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An diesem Abend besuchten Amelia und ihre Mutter die musikalischen Darbietungen in Lady Hogarths Räumlichkeiten. Musikabende rangierten ganz oben auf jener Liste von gesellschaftlichen Ereignissen, die Luc am meisten hasste. Folglich traf er sich, statt sogleich zu Lady Hogarth zu fahren, erst einmal mit einigen Freunden zum Abendessen. Anschließend schlenderte er hinüber zu seinem Stammclub, Watier’s.

Eine Stunde später und sich innerlich vor Abscheu regelrecht windend, reichte er Lady Hogarths Butler seinen Spazierstock. Der Mann verbeugte sich und deutete schweigend den langen Korridor hinab, der in das Musikzimmer führte. Doch der Fingerzeig war denkbar überflüssig, denn aus genau dieser Richtung ertönte gerade ein in den Ohren schmerzendes, scheinbar nur unter großen Qualen der Kehle entrungenes Gejaule, sodass Luc sich auch von allein denken konnte, wo die musikalischen Darbietungen stattfanden. Er beherrschte sich gerade noch so weit, nicht das Gesicht zu einer Grimasse zu verziehen, und ging dann dem Gekreische entgegen.

Unter dem bogenförmigen Türsturz blieb Luc stehen und ließ erst einmal einen verstohlenen Blick über die dortige Versammlung schweifen. Es wimmelte geradezu von hochrangigen Damen - die meisten von ihnen aber gehörten bereits zu den etwas gesetzteren Damen, einige waren in Amelias Altersklasse, und nur sehr wenige waren noch jünger als seine Verlobte. Dies war schließlich nicht die einzige Veranstaltung an diesem Abend; es fanden auch noch Bälle statt. Seine Mutter und seine Schwestern zum Beispiel hatten sich lieber für zwei der Bälle entschieden. Bei Lady Hogarths abendlichem Unterhaltungsprogramm versammelten sich unterdessen all jene, die sich selbst als Musikliebhaber bezeichneten oder - wie im Falle von Amelia und Louise - zumindest mit einem dieser Menschen verwandt waren.

Es waren nur sehr wenige Gentlemen unter den Gästen. Mit verbissener Miene akzeptierte Luc, dass er aus der abendlichen Gemeinschaft herausstach wie ein bunter Hund. Er wartete, bis der Sopran so richtig in Schwung gekommen war, dann schritt er scheinbar vollkommen gelassen zu Amelia hinüber, die auf einem der Stühle an der Seitenwand des Musikzimmers Platz genommen hatte.

Als sie ihn sah, blinzelte sie zunächst verwundert, schaffte es aber immerhin, ihn nicht mit offenem Mund anzustarren. Louise, die neben ihrer Tochter saß, wandte sich um, um zu sehen, was Amelias Aufmerksamkeit abgelenkt hatte, und kaum, dass sie Luc erblickte, kniff sie erbost die Augen zusammen.

Denn Luc hatte sich an diesem Nachmittag leider ein klitzeklein wenig verspätet - genauer gesagt, hatte er ihre Tochter sogar erst eine volle Stunde später wieder zu Hause abgeliefert, als er ursprünglich angekündigt hatte. Und kaum, dass Amelia von der Haustür aus sogleich in ihr Zimmer entschwunden war, hatte Luc auch schon wieder die Heimfahrt angetreten - er war noch nicht einmal so lange geblieben, um wenigstens noch ein paar höfliche Worte mit seiner zukünftigen Schwiegermutter zu wechseln. Der Gesichtsausdruck, mit dem Louise Luc nun musterte, ließ erahnen, dass sie sehr wohl wusste, wie sie die nachmittäglichen Ereignisse zu deuten hatte.

Mit einer eleganten Verbeugung - zunächst vor Louise, dann vor Amelia - trat Luc in die schmale Lücke neben Amelias Stuhl und legte die Hand auf dessen Rückenlehne.

Er gab vor, gebannt der Musik zu lauschen.

Luc hasste Soprane.

Glücklicherweise dauerte die Darbietung aber bloß noch weitere zehn Minuten. Gerade lange genug also, damit er sich eine Erklärung auf Amelias bereits in der Luft liegende Frage zurechtlegen konnte, weshalb er denn nun doch noch zu dem verhassten Abend erschienen war.

Sobald der Applaus wieder abebbte, drehte Amelia sich auch schon auf ihrem Stuhl um und sah zu Luc auf. »Was...?« Dabei hob sie die Hand und legte sie sanft auf die seine, die noch immer auf der Rückenlehne des Stuhls ruhte.

Luc erwiderte ihren Blick, doch ihre Berührung lenkte ihn kurzzeitig ab. Er schaute ihrer beider Hände an, erstarrte für einen winzigen Augenblick, atmete dann aber einmal tief durch und schloss mit einer behutsamen Drehung die Hand um Amelias Finger. Er spürte den Ring, den er ihr an diesem Nachmittag angesteckt hatte, und wurde von einem plötzlichen, fast schon primitiven Gefühl der Befriedigung durchströmt.

»Es gibt keinerlei Probleme, alles ist in bester Ordnung.« Damit hatte er die Frage, die er in ihren Augen hatte aufflackern sehen, bereits beantwortet, noch ehe sie sie aussprechen konnte. Anschließend schaute er sie eindringlich an, beugte sich noch ein wenig näher zu ihr hinab und erklärte: »Ich wollte dich nur vorwarnen, denn ich habe eine Anzeige in der morgen früh erscheinenden Gazette geschaltet.«

Damit ließ er den Blick über die um sie versammelten Damen schweifen, die ihn zum Großteil erst jetzt zu bemerken schienen. Nun aber konnte es wohl nicht mehr lange dauern, ehe die eine oder andere Klatschbase ihn aus seiner kurzen, doch trauten Zweisamkeit mit Amelia reißen würde, sodass Luc hastig fortfuhr: »Ich wollte nur nicht, dass du dich erschreckst, wenn morgen die halbe Londoner Hautevolee bei euch in der Upper Brook Street aufkreuzt.«

Amelia schaute ihm aufmerksam in die Augen. Dann lächelte sie - ein ganz und gar natürliches, ungekünsteltes Lächeln. Dahinter jedoch schimmerte eine Spur jenes leisen, vielsagenden Lächelns, mit dem sie es stets wieder aufs Neue schaffte, ihn zu necken...

»Ich hatte mir schon gedacht, dass du wohl irgendetwas in der Art organisieren würdest. Aber vielen Dank, dass du mir Bescheid gegeben hast.« Damit erhob sie sich und schüttelte ihr türkisfarbenes Seidenkleid aus.

Hastig griff Luc nach dem Umschlagtuch, das ihr zu entgleiten drohte, und legte es ihr zärtlich wieder um die Schultern. Abermals lächelte Amelia ihn liebevoll an, und ein Hauch von Mitgefühl lag in ihrer Stimme, als sie sagte: »Ich fürchte, nun geht gleich der Ansturm los.«

Und genauso kam es auch. Schließlich hatten die Gäste der Hightham Hausparty einen ganzen Tag lang Zeit gehabt, um die Neuigkeiten über Luc und Amelia zu verbreiten. Es wurde bereits eifrig spekuliert, und Lucs Erscheinen auf Lady Hogarths Musikabend lieferte dem Tratsch nur noch neues Futter.

Sie waren regelrecht umlagert von Neugierigen, und es blieb Luc keine andere Wahl, als geduldig neben Amelia stehen zu bleiben und die durchtriebenen Fragen so gut zu parieren, wie er nur irgend konnte. In seinem Inneren wallte bereits der Ärger herauf, doch Luc riss sich zusammen. Schließlich war er selbst es gewesen, der sich in diese unliebsame Situation gebracht hatte. Die Versuchung, Amelia noch einmal sehen zu können, sichergehen zu wollen, dass sie auch wirklich hier war, dass sie glücklich war und dass es ihr gut ging - dass sie sich wieder erholt hatte von ihrer nachmittäglichen Entdeckung, dass man einen Schreibtisch auch noch zu anderen Dingen verwenden konnte als bloß zum Schreiben -, all dies war Luc so lange durch den Kopf gegeistert und hatte ihm keine Ruhe mehr gelassen, bis ein Besuch bei Lady Hogarth schließlich das kleinere Übel zu sein schien. Luc hatte seiner Schwäche nachgegeben und musste jetzt den Preis dafür zahlen und sich den wissbegierigen Fragen der Damen stellen.

Im Übrigen fühlte er sich dazu verpflichtet, nun auch bis zum Ende des Abends zu bleiben und Amelia und Louise nach Hause zu begleiten. Eisern versuchte er, sich nicht von Amelias Seite forttreiben zu lassen, die Maske der Gelassenheit auf seinem Gesicht zu bewahren und sich nicht dazu verleiten zu lassen, schon irgendetwas von dem zu verraten, was doch erst die morgige Anzeige in der Gazette verkünden sollte.

Denn wenn die Harpyien morgen früh von seinem weiteren Schicksal erfuhren, dann war das immer noch früh genug. Dann konnten sie immer noch zusammenglucken und über die Neuigkeiten tratschen.

Auch Amelia hielt sich an Lucs Vorgabe und stritt die Wahrheit über ihre Beziehung weder ab, noch bestätigte sie irgendetwas. Ab morgen, wenn die gesamte Londoner Gesellschaft über die bevorstehende Hochzeit informiert war, würde sie ohnehin Rede und Antwort stehen müssen. An diesem Abend aber wollte sie das Wissen noch für sich behalten, wollte sie ihren Triumph noch ganz im Stillen auskosten.

Wenngleich der Sieg natürlich, zugegebenermaßen, noch ein wenig unvollständig war. Doch auf der anderen Seite hatte sie ja auch nie erwartet, dass Luc sich, nur weil sie ihm einen Heiratsantrag gemacht hatte, auch gleich in sie verlieben würde. Aber schon bald würden sie ja endlich Mann und Frau sein, und dann hätte sie immer noch Zeit und Gelegenheit genug, um ihm die Augen zu öffnen und ihn schließlich dazu zu verführen, in ihr noch mehr als bloß seine ihm rechtlich angetraute Ehefrau zu sehen.

Amelia war das gesellschaftliche Geplauder gewohnt, sie wusste, wann man besser wieder weiterschlenderte oder eine indiskrete Frage einfach überhörte. Die Menschen drängten sich um sie, wichen dann wieder zurück, um dafür wieder anderen Neugierigen Platz zu machen, doch Amelia kannte dies alles und meisterte die Fragestunde mit einer Leichtigkeit, als wäre das Ganze für sie bloß ein Kinderspiel. Verstohlen warf sie ihrem zukünftigen Ehemann einen raschen Blick zu, während sie aufmerksam der unablässig auf sie eindringenden Konversation folgte.

Wie gewöhnlich konnte sie die Miene, die er hier, im Kreise ihrer Bekannten, aufgesetzt hatte, nur schwer deuten. Wenn sie jedoch ihre privaten Momente miteinander teilten... dann wusste sie schon eher, was sein Gesichtsausdruck besagte. Langsam bekam sie Übung darin. Die Stunde, oder vielleicht war es auch etwas länger gewesen, die sie am Nachmittag zusammen in Lucs Arbeitszimmer verbracht hatten, war zum Beispiel so ein Moment gewesen. Und zumindest in einer Sache war sie sich mittlerweile schon recht sicher: Luc hatte noch niemals zuvor einer Frau sein Herz geschenkt.

Es war also noch immer da, und Amelia könnte es erobern, sofern sie den Mut aufbrachte, allen Widrigkeiten zu trotzen und es sich zu nehmen. Sie kannte Luc inzwischen recht gut, und auf einer gewissen, rein instinktiven Ebene erahnte sie auch seine Gefühlswelt, war ihm schon so nahe, dass sie manchmal sogar wusste, was er gerade dachte. An diesem Nachmittag, als er sie auf seinen Schreibtisch gebettet und sie ganz nach Belieben verführt und genossen hatte, da hatte Amelia für einen kurzen Augenblick etwas aufblitzen sehen in seinen Augen. Eine Art Erkenntnis, dass zwischen ihnen noch mehr existierte als bloß das rein Körperliche, dass sie ihm noch mehr bedeutete.

Und dieser Verdacht, dass Luc womöglich bereits begriffen haben könnte, dass sie noch mehr verband als die zunächst rein rational getroffene Entscheidung, heiraten zu wollen, hatte sich später sogar noch bestätigt. Dann nämlich, als Amelia ermattet und köstlich erschöpft auf seinem Schoß gesessen hatte und er ihr den aus Perlen und Diamanten gearbeiteten Ring an den Finger gesteckt hatte. Jenen Verlobungsring, der schon seit Generationen in seiner Familie gewesen war. Dieser Moment war, zumindest für sie, ein sehr bewegender Augenblick gewesen. Und sie hätte schwören können, dass die intime und zugleich ein wenig feierliche Stimmung auch Luc nicht ganz kalt gelassen hatte.

Amelia sah dies als das erste Anzeichen dafür, dass sie ihren endgültigen Sieg schließlich doch noch würde erringen können; oder zumindest hoffte sie dies.

Sie hatte ihn ein kleines bisschen zu lange angesehen - plötzlich drehte Luc sich um und hob fragend eine Braue. Amelia jedoch lächelte bloß und wandte sich wieder den Damen zu, die begierig versuchten, ihr vielleicht doch noch die eine oder andere Kleinigkeit zu entlocken. Im Stillen aber dachte sie schon wieder an ihr eigentliches Ziel, an den eigentlichen Sieg...

Der Abend wurde schließlich mehr oder weniger abrupt beendet, als mit einem Mal Miss Quigley auf Amelia zugerauscht kam. Natürlich war sie nicht weniger auf Neuigkeiten bedacht als die anderen Gäste, und doch gab es da etwas, das ihr noch wichtiger war als Lucs und Amelias mutmaßliche Beziehung. »Ich möchte Euch gerne fragen, Miss Cynster...«, Miss Quigley senkte die Stimme und wandte sich leicht von den anderen Damen ab, »ob Ihr auf Hightham Hall vielleicht zufällig irgendwo Tante Hilboroughs Lorgnette habt herumliegen sehen?«

»Ihre Lorgnette?« Amelia wusste durchaus, was Miss Quigley meinte. Jeder, der Lady Hilborough jemals begegnet war, erinnerte sich an deren Stielbrille, denn sie benutzte das gute Stück in erster Linie dazu, um auf irgendetwas zu zeigen, statt um hindurchzusehen. »Nein.« Amelia grübelte noch einmal kurz nach, dann schüttelte sie entschieden den Kopf. »Tut mir leid, aber die ist mir nicht aufgefallen.«

Miss Quigley seufzte. »Ah, nun ja. Es war immerhin wert, danach gefragt zu haben.« Sie sah sich rasch um und fuhr dann in noch leiserem Tonfall fort. »Allerdings... jetzt, wo ich weiß, dass Mr. Mountford seine Schnupftabakdose vermisst und Lady Orcott ihr Parfümfläschchen, muss ich doch sagen, dass ich mich allmählich ein wenig wundere.«

»Gütiger Gott.« Amelia starrte sie an. »Aber vielleicht wurden die Stücke ja auch nur irgendwo verlegt?«

Miss Quigley schüttelte den Kopf. »Kaum dass wir in London angekommen waren, haben wir auch schon wieder einen Boten nach Hightham Hall geschickt. Und Lady Orcott und Mr. Mountford haben natürlich ebenfalls einen Diener entsandt. Ihr könnt Euch sicherlich vorstellen, dass Lady Hightham außer sich gewesen sein muss, das Ganze muss ihr ja entsetzlich unangenehm gewesen sein. Ganz Hightham Hall wurde auf den Kopf gestellt, aber keines der vermissten Stücke ist bisher wieder aufgetaucht.«

Miss Quigley sah sie ernst an; Amelia erwiderte den Blick. »Oh, du meine Güte.« Sie schaute zu Louise hinüber, die ganz in der Nähe stand und sich gerade mit einem der anderen Gäste unterhielt. »Das muss ich unbedingt Mama erzählen. Ich glaube nicht, dass sie schon ihr Schmuckkästchen kontrolliert hat, mal ganz abgesehen von all den anderen kleinen Dingen, die man üblicherweise auf so eine Hausparty mitnimmt. Und Lady Calverton muss ich natürlich auch Bescheid geben.« Dann wandte sie sich wieder zu Miss Quigley um. »Aber weder sie noch ihre beiden Mädchen sind heute Abend hier.«

Miss Quigley nickte. »Scheint ganz so, als ob wir uns vorsehen müssten.«

Sie blickten einander an, und keine von beiden brauchte auszusprechen, wovor genau sie sich vorsehen mussten. Es schien ganz so, als ob sich in der besseren Londoner Gesellschaft ein Dieb befände -


Früh um acht am nächsten Morgen saß Luc allein am Frühstückstisch und las die neueste Ausgabe der Gazette.

Er war ganz bewusst schon zeitig aufgestanden - lange bevor seine Schwestern wach sein würden. Dann war er heruntergekommen, um die Anzeige zu begutachten und über sein weiteres Schicksal nachzudenken - über seine Bestimmung, die dort schwarz auf weiß in Lettern gesetzt stand.

Da war sie nun, die kurze, doch keineswegs zu übersehende Ankündigung, die der Welt mitteilte, dass Lucien Michael Ashford, Sechster Vicomte Calverton von Calverton Chase in Rutlandshire, und Amelia Eleanor Cynster, Tochter von Lord Arthur und Lady Louise aus der Upper Brook Street, am Mittwoch, dem 15. Juni auf Somersham Place in den Stand der Ehe treten würden.

Luc legte die Zeitung nieder, nippte an seinem Kaffee und versuchte, sich darüber klar zu werden, was er beim Lesen dieser Anzeige empfand. Er fühlte vor allem eines: Ungeduld. Und was den Rest betraf …

Natürlich waren da noch eine ganze Menge anderer Gefühle, die in seinem Inneren wild durcheinandertobten - Triumph, Verwirrung, Vorfreude, ein Hauch von Verzweiflung und sogar ein ganz klein wenig Missbilligung, was das ganze Brimborium betraf, das mit dieser Hochzeit natürlich einherging. Doch diesem allen lag noch eine weitere Kraft zu Grunde, eine Kraft, die jeden Tag weiter anwuchs, stärker wurde - die immer bezwingender und immer fordernder wurde.

Aber wohin diese Macht ihn schließlich noch führen sollte, wie weit sie ihn treiben würde, das wusste er nicht.

Sein Blick schweifte wieder zurück zur Zeitung und der Anzeige darin.

Einen Augenblick später leerte er seine Kaffeetasse, erhob sich und verließ das Frühstückszimmer. In der Eingangshalle blieb er kurz stehen, um seine Reithandschuhe aufzunehmen.

Es war nicht länger wichtig, wohin sein Lebensweg ihn noch führen würde. Denn Luc war fest entschlossen, hatte sowohl öffentlich als auch im ganz Privaten den Schwur geleistet, mit Amelia in den Bund der Ehe zu treten, und trotz aller Ungewissheiten, die damit einhergingen, hatte er doch nicht ein einziges Mal daran gezweifelt, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hatte.

Die Zukunft gehörte ihm allein, und er konnte sie ganz nach eigenem Gutdünken gestalten.

Langsam zog er die Reithandschuhe durch seine Hände. Dann verzog er das Gesicht zu einer Grimasse. Denn ganz so einfach würde er nun wohl doch nicht über seine Zukunft bestimmen können - schließlich war Amelia jetzt ein Teil davon, und sie konnte er nicht so leicht kontrollieren.

In dem Moment hörte Luc das vertraute Klappern von Hufen über Kopfsteinpflaster, und mit einem knappen Nicken in Richtung des Pagen, der herbeigeeilt kam, um Luc die Tür zu öffnen, verließ er das Haus.

Auf dem obersten Absatz der Vordertreppe hielt er noch einen kleinen Augenblick inne, hob das Gesicht der Morgensonne entgegen und versuchte, im Geiste bereits ein wenig vorauszuschauen und die ihm unmittelbar bevorstehende Zukunft zu erahnen. Dann, als er alle entscheidenden Faktoren gegeneinander abgewogen hatte, erfüllte ihn noch immer das gleiche Gefühl.

Ungeduld.


Während Luc seinen Ausritt durch den Hyde Park genoss, betrat nicht weit von ihm entfernt eine junge Dame die kleine öffentliche Gartenanlage, die in der Mitte des Connaught Square angesiedelt war. Sie eilte auf einen Gentleman in einem langen, graubraunen Kutschmantel zu, der unter den ausladenden Ästen einer uralten Eiche stand.

Die junge Dame blieb vor ihm stehen und nickte ein wenig verhalten. »Guten Morgen, Mr. Kirby.«

Ihre Stimme klang hoch, fast schon piepsend.

Kirby starrte sie nur ausdruckslos an und neigte kurz den Kopf. »Was habt Ihr mir denn diesmal angeschleppt?«

Die junge Dame sah sich nervös um - Kirbys abschätzige Haltung verunsicherte sie. Ohne eine erkennbare Regung starrte er sie an, während sie einen Stoffbeutel von jener Sorte hochhob, wie ihn die Dienstmädchen benutzten, wenn sie einkaufen gingen. Hastig wühlte sie in dem schlichten Sackleinenbeutel herum und beförderte eine Schnupftabakdose zu Tage.

Kirby nahm die Dose an sich, kontrollierte mit einem raschen Blick, ob sie auch wirklich noch unbeobachtet waren. Dann hob er das kleine Kunstwerk ins Licht und inspizierte die Miniaturmalerei auf dem Deckel.

»Ist sie...« Die junge Dame schluckte. Schließlich flüsterte sie: »Meint Ihr, die ist etwas wert?«

Langsam ließ Kirby den Arm sinken, und die Schnupftabakdose verschwand in einer der ausladenden Taschen seines Kutschmantels. »Ihr habt ein gutes Auge. Ein paar Guineas wird man damit wohl herausschlagen können. Was gibt es sonst noch?«

Die Dame reichte ihm eine kristallene und mit Goldrand verzierte Parfümflasche, eine alte, aber mit Diamanten besetzte Lorgnette und zwei kleine, kunstvoll verzierte Kerzenleuchter aus Silber.

Kirby unterzog jedes der Stücke einer raschen Begutachtung, und eines nach dem anderen verschwanden sie in seinen Taschen. »Na, das ist doch mal eine nette Ausbeute.« Er sah, wie die Dame zusammenzuckte, und starrte sie regungslos an. »Dann hat sich Euer Ausflug nach Hightham Hall ja richtig gelohnt.« Mit leiser Stimme fügte er hinzu: »Und ich bin mir sicher, Edward wird Euch dafür überaus dankbar sein.«

Die junge Dame schaute wieder auf. »Habt Ihr schon etwas von ihm gehört?«

Kirby musterte ihr Gesicht, dann entgegnete er in teilnahmslosem Tonfall: »Sein letztes Schreiben hat in jedem Fall ein ziemlich düsteres Bild gezeichnet. Wenn solche Menschen wie Edward plötzlich verstoßen werden«, Kirby zuckte mit den Achseln, »fällt es ihnen nicht leicht, Fuß zu fassen in der Gosse.«

Sie seufzte bedrückt und wandte den Blick ab.

Einen Augenblick lang schwieg Kirby, dann ergänzte er mit etwas weicherer Stimme: »Mir sind da Gerüchte von einer bevorstehenden Hochzeit zu Ohren gekommen?« Ruckartig drehte die junge Dame wieder den Kopf, er jedoch tat so, als ob er den entsetzten Ausdruck in ihren Augen gar nicht wahrnähme. Stattdessen zog er aus einer weiteren der vielen Taschen seines Kutschmantels die aktuelle Gazette und blickte konzentriert auf die eingekreiste Anzeige: »Es scheint so, als würde die Hochzeit nächste Woche auf Somersham stattfinden.«

Dann hob er den Blick wieder und sah sie eindringlich an. »Ich bin mir sicher, Ihr werdet auch dort sein. Und das wäre dann doch mal wieder eine prima Gelegenheit, um dem armen Edward etwas Gutes zu tun.«

Wie in Gedanken krampfte sie die Hand um die Spitze, die ihren Hals umschloss, und schüttelte den Kopf. »Nein - das kann ich nicht!«

Kirby musterte sie einen Augenblick lang. »Nun, bevor Ihr Euch endgültig entscheidet, solltet Ihr Euch vielleicht auch noch einmal anhören, was ich zu der ganzen Sache zu sagen habe. Die Cynsters haben doch Geld wie Heu - mehr Geld, als man sich vorstellen kann. Und man sagt, dass Somersham Place geradezu überquellen soll von Wertgegenständen und Kunstwerken, die über die Jahrhunderte von den Familienmitgliedern zusammengetragen wurden. Offenbar besaß man in dieser Familie von jeher die Mittel, um sich seinen exklusiven Geschmack auch etwas kosten lassen zu können. Alles, was Ihr von dort mitnehmt, wird ein kleines Vermögen wert sein. Und dennoch sind das für die Besitzer doch nur Kleinigkeiten, wenn man bedenkt, dass Ihr sie aus einem Herrenhaus nehmt, das vor lauter Kostbarkeiten dieser Art geradezu aus den Nähten zu platzen scheint. Höchstwahrscheinlich wird man diese ein oder zwei Gegenstände, die Ihr mir mitbringt, dort überhaupt nie vermissen.

Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass Somersham Place nur einer von mehreren der herzöglichen Wohnsitze ist. Vor allem aber haben doch auch die anderen Familienmitglieder noch ihre Residenzen. Sicherlich, davon sind vielleicht nicht alle so reich ausgestattet wie Somersham Place, aber trotzdem horten sie doch allesamt Kunstwerke und Preziosen von höchstem Wert. Davon darf man doch wohl beruhigt ausgehen.

So, und nun wollen wir das mal mit der betrüblichen Situation vergleichen, in der Edward sich gerade befindet.« Kirby hielt einen Moment inne, ganz so, als ob er sein Wissen noch einmal überdenke und nach den richtigen Worten suche. Dann sprach er mit nüchternem und gedämpftem Tonfall weiter: »Alles in allem wäre es wohl nicht übertrieben, wenn man Edwards Lage als geradezu ›verzweifelt‹ beschreibt.«

Hart und eindringlich sah er die junge Dame an. Dann fuhr er fort: »Edward hat nichts. Und wie er in seinem Brief an Euch ja auch schon geschrieben hat, weigert sein Bruder sich, ihn finanziell zu unterstützen. Ihm bleibt also nichts anderes übrig, als sich irgendwie durchzuschlagen. Er lebt in einer von Ratten verseuchten Mansarde, ernährt sich von altem Brot und Wasser. Sein Erspartes ist restlos aufgebraucht, und es geht ihm sehr schlecht.« Kirby tat einen angespannten Atemzug und blickte quer über den Platz zu der davor verlaufenden Häuserreihe hinüber. »Ich will ihm doch schließlich nur helfen, aber ich hab ihm schon alles gegeben, was ich nur irgend geben kann. Und ich habe nun einmal keinen Zugang zu diesen Häusern, zu diesen Orten und den Menschen, die so viel besitzen, dass es ihnen sicherlich nicht wehtun würde, wenn sie mal ein bisschen davon abgäben.«

Die junge Dame war erbleicht. Mit einer abrupten Bewegung wandte sie sich von ihm ab. Kirby streckte den Arm nach ihr aus, wollte sie wieder herumreißen - doch sie wandte sich von ganz allein wieder zu ihm um, rang verzweifelt die Hände. Ganz beiläufig ließ Kirby den Arm wieder sinken.

»In seinem Brief hatte er mich nur um zwei Sachen gebeten - um das Tintenfässchen und die Parfumflasche. Er sagte, die hätten früher einmal den Großeltern gehört und wären ihm versprochen worden. Sie gehörten ihm also quasi sowieso schon. Und alles, was ich getan habe, war, sie Euch zu bringen, damit Ihr sie wiederum an ihn weiterreichen könnt.« Die junge Dame hob den Kopf und blickte Kirby bittend an. »Und wenn er der Ansicht war, dass diese beiden Dinge ihn eine Weile über Wasser halten könnten, dann müsste er doch mit all den anderen Dingen, die ich Euch damals noch dazugegeben hatte, und natürlich mit denen, die Ihr heute von mir bekommen habt«, sie deutete mit einem knappen Nicken auf Kirbys Taschen, »erst einmal genug haben, um davon ein paar Monate lang leben zu können?«

Bedauernd, vielleicht ein klein wenig herablassend, doch auch verständnisvoll sah Kirby sie an: »Ich fürchte, meine Liebe, dass Edward sich im Augenblick in einer genauso verzweifelten Lage befindet wie Ihr. Aber er braucht das Geld, das diese Stücke ihm bringen, so dringend, dass er nicht noch großartig über den Preis verhandeln kann - also bekommt er auch nicht viel dafür. So laufen die Dinge nun mal.« Er schwieg einen Moment, dann ergänzte er: »Und wie ich schon gesagt habe, geht es ihm wirklich sehr schlecht. Genau genommen…« Kirby hielt inne, schien seine Worte noch einmal zu überdenken. Dann, nachdem er eine Weile ganz offenbar mit seinem Gewissen gerungen hatte - die junge Dame hatte es an seinem Gesicht ablesen können -, seufzte er und erklärte mit traurigem Blick: »Ich sollte so etwas nicht sagen, und trotzdem fürchte ich, dass ich für nichts mehr garantieren kann, wenn wir ihm nicht bald ein paar wertvollere Stücke schicken.«

Verzweifelt riss sie die Augen auf. »Ihr meint...?«

Kirby verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Er wäre schließlich nicht der erste Spross aus aristokratischem Hause, der das Leben in der Gosse, noch dazu in einem fremden Land, auf Dauer einfach nicht aushalten konnte.«

Entsetzt und den Tränen nahe hob die junge Dame die Hand an den Mund und wandte sich ab. Kirby beobachtete sie unter schweren Lidern hervor und wartete.

Nach einigen Augenblicken tat sie einen zitternden Atemzug und drehte sich wieder zu ihm um. »Ihr sagtet, dass selbst das kleinste Stück auf Somersham Place bereits ein kleines Vermögen wert sei?«

Kirby nickte.

»Und wenn ich dann etwas von dort mitnehme und Euch bringe, dann hat Edward erst einmal genug, um davon leben zu können?«

Kirby nickte sofort. »Das wird ihn in jedem Fall davor bewahren zu verhungern.«

»Oder sich womöglich gar das Leben zu …?«

»Das wiederum liegt wohl allein in der Hand Gottes. Aber zumindest bekäme Edward somit wieder eine gewisse Chance.«

Die junge Dame blickte starr über den Platz hinweg, atmete abermals tief ein und nickte. »Also gut.« Sie hob das Kinn und erwiderte Kirbys Blick. »Ich werde etwas finden - etwas, das ihm wirklich hilft.«

Kirby musterte sie einen Moment lang, bis er mit einer angedeuteten Verbeugung erklärte: »Eure Hingabe an Edward ist wirklich bewundernswert.«

Dann beschrieb er ihr in aller Kürze, wo und wann sie ihn das nächste Mal treffen sollte, um ihm ihren Beitrag zu Edwards Wohlergehen zu übergeben. Sie nickte gefügig. Kirby schaute ihr noch einen Augenblick lang nach, wie sie über den Platz verschwand. Dann ging er in die entgegengesetzte Richtung davon.


Warum, zum Teufel, hatte er sich bloß auf Mittwoch festlegen lassen?

Es war Montagnachmittag, Luc kehrte gerade nach Calverton House zurück, marschierte schnurstracks in sein Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich. Dann ließ er sich schwer in seinen Lehnsessel sinken und starrte in den leeren Kamin.

Hätte er doch bloß auf einem - noch - früheren Termin bestanden...

Aber an dem Tag, als in der Gazette die Heiratsanzeige erschienen war, hatte er die Upper Brook Street geflissentlich gemieden. Denn wie nicht anders zu erwarten, waren sämtliche Mitglieder der Londoner Hautevolee - oder zumindest schien es so - zu den Cynsters gepilgert, hatten Amelia persönlich gratuliert und sich dann schon einmal ein wenig über die bevorstehende Trauung ausgelassen. Selbst hier, in Calverton House, war seine Mutter den gesamten Morgen über von Besuchern belagert worden. Nach dem Mittagessen war sie dann zu dem klugen Entschluss gekommen, dass sie wohl am besten ebenfalls hinüberging zu Amelia und Louise - so könnten die Gratulanten sie dort gleich alle auf einmal antreffen.

Den Samstagabend hatten sie dann unter den eindringlichen, um nicht zu sagen penetrant neugierigen Blicken der Gäste auf Lady Harris’ Empfang verbracht; einem der letzten wichtigen Ereignisse, ehe die Londoner Gesellschaft sich auf ihre Sommersitze zurückzog. Das Wetter war bereits etwas wärmer geworden und die Kleidung der Damen dementsprechend freizügiger. Zu Lucs grenzenloser Erleichterung hatte Amelia sich in dieser Hinsicht jedoch zurückgehalten: Sie war in einem goldfarbenen, doch sehr schlicht geschnittenen Seidenkleid erschienen. Gelassen war sie an seinem Arm durch die Räume geschlendert und die ganze Zeit über unsagbar ruhig und charmant gegenüber all denen geblieben, die stehen blieben, um ihnen Glück zu wünschen.

Leider ergab sich währenddessen allerdings nicht die Gelegenheit, auch einmal einen Augenblick ganz mit ihr allein zu verbringen. Doch Luc sagte sich, dass dieser Abend in seinem Leben sicherlich eine einmalige Angelegenheit war, und setzte geduldig eine - wie er meinte - freundlich-aufmerksame Miene auf. Amelia hingegen schien seine Maske durchschaut zu haben, schien die unruhige Verstimmtheit zu erahnen, die er so angestrengt zu verbergen versuchte. Das hatte ihm der forschende Blick verraten, den sie ihm zuwarf, als sie sich am Ende des Abends unter den wachsamen Augen ihrer Mutter voneinander verabschiedet hatten.

Am nächsten Tag, einem Sonntag, hatte er entschieden, dass es ihm im Grunde vollkommen egal war, wenn Amelia wusste, wie ungeduldig er darauf brannte, sie endlich wieder ganz für sich zu haben. Und so hatte er nachmittags bei Amelia vorgesprochen, in der Hoffnung, sie zu einem kleinen Ausflug entführen zu können und wenigstens ein paar kostbare Momente mit ihr allein zu verbringen. Momente, in denen all ihre Aufmerksamkeit allein auf ihm ruhen würde. Dann aber hatte er feststellen müssen, dass die Damen ihrer Familie ein spontanes Treffen anberaumt hatten, um sich zu beratschlagen und einen Plan für die Hochzeit zu erstellen.

Vane, der seine Frau Patience zu dieser Zusammenkunft begleitet hatte, hatte gerade wieder gehen wollen, als Luc eingetroffen war. »Hört auf meinen Ratschlag - im White’s habt Ihr mehr von Eurem Nachmittag.«

Luc hatte weniger als eine Sekunde gebraucht, um Vanes gut gemeinten Tipp zu überdenken und schließlich widerwillig zuzustimmen. Zwar ging es im White’s, einem seiner Stammclubs, um diese Stunde noch furchtbar ruhig zu, doch in jedem Fall war er dort in Sicherheit.

Am Sonntagabend hatten er und seine Mutter das mehr oder weniger traditionelle Abendessen für die Familien von Braut und Bräutigam ausgerichtet. Luc hatte seine Dienerschaft noch nie so aufgeregt gesehen, Cottsloe schien den gesamten Abend über vor Freude fast zu platzen, und Mrs. Higgs übertraf die ohnehin bereits hohen Maßstäbe, die sie bei der Zubereitung ihrer Speisen anlegte, noch um einiges. Und obwohl Luc wieder einmal nicht ein einziges ungestörtes Wort mit Amelia hatte wechseln können, so musste er doch zugeben, dass der Abend alles in allem ganz nach seinen Vorstellungen verlaufen war.

Natürlich war auch Devil eingeladen. Später am Abend hatten er und Luc sich im Salon noch kurz unterhalten. Mit einem aufmerksamen Blick in Lucs Augen und einem verschwörerischen Grinsen hatte Devil gescherzt: »Ich gehe wohl recht in der Annahme, dass Ihr die schmerzliche Angelegenheit noch immer nicht in Angriff genommen habt?«

Luc wandte sich mit ruhigem Gesichtsausdruck wieder in Richtung der restlichen Abendgesellschaft. »Ihr habt gut reden.« Einen Herzschlag später fügte er dann hinzu: »In jedem Fall kann ich Euch versichern, dass ich dieses Thema vor der Hochzeit in jedem Fall nicht mehr zur Sprache bringen werde.«

»Immer noch fest entschlossen, lieber kein Risiko einzugehen?«

»Absolut.«

Devil seufzte übertrieben laut. »Aber sagt nicht, ich hätte Euch nicht gewarnt.«

»Keine Angst, das werde ich schon nicht.« Damit wandte er sich noch einmal zu Devil um. »Obwohl Ihr mir natürlich gern den einen oder anderen Hinweis geben dürft, wie ich die Sache am besten anpacken soll...«

Devil aber schnaubte nur verächtlich und klopfte Luc einmal auf die Schulter. »Ihr solltet Euer Glück besser nicht überstrapazieren.«

Luc und Devil waren auch weiterhin äußerst unterschiedlicher Meinung, was dieses besagte Thema anging. Doch andererseits verband es sie auch miteinander, sodass sie sich in freundschaftlicher Atmosphäre wieder voneinander getrennt hatten.

Im Übrigen aber hatte die kurze Unterhaltung die unangenehme Angelegenheit nur noch einmal aufs Neue aufgerührt und sie noch fester in Lucs Bewusstsein verankert.

Irgendwann würde er Amelia die Wahrheit sagen müssen.

Und dieses Wissen heizte seine Ungeduld nur noch weiter an.

Am nächsten Morgen hatte er noch einmal in der Upper Brook Street vorgesprochen, diesmal jedoch früh genug - oder zumindest hatte er das geglaubt. Doch der Butler der Hauses, der alte Colthorpe, hatte Luc mit ernster Miene darüber informiert, dass Amelia und Louise bereits mit vier anderen Damen im Wohnzimmer säßen.

Luc hatte einen Fluch hinuntergeschluckt und kurz überlegt, ob er Amelia eine kleine Notiz zukommen lassen sollte, in der er sie bat, sich einfach für ein paar Minuten aus dem Kreise ihrer Damen davonzustehlen. Doch schon hatte es abermals an der Haustür geklingelt, und Colthorpe hatte Luc unsicher angesehen: »Vielleicht möchtet Ihr ja lieber kurz im Salon warten, Sir?«

Luc war dem guten Ratschlag des Butlers gefolgt und hatte im Salon gewartet, bis die wahre Armada an elegant gekleideten Damen, die gerade hereinmarschiert kam, in das Wohnzimmer geführt worden war. Dorthin, wo Amelia auf sie wartete.

Daraufhin hatte Luc sich voller Enttäuschung und mit einem hohlen, nur schwer zu definierenden Gefühl des Unwohlseins in sein Schicksal gefügt und das Haus wieder verlassen. Er hatte keine Nachricht hinterlassen.

Stattdessen hatte er sich wieder einmal auf den Weg zu seinem Club gemacht; ein paar Freunde von ihm hatten ihn dort zum Mittagessen eingeladen. Einige von ihnen, genauso wie Luc selbst, wollten am nächsten Tag nach Cambridgeshire fahren, und nutzten dieses Treffen somit, um noch ein letztes Mal wie alte Junggesellen miteinander feiern zu können. Und sie hatten es bei ihrer Feier wahrlich an nichts mangeln lassen. Doch obwohl Luc gelacht und gescherzt und nach außen hin so getan hatte, als würde er die kleine Feier ehrlich genießen, war seine Aufmerksamkeit doch immer wieder von seinen alten Freunden fortgeschweift, und er hatte an seine zukünftige Frau gedacht.

Ohne wirklich etwas zu sehen oder an etwas zu denken, starrte Luc nun in den erkalteten Kamin und versuchte, sich darüber klar zu werden, was er im Augenblick gerade empfand. Wie er sich fühlte. Und warum er so fühlte. Dann, um Punkt sechs Uhr abends und nicht eine Minute später, erhob er sich und ging ins Obergeschoss hinauf, um sich umzuziehen.


Lady Cardigans Abendgesellschaft hatte immerhin einen Vorteil: Sie gab einen Ball, und das hieß, es wurde getanzt. Er würde Amelia also zumindest für eine gewisse Zeit wieder einmal ganz ungeniert in die Arme schließen dürfen - und das auch noch mitten auf der Tanzfläche. In seiner gegenwärtigen Verfassung war Luc selbst dafür schon mehr als dankbar.

»Geht es dir gut?«, fragte Amelia, kaum dass sie den ersten Walzer begonnen hatten. »Mit dir stimmt doch irgendwas nicht. Was ist los?«

Er starrte sie an, verschlang sie fast mit seinem Blick, entgegnete dann aber mit gelassener Stimme: »Nichts.«

Amelia ließ ihre betont fröhliche Maske gerade so lange sinken, um ihm einen ungläubigen Blick zuzuwerfen. »Lass das.« Es machte sie wütend, dass er sie anlog, und sie verwendete ganz bewusst jenen mahnenden Satz, den er ihr vor nicht allzu langer Zeit auch schon einmal zugezischt hatte. »Ich kann es doch an deinen Augen ablesen.«

Denn in seinen Augen lag nicht nur jener gewisse Ausdruck, den sie oft annahmen, wenn Luc sich in einer Situation unwohl fühlte, sondern auch ein vages Flackern. Sie war sich also sicher, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie und Luc standen - zumindest für Amelias Geschmack - viel zu dicht vor jenem entscheidenden Moment in ihrem Leben, in dem sie ihr Eheversprechen ablegen würden, als dass sie nun geneigt wäre, auch nur noch die kleinste Unklarheit zwischen ihnen zu dulden.

»Hör bitte auf, alles so kompliziert zu machen.« Sie spürte, wie sie automatisch das Kinn ein wenig vorreckte, und musste sich beherrschen, um zumindest ihre gleichmütig-gelassene Miene beizubehalten.

Luc aber versteckte sich weiterhin und hartnäckig schweigend hinter seiner ausdruckslosen Maske, sodass Amelia schließlich einmal tief durchatmete und ihn mit dem konfrontierte, von dem sie glaubte, dass es wohl der Kern des ganzen Problems sein müsste: »Geht es etwa ums Geld?«

»Was?« Luc wirkte wie erstarrt, sah aus wie vom Donner gerührt. Aber vielleicht war dies ja andererseits auch eine ganz normale Reaktion bei ihm, wenn ihn eine Dame plötzlich auf ein so delikates Thema ansprach.

»Brauchst du für irgendetwas Bargeld? Ich meine jetzt, noch vor der Hochzeit?«

Nun war endlich wieder Leben in seine Miene gekommen. Er sah sie so entsetzt an, wie Amelia ihn noch nie hatte dreinschauen sehen. »Um Gottes willen! Nein. Ich brauche kein -«

In seinen Augen blitzte es. Offenbar hatte sie einen wunden Punkt getroffen - aber sie empfand keinerlei Reue darüber. »Dann erzähl mir doch einfach von deinen Sorgen, statt mich immer bloß raten zu lassen.« Sie wartete, während sie, mittlerweile am Ende des Saales angekommen, elegant eine Drehung vollführten. Und dabei spürte sie, wie er die Arme automatisch anspannte und sie, Amelia, ganz eng an sich zog - und sich dann dazu zwang, seinen Griff wieder zu lockern, denn schließlich wollten sie ja kein unliebsames Aufsehen erregen.

»Also, wenn es nicht ums Geld geht, worum denn dann?«, verlangte Amelia zu wissen, als sie beide, wieder in angemessener Haltung, in die andere Richtung davonschwebten.

Luc sah sie an, hielt ihren Blick geradezu gefangen. »Geld brauche ich jedenfalls nicht.«

Sie blickte ihm forschend in die Augen, wieder ein klein wenig erleichtert. »Also schön. Und was ist es nun?«

Sie spürte seine Frustration, erahnte die Verzweiflung. Und dennoch ließ er sich Zeit, ehe er ihr antwortete. Sie hatten den Raum nun fast abermals zur Hälfte durchquert, als er schließlich entgegnete: »Ich wünschte bloß, wir hätten schon Mittwoch.«

Amelia hob die Brauen. Dann lächelte sie spontan und herzlich. »Und ich dachte, es wären immer bloß die Bräute, die ihren Hochzeitstag herbeisehnten.«

Eindringlich senkte er den Blick aus seinen mitternachtsblauen Augen in die ihren. »Ich verzehre mich ja auch nicht nach der Hochzeit an sich.«

Sollte Amelia noch irgendwelche Zweifel an der tieferen Bedeutung seiner Worte gehabt haben, so dürfte spätestens der Ausdruck in seinen Augen diese endgültig zerstreuen. Dieser wissende, erregte, glühende Blick. Die Erinnerungen an vergangene intime Begegnungen, die darin aufzuleuchten schienen. Diese bewusste Andeutung... Ein Gefühl der Wärme - deutlich wahrnehmbar, doch noch nicht zu verwegen - stieg in ihre Wangen. Amelia fühlte es genau. Doch sie weigerte sich, den Blick zu senken, wollte nicht die Unschuldige spielen, die sie dank Luc doch gar nicht mehr war. »Bist du dir wirklich sicher, dass du noch am selben Nachmittag wieder abreisen willst?« Amelia hob leicht die Brauen und sah ihn herausfordernd an. »Wir könnten doch auch noch die Nacht auf Somersham verbringen.«

Die schmale Linie, zu der Luc seine Lippen zusammengepresst hatte, wurde etwas weicher. Der eindringliche Blick jedoch blieb. »Nein. Schließlich liegt Calverton Chase nur ein paar Stunden von Somersham Place entfernt...«

Der Walzer endete, und die Musik erstarb. Nach einer letzten, schwungvollen Drehung ließ Luc Amelia anhalten und ergriff ihre Hand. Fest sah er sie an, als er einen zarten Kuss auf ihre Fingerspitzen hauchte. »Es wird wesentlich angenehmer für uns sein, wenn wir uns gleich dorthin zurückziehen.«

Amelia musste einen leichten Schauer der Erregung unterdrücken. Es war die instinktive Reaktion auf die in seiner Stimme mitschwingende Verheißung, aber auch auf den Gedanken an die noch unbekannte, ihnen jedoch schon bald bevorstehende Situation als Ehepaar. Luc hatte ihr zugestanden, die Hochzeit ganz nach ihren eigenen Wünschen auszurichten. Dafür aber bestand er darauf, dass sie gleich nach dem Hochzeitsmahl nach Calverton Chase aufbrachen - Amelia würde die erste Nacht als seine Ehefrau also in den Gemäuern seiner Ahnen erleben.

Und sowohl Luc als auch Amelia spürten es tief in ihrem Inneren, dass dies der einzig richtige Weg war, um ihre Ehe zu beginnen. Es herrschte eine Art schweigendes Einverständnis zwischen ihnen, die Erkenntnis, dass sie in dieser Hinsicht beide gleich dachten.

Dennoch blieb das Nicken, mit dem Amelia sich in diese Tatsache fügte, ein wenig verhalten. Auch das Lächeln, das über ihre Lippen spielte, wirkte nicht mehr so unbekümmert wie sonst, sondern ernster, angespannter. Luc bemerkte die Veränderung in Amelias Wesen. Aber schon drängten die Ballgäste auf sie zu, wollten einen kurzen Schwatz halten über das bevorstehende Ereignis. Verwirrt musterte Luc die neugierige Horde, schaute dann wieder Amelia an und nickte ebenfalls - er wirkte sehr ernst und ruhig.

Mit dieser schweigenden, doch von beiden bereitwillig eingegangenen Übereinkunft wandten sie sich wieder um, schenkten den um sie versammelten Gästen ein herzliches Lächeln und plauderten munter drauflos.

Der Abend nahm schließlich den gleichen Verlauf, wie auch all die anderen Abende zuvor schon verlaufen waren, nur dass Amelia und Luc dieses Mal lediglich zwei kurze Walzer hatten, um sich ungestört miteinander unterhalten zu können. Doch mehr war auch nicht nötig, alle Fragen waren schon lange geklärt, sodass sie den zweiten gemeinsamen Tanz sogar in tiefem Schweigen einfach nur genossen.

Als der Walzer endete, war Amelia leicht außer Atem und wollte eigentlich nur am Rande der Tanzfläche ein wenig ausruhen, sich mit ihren Bekannten unterhalten und wieder zu Atem kommen. Langsam ließ auch die Anspannung, die sie zuvor noch in ihrem festen Griff gehalten hatte, wieder nach; jene nervöse Erregung, die Schauer prickelnder Erwartung über ihre Haut hatte rieseln lassen.

Gegen Ende des Balls trat Minerva auf ihre zukünftige Schwiegertochter zu. Amelia ließ Luc mit Lady Melrose und Lady Highbury allein und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit seiner Mutter. Die beiden besprachen rasch, welche Mitglieder aus Lucs Familie zur Hochzeit kommen würden. Minerva wollte gerade weitergehen, da fiel ihr Blick auf den mit Perlen und Diamanten besetzten Ring, den Luc Amelia geschenkt hatte.

Lächelnd streckte Amelia die Hand aus und zeigte stolz das Schmuckstück. »Er ist wunderschön, nicht wahr? Luc hat mir davon erzählt, dass dieser Verlobungsring schon von Generation zu Generation durch die Familie weitergereicht wurde.«

Minerva betrachtete das filigrane Stück noch einen kurzen Moment, dann schenkte sie Amelia ein herzliches Lächeln. »Er passt perfekt zu dir, meine Liebe.« Verstohlen schaute sie ihren Sohn an... und ihr Lächeln verblasste. »Wenn es dir nichts ausmacht, dann würde ich gern rasch noch ein paar Worte mit Luc wechseln.«

»Aber natürlich.« Amelia wandte sich wieder den anderen Gästen zu und verwickelte Lucs Gesprächspartnerinnen geschickt in eine Unterhaltung, sodass dieser frei war für eine kurze Unterredung mit seiner Mutter.

Luc drehte sich zu Minerva um. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und zog ihn einige Schritte von Amelia fort. Sie sprach sehr leise; Luc musste sich zu ihr hinabbeugen, um zu verstehen, was sie sagte.

»Amelia hat mir gerade ihren Ring gezeigt.«

Für einen winzigen Augenblick verlor Luc seine gewohnte Selbstbeherrschung und erstarrte regelrecht. Eindringlich blickte Minerva ihn an.

»Es scheint ganz so«, fuhr sie fort, »als ob Amelia meint, dass dies der alte Verlobungsring der Ashfords wäre.«

Luc hielt dem Blick seiner Mutter stand. Nach einer Weile gab er mit zerknirschtem Gesichtsausdruck zu: »Nun ja, als ich ihr diesen Ring an den Finger gesteckt habe, habe ich auch beiläufig den Familienverlobungsring erwähnt.«

»Und hast sie dann in dem Glauben gelassen, es handele sich um ein und denselben Ring?« Luc erwidert nichts, und Minerva schüttelte enttäuscht den Kopf. »Ach, Luc.«

Es war nicht unbedingt Verurteilung, die er in ihrem Blick las... und doch hatte er plötzlich wieder das Gefühl, erst zwölf Jahre alt zu sein. »Ich wollte sie nicht mit der wahren Herkunft des Rings beunruhigen.«

Minerva hob die Brauen. »Vor allem aber wolltest du wohl verhindern, dass sie dann einfach eins und eins zusammenzählt und noch so manchem anderen Geheimnis auf die Spur kommt, nicht wahr?«

Minerva wartete auf eine Antwort, aber Luc schwieg; er versuchte nicht mehr, seine Heimlichkeiten oder sein Verhalten zu rechtfertigen.

Nachdem sie einen Moment lang in seinen Augen gelesen hatte - Minerva war eine der wenigen, die diese Kunst beherrschten -, seufzte sie schwer. »Ich hatte dir versprochen, dass ich mich nicht in deine Angelegenheiten einmischen werde. Und das werde ich auch nicht. Aber sieh dich vor. Je länger du wartest, bis du ihr die Wahrheit erzählst, desto schwieriger wird es.«

»Ja, das hat mir vor kurzem schon einmal jemand gesagt.« Zwar bezogen sich die beiden Warnungen auf zwei völlig unterschiedliche Themen, doch die Lügen, um die es dabei ging, waren untrennbar miteinander verknüpft. Luc ließ seinen Blick zu Amelia hinüberschweifen. »Ich verspreche bei meiner Ehre, dass ich ihr alles erklären werde. Aber noch nicht jetzt.«

Dann sah er wieder Minerva an, die abermals den Kopf schüttelte. Dieses Mal spielte aber wenigstens ein leichtes Lächeln um ihre Lippen. Sie drückte kurz seinen Arm, dann trat sie von ihm zurück.

»Du landest mit deinen Geheimniskrämereien noch in Teufels Küche. Das war schon immer so.«

Luc sah seiner Mutter nach, wie sie langsam davonschlenderte. Dann ging er wieder zu Amelia hinüber.


Früh am nächsten Morgen brach Amelia nach Somersham Place auf. Mit ihr reisten natürlich ihr Vater und ihre Mutter, ihr Bruder Simon und ihre beiden jüngeren Schwestern Henrietta und Mary, der Butler Colthorpe sowie noch diverse andere Bedienstete der Familie. Diese sollten das Hauspersonal auf Devils Hauptwohnsitz in ihrer Arbeit unterstützen. Somersham Place war ein riesiges, weit verzweigtes Herrenhaus, das in vielerlei Hinsicht den Mittelpunkt der herzoglichen Dynastie repräsentierte.

Amelia und ihre Familie erreichten ihr Ziel erst am späten Vormittag. Zahlreiche andere waren bereits vor ihnen angekommen, unter ihnen Helena - die Herzoginwitwe und Devils Mutter - sowie die alte Großtante Clara, die extra von ihrem Anwesen in Somerset angereist war. Unmittelbar auf die Kutsche der Cynsters folgend kam auch Lady Osbaldestone, eine entfernte Verwandte, mit laut ratterndem Gefährt herangerauscht; pflichtschuldigst half Simon der alten Dame beim Aussteigen.

Honoria und Devil waren schon einen Tag zuvor mit ihrer jungen Familie gekommen. Amelias Zwillingsschwester Amanda und ihr erst kürzlich angetrauter Ehemann Martin, der Graf von Dexter, waren noch unterwegs. Sie kamen ganz aus dem Norden des Landes und wurden erst später am Tage erwartet. Catriona und Richard wiederum hatten mit Bedauern absagen müssen. Sie hatten ein Neugeborenes, und die Einladung war erst sehr kurzfristig gekommen. Eine so weite Reise schien unter diesen Umständen also unmöglich.

Luc, seine Mutter, Emily und Anne sollten am späten Nachmittag eintreffen. Lucs Zimmer, so bekam Amelia durch geschicktes Fragen heraus, lag in einem ganz anderen Flügel als ihr Zimmer - und am entgegengesetzten Ende des Gebäudes. Also so weit von ihr entfernt wie möglich. Und das bedeutete in einem Haus mit den Ausmaßen von Somersham Place wirklich weit entfernt. Jegliche Hoffnung, Luc in der Nacht vor der Hochzeit vielleicht noch einen kleinen Besuch abzustatten, war hiermit zerschlagen.

Die Hochzeitsgesellschaft hatte sich gerade zum Mittagessen niedergesetzt, als das deutlich vernehmbare Knirschen von Rädern, die über Kies fuhren, die nächsten Besucher ankündigte. Nur wenige Minuten später ertönten zwei helle Stimmen, die ernst und vielleicht auch ein klein wenig nervös Webster, Devils Butler, begrüßten.

Amelia legte ihre Serviette beiseite und tauschte ein kurzes Lächeln mit Louise aus. Beide erhoben sich und gingen hinaus in die Eingangshalle. Honoria, die sich bereits denken konnte, wer da wohl angekommen sein mochte, stand ebenfalls auf und folgte den beiden langsam.

»Ich hoffe doch, wir kommen nicht unerwartet«, erkundigte ein junges Mädchen in einem abgetragenen Reisekostüm und mit dicken Brillengläsern auf der Nase sich vorsichtig bei Webster.

Noch ehe dieser etwas erwidern konnte, erklärte ihre Begleiterin - die ein ähnlich verblichenes Kostüm trug - mit hoher Stimme: »Wahrscheinlich erinnert Ihr Euch nicht mehr an uns. Wir sind ein Stück gewachsen, seit wir das letzte Mal hier zu Besuch waren.«

Louise lachte, eilte auf die beiden zu und rettete Devils Butler damit vor dem beschämenden Eingeständnis, dass er die Mädchen in der Tat nicht so recht zuzuordnen wusste. »Aber so ein Unsinn - natürlich erwarten wir Euch, Penelope.« Sie schloss Lucs jüngste Schwester in eine herzliche Umarmung, dirigierte sie dann sachte in Amelias Richtung und wandte sich zu deren Begleiterin um. »Und was Euch betrifft... niemand, der Euch einmal gesehen hat, könnte Euch jemals wieder vergessen.«

Portia, die zweitjüngste der Ashfordschwestern, zog verächtlich die Nase kraus, als sie Louises Umarmung erwiderte. »Nach meiner Erinnerung war ich bei meinem letzten Aufenthalt hier noch ein schmuddeliger Zwerg. Mir wäre es also lieber gewesen, Webster hätte mich nicht wiedererkannt...«

»Oh, nein, Miss Portia«, versicherte der Butler ihr nun mit gewohnt hoheitsvoller Gelassenheit und einem kleinen, lustigen Blitzen in den Augen. »Ich habe Euch keineswegs vergessen.«

Portia bedachte ihn mit einem betont gequälten Gesichtsausdruck, löste sich aus einer herzlichen Umarmung mit Amelia und wandte sich dann um, um Honoria zu begrüßen.

»Er hat ganz Recht, meine Liebe.« Honoria ließ den Blick über Portias jettschwarzes Haar schweifen, das nicht in kleine Löckchen gelegt war, sondern ganz natürlich und in leichten Wellen über ihren Rücken hinabfloss. »Wer Euch einmal gesehen hat, der vergisst Euch nicht mehr - darauf braucht Ihr Euch keine Hoffnungen zu machen. Jegliche Sünden werden Euch also auf ewig nachgetragen.«

Portia seufzte. »Tja, mit diesen Augen und dem Haar denke ich, ist das wohl unvermeidlich.« Das schwarze Haar und die blauen Augen, die bei Luc so männlich und dramatisch wirkten, hatten bei Portia eine ganz andere, überaus weibliche Note. Aber als der geborene Wildfang, der sie nun einmal war, hatte sie diese Vorzüge noch nie so recht zu schätzen gewusst.

»Ach, mach dir doch darüber keine Gedanken.« Mit einem Lächeln schob Amelia ihren einen Arm unter Portias hindurch und schlang den anderen um Penelopes Taille. »Wir sitzen gerade beim Mittagessen. Ihr seid doch mit Sicherheit völlig ausgehungert.«

Penelope schob ihre Brille ein Stückchen die Nase hinauf. »Oh, hungrig sind wir eigentlich immer.«


Den Rest des Nachmittags verbrachte Amelia damit, die Nachzügler auf Somersham Place willkommen zu heißen und der Verwandtschaft die Zimmer zu zeigen. Die Hochzeit erschien ihr im Großen und Ganzen als eine einzige, unablässige Abfolge von Pflichten, die sie zu erfüllen hatte. Es blieb ihr nur wenig Zeit, die bevorstehende Feierlichkeit auch einmal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten - und für die bei einer Braut sonst übliche Nervosität war erst recht kein Platz mehr. Sogar als sie etwas später am Nachmittag im Beisein von Amanda, Louise und ihren Tanten noch ein letztes Mal das Hochzeitskleid anprobierte, war sie noch die Ruhe selbst.

Anschließend zog sie sich mit Amanda in deren Zimmer zurück. Dort lagen sie auf dem Bett und unterhielten sich - so wie sie es schon immer getan hatten und auch weiterhin tun würden, ganz gleich, ob sie nun verheiratet waren oder nicht. Als Amanda, erschöpft von der Reise, schließlich einnickte, erhob Amelia sich leise und schlich hinaus.

Sie war schon oft zu Besuch in diesem Haus gewesen - von jüngster Kindheit an - und wusste folglich, wo sie durch eine kleine Nebentür in den Garten entschlüpfen konnte, ohne dabei gesehen zu werden. Unter dem Schutz der dicht belaubten Eichen schlenderte sie über den Rasen. Ihr Ziel war jener eine, einzige Ort auf diesem Anwesen, wo sie wohl niemand stören würde und sie einen Moment der Ruhe genießen könnte.

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand schon lange wieder verlassen, doch ihr Licht drang noch immer hell und kräftig zwischen den Bäumen hindurch, als Amelia über die Lichtung vor der kleinen Kirche schritt. Das alte Gebäude war ganz aus Stein und stand schon seit Jahrhunderten an diesem Ort. In dieser Kirche waren schon Scharen von Cynsters mit ihren Partnern vermählt worden, und sämtliche dieser Verbindungen - so wollte es zumindest die Legende - hielten ein Leben lang. Doch das war nicht der Grund, weshalb Amelia sich dazu entschlossen hatte, unter diesen uralten Balken heiraten zu wollen. Sondern sie hatte sich vielmehr von dem Gedanken leiten lassen, dass sie hier bereits getauft worden war, und dass auch ihre Eltern hier den Bund der Ehe geschlossen hatten. Es schien also nur folgerichtig, in derselben Kirche die erste Phase ihres bisherigen Lebens zu beenden und gleichzeitig die zweite zu beginnen.

Im Vorraum des kleinen Gebäudes blieb sie stehen und überließ sich dem Frieden, der mit seinen zarten Fingern nach ihr zu tasten schien, erahnte die Kraft, die in dem Losgelöstsein von allem Zeitlichen lag, fühlte die Gnade und die tiefe Freude, die hier jeden einzelnen Stein zu durchdringen schienen. Dann streckte sie den Arm aus, drückte die schwere Türklinke hinunter, und lautlos öffnete sich die Tür. Amelia trat hinein - und stellte fest, dass sie nicht die Einzige war, die auf der Suche nach ein wenig Ruhe hierher gekommen war.

Vor dem Altar stand Luc, die Hände in den Taschen seiner Breeches vergraben, den Blick zu dem bunt verglasten Fenster über dem Chor erhoben. Die prächtigen Farben waren atemberaubend, und doch war es nicht ihre Schönheit, die seine Aufmerksamkeit fesselte.

Er selbst konnte nicht genau sagen, was ihn beschäftigte. Luc versuchte die Vielzahl an Empfindungen in seinem Inneren voneinander zu trennen, konnte das wilde Durcheinander aber nicht in seine einzelnen Stränge auflösen. Alles schien sich miteinander zu vermischen, schien sich ineinander widerzuspiegeln und zu verschmelzen, bis er schließlich nur einen einzigen, geradezu bezwingenden Impuls spürte.

Er wollte nichts sehnlicher in seinem Leben, als Amelia zu seiner Frau zu machen.

Und schon morgen früh würde es so weit sein, hier, an diesem Ort. Das Einzige, was er nun noch tun musste, war, zu warten - und dann wäre sie die seine.

Die Macht seiner Gefühle für sie überwältigte ihn beinahe, und das ganz besonders an einer Stätte wie dieser hier, wo ihn nichts und niemand mehr von der Erkenntnis ablenkte, und ihm keiner die Sicht auf die fast schon erschreckend klare Wahrheit noch verstellte.

Dies war ein sehr wichtiger Schritt für ihn. Zumal die Kirche über die Jahrhunderte hinweg schon zahlreichen Eheschließungen als stille Zeugin beigewohnt hatte. Das Wesen jener heiligen Versprechen schien auch das Gebäude selbst zu durchdringen, schien die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden und mit seiner sanften Macht bis in die Zukunft hineinzureichen. Es war letztendlich also nur ganz natürlich, dass Luc sich der wichtigsten und grundlegendsten aller Wahrheiten, die es im Leben wohl geben konnte, speziell an diesem Ort noch einmal bewusst werden wollte.

Im Übrigen hatte er schon immer das Gefühl gehabt, dass Somersham Place seine ganz eigene Magie besaß. Er war im Laufe seines Lebens immer wieder einmal hier zu Gast gewesen und hatte stets die vage Ahnung gehabt, dass hier etwas Besonderes existierte, etwas, das es nur hier gab. Aber erst jetzt konnte er diese beeindruckende Stimmung wirklich mit allen seinen Sinnen erfassen. Denn erst jetzt war all sein Denken - und, wenn er ehrlich war, auch das Sehnen seines Herzens und seiner Seele - allein auf die Erfüllung dieses einen, bezwingenden Verlangens ausgerichtet: Wie schon Generationen von Männern vor ihm, so ging nun auch Luc den Pfad des Kriegers, des Beschützers und liebenden Ehemannes.

Nur wann genau dieses Streben von ihm Besitz ergriffen hatte, das vermochte Luc nicht zu sagen. Vielleicht war dieser gereifte Mann, der er nun war, schon immer Teil seines Wesens gewesen. Vielleicht hatte er nur auf den richtigen Augenblick und die richtige Frau gewartet, um endlich hervorzutreten - um ein neues Gefühl der Liebe und der Hingabe in sich zu entdecken.

Und es fortan zu seinem Leitstern zu machen.

Luc atmete einmal tief durch und blickte auf den Altar. All diese Empfindungen und Erkenntnisse, die er in seinem Inneren eben noch einmal hatte Revue passieren lassen, würde er morgen, wenn er Amelia heiratete, formell anerkennen. Und wenn er sein Eheversprechen ablegte, dann würde er nicht nur Amelia etwas geloben und auch nicht bloß sich selbst, sondern er würde damit auch etwas noch Größerem und nicht mehr zu Erfassendem sein heiliges Versprechen geben.

Ein plötzlicher Luftzug riss ihn abrupt aus seinen Gedanken. Luc schaute sich um und sah, wie Amelia behutsam die Tür schloss. Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen kam sie langsam auf ihn zu; Luc drehte sich zu ihr um.

Unmittelbar vor ihm, doch noch mit einem gewissen, kleinen Abstand zwischen ihnen beiden blieb sie stehen. Forschend schaute sie ihm in die Augen. Ihre Gesichtszüge blieben vollkommen entspannt. Sie war neugierig, forderte jedoch nichts.

»Du hast nachgedacht?«

Luc nahm den Anblick ihres Gesichts tief in sich auf. Dann erwiderte er ihren Blick und nickte. Er hob den Kopf, konnte sich nur mühsam von ihr lösen, und sah sich um. »Eine wunderschöne alte Kirche.« Dann schaute er wieder zu Amelia hinab. »Mit diesem Ort hier hast du genau die richtige Wahl getroffen.«

Ihr Lächeln wurde noch ein wenig wärmer, und auch sie sah sich um. »Ich bin sehr froh, dass du das genauso siehst wie ich.«

Luc wagte es nicht, sie zu berühren, wollte es nicht riskieren. Und doch spürte er, wie das Verlangen durch seine Adern pulsierte, wie die Begierde ihm eine zarte Gänsehaut aufhauchte. »Ich hätte nicht geglaubt, dass wir uns vor morgen noch einmal begegnen würden. Zumindest nicht allein.«

»Nun, das hätten wohl auch all die anderen nicht geglaubt.«

Er sah ihr in die Augen, wusste, was sie dachte. Für einen kurzen Moment war er drauf und dran, ihr die Wahrheit zu erzählen - die ganze Wahrheit. Getrieben von dem Bedürfnis, sich die Last dieser Geheimnisse noch vor dem morgigen Tag von der Seele zu reden...

Zuerst aber musste Amelia noch sagen: »Ich will.« Und diesen Schwur wiederum würde er erst morgen von ihr hören.

Luc verzog das Gesicht zu einer Grimasse und deutete in Richtung Tür. »Besser, wir gehen jetzt wieder zurück zum Haus, ehe irgendein neunmalkluger Kopf noch feststellt, dass wir beide verschwunden sind, und die Fantasie der Leute Purzelbäume schlägt.«

Amelia grinste, wandte sich dann aber ebenfalls um und ging gemeinsam mit Luc den Mittelgang hinab. Er griff rasch an ihr vorbei, wollte gerade die Tür öffnen - da blieb Amelia vor ihm stehen, eine Hand auf seinen Arm gelegt.

Ihre Blicke begegneten sich, versanken geradezu ineinander. Dann lächelte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste zart seinen Mund, ganz leicht und flüchtig. Der Kampf, den Luc in diesem Moment in seinem Inneren auszufechten hatte, raubte ihm fast den Verstand.

Ehe er die Schlacht aber verlieren konnte, wich Amelia bereits wieder von ihm zurück und sah ihn abermals an.

»Danke, dass du meinen Antrag angenommen hast... und dass du dir die Sache mit dem Datum dann doch noch einmal überlegt hast.«

Amelia hielt seinen nachtschwarzen Blick fest. Schließlich lächelte sie und drehte sich um in Richtung Tür. Luc zögerte kurz, dann stieß er die schwere Flügeltür auf. Amelia trat hinaus ins Licht, wartete auf Luc und darauf, dass er die Tür wieder schloss. Dann gingen sie sittsam Seite an Seite zurück zum Haus.