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Es dauerte einen kurzen Moment, bis Luc begriff, was Amelia ihm mit ihren Worten sagen wollte. Doch zu spät - er konnte sie nicht mehr halten. Kaum dass Amelia die Terrasse betreten hatte, da verschwand sie auch schon in der Menge, mischte sich unter die Schar der Gäste. Und obgleich Luc ihr sofort nachstürmte, hatte sie sich - als er sie endlich wiederfand - bereits zu einer der Gruppen gesellt und unterhielt sich gerade angeregt mit Lord Oxley, wobei sie eine ihrer Hände sogar auf dem Arm Seiner Lordschaft platziert hatte.

Und in genau diesem Augenblick begannen die Musiker, zum ersten Tanz aufzuspielen; es erklangen die ersten Takte eines Kotillon, und eilig stellten sich die Gäste paarweise hintereinander auf. Mit steinerner Miene zog Luc sich in die Schatten nahe der Hauswand zurück, verschränkte die Arme und lehnte sich mit den Schultern gegen das Mauerwerk. Von dort aus beobachtete er Amelia - seine zukünftige Ehefrau -, wie diese unter eleganten Verbeugungen und anmutigen Drehungen die Schrittfolgen des Tanzes vollführte.

Dieses verfluchte Kleid wogte geradezu um sie herum, schien wie ein wundersames Fantasiegebilde aus glitzerndem Licht. Luc bemerkte mindestens zwei kleinere Unfälle, die allein daher rührten, dass Amelia diversen Gentlemen mit ihrem Kleid regelrecht den Kopf verdreht hatte. Ein Sog von bis dato unbekannten Emotionen drohte, Luc einfach mitzureißen - die Anspannung, die zugleich von ihm Besitz ergriff, war ihm dagegen schon etwas vertrauter. Denn das körperliche Verlangen war ihm nicht neu, damit konnte er ohne größere Schwierigkeiten umgehen. Was jedoch diese anderen Empfindungen betraf …

Es fiel ihm schwer, sein Temperament noch länger im Zaum zu halten. Alle seine Sinne schienen aufs Äußerste geschärft. Er stand kurz davor, in die Luft zu gehen... obwohl dies doch im Grunde gar nicht seine Art war. Wie hatte Amelia es bloß geschafft, ihn mit einer solchen Leichtigkeit so dermaßen aus der Fassung zu bringen?

Nun ja, zumindest war dieser verdammte Tanz kein Walzer.

Der Gedanke ließ Luc im Geiste fluchen. Denn wenn zum Ballauftakt noch kein Walzer gespielt wurde, dann aber spätestens zum zweiten Tanz. Doch er traute sich nicht, Amelia um diesen Tanz zu bitten - wagte es nicht, sie in seine Arme zu schließen, nicht in der Öffentlichkeit und schon gar nicht in diesem Nichts von einem Kleid. Andererseits aber wusste Luc nur zu genau, was passieren würde, wenn er sich darauf beschränken wollte, ihr einfach nur zuzuschauen, wenn sie den Walzer - noch dazu in diesem aufreizenden Kleid - mit einem anderen Mann tanzte.

Im Stillen verwünschte Luc sämtliche Frauen und die Damen des Cynster-Clans im ganz Besonderen, während er Amelia mit argwöhnischen Blicken verfolgte und wartete. Und dabei im Stillen bereits den einen oder anderen Plan schmiedete...

Amelia spürte genau, dass Luc sie beobachtete, und sie lächelte ganz bewusst nur noch umso strahlender, lachte und scherzte mit Lord Oxley aufs Verführerischste - und hielt sich dennoch streng an die Grenzen des Schicklichen. Denn natürlich dachte sie nicht ernsthaft daran, Seine Lordschaft den Platz ihres nur schwer zu zügelnden Vicomtes einnehmen zu lassen. Aber glücklicherweise konnte Luc das ja nicht so genau wissen - zumindest nicht mit letzter Sicherheit.

Nachdem der Tanz geendet hatte, vermied sie es hartnäckig, auch nur einen einzigen Blick in seine Richtung zu werfen, sondern ermutigte stattdessen andere Gentlemen dazu, sich um sie zu scharen. Sie musterte gerade Mr. Morley, der sich galant über ihre Fingerspitzen beugte, als Luc auf sie zuschlenderte.

In dem Moment, in dem Morley Amelias Finger wieder losließ, belegte Luc ihre Hand mit Beschlag, nickte Amelia entspannt, vielleicht sogar ein ganz klein wenig gelangweilt kurz zu, platzierte ihre Hand auf seinem Arm - und hielt sie dort mit eisernem Griff fest.

Erstaunt riss Amelia die Augen auf. »Ich hatte mich schon gefragt, wo du wohl steckst.«

Mit düsterem Blick schaute er sie an. »Die Frage dürfte nun wohl geklärt sein.«

Ein wenig verwirrt sahen die vier Gentlemen, die sich um Amelia versammelt hatten, von Luc zu Amelia hinüber. Natürlich wussten sie, dass Amelia das Haus der Carstairs an Lucs Arm betreten hatte. Doch die Herren waren davon ausgegangen, das Maß der Vertrautheit zwischen Amelia Cynster und Luc Ashford wäre noch das Gleiche wie schon seit Jahren - sie dachten, die beiden wären bloß gute Freunde, deren Familien einen verhältnismäßig engen Kontakt miteinander pflegten, nichts anderes.

Nichts Intimeres.

Die Emotionen, die nun zwischen Luc und Amelia aufwogten, die spürbare Spannung, die zwischen ihnen knisterte, sprachen eine ganz andere Sprache.

Amelia wünschte sich, sie könnte den Ausdruck in Lucs Augen ein kleines bisschen besser deuten... Sie schenkte ihm ein betont unbekümmertes Lächeln und wandte sich sogleich wieder mit einem strahlenden Ausdruck auf dem Gesicht ihren Kavalieren zu. »Habt Ihr schon von der bevorstehenden Ballonfahrt gehört?«

»Aber ja, selbstverständlich!«, erwiderte Lord Carmichael. »Sie soll vom Park aus stattfinden.«

»Übermorgen«, ergänzte Mr. Morley.

»Vielleicht dürfte ich Euch als Gefährt meinen neuen Phaeton antragen, meine Liebe.« Lord Oxley wölbte stolz die Brust. »Der liegt gut zwei Meter über dem Boden, müsst Ihr wissen - von diesem Fahrzeug aus hat man einen wahrhaft großartigen Ausblick.«

»Ach, wirklich?« Amelia schenkte Seiner Lordschaft ein reizendes Lächeln. »Ich -«

»Miss Cynster hat sich bereits einverstanden erklärt, das Spektakel gemeinsam mit meinen Schwestern zu bewundern.«

Amelia schaute Luc an und zog in leicht spöttischer Geste die Brauen hoch.

Er hielt ihrem Blick stand, fügte dann jedoch noch hinzu: »... und mit mir.«

Für einen kurzen Moment sah sie ihm schweigend tief in die vom Zorn verdunkelten Augen, verzog amüsiert die Lippen, neigte den Kopf und wandte sich mit einer hilflosen Geste zu Lord Oxley um. Sie versuchte, die Abfuhr, die sie ihm erteilte, mit einem strahlenden Lächeln zu mildern. »Tja, ich fürchte - wie ich im Übrigen gerade selbst sagen wollte -, ich habe schon die Einladung der Ashfords angenommen.«

»Ah, nun ja - gut.« Lord Oxley warf Luc einen raschen und ziemlich irritierten Blick zu. »Ich verstehe.« Sein Tonfall ließ hingegen vermuten, dass er nicht die leiseste Ahnung hatte, was sich hier gerade abspielte.

Die Töne einer Violine kündigten den Gästen an, dass in Kürze ein Walzer angestimmt würde.

»Meine Liebe, wenn ich Euch um das Vergnügen bitten dürfte -«

»Wenn ich so kühn sein darf, Miss Cynster -«

»Verehrteste Dame, Ihr würdet mir die größte Ehre erweisen -«

Abrupt hielten Mr. Morley, Lord Carmichael und Sir Basil Swathe wieder inne, schauten einander an und sahen dann erwartungsvoll zu Amelia hinüber.

Sie zögerte, wartete - und hob schließlich entschlossen das Kinn. »Ich -«

Verstohlen drückte Luc ihre Hand, die er noch immer fest umschlossen hielt. »Meine Liebe, ich bin extra gekommen, um dich zu holen - Mama möchte dich gerne einem alten Freund vorstellen.«

Amelia sah ihn an. »Aber der Walzer...?«

»Ich fürchte, es ist schon ein sehr alter Freund, der bald wieder nach Hause möchte. Und er hält sich nur sehr selten hier in London auf.« Luc ließ den Blick über die Runde von Amelias Verehrern schweifen. »Wenn Ihr uns also bitte entschuldigen würdet, Gentlemen.«

Doch er formulierte die Bitte keineswegs als eine höfliche Frage - natürlich nicht. Und er erlaubte Amelia auch kaum, sich mit einem raschen Murmeln wenigstens noch von den Herren zu verabschieden, ehe er sie auch schon mit sich fortzog. Nur leider strebte er nicht auf die Tanzfläche zu, wo Amelia doch so gerne hinwollte - wo sie mit ihm hinwollte -, sondern zerrte sie stattdessen entschlossenen Schrittes zurück ins Haus.

Als sie den lang gestreckten Empfangssaal betreten hatten, blieb Amelia stehen und weigerte sich entschieden, sich von Luc noch weiterschleifen zu lassen. »Wer ist denn dieser alte Freund, den deine Mutter mir angeblich vorstellen will?«

Luc starrte sie an. »Der ist bedauerlicherweise lediglich ein Produkt meiner Fantasie.«

Doch ehe Amelia etwas erwidern konnte, drängte er sie auch schon weiter und auf eine Tür im Hintergrund zu. »Hier entlang.«

Sie ließ sich von Luc durch die Tür ziehen und in eine kleine Galerie hinein, die schließlich in einen Korridor mündete, welcher wiederum parallel zum Empfangssaal durch den hinteren Teil des Hauses verlief - Amelia war nicht im Stande, sich Luc zu widersetzen. Sie war viel zu verblüfft, war viel zu gespannt, ob nun endlich jener ersehnte Moment gekommen war...

Von dem Flur zweigten zu beiden Seiten diverse Räume ab. Luc hielt Amelias Hand noch immer fest umschlossen und strebte eilig auf eine Tür zu, die ungefähr in der Mitte des langen Korridors und auf der vom Empfangssaal abgewandten Seite lag. Er drückte die Klinke hinunter, spähte vorsichtig ins Innere des Raumes, trat wieder einen Schritt zurück und schob Amelia energisch hinein. Ihr blieb gar keine andere Möglichkeit, als sich Luc zu fügen - er war direkt hinter ihr.

Neugierig sah Amelia sich um. Dieses Zimmer war ein Salon, der mit recht bequem aussehenden Sofas, Sesseln und niedrigen Beistelltischchen möbliert war. Die Fenster wurden umrahmt von langen Vorhängen, die jedoch offen waren, sodass der Mond - schwach und dennoch intensiv - die Szenerie in sein bleiches Licht tauchte.

Eine Szenerie, in der sich keine Menschenseele befand. Außer ihnen beiden.

Plötzlich hörte Amelia ein gedämpftes, klickendes Geräusch. Sie wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um zu sehen, wie Luc irgendetwas in seine Westentasche gleiten ließ. Ein rascher Blick auf die Tür verriet ihr, dass das Schloss nach jener Machart aussah, zu der normalerweise auch ein Schlüssel gehörte, um es abschließen zu können. Nun aber steckte kein Schlüssel mehr im Schloss.

Ein überaus seltsames Kribbeln huschte über Amelias Haut und rann dann ihr Rückgrat hinab. Sie hob den Blick in Lucs Gesicht, als dieser langsam auf sie zutrat.

Nein, sie würde sich von ihm jetzt auf keinen Fall überrumpeln lassen, und sie war auch ganz gewiss keine dieser hirnlosen jungen Puten, die Luc mit geradezu abstoßender Arroganz mühelos um den kleinen Finger wickeln konnte. Amelia verschränkte die Arme vor der Brust und hob energisch das Kinn - ungeachtet der Tatsache, dass sich damit das Rüschenwerk ihres Kleideroberteils straff über ihre Brüste spannte. »Was hast du vor? Worum geht es hier eigentlich?«

Luc blinzelte, blieb stehen, war augenscheinlich verunsichert. Dann erst sah Amelia, dass Luc keineswegs in ihr Gesicht sah, was wiederum auch er rasch begriff, um eilig den Blick wieder zu ihren Augen hinaufwandern zu lassen.

»Genau darum«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »geht es.«

Amelia runzelte die Stirn. »Was meinst du?«

Seine dunklen Augen schienen vor Leidenschaft geradezu zu glühen; sein Gesichtsausdruck wurde noch eine Nuance finsterer. »Es geht darum, dass wir uns mal über unsere weitere Vorgehensweise unterhalten müssen. Damit meine ich jenen Plan, wie wir die ach so kostbare Londoner Gesellschaft dahingehend manipulieren, dass keiner mehr auch nur auf die leiseste Idee kommt, unsere Heirat könnte bloß eine arrangierte Übereinkunft sein. Außerdem müssen wir die Reihenfolge besprechen, in der wir die dazu nötigen Schritte unternehmen. Und wir müssen uns darüber einigen - und das hat jetzt erst mal die allerhöchste Priorität -, wie wir den uns zur Verfügung stehenden, minimalen Zeitrahmen möglichst geschickt nutzen wollen.«

»Zeitrahmen?« Amelia riss die Augen auf. »Aber es geht doch im Grunde bloß darum, dass wir die bereits besprochenen Schritte in der richtigen Reihenfolge… quasi abarbeiten. Und sollte sich dann schließlich doch noch die Möglichkeit bieten, das Ganze ein wenig zu beschleunigen -«

»Nein! Genau in dem Punkt sind wir nämlich ganz und gar nicht einer Meinung.«

Luc sprach noch immer durch fest zusammengebissene Zähne. Amelia legte betont nachdenklich die Stirn in Falten und forschte in seinem Gesicht. »Was, bitte schön, ist eigentlich los mit dir?«

Luc blickte lange und eindringlich in ihre großen blauen Augen und konnte beim besten Willen nicht sagen, ob sie sich nun über ihn lustig machte, oder ob sie ihre Frage ernst meinte. »Nichts«, knurrte er. »Nichts, was jeder normale - Ach was, ist doch egal!« Er strich sich mehrmals hastig durch sein Haar. Bis er erkannte, was er da gerade tat, und die Hand wieder sinken ließ. »Worauf es jetzt ankommt, ist doch, dass wir uns endlich einmal über das Tempo unserer kleinen Scharade verständigen und am besten auch einigen

»Tempo? Was -«

»Wir dürfen es in jedem Fall nicht zu schnell angehen.«

»Aber was wäre denn daran so schlimm?«

Es bestände das Risiko, dass viel zu rasch viel zu viel enthüllt würde. Er schaute fest in ihr überaus störrisch dreinblickendes Gesicht. »Nun, wenn wir die Dinge überstürzen, werden sich die Leute unweigerlich schon bald einige Fragen stellen. Fragen, die wir lieber nicht beantworten möchten. Man wird zum Beispiel überlegen, ob es wohl irgendeinen besonderen Grund dafür gibt, dass ich mich so plötzlich regelrecht an deine Fersen klebe. Denn ich kenne dich ja erst... wie lange? So um die zwanzig Jahre? Um es kurz zu machen: Wenn wir uns nicht an das vorgegebene Tempo halten, wird man automatisch darüber nachgrübeln, was eigentlich hinter der ganzen Sache steckt. Und meine Motive sind dabei noch nicht einmal das Interessanteste... Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass wir überzeugend wirken müssen. Und das wiederum bedeutet, dass wir nur langsam vorgehen dürfen. Vier Wochen. Und keinerlei Abkürzungen.«

»Ich dachte, du meintest, dass wir uns bis zu vier Wochen Zeit lassen könnten, und nicht, dass wir unbedingt genau diesen Zeitrahmen einhalten müssen.«

»Doch, genau das. Denn die Leute müssen eine stetig fortschreitende Entwicklung präsentiert bekommen. Eine Entwicklung, die mit gelassenem Interesse beginnt, auf die dann etwas später eine gewisse Erkenntnis folgt, woraufhin eine Entscheidung getroffen wird, die wir dann schließlich ganz offiziell besiegeln. Aber wir müssen ihnen eine wirklich gute Vorstellung bieten. Ansonsten - also ohne überzeugendes Motiv für unsere Eheschließung - kaufen sie uns unsere Scharade nicht ab.«

Natürlich war all das, was er Amelia da gerade weiszumachen versuchte, absoluter Unsinn. Und falls sie noch mehr von diesen gewissen Kleidern in ihrem Schrank haben sollte, würde sich ohnehin niemand mehr fragen, was denn wohl der Anlass dafür sein mochte, dass Luc sich plötzlich dazu entschlossen hatte, sie zu heiraten.

Apropos Kleid... abermals ließ Luc den Blick an Amelia hinabwandern und grübelte über dieses höchst anstößige Etwas nach. »Hast du eigentlich noch mehr Kleider von dieser Sorte?«

Wütend funkelte Amelia ihn an, sah an ihrer Ballrobe hinab und breitete die Röcke aus. »Was soll denn bloß dran sein an diesem Kleid, dass du dich so darüber echauffierst?«

Man hätte meinen sollen, dass Luc klug genug wäre, um nun besser Stillschweigen zu bewahren. Stattdessen aber hörte er sich - zu seiner eigenen Verwunderung - knurren: »Es ist einfach so verdammt einladend.«

Amelia wirkte ehrlich überrascht. »Tatsächlich?«

»Ja!« Zuerst hatte er gedacht, dass das Kleid in der Eingangshalle seines Hauses schon seine schlimmstmögliche Wirkung gezeigt hätte. Dann, unter den Kronleuchtern des Empfangssaals, hatte es noch verführerischer ausgesehen. Jetzt jedoch, im Zwielicht des Mondes, raubte einem der Anblick geradezu den Verstand. Das war ihm bereits aufgefallen, als sie unter den Bäumen im Park entlanggewandelt waren - was letztlich auch dazu beigetragen hatte, dass er dort plötzlich so ein sinnloses Zeug gestammelt hatte. Je schwächer das Licht, desto intensiver wurde der Schimmer, den das Kleid auf Amelias Haut zauberte, sodass es letztlich so aussah, als ob ihre nackten Schultern und die verführerisch gerundeten Ansätze ihrer Brüste mitten aus einem luftigen Nichts von Meerschaum aufstiegen. Als ob sie sich anböte und bloß darauf wartete, dass der richtige Mann kam, um ihre Schönheit zu erkennen und sie zu erobern, sie zu entführen, um schließlich auch den Rest dieses wunderbaren Wesens zu entblößen, das zurzeit noch unter dem Stoff verborgen lag...

Es war also kein Wunder, dass Luc kaum mehr einen klaren Gedanken fassen konnte.

»Es ist...« Wild gestikulierend suchte er nach den richtigen Worten, um sich aus dem Sumpf, in den er sich selbst hineingeritten hatte, wieder zu befreien.

Amelia sah noch immer nachdenklich an ihrem Ballkleid hinab. »Einladend... aber sollte es denn nicht genauso aussehen?«

Es war diese gewisse Art und Weise, mit der sie den Kopf hob und seinen Blick erwiderte, geradeheraus und ohne Umschweife, die seinen vorübergehend wie gelähmten Verstand schließlich wieder die normale Gangart aufnehmen ließ. Langsam kniff Luc die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, während er nachdachte - über Amelia und über das, was sie gerade eben gesagt hatte. »Du weißt es.« Drohend trat er einen Schritt auf sie zu. Amelia ließ ihre Röcke wieder fallen, richtete sich auf, wich aber nicht zurück. Luc blieb stehen und sah ihr mit böse funkelndem Blick in die Augen. »Du weißt, verdammt noch mal, ganz genau, welche Wirkung du mit diesem - verfluchten - Kleid auf uns Männer hast.«

Erstaunt starrte sie ihn an. »Aber natürlich.« Dann neigte sie den Kopf, als ob sie sich darüber wunderte, dass Luc dies alles erst jetzt begriffen hatte. »Was meinst du denn, warum ich es angezogen habe?«

Er gab einen leisen, erstickt klingenden Laut von sich - das war der Überrest jenes dumpfen Knurrens, das er Amelia lieber nicht hören lassen wollte. Denn Luc Ashford verlor niemals die Beherrschung - ausgenommen jene vergangenen Tage in Amelia Cynsters Gesellschaft! Er deutete mit dem Finger auf ihre Nase. »Wenn du mich tatsächlich heiraten möchtest, dann wirst du dieses Kleid nicht noch einmal tragen... und auch sonst nichts, was diesem Fähnchen irgendwie ähnlich sieht. Zumindest nicht, bis ich es dir offiziell erlaube.«

Amelia hielt seinem Blick stand, straffte die Schultern und verschränkte die Arme -

»Und, um Himmels willen, lass das sein!« Luc kniff die Augen zusammen, um nicht mit ansehen zu müssen, wie ihre Brüste durch diese Geste nur noch höher über den bauschigen Rand ihres Oberteils geschoben wurden.

»Aber ich bin der Ansicht, dass ich nichts Verbotenes mache.«

Amelia sprach schroff, und ihr Ton klang sogar ein klein wenig ätzend.

Luc wagte es, seine Lider wieder ein winziges bisschen zu öffnen, und sein Blick richtete sich - natürlich - starr auf die elfenbeinfarbenen Hügel, die geradezu marktschreierisch durch dieses höchst aufreizende Kleid zur Schau gestellt wurden. Ihre Brustwarzen konnten nur noch knapp -

»Wer dich jetzt so sieht, könnte meinen, du hättest noch niemals zuvor den Busen einer Frau gesehen. Und du glaubst ja wohl nicht, dass ich dir das abnehme.« Amelia verbarg ihren Triumph darüber, wie leicht er sich von ihren Reizen beeindrucken ließ. Andererseits aber musste sie sich dazu schon arg beherrschen, denn ihr gefiel die Richtung, in die sich die Diskussion mittlerweile zu wenden begann, ganz und gar nicht.

Dreist schaute Luc noch immer auf ihre Brüste; und unter dem dichten Schleier seiner schwarzen Wimpern schienen seine dunklen Augen eigenartig zu glitzern.

»In diesem Fall ist es mir vollkommen egal, was du glaubst.«

Es lag so ein ganz bestimmter Unterton in seiner Stimme, in der langsamen und deutlich akzentuierten Art und Weise, mit der er sprach... Amelia blieb absolut reglos stehen, sämtliche ihrer Instinkte schienen sich allein auf Luc zu richten.

Ganz langsam hob er den Blick und sah ihr in die Augen.

»Und ich wiederhole es noch einmal: Wenn du mich tatsächlich heiraten möchtest, dann wirst du dieses Kleid nicht wieder tragen, und auch sonst nichts in dieser Art.«

Amelia hob das Kinn. »Ja, für eine Weile vielleicht nicht. Aber so gegen Ende unserer -«

»Nein. Du wirst es nicht noch einmal tragen. Das brauchst du nicht, und das wirst du auch nicht.«

Sie spürte, wie sie halb unbewusst die Zähne zusammenbiss, spürte beinahe körperlich, wie sein Wille und der ihre zusammenprallten, doch während ihr Wille wie ein unnachgiebiges Bollwerk, wie eine Mauer war, glich der seine eher der Flut - strömte um sie herum, zerrte und sog an ihrem Widerstand, unterspülte ihre Fundamente.

Amelia kannte Luc viel zu gut. Sie wusste, dass sie sich ihm auf Dauer nicht würde widersetzen können, und wagte es auch nicht, ihn bereits an diesem Punkt zur Kapitulation zu zwingen.

Es fiel ihr nicht leicht, doch sie rang sich zu einem einsichtigen Nicken durch. »Also gut.« Amelia tat einen tiefen Atemzug. »Aber nur unter einer Bedingung.«

Luc blinzelte, senkte den Blick, riss ihn dann aber abrupt wieder empor und schaute Amelia starr mitten ins Gesicht. »Und die wäre?«

»Ich wünsche mir, dass du mich noch einmal küsst.«

Er sah sie verdutzt an. Ein Augenblick des Schweigens verstrich. »Jetzt?«

Hilflos spreizte Amelia die Hände und riss die Augen auf. »Na ja, nun stehen wir doch schon einmal hier - sind ganz allein -, und die Tür ist verschlossen.« Sie deutete auf ihr Kleid. »Und ich trage dieses unmögliche Ding hier. Unsere kleine Scharade sieht doch wohl an irgendeiner Stelle auch mal eine leichte Annäherung vor, oder?«

Starr blickte Luc Amelia in die Augen - er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so hin- und hergerissen gefühlt wie in diesem Moment. Sein Instinkt, sein Verlangen und vor allem der kleine Teufel in seinem Inneren - alles in ihm drängte danach, den schlanken Körper, der sich ihm so herausfordernd anbot, endlich zu packen und seinen sinnlichen Hunger zu stillen. Sämtliche seiner Triebe schienen nur noch ein Ziel zu haben. Alle, bis auf einen, denn es gab auch noch eine andere Stimme in seinem Hinterkopf - seinen Selbsterhaltungstrieb. Und der warnte Luc eindringlich, sich auf keinen Fall zu früh mit Amelia einzulassen.

Und die warnende Stimme wurde auch noch zunehmend lauter.

Andererseits aber fiel Luc zu Amelias Vorschlag auch keine Alternative ein. Mal ganz abgesehen davon, dass sich in ihm ohnehin alles dagegen sträubte, auch nur noch eine Sekunde länger den unnahbaren Eisklotz zu spielen.

Er hob kurz die Schultern, versuchte, die Anspannung zu vertreiben, die sich mittlerweile fest in jedem einzelnen seiner Muskeln eingenistet hatte - und gleichzeitig bemühte er sich, diese Geste bloß wie ein harmloses Schulterzucken aussehen zu lassen. »Also gut.« Er sprach ganz entspannt, der Unterton in seiner Stimme klang sogar regelrecht gleichmütig. »Ein Kuss.«

Ein sehr beherrschter und allerletzter Kuss.

Luc streckte die Arme nach Amelia aus; sie trat auf ihn zu. Und noch ehe er sie um die Taille fassen und damit zugleich ein wenig auf Abstand halten konnte, hatte sie sich auch schon in seine Arme geschmiegt. Ihr höchst irritierendes Kleid streifte raschelnd über seinen Gehrock, ihr biegsamer Körper drängte sich an den seinen, während sie die Arme hob und sie ihm um den Nacken legte.

Luc neigte den Kopf, berührte mit dem Mund ihre Lippen, nahm sie ein - alles, ohne auch nur ein einziges Mal nachzudenken. Fest legte er die Hände um ihre Taille, doch seine Arme waren seltsamerweise viel zu kraftlos, um Amelia wieder von sich zu schieben. Stattdessen verschmolzen ihre Lippen immer inniger miteinander, und der Impuls, Amelia nur noch enger an sich zu ziehen, wurde stärker und stärker.

Sie öffneten ihre Münder.

Behutsam strich er mit den Händen über die kostbare Seide ihrer Robe, über die weichen Kurven, die unter dem Stoff versteckt lagen. Dann presste er Amelia absichtlich und mit vollem Bewusstsein an sich, schmiegte ihren nachgiebigen Körper gegen seine harte Silhouette. Raubte ihr den Atem, schenkte ihn ihr dann wieder und eroberte langsam, doch unerbittlich ihren Mund.

Und Amelia schien nicht die leisesten Vorbehalte gegen ihren zunehmend eindeutiger werdenden Austausch zu haben. Kühn begegnete ihre Zunge der seinen, und in ihrem Kuss lag ein solch ehrliches und typisch weibliches Begehren, das Luc auf irritierende Art und Weise nur noch mehr verlockte. Sie war verführerisch. Ganz so, als ob nur sie allein ihm etwas schenken könnte, das er noch niemals zuvor hatte spüren dürfen - obgleich er natürlich keineswegs unerfahren war.

Auch Amelia schien dies zu wissen, und zwar mit einer solchen Sicherheit, dass keinerlei Raum mehr blieb für etwaige Zweifel.

Geschmeidig und überaus lebendig lag sie in seinen Armen, und sie war alles andere als passiv, doch ihr Mangel an Erfahrung begrenzte ihre Möglichkeiten, das weitere Geschehen in diesem abgeschiedenen Salon zu bestimmen. Sie gab sich der Wonne ihres Kusses uneingeschränkt hin. Luc fühlte es in ihren Lippen, in der Art, wie sie seinen Kuss erwiderte. Doch offenbar genoss sie seine Zärtlichkeiten nicht nur, sondern sie wollte ihn mit ihrer hemmungslosen Hingabe auch noch zu mehr verlocken - das hatte sie schließlich schon einmal versucht.

Und mit genau diesem Schachzug hatte Luc auch durchaus gerechnet. Genau hier verlief also die Grenze, die er auf keinen Fall überschreiten würde. Denn dieses Mal war er auf ihr bestimmendes, draufgängerisches Wesen vorbereitet und darauf, wie sie versuchen würde, ihn Hals über Kopf in eine Situation hineinzulocken, die er höchstwahrscheinlich nicht mehr würde kontrollieren können - sein scharfer Instinkt warnte ihn eindringlich. Denn diese Frau würde schon bald seine Ehefrau sein. Fest hatten sich dieser Gedanke und sämtliche damit einhergehenden Vorstellungen und Erwartungen in sein Bewusstsein eingeprägt; und nichts, noch nicht einmal das heiße Verlangen, das Amelia in ihm zu wecken wusste, konnte ihn davon ablenken.

Zumal sein Instinkt ihm unablässig leise zuflüsterte, dass er Amelia nicht gewachsen wäre - trotz seiner Erfahrung mit all den Frauen, die er bereits in seinem Leben gekannt hatte. Denn auf diesem speziellen Feld, auf dem sie sich gerade befanden, war Luc noch genauso unerfahren wie Amelia. Im Übrigen ging er auch noch ein wesentlich größeres Risiko ein als sie; hatte mehr zu verlieren als sie.

Amelia dagegen dachte nicht im Entferntesten daran, wer von ihnen etwas zu verlieren hätte und wer womöglich etwas gewinnen könnte, während sie Lucs Kuss voller Leidenschaft erwiderte. Sie hatte diesen einen Kuss nur deshalb von ihm verlangt, weil sie wusste, welch großen Genuss ein solcher Kuss bereiten konnte. Und weil sie gerne noch etwas mehr über dieses köstliche Kribbeln, dieses wundervolle Lustgefühl lernen wollte, das Luc so mühelos in ihr hervorzuzaubern vermochte; dieses Gefühl, das wie flüssige Glut durch ihren Körper strömte und sie bis in die Zehenspitzen hinein wärmte.

Und ihr zweiter gemeinsamer Kuss kam ihren geheimen Erwartungen auch tatsächlich schon sehr nahe. Luc sträubte sich nicht mehr gegen ihre enge Umarmung, und Amelia genoss das sinnliche Vergnügen, Lucs harten, muskulösen Körper so dicht an dem ihren zu spüren; sie schwelgte geradezu in dem Gefühl, wie er sich gegen ihre Brüste und die Wölbung ihrer Oberschenkel presste, wie seine Arme ihre Schultern und ihren Rücken umspannten. Und sie war drauf und dran, sich noch enger an ihn zu drücken.

Luc hatte gar nicht erst versucht, es bei einer einzigen flüchtigen, kleinen Liebkosung zu belassen - so wie Amelia es ursprünglich bereits vermutet hatte. Also hegte sie nun auch nicht den geringsten Zweifel daran, dass er ihren Kuss mindestens genauso genoss wie sie; jene Fortsetzung der Zärtlichkeiten, die er ihr schenkte und die sie freimütig erwiderte.

Was würde nun wohl als Nächstes kommen? Wie mochte der nächste Schritt aussehen? Zaghaft schlich sich diese Frage in Amelias Hinterkopf, bis sie schließlich ganz konkret darüber nachdachte. Dann holte sie im Geiste einmal tief Luft, küsste Luc noch stürmischer, lenkte ihn auf diese Weise gerade so lange ab, dass sie sich noch enger an ihn schmiegen konnte, dass sie geradezu in ihn hineinsank und ihre Brüste sich flach gegen seinen Oberkörper pressten.

Und endlich, durch diesen intimen Druck, nahm der Schmerz, der in ihren Brüsten geschwelt hatte, wieder etwas ab. Amelia bewegte sich leicht hin und her, um die Qual noch weiter zu lindern. Instinktiv hatte Luc die Arme noch enger um Amelia geschlungen, hatte ihre schlanke Gestalt gestützt. Und als sich die Art ihres Kusses änderte, küsste er sie noch umso leidenschaftlicher, mit noch mehr Verlangen - und dem Versprechen, dass auf die heiße Glut schon bald ein wahres Feuer folgen würde. Abermals hatte Amelia das Gefühl, als raubte er ihr den letzten Atem, fühlte, wie die Anspannung in seinen Armen plötzlich nachließ, wie seine Hände über sie glitten... Und mit einem Mal wusste sie, wie der nächste Schritt aussehen würde. Jener Schritt, den sie sich so sehr von ihm wünschte - den sie brauchte.

Luc hob die Hände, seine Handflächen streiften von ihren Hüften hinauf zu ihrer Taille, dann noch ein Stückchen höher, bis sie sanft über ihre Seiten glitten...

Dort hielten sie dann plötzlich inne.

Und wanderten in der entgegengesetzten Richtung wieder an ihr hinab.

Noch ehe Amelia einen klaren Gedanken fassen konnte, nahm Luc abermals ihren Mund - kurz und unerbittlich -, ehe er den Kuss schließlich behutsam beendete und den Kopf hob. Dann schob er Amelia ein kleines Stückchen von sich fort, ließ seine Hände weiterhin auf ihren Hüften liegen und hielt sie fest.

Er erwiderte Amelias Blick aus großen, überrascht blinzelnden Augen, sah sie einen Moment lang forschend an. Dann zog er mit dieser für ihn so typischen, leicht arroganten Geste eine Augenbraue hoch und fragte: »Genug?«

Amelia konnte noch immer kaum atmen. In ihrem Kopf schien sich alles zu drehen, und ihr Puls raste. Doch dann begriff sie, was sie da gerade in seinem Gesicht hatte aufblitzen sehen - jene gewisse Gnadenlosigkeit, die ihr an Luc keineswegs neu war. Sie zwang sich zu einem leichten Lächeln, strich ihm kühn mit der Fingerspitze über die Wange, trat einen Schritt von ihm fort und antwortete: »Fürs Erste.«

Damit wandte sie sich zur Tür um. »Aber jetzt sollten wir wohl besser wieder zurückkehren, findest du nicht auch?«

Luc war durchaus der gleichen Meinung, doch es dauerte einen kleinen Moment, bis sein Körper ihm wieder gehorchte. Er fühlte sich wie beflügelt und in seiner Wirkung auf Amelia bestätigt. Er hatte es gewagt, einen außerordentlich schmalen Grat zu beschreiten. Und Amelia hatte eindeutig versucht, ihn von diesem Grat hinabzuzerren und auf ihre Seite zu locken. Dennoch war er es, der den Sieg davongetragen hatte. Und dies war wahrhaftig keine geringe Leistung gewesen, wenn man bedachte, wie groß die Versuchung war. Eilig trat Luc neben Amelia, fischte den Schlüssel aus seiner Tasche, entriegelte die Tür und hielt sie ihr weit auf.

Mit hocherhobenem Kopf und einem befriedigten Lächeln auf den Lippen rauschte seine Verführerin an ihm vorbei. Bewundernd ließ er den Blick über ihre biegsame Gestalt schweifen, dann folgte er ihr, schloss die Tür hinter sich und machte sich im Geiste eine kurze Notiz, dass er unbedingt eine Nachricht an Celestine schicken musste, damit diese Amelia noch mehr Kleider in dieser Art schenkte. Denn eine Ehe war immerhin eine recht langwierige Angelegenheit - es war also nur logisch, wenn Luc schon früh Sorge dafür trug, dass er in dieser Zeit auch auf seine Kosten kam.


Tief verborgen in den Gärten, ganz unten am Flussufer, schlich eine junge Dame zwischen den Bäumen hindurch. Schließlich erreichte sie die hohe Steinmauer, die den Flusslauf begrenzte, und folgte ihr bis zur äußersten Grenze des Anwesens.

Dort, verborgen unter einem hohen Baum, wartete ein Gentleman - ein tiefschwarzer Schatten in dem ohnehin nur sehr schwachen Licht. Als die junge Frau auf ihn zutrat, drehte er sich zu ihr um.

»Und? Habt Ihr sie?«

»Ja.« Sie klang ein wenig außer Atem, hob hastig ihr ungewöhnlich großes Retikül und öffnete es. »Ich hab es sogar geschafft, beide Stücke zu beschaffen.«

Die Stücke, von denen sie sprach, glitzerten verführerisch, als sie sie dem Gentleman reichte. »Und Ihr schickt alles, was Ihr aus ihrem Verkauf herausschlagen könnt, sofort an Edward, versprochen?«

Er antwortete nicht sogleich, sondern drehte die beiden Gegenstände zunächst ein paarmal prüfend in den Händen. Dann hielt er erst den einen in das unbeständige Licht empor, das durch die Blätter drang - ein reich verziertes goldenes Tintenfass. Und besah sich schließlich auch noch den anderen - einen aus Gold und Kristall gefertigten Parfumflakon.

»Nun ja, ein paar Guineas werden sie schon einbringen. Aber Edward wird wesentlich mehr brauchen.«

»Mehr?« Die junge Dame ließ ihre Tasche sinken und starrte ihn an. »Aber… das waren die einzigen beiden Stücke, die Edward erwähnt hatte...«

»Da möchte ich drum wetten. Ach, der arme Edward...« Der Gentleman ließ die beiden kleinen Kunstwerke in die ausladenden Taschen seines Kutschrocks gleiten und seufzte. »Ich fürchte, er versucht, sehr tapfer zu sein. Aber Ihr könnt Euch ja sicherlich ausmalen, wie er sich nun gerade fühlen muss. Verstoßen von seiner eigenen Familie, bei Nacht und Nebel verbannt in ein fremdes, erbärmliches Land, wo er jetzt langsam verhungern muss. Von allen vergessen und ohne einen einzigen Freund in der Welt …«

»Oh, nein! Ich hab ihn ganz bestimmt nicht vergessen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass... ich bin mir sicher...« Die junge Dame verstummte abrupt. Eindringlich sah sie in dem trüben Licht zu dem Gentleman empor.

Der aber zuckte nur mit den Schultern. »Ich tu alles, was in meiner Macht steht, aber ich bewege mich nun einmal nicht in Euren Kreisen.« Damit ließ er den Blick zunächst zu jener Stelle im Garten schweifen, wo die kleine Kette aus bunten Lampions begann, und schließlich noch ein Stückchen weiter, dorthin, wo sich auf der Terrasse lachend und tanzend die elegante Londoner Gesellschaft vergnügte.

Die junge Dame straffte die Schultern. »Wenn ich mehr tun könnte... aber ich hab Euch ja schon mein ganzes Geld gegeben. Und so viele wertvolle Dinge gibt es in Ashford House nun auch wieder nicht. Zumindest nicht, was die Stücke betrifft, die von Rechts wegen Edward gehören könnten.«

Der Gentleman schwieg eine Weile und starrte unablässig zu den tanzenden Paaren hinüber. Dann sah er wieder sein Gegenüber an. »Also, wenn Euch wirklich etwas daran liegt, ihm zu helfen - und ich bin mir sicher, Edward wäre Euch dafür unendlich dankbar -, dann lassen sich doch sicherlich noch eine Menge mehr Gegenstände wie diese hier beschaffen. Ihr könntet Edward damit wirklich helfen. Und ich glaube fest daran, dass die«, damit deutete er mit dem Kopf in Richtung der weit entfernten Menge, »es gar nicht merken würden, wenn plötzlich ein paar Sachen fehlen.«

»Oh, aber ich kann doch nicht...« Die junge Dame starrte ihn entgeistert an.

Der Gentleman jedoch zuckte nur abermals gleichmütig die Achseln. »Tja, wenn die Dinge so liegen, dann sage ich Edward einfach, dass er selbst zusehen muss, wie er zurechtkommt, und dass er von hier bestimmt keine Hilfe mehr zu erwarten hat. Ganz gleich, in was für einem schäbigen, rattenverseuchten Loch er nun auch hausen muss, und ganz gleich, wie viele Reichtümer seine Familie und deren Freunde auch besitzen mögen. Am besten, er lässt sofort sämtliche Hoffnungen fahren -«

»Nein! Wartet.« Nach einer kurzen Pause seufzte die junge Dame und versicherte ihrem Gesprächspartner mit leisem Flüstern: »Ich werde es versuchen. Sollte ich also irgendwo noch eine Kleinigkeit finden, die man verkaufen könnte -«

»Sammelt einfach alles ein, und bringt es zu mir.« Ein letztes Mal sah der Gentleman zu dem hell erleuchteten Haus hinüber. »Ich halte Euch auf dem Laufenden, wo wir uns das nächste Mal treffen können.«

Damit wandte er sich ab und wollte gehen - doch die junge Dame streckte rasch die Hand aus und hielt ihn noch einen Augenblick fest. »Ihr schickt Edward das Geld doch hoffentlich sofort - und Ihr sagt ihm auch, dass zumindest ich noch immer an ihn denke, ja?«

Der Gentleman musterte ihren ernsten Gesichtsausdruck, dann nickte er. »Das wird ihm eine Menge bedeuten, da bin ich mir sicher.«

Mit einer knappen Verbeugung drehte er sich um und verschwand zwischen den Bäumen. Die junge Dame seufzte, schaute zu der hell erleuchteten Terrasse hinauf, raffte ihre Röcke und eilte zurück zum Haus.


»Ich bitte um Entschuldigung, Ma’am, aber Lord Calverton, die Misses Ashford und Miss Ffolliot bitten darum, empfangen zu werden.«

Louise schaute auf. Amelia blinzelte verwundert. Sie hatten es sich gerade im Morgensalon im hinteren Teil des Hauses gemütlich gemacht; Louise las ein Buch, während Amelia auf der Chaiselongue lag und durch die neueste Ausgabe von La Belle Assemblée blätterte.

Louise saß in einem bequemen Armlehnensessel und zuckte mit den Schultern. »Dann führt sie bitte hier herein, Colthorpe.« Als der Butler sich verbeugte und kurz darauf zurückzog, lächelte Louise Amelia munter an. »Nun, da es die Ashfords sind, dürfen wir wohl ganz unverkrampft einfach sitzen bleiben.«

Amelia nickte gedankenverloren, den Blick starr auf die Tür gerichtet. Luc hatte gar nichts davon gesagt, dass er ihr heute Morgen einen Besuch abstatten wollte. Nachdem sie am gestrigen Abend in Lady Carstairs Empfangssaal zurückgekehrt waren, war er nicht mehr von ihrer Seite gewichen. Natürlich hatte er sich stets ein wenig im Hintergrund gehalten, aber er war in jedem Fall immer da gewesen, bis das Fest sich schließlich seinem Ende entgegenneigte. Anschließend hatten die Ashfords Amelia vor dem Haus ihrer Eltern abgesetzt. Luc hatte sie noch die Treppe hinaufbegleitet, sich mit seiner üblichen, elegant doch auch irgendwie leicht gelangweilt wirkenden Art und Weise vor ihr verbeugt - und nicht ein einziges Wort über ein etwaiges nächstes Treffen verloren.

Die Salontür wurde geöffnet. Fröhlich kamen Emily, Anne und Fiona hereingeeilt. Amelia schloss ihre Zeitschrift und legte sie beiseite. Schließlich kam auch Luc hereingeschlendert. Er trug einen dunkelblauen Gehrock, Reithosen und Kürassierstiefel und sah wie immer leicht mysteriös und geradezu gefährlich attraktiv aus. Überaus höflich begrüßten die Mädchen zuerst Amelias Mutter, während Amelia versuchte, Lucs Aufmerksamkeit zu gewinnen. Doch außer einem raschen Blick gleich beim Eintreten in den Salon schaute er nicht in ihre Richtung.

Dann beugte er sich tief über Louises Hand und begrüßte sie mit der für ihn so typischen lässigen Galanterie. Aufmerksam und einladend deutete diese auf die Chaiselongue. Luc verstand diese Geste vollkommen falsch - und zwar mit voller Absicht, dessen war Amelia sich ganz sicher -, und verbeugte sich stattdessen vor Louises Tochter. »Amelia.«

Sie erwiderte sein Nicken, beobachtete dann amüsiert, wie Luc sich zu dem Lehnsessel neben ihrer Mutter umwandte und sich umständlich darauf niederließ. Die drei Mädchen stürmten unterdessen zu Amelia hinüber und gruppierten sich eilig um sie herum. Luc neigte sich leicht zu Louise hinüber, die Mädchen redeten lebhaft auf Amelia ein.

»Draußen ist solch wundervolles Wetter.«

»Und die Temperatur ist sehr angenehm. Nur eine ganz leichte Brise.«

»Darum wollten wir ein bisschen durch den Park spazieren, aber Luc hatte vorgeschlagen -«

Was Amelia viel dringender interessierte, war, was Luc in diesem Augenblick offenbar ihrer Mutter vorschlug.

Mit freundlichem Lächeln betrachtete Louise den Anblick ihrer Tochter, umringt von den drei jüngeren Mädchen, die allesamt aufgeregt durcheinanderplapperten.... dann wandte sie sich wieder zu Luc um und hob fragend die Brauen. »Dann verstehe ich das also richtig, dass es Euch keine allzu große Last wäre, abends nicht nur ein Auge auf Eure Schwestern und Miss Ffolliot zu haben, sondern auch noch ein wenig auf Amelia Acht zu geben?«

Luc blickte Louise geradeheraus an. Schließlich erwiderte er kurz und knapp: »Nein.« Sicherlich, auf Amelia aufzupassen wäre zweifellos mit gewissen Strapazen verbunden - aber er würde die Herausforderung schon meistern. »Obgleich Eure Tochter natürlich eine, nun, sagen wir, etwas eigensinnige Art an sich hat und die bedauerliche Neigung, allein ihrer eigenen Nase zu folgen. Aber das ist Euch ja zweifellos bewusst.«

»Selbstredend.« Neugierig blickte Louise Luc an.

Dieser schaute wiederum gelassen zu jener kleinen Sitzinsel hinüber, wo Amelia gerade den flehentlichen Bitten von Fiona und seinen Schwestern lauschte. »Amelia versteht sich sehr gut mit meinen Schwestern - und mit meiner Mutter natürlich auch. Dadurch dürfte die Sache etwas leichter werden.«

»Ach, wirklich?« Die leise Belustigung in Louises Stimme bestätigte Luc darin, dass diese durchaus begriffen hatte, welches Ziel der junge Vicomte bei ihrer Tochter neuerdings verfolgte. Sie wusste also genau, auf welche »Sache« Luc sich bezog.

»Ich hatte gehofft«, damit wandte Luc sich wieder Louise zu, »dass mein Vorschlag auf Euer Wohlwollen treffen würde.« Er hielt einen kurzen Moment inne, dann fuhr er in regelrecht schmeichelndem Tonfall fort: »Ich dachte da im Übrigen an eine kleine Landpartie nach Richmond. Denn vorausgesetzt, das Wetter spielt mit, wäre das doch eine willkommene Abwechslung. Wir nehmen natürlich die offene Kutsche.«

Er wartete darauf, wie Louise seinen Vorschlag beurteilen würde. Einen unangenehm langen Moment blickte sie ihn lediglich schweigend, doch eindringlich an. Dann aber lächelte sie und nickte. »Na schön, dann also Richmond. Wenn Ihr meint, dass das der Sache dienlich wäre.«

Diese letzte Bemerkung ließ Luc im Geiste verunsichert die Stirn runzeln... gleich darauf wandte Louise sich um und sprach mit den Mädchen, die Amelia ihren Plan für den Tag natürlich schon erläutert hatten. Es bot sich Luc also keine Chance mehr, Louise noch einmal um eine etwas genauere Erklärung ihrer letzten Bemerkung zu bitten. Und er war sich auch gar nicht so sicher, ob er diese Erklärung überhaupt hören wollte.

Mit einem abschließenden Nicken bedeutete Louise den Mädchen, dass sie mit Lucs Idee einer kleinen Landpartie einverstanden war. Amelia stand auf, warf einen scharfen Blick in Lucs Richtung und zischte: »Tja, dann muss ich mich jetzt wohl umziehen.«

Höflich erhob auch Luc sich. »Wir werden warten.«

Mit einigen raschen Schritten war er einmal quer durch den Salon geeilt, öffnete die Tür und hielt sie Amelia auf. Unter dem Türbogen blieb sie einen kleinen Augenblick stehen, sah Luc an und musterte argwöhnisch sein Gesicht. Er aber lächelte nur ganz unbefangen. Die anderen konnten Luc und Amelia von ihrem Sitzplatz aus nicht sehen, und frech schnippte Luc einmal gegen Amelias Wange. »Beeil dich.« Nach einer winzig kleinen Pause fügte er noch hinzu: »Und ich verspreche dir, du wirst es genießen.«

Wieder blickte sie ihm forschend in die Augen. Dann reckte sie hochmütig das Kinn empor und verschwand.

Zehn Minuten später kehrte Amelia zurück. Sie hatte ein weißes Musselinkleid ausgesucht, das vom Kragen bis zum Saum hinab mit kirschroten kleinen Blütenzweigen bestickt war. Drei duftige Volants umschlossen den Rocksaum, das Oberteil schmiegte sich eng an ihren Körper an und mündete in kleine Puffärmel, die etwas oberhalb ihrer Ellenbogen endeten. Durch ihren goldgelockten Schopf hatte sie ein leuchtend rotes Seidenband gewunden und ein etwas breiteres Band von derselben Schattierung um den Griff ihres Sonnenschirms geknotet, den sie fest unter ihren Arm geklemmt trug. Im Stillen stieß Luc ein leises Dankgebet aus, dass Amelia sich nicht allzu viel aus Hauben zu machen schien; und er würde schon dafür sorgen, dass sie, wenn sie zusammen spazieren gingen, auch den Sonnenschirm geschlossen hielt.

Amelia streifte gerade ein Paar roter Kalbslederhandschuhe über, und unter ihrem Rocksaum blitzten zierliche Stiefeletten in der gleichen Farbe hervor. Sie sah köstlich aus - geradezu zum Anbeißen.

Luc erhob sich. Die beiden jüngeren Mädchen waren zum Fenster hinübergeschlendert und betrachteten die kleinen Intarsien, die in die breite Fensterbank eingelassen waren. Ein einziger Blick genügte, und die beiden kehrten zurück. Luc wandte sich unterdessen zu Emily um, die sich mit Louise unterhielt. »Wir sollten jetzt besser aufbrechen.«

Die kleine Gruppe verabschiedete sich noch rasch von Amelias Mutter, bis Luc ungeduldig winkte, hinter seinen Schützlingen die Tür schloss und ihnen schließlich in die Halle folgte. Die Mädchen eilten aufgeregt voraus und bedachten Colthorpe, der ihnen die Haustür öffnete, mit einem strahlenden Lächeln. Unterdessen streckte Luc den Arm aus, ergriff Amelias Hand und legte diese auf seinen Arm. Sie schaute zu ihm auf; fest blickte Luc ihr in die Augen. »Du wirst die Fahrt genießen.«

Skeptisch hob Amelia eine Braue. »Du meinst, genauso wie die Stunden in Richmond, während wir den dreien da hinterhertraben dürfen?«

Luc lächelte und schaute seinen Schwestern und deren Freundin nach. »Richtig, denn der Spaziergang wird dir noch umso mehr Spaß machen. Garantiert.«

Dieses Mal war er derjenige, der bestimmte, wo wer in der Kutsche Platz nahm. Die drei Mädchen setzten sich gehorsam auf die Bank hinter dem Kutschbock, Luc und Amelia genau gegenüber. Als der Wagen anzog, warf Amelia Luc rasch einen misstrauischen Blick zu. Dann öffnete sie ihren Sonnenschirm und hielt ihn so, dass er ihr Gesicht beschattete.

Die Mädchen unterhielten sich angeregt, sahen sich um und kommentierten die Landschaft, während die Kutsche sich gen Süden wandte, bei Chelsea den Fluss überquerte und dann in westliche Richtung durch kleine Dörfer und Weiler rumpelte. Obwohl die Mädchen nur einen knappen halben Meter von ihr entfernt saßen - untadelig eine neben der anderen aufgereiht, so, wie auch Amelia und Luc sittsam ein wenig Platz zwischen sich gelassen hatten -, hatte Amelia dennoch nicht das Gefühl, ihrer Unterhaltung unbedingt lauschen zu müssen.

Luc sagte die ganze Zeit über nichts, sondern hatte sich einfach nur elegant gegen das Rückenpolster gelehnt und sah sich gelassen um. Im Übrigen musste er zwangsläufig einen gewissen Abstand zwischen sich und Amelia lassen, da er sonst mit ihrem Sonnenschirm ins Gehege gekommen wäre. Um den Mangel an Nähe durch ein Mehr an Bequemlichkeit auszugleichen, hatte er seine Arme weit ausgestreckt - der eine lag über das Oberpolster der Rückenlehne gebreitet, den anderen hatte er auf der Seitenwand der Kutsche platziert.

Amelia fragte sich unterdessen, was Luc eigentlich vorhatte, doch während ein Kilometer nach dem anderen an ihr vorbeizuschaukeln schien und noch immer nichts Beunruhigendes passiert war, entspannte sich schließlich auch Amelia ein wenig. Und erst in diesem Moment, als sie wieder etwas gelassener war, wurde ihr überhaupt bewusst, wie verkrampft sie die ganze Zeit über gewesen war - wie hartnäckig, fast schon verbissen sie die vergangenen Monate über ihren Plan verfolgt hatte. Jenen Plan, der die eigentliche Ursache war, weshalb sie nun hier in dieser Kutsche saß - hier, wo sie hingehörte.

Mit dem passenden Gentleman an ihrer Seite.

Gerade als ihr dieser Gedanke so recht bewusst wurde und ein kleines Lächeln über ihre Lippen spielte, fuhr Luc mit den Fingerspitzen sanft durch die weichen Ringellöckchen in ihrem Nacken. Amelia erstarrte geradezu und konnte nur mit Mühe die Erregung verbergen, die sie bei seiner Berührung empfand. Wie gewöhnlich, so trug sie ihr Haar auch an diesem Tag in einem kleinen Knoten hoch oben am Hinterkopf. Doch da es von Natur aus gelockt war, entschlüpften stets ein paar federleichte Strähnchen, die auf Berührungen äußerst sensibel reagierten.

Amelia wandte den Kopf zu Luc um, wollte ihn mit einem strafenden Stirnrunzeln anblicken, doch der Ausdruck in seinen Augen verstörte sie. Eindringlich sah er sie an, beobachtete sie, während er abermals die Fingerspitzen hob und Amelia zart liebkoste.

»Worüber lächelst du?«

In seinen dunklen Augen lag ein feines Glitzern, doch er sah sie keineswegs neckend an, nein, sondern es interessierte ihn wirklich, woran Amelia gerade gedacht hatte. Sie schaute wieder nach vorn, wollte gleichmütig mit den Schultern zucken, aber... sie wollte nicht, dass Luc seine Hand wieder wegzöge. »Ach, ich habe nur gerade daran gedacht...« Sie deutete auf die romantische Landschaft, durch die sie gerade fuhren. »Es ist schon Jahre her, seit ich zuletzt einen Ausflug nach Richmond gemacht habe. Ich hatte schon ganz vergessen, wie entspannend die Fahrt sein kann.«

Damit wandte sie sich wieder zu ihm um. Und abermals beschlich sie das Gefühl, als ob dieser geheimnisvolle Blick, mit dem Luc sie ansah, sie förmlich fesselte.

»Du gehst zu oft aus, unternimmst zu viel.« Er sah ihr unverwandt in die Augen, und die Finger in ihrem Nacken packten sie ein klein wenig fester. »Von jetzt an brauchst du das nicht mehr.«

Amelia musste unwillkürlich lächeln. Es war wohl ein Naturgesetz, dass Männer grundsätzlich dachten, Mädchen gingen nur aus, um den Herren der Schöpfung aufzulauern. »Aber die Ballsaison wird auch weiterhin stattfinden, und ich werde auch weiterhin hier und da meine Aufwartungen machen müssen... das ist mehr oder weniger meine Pflicht.«

Die drei Mädchen waren vollkommen in ihre eigene Unterhaltung vertieft. Luc und Amelia konnten also ganz ungestört miteinander sprechen.

»Aber nur bis zu einem gewissen Grad.« Er hielt einen Moment inne, dann fügte er mit nüchternem Tonfall hinzu: »Ich denke, in den nächsten Monaten wirst du noch ganz andere Möglichkeiten entdecken, um dir die Zeit zu vertreiben. Und die werden sogar noch wesentlich mehr nach deinem Geschmack sein als diese ständige Hüpferei durch die Ballsäle dieser Stadt.«

Amelia hegte nicht den kleinsten Zweifel daran, worauf Luc anspielte, denn in seinen Augen blitzte es verräterisch. Sie erwiderte seinen Blick, hob eine Braue und fragte: »Nenn mir doch bitte mal ein Beispiel.«

Die Art, wie er sie ansah, war Antwort genug: Das, meine Liebe, behalte ich vorerst noch für mich. Aber du wirst es schon noch herausfinden.

»Oh, seht doch mal! Ist das nicht Richmond?«

Luc und Amelia drehten sich um und folgten mit den Blicken der Richtung, in die Fionas Finger zeigte. Im Stillen stieß Amelia einen Fluch aus. Sie schaute zu Luc hinüber, doch der zog seinen Arm von der Rückenlehne und wandte sich von ihr ab. Der reizvolle kleine Augenblick war vorüber.

Oder zumindest ließ Luc sie vorerst in diesem Glauben. Dann, als sie unter den weit ausladenden Eichen und Buchen hinter den Mädchen herschlenderten, begriff Amelia, dass Luc mit ihrer gemeinsamen Fahrt nach Richmond noch ein ganz anderes Ziel verfolgte, als bloß seinen Schwestern und deren Freundin einen netten Tag zu bescheren - und dieses geheime Vorhaben, das Luc geplant hatte, betraf nur sie, Amelia, und ihn.

Sie standen unter einer großen Eiche, die sie von den Blicken der anderen abschirmte - die Mädchen hatten den Schatten, den dieser Baum auf die Erde warf, ohnehin schon wieder verlassen -, als Luc Amelia anhielt, sie dann mit einem Ruck zu sich herumriss und sie küsste. Der Kuss war stürmisch, hart und unmissverständlich.

Dann ließ er sie wieder los, zog abermals ihren Arm unter dem seinen hindurch und schlenderte unbefangen weiter, so als ob überhaupt nichts gewesen wäre.

Amelia starrte ihn an. »Wie kommst du dazu, mich hier einfach so zu küssen?«

Er blickte sie an, und unter seinen dichten Wimpern schien es gefährlich zu glitzern. Gemächlich traten sie hinaus in den Sonnenschein. »Ach, nur so. Ich dachte nicht, dass ich dafür irgendeinen speziellen Anlass bräuchte.«

Sie blinzelte, hielt den Blick aber starr nach vorn gerichtet. Nein, natürlich brauchte es keinen speziellen Anlass, damit er sie küssen durfte. Er durfte sie jederzeit küssen... und auch sonst bedurfte es keiner besonderen Erlaubnis.

Luc hatte eine sehr lebhafte Fantasie, und so verstrich der Tag für Amelia in einer Art geheimem Spiel, an dem nur sie beide teilnahmen - und das sie auf herrlich ausgelassene und zugleich aufregende Art und Weise alles andere um sich herum vollkommen vergessen ließ. Seine Neckereien begannen damit, dass seine langen Finger nach der kleinen Lücke am Verschluss ihrer Handschuhe tasteten. Dann hatte er das zarte Stückchen Haut, das er dort von Amelia erhaschen konnte, gestreichelt und mit Liebkosungen geneckt, die so unschuldig schienen, dass Amelia zuerst gar nicht so recht wusste, warum ihr diese leichten Berührungen gleichzeitig so verboten vorkamen. Und obgleich sie verwirrt war, sah sie noch keinen Grund, ihm diese verliebten Gesten verbieten zu müssen. Stattdessen überlegte sie bereits fieberhaft, was er wohl als Nächstes vorhatte - welche Stelle ihrer empfindsamen Haut würde er als Nächstes berühren, und vor allem, wie? Vielleicht mit einem flüchtigen kleinen Hauch, einer Berührung, einem zarten Kuss …

Später, nachdem sie in der Gaststätte Star and Garter einen kleinen Mittagsimbiss eingenommen hatten und die Nachmittagssonne mit tiefgoldenem Schimmer ihre Strahlen geradewegs den Hügel hinabzuschicken schien, entschied Amelia, dass sie bei Lucs nächster Liebkosung anstandshalber wohl doch einmal würde protestieren müssen. Und es dauerte auch tatsächlich nicht lange, bis er mit der Hand leicht und scheinbar nur ganz zufällig über ihre Hüfte und die Rundung ihres Pos strich - beide waren nur von einer dünnen Schicht Musselin und von Amelias seidenem Unterhemd bedeckt. Amelia errötete, denn die Berührung war schon sehr gewagt und unmissverständlich. Aber wenigstens, und dessen war sie sich absolut sicher, konnte niemand sonst Lucs Geste sehen...

Schließlich, als sie gerade unter einem strategisch sehr günstig gewachsenen Baum durchgingen, wollte Amelia die Gelegenheit beim Schopfe packen und Luc eine leise Abfuhr erteilen. Sie wandte sich zu ihm um, öffnete den Mund... und schon einen winzigen Augenblick später lag sie in seinen Armen und genoss einen leidenschaftlichen Kuss. Luc brachte alle ihre Gedanken zum Stillstand, und als er sie schließlich wieder losließ, hatte sie völlig vergessen, was sie eigentlich hatte sagen wollen.

Die Lippen zu einem fast schon teuflischen Lächeln verzogen, zupfte er zart an einer ihrer Locken und schob Amelia dann - die Hand um ihren Po geschlossen - in Richtung der wartenden Kutsche.

Den ganzen Nachhauseweg über hielt Amelia sich schamhaft ihren Sonnenschirm vor das Gesicht. Lucs Schwestern sollten auf keinen Fall sehen, was für eine verräterische Röte ihre Wangen angenommen hatten. Der Mann hatte es aber auch wirklich faustdick hinter den Ohren! Und seine Finger lagen nun auch nicht mehr bloß leicht in ihrem Nacken, sondern er hatte die Hand schwer und noch deutlich besitzergreifender als vorhin in jene flache Einbuchtung gelegt, wo ihre Schulter auf den Halsansatz traf.

Die erstaunlichste Entdeckung für Amelia an diesem Tage aber war, dass es ihr gefiel, wenn seine Hand dort ruhte. Sie mochte das Gefühl seiner Berührung, das Gewicht seiner Hand, das Aufeinandertreffen von Haut auf Haut.

Und diese Erkenntnis ließ sie verstummen. Die ganze Fahrt nach Hause über war sie vollkommen in Gedanken versunken.