibt wirklich keine andere Möglichkeit?«
»Nein«, entgegnete Lucifer, ohne aufzuschauen. »Glaub uns einfach - jede weitere Diskussion ist reine Energieverschwendung.«
Langsamen Schrittes näherte sich nun auch Arthur der kleinen Gruppe. Er schaute auf den Grundriss und seufzte. »Es gefällt mir zwar ganz und gar nicht, dass ich euch ausgerechnet in einer solch schwierigen Situation allein lassen muss, aber die Verhandlungen können leider nicht warten.«
Lucifer, Luc und Martin sahen zu ihm auf.
»Mach dir keine Sorgen«, versuchte Luc, seinen Schwiegervater zu beruhigen.
»Wir werden schon klarkommen«, stimmte Lucifer ihm zu.
»Zumal du Helena ja zum Glück noch das Versprechen abringen konntest, den Dieb nicht eigenhändig stellen zu wollen.« Martin grinste. »Damit hast du deinen Teil der Aufgabe bereits erfüllt. Den Rest kannst du also getrost uns überlassen.«
Arthur sah sie einen nach dem anderen an, dann nickte er. »Nun gut. Falls ihr doch noch Hilfe brauchen solltet, dann schickt ihr einfach eine Nachricht an Devil.«
Sie nickten.
Arthur zog seine Taschenuhr hervor, um nach der Uhrzeit zu schauen. »Also dann … ich gehe jetzt wohl besser und sehe nach, ob auch Louise endlich zur Abfahrt bereit ist. Ursprünglich hätten wir schon vor einer viertel Stunde aufbrechen wollen.«
Damit verließ er Lucs Arbeitszimmer, während die vier Männer sich bereits wieder über den Plan beugten.
In der Eingangshalle traf Arthur auf eine Szenerie ungezügelter Hektik - Hausmädchen und Lakaien eilten von hier nach dort und wieder zurück und huschten mit geschickten Ausweichmanövern um die Damen herum, die sich in der Mitte der Halle versammelt hatten.
Louise sah ihren Mann als Erste. »Da bist du ja endlich! Wir haben schon auf dich gewartet.«
Arthur grinste nur.
Minerva, Emily und Anne verabschiedeten sich von ihnen mit den besten Wünschen für eine rasche und sichere Reise.
Einen Schritt hinter ihnen standen die Zwillinge und hatten tuschelnd ihre Köpfe zusammengesteckt. Arthur blieb noch einen Moment stehen, um den Anblick in sich aufzunehmen - ein Bild, das er schon so viele Male liebevoll betrachtet hatte. Dann schlang er den einen Arm um Amandas Taille, den anderen um Amelias, drückte seine beiden Töchter innig an sich und gab zuerst der einen und dann der anderen einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. »Passt auf euch auf, ihr zwei.«
Amelia und Amanda lachten nur, blickten ihn mit strahlenden Augen an und erwiderten seinen Kuss.
»Pass du besser auf dich auf, Papa.«
»Komm uns bald wieder einmal besuchen.«
Arthur unterdrückte einen Seufzer, ließ seine beiden Töchter los und bemühte sich, nicht daran zu denken, dass er sie sowohl im übertragenen als auch im wortwörtlichen Sinne hatte loslassen müssen und sie seinen schützenden Fittichen entschlüpft waren. Dann ergriff er Phyllidas Hand und hauchte einen Kuss auf ihre Fingerspitzen. »Das Gleiche gilt natürlich auch für dich, meine Liebe. Pass auf dich auf.«
Phyllida schenkte ihm ein heiteres Lächeln und küsste ihn auf die Wange. »Ich wünsche euch eine gute Reise.«
Damit wandte Arthur sich zu Helena um. »Und was dich betrifft …«
Helena hob hochmütig die Brauen, doch in ihren Augen blitzte es amüsiert. »Was mich angeht, so brauchst du dir überhaupt keine Sorgen zu machen. Ich komme bestens zurecht. Und nun solltet ihr euch aber schleunigst auf den Weg machen, sonst schafft ihr es heute Abend nicht mehr bis nach London.« Dann wurde ihr Lächeln ein wenig sanfter, sie reichte ihm beide Hände und hielt ihm ihre Wange zum Abschiedskuss hin. »Pass auf dich auf.«
»Den Satz sag doch normalerweise nur ich …«, erwiderte Arthur knurrend, während er ihr einen Kuss gab. Dann drückte er ihr noch einmal herzlich beide Hände.
Begleitet von einer erneuten Welle wohlmeinender Abschiedsgrüße und heftigem Winken gingen Louise und ihr Mann schließlich zur Haustür. Arthur führte seine Frau die Treppe hinab und auf ihre schwer beladene Reisekutsche zu.
Nachdem er ihr beim Einsteigen behilflich gewesen war, winkte er abermals den versammelten Damen zu, hinter denen, wie Arthur bemerkte, mittlerweile auch deren Ehemänner aufgetaucht waren. Dann ließ er ein letztes Mal den Blick zu seinem einzigen Sohn hinüberschweifen - nur Simon hatte das Säuglingsalter überlebt - und folgte seiner Frau in die Kutsche hinein. Schließlich wurde die Tür geschlossen, und der Pferdeknecht trat zurück. Die Peitsche schnalzte durch die Luft, der Wagen fuhr mit einem Ruck an, und rumpelnd machte die kleine Reisegesellschaft sich auf den Weg.
Arthur und Louise winkten noch einmal durch das Rückfenster, dann ließen sie sich mit einem gemeinschaftlichen Seufzer gegen die Polsterlehne zurücksinken. Louise schaute ihren Mann an. »Und, bist du zufrieden mit deinen Schwiegersöhnen?«
Arthur hob die Brauen. »Sie sind beide anständige Kerle, und sie sind ihren Frauen eindeutig... ergeben.«
»Ergeben?« Louises Lächeln wurde noch eine Spur breiter, dann wandte sie versonnen den Blick ab. »Ja, ich denke, so könnte man es nennen.«
Arthur warf ihr einen scharfen Blick zu. »Und wie steht es mit dir? Bist auch du mit ihnen zufrieden?«
»Mit Dexter? Ja, mit Dexter bin ich überaus zufrieden. Und was Luc angeht … nun, gegen den hatte ich ohnehin nie die geringsten Vorbehalte. Er und Amelia scheinen sich recht gut zusammenzufügen. Im Grunde genauso, wie ich es von Anfang an erwartet hatte. Und dennoch... irgendetwas scheint noch zwischen ihnen zu stehen. Aber was immer das auch sein mag, so bin ich mir doch auf jeden Fall sicher, dass sich das Problem irgendwann von allein lösen wird.« Damit wandte Louise den Blick wieder nach vorn. »Ich habe Helena gebeten, die beiden mal ein bisschen im Auge zu behalten. Und das wird sie bestimmt auch tun.«
Arthur musterte Louises Profil. Dann, während die Kutsche die lange, sanft ansteigende Anhöhe nahm, die zur gegenüberliegenden Seite des Tales führte, schaute er noch einmal zum Fenster hinaus und warf einen letzten Blick zurück auf Calverton Chase, das in hellen Sonnenschein gebadet dalag. Er grübelte über Louises Worte nach und die Frage, ob er Luc nicht besser schreiben und ihn warnen sollte, beziehungsweise, ob er das als Schwiegervater überhaupt dürfte - denn hatte seine Loyalität nicht in erster Linie seiner eigenen Tochter zu gelten?
Louise sah ihn an. Dann gab sie ein leicht verächtliches Schnauben von sich und tätschelte ihm beruhigend die Hand. »Hör auf, dir Sorgen zu machen. Sie werden sich schon zusammenraufen.«
Arthur knurrte nur irgendetwas Unverständliches vor sich, sank zurück gegen das Polster und schloss die Augen. Schließlich jedoch entschied er, dass seine Frau wahrscheinlich Recht hatte. Denn entweder das Schicksal, spätestens aber Helena würden schon dafür sorgen, dass aus Luc und Amelia letztendlich doch noch eine echte Gemeinschaft würde.
Sie hatten sich darauf geeinigt, dass der Sommerball am kommenden Sonnabend stattfinden sollte. Es blieben ihnen also noch fünf Tage, um alles vorzubereiten - das würde zwar knapp werden, doch es war nicht unmöglich. Das Erste, worum sie sich zu kümmern hatten, waren die Einladungen. Gleich nach dem Mittagessen machten die Damen sich also an die Arbeit und schrieben die Karten. Dann wurden sämtliche Stallburschen und Pferdeknechte zusammengetrommelt und mit dem Auftrag ausgeschickt, die Einladungen zu verteilen.
Anschließend ließ man sich im großen Salon nieder, diskutierte über die genauere Ausgestaltung des Festes, traf Entscheidungen und stellte diverse Listen auf. Im Übrigen waren Portia und Penelope so listig gewesen, Miss Pink davon zu überzeugen, dass es ihrem Unterricht in damenhaftem Betragen doch nur zuträglich wäre, wenn sie bei der kleinen Planungssitzung dabei sein dürften, sodass sie mit ihren unbedarften Vorschlägen für so mancherlei amüsiertes Gelächter sorgten. Gelegentlich aber wurden ihre Ideen auch in die Listen mit aufgenommen.
Es gab eine spezielle Aufstellung, die nur die Unterhaltung betraf, eine für das Essen, eine für die Möbel, die arrangiert werden mussten, und eine für das benötigte Geschirr, das Besteck und die Gläser.
»Und wir sollten so eine Art Festordnung aufstellen«, schlug Penelope vor.
Als Minerva nur schweigend lächelte, wog Portia nachdenklich ab: »Nein. Obwohl... doch, ich finde, Pen hat Recht. Wir müssen sicherstellen, dass die unterschiedlichen Programmpunkte der Abendgesellschaft auch zu festgesetzten Uhrzeiten ablaufen, nicht wahr?«
Unschuldig sah sie sich in der Runde um. Die Damen tauschten verstohlen einige Blicke aus. Weder Portia und Penelope, noch Emily oder Anne sollten eigentlich davon wissen, dass …
»Du meinst, dass genau festgelegt ist, wann das Feuerwerk beginnt und der Ball anfängt?«, fragte Amelia.
»Ja, und wann das Essen serviert wird und so weiter.« Portia runzelte die Stirn. »Ich denke, so eine Ordnung ist unerlässlich.«
Eine Woge der Erleichterung schien durch den gesamten Salon zu gehen, und das entging auch Portia und Penelope nicht. Doch es dauerte nur einen kurzen Moment, ehe Phyllida und Amanda rasch einige weitere Vorschläge zu diesem Plan hinzufügten, sodass der Augenblick mitsamt seinen unausgesprochenen Fragen auch gleich schon wieder verstrichen war.
Es folgten noch ein paar lebhafte Diskussionen, bis alle irgendwann befriedigt zu dem Ergebnis kamen, dass man sämtliche Herausforderungen der Abendgesellschaft erkannt und die Aufgaben vernünftig aufgeteilt hatte. Dann, als die vier Mädchen den Salon wieder verlassen hatten, um ein wenig durch die Gartenanlagen zu spazieren, sank Amelia mit einem erschöpften Seufzer in ihrem Sessel zurück und sah lächelnd Phyllida an, die auf dem Stuhl neben Amanda saß. »Jetzt wollt ihr beide, du und Lucifer, sicher bald wieder zurück nach Colyton, nicht wahr? Ich vermute also, wir können euch nicht mehr dazu überreden, die Abreise noch eine Weile -«
Mit einer flüchtigen Handbewegung schnitt Phyllida ihr das Wort ab. »Lucifer und ich haben in der vergangenen Nacht schon drüber diskutiert. Eigentlich möchte ich schon abreisen, aber …« Sie schenkte ihrer Gastgeberin ein mattes Lächeln. »Auf der anderen Seite könnte ich es mir nie vergeben - und er sich mit Sicherheit auch nicht -, wenn wir jetzt aufbrechen und irgendetwas in eurem Plan geht schief, nur weil ihr ein oder zwei Komplizen zu wenig hattet.«
»Ach, aber ich bitte dich. Ihr beide habt uns bereits sehr geholfen, und da würden wir es euch doch wirklich nicht nachtragen, wenn ihr nun allmählich wieder nach Hause zurückfahren -«
»Unsinn. Zumal es uns doch ein echtes Vergnügen wäre, dabei zu sein, wenn der Schurke endlich dingfest gemacht wird. Mal ganz abgesehen davon haben wir auch schon die entsprechenden Nachrichten versandt. Lucifer hat heute Morgen seinen Pferdeknecht mit einigen Briefen für Devil nach London geschickt. Und Devil wiederum wird unsere Briefe an Papa und Jonas in Devon weiterleiten. Damit wäre also bereits alles geregelt.« Phyllida beugte sich vor und drückte Amelia beruhigend die Hand. »Außerdem sind wir beide mittlerweile so... wütend auf diesen Dieb, dass wir jetzt auch dabei sein wollen, wenn er gefasst wird. Eher rühren wir uns nicht von hier fort. Selbst wenn unsere Hilfe ganz und gar überflüssig wäre.«
Helena nickte mit weiser Miene. »Dieser Dieb, wer immer das auch sein mag, ist wirklich mehr als verachtenswert. Und meiner Ansicht nach weiß er auch, dass er mit seinem Treiben unschuldige Menschen schwer belastet. Ich betrachte es also geradezu als eine Ehre, dabei mitzuwirken, wie er enttarnt und seiner gerechten Strafe zugeführt wird.«
»Hört, hört«, murmelte Amanda leise.
Ein amüsiertes Lächeln breitete sich über die Gesichter sämtlicher Anwesender, die Frauen sahen sich heimlich an oder schauten diskret zur Seite. Schließlich erhoben sich alle, und mit raschelnden Röcken machten sie sich auf den Weg ins Obergeschoss, um sich zum Essen umzukleiden.
Amelia war so beschäftigt mit der Organisation und Ausgestaltung des Balls, dass sie ihre Listen an diesem Abend sogar mit ins Bett nahm. Zumal dies, ihr Schlafzimmer, auch der einzige Ort war, an dem sie Luc einmal in aller Abgeschiedenheit und ganz allein sprechen konnte.
Und das Thema, über das sie sich mit ihm beraten wollte, verlangte wahrlich absolute Ungestörtheit.
Sie wartete, bis er sich neben ihr ausstreckte - groß, schlank und vollkommen nackt. Amelia hatte schon darüber nachgedacht, dass sie ihnen beiden mit der Zeit wohl am besten auch mal ein paar Nachthemden besorgen sollte. Doch andererseits würde sie sich damit dann ja um den prachtvollen Anblick ihres sich nackt neben ihr räkelnden Ehemannes bringen und sich damit quasi nur ins eigene Fleisch schneiden... Ihr Griff um die Unterlagen hatte sich unwillkürlich gelockert, und mit einer raschen Bewegung entriss Luc ihr die Listen. Erstaunt stellte Amelia fest, dass ihr Mund mit einem Mal ganz trocken geworden war und ihre Gedanken abgeschweift waren.
Sie räusperte sich, schaute auf ihre Notizen, die nunmehr in seinen Händen lagen, und zwang sich energisch, sich wieder auf ihr Vorhaben zu konzentrieren. »Ich habe versucht, alles, was nicht unbedingt nötig ist, aus den Listen herauszustreichen. Aber was jetzt noch übrig ist, ist wirklich das Minimum an Vorbereitungen, das wir noch erledigen müssen.«
Luc blickte Amelia an, dann legte er die Listen schweigend auf die Decke über ihrem Bauch. »Was den Ball angeht, so kannst du so viele Programmpunkte einplanen, wie du willst. Alles, wonach dir nur irgend der Sinn steht.«
Er beugte sich vor, legte den Arm um sie, zog sie sanft an sich und küsste sie. Es war ein langer, sehnsüchtiger Kuss, bis Amelia schließlich keinen Zweifel mehr daran hatte, wonach Luc gerade der Sinn stand …
Als er ihre Lippen schließlich wieder freigab und versuchte, die störenden Bettdecken zwischen ihnen beiden wegzuzerren, umklammerte Amelia die Listen, atmete einmal tief durch und erwiderte: »Ja, aber -«
Er küsste sie abermals.
Eine Minute später nahm sie ihre Unterlagen auf, ließ den Arm langsam zurücksinken und tastete blindlings über die Laken, bis sie den Rand des Bettrahmens erspürt hatte. Dann öffnete sie die Hand und ließ die kostbaren Aufstellungen einfach auf den Boden fallen. Besser, sie lagen dort als auf dem Bett. Denn wenn sie auf der Matratze liegen geblieben wären - wer konnte schon sagen, in welchem Zustand sie sich dann am nächsten Morgen befunden hätten?
Amelia umfasste Lucs Gesicht, legte sanft die Hände um seine fein geschnittenen Züge, während sie seinen Kuss erwiderte und das Verlangen und die Leidenschaft ungezügelt durch sich hindurchbrausen ließ, auf dass sie sich mit seiner Begierde vereinigten.
Lucs Hände waren plötzlich überall - liebkosend, streichelnd, erkundend. Sein Körper umfing sie, drängte sich voller Ungeduld an sie. Dann lag Amelia mit einem Mal auf den Knien, und Luc war hinter ihr; und seine Hände liebkosten ihre Brüste, während er sich mit seinen Hüften gegen sie drängte und dann mit einem kraftvollen Stoß tief in sie hineinglitt.
Sie bäumte sich auf, hörte ihren eigenen kehligen Aufschrei der Lust.
Und dann wurden sie beide mitgerissen von der Hitze und der Kraft und der Leidenschaft, überwältigt von der Intensität ihres Verlangens und erfüllt von dem Wunder, dass ihnen dies alles - und die Verzückung, die es ihnen bescherte - tatsächlich beschieden war.
Später, als sie sich wieder voneinander gelöst hatten und erschöpft unter der Bettdecke lagen, hob Amelia den Kopf und drückte Luc einen zärtlichen Kuss mitten auf die Brust. »Danke.« Sie lächelte ihn an, erkannte plötzlich, wie zweideutig diese Bemerkung gewesen war, verzichtete dann aber darauf, sie noch genauer zu erläutern. Stattdessen schmiegte sie sich fest in Lucs Arme, schwelgte in dem wohligen Gefühl, wie er sie unwillkürlich noch ein wenig enger an sich zog, und seufzte zufrieden: »Ich will versuchen, die Ausgaben so gering wie möglich zu halten.«
Mit einem Mal wurde Luc auffallend still, sein ganzer Körper schien zu erstarren. Amelia konnte sein Unbehagen verstehen, hatte sie doch wieder einmal das unliebsame Thema »Geld« angeschnitten.
»Amelia. Es gibt nicht den geringsten Grund -«
»Nicht den geringsten Grund, um knauserig zu sein.« Abermals hauchte sie ihm einen Kuss auf die Brust. »Ich weiß. Aber es besteht andererseits auch kein Anlass dazu, das Budget zu sehr zu strapazieren. Also, beruhige dich. Ich weiß mit dem Geld schon vernünftig umzugehen.« Der Schlaf schien sie fast zu übermannen. Amelia tätschelte Luc noch einmal leicht die Brust und verlagerte ihre Hand dann hinüber zu jener Stelle, wo sie sie am liebsten spürte - direkt über seinem Herzen. »Mach dir keine Sorgen.«
Ihr Murmeln war so leise, dass es fast nicht mehr zu hören war. Luc dagegen stieß im Geiste einen lästerlichen Fluch aus. Er überlegte hin und her, ob er Amelia wieder wachrütteln sollte, um sie dazu zu zwingen, ihm zuzuhören, während er ihr die Wahrheit erzählte …
Dann aber streifte bereits mit ruhigen, gleichmäßigen Zügen ihr warmer Atem über die Härchen auf seiner Brust, und ihre Hand, die über seinem Herzen ruhte, wurde schwerer.
Luc holte tief Luft und ließ den Atem dann langsam wieder entweichen. Er fühlte, wie seine innere Angespanntheit allmählich wieder nachließ, wie Amelias Wärme ihn einhüllte und ihn durchdrang.
Entspannt sank er noch ein kleines Stückchen tiefer in die Kissen und begann zu überlegen, wann genau, an welchem Tag und in welcher Reihenfolge er ihr nun endlich einmal sein Geständnis machen wollte … und schlief schließlich darüber ein.
Er hätte es ihr sagen sollen! Wenn nicht vergangene Nacht, dann aber spätestens an diesem Morgen. Und wenn er ihr schon nicht die gesamte Wahrheit gestand, dann hätte er ihr auf jeden Fall zumindest noch einmal verdeutlichen und erklären müssen, warum sie beim besten Willen nicht so genau aufs Geld zu schauen bräuchte.
Stattdessen aber …
Luc stand am Fenster seines Arbeitszimmers und blickte hinaus auf die Gartenanlagen, während er im Geiste noch einmal den heutigen Morgen durchlebte, als er aufgewacht war und festgestellt hatte, dass Amelia das Bett bereits verlassen hatte.
Blinde Panik hatte ihn erfasst. Amelia war noch nie vor ihm aufgewacht! Dann aber hatte er gehört, wie sie in ihrem Ankleidezimmer hin und her wanderte, und schon einen kurzen Moment später war sie fertig angekleidet und, bereit, sich in den neuen Tag zu stürzen, wieder ins Schlafzimmer hereingerauscht. Mit einem fröhlichen Gruß war sie um das Bett herumgegangen und hatte ihre Listen vom Boden aufgesammelt.
Dann hatte sie gut gelaunt von all ihren Ideen erzählt, die sie unbedingt noch in die Tat umsetzen musste. Er hatte nicht die leiseste Spur von Besorgnis oder Zurückhaltung erkennen können, weder in ihrem Gesicht noch in ihren blauen Augen. Ungeachtet sämtlicher angeblicher finanzieller Einschränkungen hatte sich Amelia eindeutig ganz obenauf gefühlt, so als wäre sie die Königin der Welt. Die Königin ihrer gemeinsamen Welt. Nur selten hatte Amelia in ihrem Wortschwall innegehalten, um auch Luc einmal etwas hinzufügen zu lassen, sodass er es einfach nicht über sich gebracht hatte, sie in ihrer angeregten, fröhlichen Geschäftigkeit zu unterbrechen und ihr ein Geständnis aufzuzwingen, das, zumindest in jenem Augenblick, plötzlich nicht mehr ganz so wichtig erschienen war. Es fehlte ihm einfach an Willensstärke, an der nötigen Durchsetzungskraft gegenüber seiner Frau.
»Diese Zahlen da.«
Er wandte sich um. Hinter Lucs Schreibtisch saß Martin und tippte auf den Finanzbericht, den er gerade durcharbeitete. »Sind die korrekt?«
»Soweit man sich da in irgendeiner Weise sicher sein kann, ja. Ich habe sie mir von drei unabhängigen Quellen bestätigen lassen.« Luc zögerte, dann fügte er hinzu: »Ich rechne grundsätzlich erst einmal nur mit fünfzig Prozent von dem, was man mir als Gewinn verspricht.«
Martin hob die Brauen, rechnete rasch einmal nach, stieß einen leisen, doch anerkennenden Pfiff aus und wandte sich dann wieder dem Bericht zu. Ihm gegenüber, unmittelbar auf der anderen Seite des Tisches, saß Lucifer. Auch er war damit beschäftigt, sich durch einen Stapel Papiere durchzuarbeiten, genauer gesagt durch die Einzelheiten einer Reihe von Investitionsmöglichkeiten, denen Luc bereits jeweils ein knappes Gutachten vorangestellt hatte. Lucifer war voll und ganz in seine Arbeit vertieft und schaute, eine Hand in seine tiefschwarzen Locken vergraben, nicht ein einziges Mal auf.
Luc wandte sich wieder der Betrachtung des Panoramas zu und sah Penelope, die aus Richtung der Hundezwinger herbeimarschiert kam, in den Armen einen ungeduldig zappelnden kleinen Hund. Luc war sich ziemlich sicher, dass es sich bei diesem Tier nur um Galahad handeln konnte. Dann trat sie auf die große Rasenfläche vor dem Haus und setzte den Welpen ab. Sofort begann Galahad, aufgeregt umherzurennen, die Nase dicht über dem Boden, als hätte er bereits irgendeine Spur aufgenommen. Er machte seinem Namen wahrlich alle Ehre und schien wie sein berühmter Ahnherr, König Artus’ Ritter, ein echter Fährtenleser zu sein.
Penelope ließ sich langsam ins Gras sinken und beobachtete ihn mit der für sie so typischen ernsten und ungeteilten Aufmerksamkeit. Doch sie waren nicht die einzigen Gäste auf der großen Rasenfläche, denn hinter Penelope kamen noch einige weitere junge Hunde herangestürmt. Es waren jene Tiere, die noch zu jung waren, um mit dem Rudel zu rennen, und die nun unter Portias und Simons Aufsicht umhertollten.
Oder vielmehr beaufsichtigte Portia die Hunde, während Simon, die Hände tief in seinen Taschen vergraben, mehr auf Penelope und Portia zu achten schien.
Was im Grunde ein wenig merkwürdig war, denn Simon war immerhin schon neunzehn, fast zwanzig Jahre alt und hatte sich bereits einen gewissen Schliff angeeignet, der ihn in den Kreisen der Londoner Gesellschaft zu einem beliebten Gast machte. Zudem waren Emily und Anne seiner Altersgruppe wesentlich näher als ihre beiden jüngeren Schwestern. Und dennoch sah man Simon, sobald Portia und Penelope ihr Schulzimmer verlassen hatten, fast ständig in der Gesellschaft der beiden Jüngsten aus dem Clan der Ashfords. Noch während Luc diese Beobachtung so richtig bewusst wurde, glaubte er auch schon zu wissen, was der Grund hinter Simons Verhalten war.
Doch Luc war Simon für dessen wachsame Gegenwart überaus dankbar. Schließlich bestand der berechtigte Verdacht, dass sich ein Schurke in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielt. Ein Schurke, der seiner, Lucs, Familie Böses wollte. Und als ob das nicht bereits genug gewesen wäre, hatte es der Kerl offenbar auch noch ganz gezielt darauf abgesehen, den Ruf der vier Ashfordschwestern zu schädigen. Zu allem Überfluss hatten Portia und Penelope auch noch die beklagenswerte Neigung, fast ihre gesamte freie Zeit draußen in der Natur zu verbringen, wo sie sich natürlich nur noch weiteren Gefahren aussetzten. Sie waren kaum mehr eine Handbreit davon entfernt, echte Wildfänge zu werden …
Während Luc also das Trio auf dem Rasen beobachtete, wurde ihm wieder einmal in aller Deutlichkeit bewusst, dass Portia seine besorgte Haltung ganz offensichtlich nicht teilte. Selbst von seinem Arbeitszimmer aus konnte er die hochmütige Geste erkennen, mit der sie die Nase in die Luft reckte und Simon gerade irgendeine bissige Bemerkung entgegenschleuderte - so bissig, dass selbst der wohlwollende Simon ihr daraufhin einen stechenden Blick zuwarf.
Penelope dagegen schien die beiden überhaupt nicht wahrzunehmen, obwohl diese sich geradewegs über ihren Kopf hinweg ein kleines Streitgespräch zu liefern schienen. Luc machte sich im Geiste eine kleine Notiz, dass er Simon unbedingt einmal klarmachen musste, Streitereien mit den beiden jüngsten Ashfordmädchen besser zu vermeiden. Damit wandte Luc sich wieder um und schlenderte zu seinem Lehnsessel und den Unterlagen hinüber, die er noch würde durcharbeiten müssen.
Er, Martin und Lucifer hatten allesamt Zuflucht in Lucs Arbeitszimmer gesucht, da vor den Türen des Büros das reinste Chaos - und natürlich ihre Ehefrauen - herrschten. Man war sich also, ohne dies in Worte gefasst zu haben, einig, dass man sich für die nächsten Tage am besten aus deren Wirkungsbereich fernhielt.
Auf Devils Vorschlag hin hatte Lucifer darum gebeten, sich einen allgemeinen Überblick über Lucs aktuelle Anlagestrategien machen zu dürfen. Woraufhin schließlich auch Martin hellhörig geworden war und gerne an der Begutachtung teilnehmen wollte. Im Augenblick saßen also sowohl Martin als auch Lucifer mit höchst konzentrierten Mienen über den Berichten, die Luc für seine letzten drei Investitionen herangezogen hatte. Doch obwohl Lucs Projekte gegenwärtig allesamt äußerst vielversprechend verliefen und er davon ausgehen durfte, dass diese sein Vermögen schon bald noch um einen beträchtlichen Teil mehren würden, so beruhten alle drei Anlagestrategien doch trotz aller gewissenhaften Vorbereitungen letztendlich nur auf Spekulationen.
Mit einem zufriedenen Lächeln ließ Luc den Blick über Martins und Lucifers tief über die Papiere geneigte Köpfe schweifen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit jenem neuen Vorhaben zu, das womöglich das nächste seiner Projekte würde.
Später am Abend - er wusste selbst nicht, wie es dazu kommen konnte, und fühlte sich von Helena regelrecht überrumpelt - schlenderte er mit der Herzoginwitwe an seinem Arm durch die Gartenanlagen. Doch es war ein angenehmer Spaziergang, und Luc ließ die Gedanken schweifen. Plötzlich aber dirigierte Helena ihn mit gewohnt hoheitsvoller Geste in Richtung der Ziergärten. Sofort schrillten in Lucs Hinterkopf sämtliche Alarmglocken, aber er fügte sich ihrem Wunsch. Die im Westen hinter dem Horizont versinkende Sonne zauberte noch einige letzte, goldene Funken auf die obersten Blätter der hohen Hecken, und Luc führte seine Begleiterin zuerst durch das eine Zierrondell, dann durch das nächste und schließlich auf den rechteckigen kleinen Teich zu, der ruhig und silbrig schimmernd in der sich herabsenkenden Dämmerung lag.
Helena deutete auf die schmiedeeiserne Bank unmittelbar vor der künstlich angelegten Wasserstelle. Luc folgte ihrem Wunsch, geleitete sie auf den kleinen Ruheplatz zu und blieb zögernd neben ihr stehen, während sie sich setzte. Auf eine knappe Geste von ihr hin ließ er sich neben ihr nieder, richtete den Blick aber starr auf den Teich und wartete ganz bewusst und ohne jede Regung auf das, was sie ihm zweifellos schon bald verkünden würde.
Zu seiner Überraschung aber brach Helena plötzlich in ehrlich amüsiertes Lachen aus.
Als er sie erstaunt anblickte, sah sie ihm fest in die Augen. »Du kannst deinen Schutzschild jetzt ruhig wieder senken. Ich habe nicht vor, dich anzugreifen.«
Ihr Lächeln war wirklich ansteckend, und dennoch… Luc kannte die Herzoginwitwe bereits gut genug, um sich nun nicht vorzeitig in Sicherheit zu wiegen.
Sie seufzte, schüttelte den Kopf, wandte den Blick dann wieder ab und ließ ihn langsam über den Teich schweifen. Schließlich erklärte sie mit entschlossener Stimme: »Du verheimlichst ihr doch noch immer irgendwas.«
Luc überlegte bereits, ob er nicht einfach so tun sollte, als ob er nicht die leiseste Ahnung hätte, wovon sie redete. Dann aber kam er zu dem Ergebnis, dass ihm diese List letztendlich wohl nicht weiterhelfen würde. Er lehnte sich also zurück, streckte seine langen Beine aus und schlug die Füße übereinander. Dann folgte er Helenas Beispiel und beobachtete die Fische, die wie Quecksilber durch das dunkle Wasser schossen. »Ich bin sehr glücklich. Wir beide sind sehr glücklich.«
»Das versteht sich von selbst. Trotzdem … trotzdem seid ihr beide nicht so glücklich, wie ihr es meiner Einschätzung nach sein könntet und auch sicherlich wäret, wenn du dich endlich einmal der Wahrheit stellen würdest.«
Luc schwieg und und musste zugeben, dass in ihren Worten eine gewisse Wahrheit lag. »Mit der Zeit werden wir auch diesen Punkt noch erreichen.«
Helena gab ein Geräusch von sich, das man im Allgemeinen nicht von der Herzoginwitwe zu hören bekam. »›Werden wir auch diesen Punkt noch erreichen.‹ Was soll denn das, bitte schön, heißen? Ich sag dir jetzt mal etwas - ›die Zeit‹ ändert überhaupt nichts an der Situation, in der ihr euch gegenwärtig befindet. Sondern ›die Zeit‹ raubt euch eher noch mehr von jenen glücklichen Tagen, die du und Amelia eigentlich hättet genießen können.«
Er sah Helena in die Augen und erkannte darin einen besonderen Ausdruck, der ihn zugleich einschüchterte als auch regelrecht bezwang.
Dann huschte plötzlich ein Lächeln über ihre Lippen, sie zuckte mit den Schultern und schaute abermals auf den Teich hinaus. »Das passiert uns doch allen einmal. Wir alle kommen irgendwann an den Punkt, an dem wir die Wahrheit zur Sprache bringen müssen. Einigen fällt so etwas leichter als anderen, aber letztendlich müssen sich alle in die Tatsache fügen, dass die Wahrheit immer das Beste ist, und dass man diese Tatsache eines Tages einfach annehmen muss. Für uns alle kommt der Augenblick, an dem wir um diese Einsicht nicht mehr herumkommen.«
Darüber hatte er noch nicht nachgedacht … grübelnd runzelte Luc die Stirn.
Helena sah ihn an, und ihr Lächeln wurde noch eine Spur herzlicher. »Ah, nein, davor kann man nicht fliehen. Da liegst du falsch. Gewisse Dinge kann man einfach nur annehmen und dankbar den Lohn für die Erkenntnis empfangen, oder aber den Rest seines Lebens damit verbringen, gegen das Unbezwingbare anzukämpfen.«
Luc stieß nur ein trockenes Lachen aus. Wenngleich dieses Lachen ein wenig unsicher klang … Denn tief in seinem Inneren verstand er nur allzu gut, was die Herzoginwitwe ihm soeben hatte sagen wollen.
Danach schwiegen sie beide. Ruhig saßen sie nebeneinander, während die Schatten immer länger wurden, und dachten höchstwahrscheinlich, zumindest war dies Lucs Vermutung, beide über das Gleiche nach. Schließlich erhob Helena sich wieder, und Luc folgte ihr. Er reichte ihr seinen Arm, und gemeinsam wanderten sie zurück zum Haus.
Am Freitagmorgen beobachtete er vom Fenster seines Arbeitszimmers aus Amelia und Amanda dabei, wie sie mit Galahad spielten. Flüchtig fragte Luc sich, welche Geheimnisse die beiden wohl miteinander teilen mochten. Dann erinnerte er sich an seine Unterhaltung mit Helena... Doch zunächst einmal verlangte eine wesentlich dringlichere Pflicht seine Aufmerksamkeit.
Luc trug den Briefbeschwerer, den er vom Fenstersims aufgenommen hatte, zu seinem Schreibtisch hinüber und platzierte diesen auf der äußersten Ecke jenes Planes, der sein Anwesen beschrieb.
»Die Tische werden hier entlang aufgebaut.« Martin deutete mit einem Stift auf den westlichen Teil der großen Rasenfläche. »Und hier sollen wohl ein Geiger und ein Trommler stehen - weit genug entfernt vom Haus, damit sich deren Gedudel nicht mit dem Quartett im Ballsaal beißt.«
Lucifer warf Luc einen raschen Blick zu. »Gibt es unter den Leuten, die unsere Damen für den großen Tag angeheuert haben, irgendwelche, die dir oder deiner Dienerschaft noch nicht bekannt sind - und damit meine ich sowohl die Musiker als auch die zusätzlichen Küchenkräfte sowie natürlich auch sämtliche anderen Aushilfskräfte?«
Luc schüttelte energisch den Kopf. »Darüber habe ich mich bereits mit Mrs. Higgs und Cottsloe besprochen. Alle, die sie für diesen Tag verpflichtet haben, sind Leute aus der unmittelbaren Umgebung. Dieses Jahr wurde niemand von außerhalb angeheuert.«
»Gut.« Lucifer studierte den Grundriss des Hauses und der Gartenanlagen, die den vorderen Rasen umschlossen. »Angenommen, du willst hier nachts einbrechen. Aus welcher Richtung würdest du dich dem Haus nähern?«
»Wenn ich von den Hunden wüsste, würde ich mich aus dieser Richtung hier anschleichen.« Luc deutete auf jenen Bereich, der in nordöstlicher Richtung hinter dem Rosengarten lag. »Denn da liegen das Wäldchen und dichtes Gestrüpp. Das sind noch die letzten Überbleibsel von dem ursprünglichen Bewuchs auf diesem Anwesen. Aus irgendeinem Grund wurde der Bereich dort nicht mehr gerodet. Natürlich kommt man dort durch, wenn man will. Im Übrigen sind die Bäume bereits sehr alt, sodass die Pfade selbst mitten am Tage schattig und dunkel sind.«
Martin nickte. »Das stimmt. Aber gehen wir mal davon aus, du weißt nichts von den Hunden. Dann wäre das da doch noch ein wesentlich besserer Weg, um sich dem Haus zu nähern.« Er fuhr mit dem Stift von der westlichen Grenze der Gartenanlagen quer über die schmale Straße, die zum landwirtschaftlichen Betrieb des Gutes führte, und dann entlang der Hecke, die die Ziergärten umschloss. »Oder, alternativ, wenn man davon ausgeht, dass derjenige sich über den Bergrücken nähert, könnte er sich auch gut entlang der Stallgebäude aufs Anwesen schleichen. Das wäre sicherlich keine schlechte Idee, zumal, wenn der Schurke sich erst in der Nacht an das Haus heranwagen sollte.«
»Tja, damit wäre er die ganze Zeit über gut gedeckt«, stimmte Luc zu. »Aber wie dem auch sei - ich kann euch versichern, dass die Hunde sofort Laut gäben, sobald sich einer auf diesem Weg anpirschen sollte.«
Lucifer verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »In diesem Fall können wir dann wohl ironischerweise nur hoffen, dass der Kerl klug genug ist, die Hundezwinger großräumig zu umgehen.«
Die Hände in die Hosentaschen gestopft, starrte Luc auf den Plan. Martin schaute ihn an, Luc erwiderte seinen Blick. »Auf der anderen Seite... Vielleicht sollte ich Sugden besser warnen, damit er, falls sich tatsächlich jemand von der Seite aus nähert und die Tiere anfangen zu bellen, die Hunde sofort loslässt. Sie sind schließlich darauf abgerichtet, jeden Eindringling zu fassen und ihn so lange festzuhalten, bis wir angekommen sind.«
Über Lucifers Züge breitete sich ein wahrhaft teuflisches Grinsen. »Gute Idee.«
»Und da fällt mir noch etwas ein«, ergänzte Martin die Überlegungen seiner beiden Komplizen. »Wir könnten Patsy und Morry während des Festes herumführen lassen. Sie sind beide gut erzogen und erobern die Herzen der Kinder mit Sicherheit im Sturm. Sugden könnte sie an ihren Leinen führen und ein bisschen mit ihnen herumspazieren. Zumal so ein kleines Hundeschaulaufen auch keinen wundern würde, schließlich sind die beiden doch echte Champions. Und damit könnte man den Dieb noch einmal geschickt darauf aufmerksam machen, dass sich auf diesem Grundstück Hundezwinger befinden.«
Martin richtete sich auf und sah zuerst Luc und dann Lucifer in deren dunkle Augen. »Denn auch, wenn es uns sicherlich allen eine Genugtuung wäre, den Mistkerl von den Hunden zur Strecke bringen zu lassen, so wäre es doch letztlich noch besser, wenn wir ihn auf frischer Tat ertappten.«
Sowohl Luc als auch Lucifer nickten zustimmend.
Dann wandten sich alle wieder dem Plan zu.
»Also gut.« Luc deutete auf einen der Räume in der ersten Etage. »Das ist das Zimmer, in dem Helena zurzeit übernachtet. Wie wollen wir ihr Schlafzimmer bewachen?«
Den Großteil des Vormittags verbrachten sie damit, die verschiedenen Möglichkeiten durchzusprechen. Erst beim Mittagessen erfuhren sie, was ihre Frauen an Unterhaltungsprogrammen geplant hatten, und vor allem, wann und wo die kleinen Darbietungen und Wettbewerbe stattfinden sollten.
Dann, als schließlich auch die letzten Details des Fests besprochen und abgesegnet waren, wandten die Männer sich wieder ihren eigenen Plänen zu. Während der Gala und des Balles wollten Lucifer, Luc und Martin gemeinsam mit Simon, Sugden und Cottsloe die Herzoginwitwe konsequent im Auge behalten. Später, wenn die Gäste wieder gegangen waren, würden Amelia, Amanda und Phyllida Helena von unterschiedlichen Plätzen im Hause aus beobachten, während Martin, Sugden und Lucifer wiederum über die Anlage patrouillieren würden. Luc und Simon, die das Haus und die Räumlichkeiten, in denen die Gäste untergebracht waren, am besten von allen kannten, sollten in den langen Korridoren Wache halten.
Nachdem die Männer ihre Aufgabenbereiche abgesprochen hatten, hatte sich ihre Gruppe wieder aufgelöst. Luc war zu den Hundezwingern hinuntergegangen, um Sugden über die aktuellen Pläne zu informieren und bei der Gelegenheit auch gleich noch einmal einen raschen Blick auf die jungen Hunde zu werfen und zu sehen, welche Fortschritte sie gemacht hatten.
Als er ins Haus zurückkehrte, zögerte er zunächst einen kurzen Moment. Dann schlenderte er weiter zum Musikzimmer. Im Flur vor dem Zimmer blieb er stehen … dann hörte er aus dem Salon hinter der Tür Amelias Stimme. Und Phyllidas und Amandas. Das Gesicht zu einer leicht missmutigen Grimasse verzogen, marschierte er weiter.
Mit raschen Schritten eilte er die Haupttreppe hinauf, hielt auf der ersten Etage kurz inne, ehe er mit energisch vorgeschobenem Kinn schließlich auch noch die Stufen ins Obergeschoss hinauf nahm.
Portia, Penelope und Miss Pink befanden sich derzeit im Erdgeschoss. Sie hatten ihre Bücher ausnahmsweise einmal ins Schulzimmer verbannt und wandten sich in einem der unteren Räume der praktischen Beobachtung ihres Unterrichtsstoffes zu. Der gesamte obere Mittelflügel war also menschenleer. Luc ging langsam auf das Kinderzimmer zu, öffnete die Tür und trat ein.
Noch war alles unverändert. Doch er hatte im Grunde auch nichts anderes erwartet. Amelia war im Moment mit viel zu vielen anderen Dingen beschäftigt, als dass sie bereits Zeit gehabt hätte, sich der Umgestaltung des Kinderzimmers zu widmen. Irgendwann aber würde sie dieses Vorhaben sicherlich angehen. Wahrscheinlich sogar schon bald.
Luc trat ans Fenster, ließ den Blick über das Tal schweifen und versuchte sich vorzustellen, was ein Kind für ihn bedeuten würde, wie es sich wohl anfühlen würde, Vater zu sein.
Er wünschte sich einen Sohn. Das war doch schließlich wohl das mindeste, was das Schicksal ihm noch schuldig war - ihm, der sich fast zeit seines Lebens ganz allein mit vier Schwestern abmühen musste. Doch unwillkürlich verzogen sich seine Lippen zu einem spöttischen Lächeln. Denn in Wahrheit war es ihm vollkommen egal, ob ihr erstes Kind ein Junge oder ein Mädchen werden würde. Alles, was er wollte, war Amelia mit seinem Kind an ihrer Brust zu sehen.
Die Unterhaltung mit Helena hatte seinen Überlegungen eine neue Richtung gegeben. Er hatte gar nicht bedacht, dass es mit dem Geständnis allein noch nicht getan wäre. Denn erst einmal würde Amelia noch eine Entscheidung treffen müssen.
Im Geheimen hatte sie sich bereits entschieden, dessen war Luc sich ganz sicher. Sie hatte sich ihm mit Leib und Seele verschrieben, hatte ihre Loyalität auf ihre neue Familie übertragen, trug aller Wahrscheinlichkeit nach sogar bereits sein Kind unter dem Herzen. Sie war die seine. Und auf irgendeiner ganz tiefen, unterbewussten Ebene hatte er das auch schon seit geraumer Zeit geahnt. Nun aber hatte er es auch mit all seinen Sinnen und seinem Verstand erfasst.
Endlich hatte nämlich sogar sein überaus analytischer Verstand begriffen, was ihm sein Instinkt schon lange verraten hatte.
Befriedigung und ein Gefühl der Ruhe und Geborgenheit stiegen in ihm auf - dicht gefolgt von stetig zunehmender Frustration. Ausgerechnet jetzt, da er endlich bereit war, Amelia rückhaltlos alles zu gestehen, schien das Schicksal sich gegen ihn zu wenden und den geeigneten Zeitpunkt für seine Beichte immer weiter hinauszuschieben.
Tagsüber eilte Amelia vor lauter Vorbereitungen, die sie noch zu erledigen hatte, unaufhörlich von einem Raum in den anderen, und abends, wenn er sich zu ihr in ihr gemeinsames Ehebett legte, war sie erschöpft und schläfrig. Am nächsten Morgen aber sprang sie schon wieder so früh aus den Federn und mitten hinein in die Geschäftigkeit des Tages, dass Luc zumeist noch nicht einmal aufgewacht war, ehe sie das Schlafzimmer auch schon wieder verließ.
Doch ein solch wichtiges Geständnis zwischen Tür und Angel zu machen, während am besten auch noch Familie und Dienerschaft nur darauf lauerten, sie beide wieder mit Beschlag zu belegen, kam für Luc nicht in Frage. Nein, das war einfach unmöglich, denn dazu schätzte und achtete er Amelia und das zarte Geflecht der echten Liebe, das sich zwischen ihnen beiden gesponnen hatte, viel zu sehr.
Er wollte also, dass sie ihm zumindest ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenkte und sich auch später noch daran erinnerte, wenn er zu dem letzten und endgültigen Akt der Hingabe bereit war und ihr sein Geständnis machte.
Die Ungeduld zerrte hartnäckig an seinen Nerven. Er starrte aus dem Fenster und auf das Tal hinaus, die Zähne fest zusammengebissen.
Sobald sie den Schurken gefasst hätten, würde er, Luc, darauf bestehen, dass Amelia sich endlich wieder allein auf ihn konzentrierte.
Und dann würde er ihr die Wahrheit sagen. Die schlichte Wahrheit.
Drei kleine Worte nur.
Ich liebe dich.