14
Diese Entdeckung war weiß Gott alles andere als ermutigend. Einige Stunden später saß Luc im Frühstückssalon und starrte blicklos und tief in Gedanken versunken auf das neueste Informationsblatt aus London, das er vor sich gegen die Kaffeekanne gelehnt hatte. Geradezu fassungslos grübelte er darüber nach, welcher Wahnsinn ihn bloß getrieben hatte, sich auf diese Situation einzulassen. Nicht nur, dass er verheiratet war, nein, sondern seine Ehefrau war auch noch eine Cynster.
Und er konnte sich noch nicht einmal darauf berufen, dass er sich in ihr getäuscht hätte, denn schließlich kannte er sie ja bereits sein ganzes Leben.
Und dennoch saß er nun da, am Morgen nach der Hochzeitsnacht, und hatte das Gefühl, als ob er nun plötzlich die traditionelle Rolle der verunsicherten jungen Braut übernommen hätte, der man mit ruhigem Zureden erst einmal das Eheleben erklären musste. Luc unterdrückte ein spöttisches Schnauben und konzentrierte sich wieder ganz auf seine Zeitung. Nur leider weigerte sein Verstand sich noch immer hartnäckig, den Sinn der dort geschriebenen Worte zu entschlüsseln...
Er dachte nach. Etwas belastete ihn. Zwar war es nicht seine sexuelle Potenz, die ihm Sorgen bereitete, oder etwa die ihre, Amelias. Nein, das Problem lag ganz woanders. Aber es fiel ihm schwer zu definieren, was genau denn nun eigentlich die Ursache seiner Grübeleien war. Er wusste ja selbst nicht, warum er seit der Hochzeit plötzlich das Gefühl hatte, sich nur noch ganz vorsichtig und fast schon zaghaft über die Landschaft der körperlichen Leidenschaft zu wagen. Jene Landschaft, die ihm doch bereits so vertraut gewesen war. Und dennoch war für ihn das Zusammensein mit einer Frau - mit seiner Frau - seit der gestrigen Nacht nicht mehr so unkompliziert, wie es früher gewesen war...
Glücklicherweise hatte Minerva seine vier Schwestern für die komplette kommende Woche zu sich nach London geholt, sodass er und Amelia ein wenig Zeit hatten, um sich erst einmal an das Leben als Eheleute zu gewöhnen. Allein die bloße Vorstellung, jetzt, in dieser emotional so verwirrenden Phase, schon gleich frühmorgens bei der ersten Tasse Kaffee Portias und Penelopes scharfe Blicke auf sich zu fühlen, jagte Luc bereits einen Schauer des Unbehagens über den Rücken.
Er hob seine Tasse, trank einen großen Schluck und schob unwirsch die Zeitung beiseite.
Genau in diesem Augenblick kam Amelia ins Zimmer.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich zu ihm setzen würde, sondern hatte eher den Eindruck gehabt, dass sie sehr erschöpft gewesen war. Daher hatte er sie ganz bewusst nicht geweckt, sondern das warme, lebendige Bündel, als das sie an seiner Seite gelegen hatte, lieber noch weiterschlafen lassen.
Dennoch kam sie nun munter hereingeschneit, angetan mit einem hübschen, duftigen Musselinkleid, über das sich ein Muster aus zarten, lavendelfarbenen Blütenzweigen zog. Gut gelaunt und mit einem fröhlichen Lächeln begrüßte sie ihn: »Guten Morgen.«
Luc nickte lediglich und versuchte seine Überraschung darüber, sie nun hier zu sehen, rasch zu überspielen, indem er sich hinter seine Tasse duckte. Amelia wandte sich dem Buffet auf der Anrichte zu. Sogleich kam Cottsloe herbeigeeilt, um ihren Teller zu halten, während sie ihre Auswahl unter den Köstlichkeiten traf. Rasch goss der Butler ihr auch noch eine Tasse Tee ein. Dann folgte er Amelia, die sich bereits zum Tisch umgewandt hatte.
Sie steuerte geradewegs auf den Platz gleich rechts neben Luc zu.
Ein Lakai sprang eilfertig vor und zog den Stuhl für sie vom Tisch zurück. Sie lächelte. Dann setzte sie sich, wobei sie sowohl dem Lakaien als auch Cottsloe gut gelaunt für deren Mühe dankte.
Auf einen wortlosen Blick von Luc hin zogen die beiden Bediensteten sich diskret wieder zurück. Dann musterte Luc erst seine Frau und schließlich ihren großzügig gefüllten Frühstücksteller. Die Pflichten der Ehefrau, denen sie sich erst kürzlich noch gewidmet hatte, verliehen ihr offensichtlich einen gehörigen Appetit.
»Ich vermute mal, du wirst den Vormittag über beschäftigt sein - du möchtest dich sicherlich über den aktuellen Stand deiner Geschäfte informieren?« Fragend schaute sie ihn an, während sie die Gabel zum Munde führte.
Luc nickte. »Es ist jedes Mal das Gleiche. Immer wenn ich mich gerade nach Calverton Chase zurückgezogen habe, ergeben sich plötzlich irgendwelche ganz dringenden Angelegenheiten, um die ich mich unbedingt sofort persönlich kümmern muss.«
»Du verbringst den Großteil des Jahres hier, nicht wahr? Denn im Grunde lebst du doch bloß während der Ballsaison in London - und dann noch einmal ein paar Wochen gegen Ende.«
»Stimmt. Zur Ballsaison bin ich da und im Herbst, wobei ich versuche, nicht vor Ende September von hier abzureisen, lieber sogar noch später. Und bis Ende November bin ich meistens auch schon wieder hier.«
»Um an den Pirschjagden teilzunehmen?«
»Nein, eher, damit ich die Vorbereitungen für den Winter überwachen kann und um rechtzeitig da zu sein, wenn das Jagdreiten beginnt - ich jage lieber zu Pferde als zu Fuß.«
Amelia nickte. Rutlandshire und das benachbarte Leicestershire waren zwei der Hauptjagdgebiete des Landes. »Ich gehe mal davon aus, dass uns im Februar jede Menge Gäste ins Haus stehen werden.«
»Darauf kannst du wetten.« Unruhig rutschte Luc auf seinem Stuhl hin und her. »Und da wir gerade vom Reiten sprechen... ich muss mich jetzt zwar langsam an die Arbeit machen, aber wenn du möchtest, dass ich -«
»Nein, nein. Das ist schon in Ordnung. Ehe wir von London abgefahren sind, hatte deine Mutter sich sowohl mit mir als auch mit Mrs. Higgs noch einmal ausführlich besprochen. Es ist also bereits alles geklärt.« Sie lächelte. »Es war sehr nett von ihr, die Herrschaft über den Haushalt hier so freimütig und vollständig an mich abzugeben.«
Luc schnaubte verächtlich. »Sie hat doch nur darauf gewartet, endlich jemandem die Zügel übergeben zu dürfen. Jemandem, den sie bereits seit Jahren kennt und dem sie vertraut.«
Er zögerte einen Moment, dann streckte er den Arm aus und ergriff Amelias Hand. Sie legte ihre Gabel nieder, und langsam hob Luc ihre Finger an seine Lippen. Den Blick fest in ihre Augen gesenkt, küsste er nur die Fingerspitzen. Er drückte sie einmal zärtlich. Dann stand er auf, schob seinen Stuhl zurück, trat um den Tisch herum und legte ihre Hand schließlich sanft wieder zurück in ihren Schoß. Dabei sagte er leise: »Ich bin mir sicher, mein Haushalt ist bei dir in den besten Händen.« Er schwieg einen Augenblick und fügte schließlich noch hinzu: »Ich bin zum Mittagessen wieder zurück.«
Im Stillen war sie sich zwar nicht so sicher, ob Lucs Haus bei ihr tatsächlich in den »besten« Händen lag... aber besagte Hände waren zumindest gut geschult und arbeitseifrig. Denn genau dies war die Aufgabe, die zu erfüllen Amelia von Geburt an bestimmt gewesen war, für die sie erzogen worden war und die sie immer wieder geübt hatte: den Haushalt eines Gentleman zu führen.
Sie hatte gerade ihren Tee beendet, als Mrs. Higgs im Salon erschien. Amelia erwiderte das freundliche Lächeln ihrer Haushälterin. »Ihr kommt gerade passend. Wir wäre es, wenn wir mit der Besprechung der Menüs beginnen?«
»Sehr gerne, Ma’am, wenn Ihr es wünscht.«
Von früheren Besuchen her war Amelia das Haus bereits recht vertraut. »Als Esszimmer benutzen wir in Zukunft den kleinen Salon, der vom Musikzimmer abzweigt.« Damit erhob sie sich.
Mrs. Higgs folgte ihr in die Halle nach. »Dann wollt Ihr also nicht in Eurem eigenen Wohnzimmer dinieren, Ma’am?«
»Nein. Dieser Bereich soll privat bleiben.« Vollkommen privat.
Außerdem wurde der kleine Salon hinter dem Musikzimmer morgens regelrecht vom Sonnenlicht durchflutet. In dem Raum befanden sich eine bequeme Chaiselongue und zwei Lehnsessel, die jeweils mit Chintz bezogen waren, außerdem stand hinten an der Wand ein kleiner Sekretär. Es war also alles noch genauso, wie Amelia es in Erinnerung gehabt hatte. Sie marschierte zu dem kleinen Schreibplatz mit seinem zerbrechlich wirkenden Stühlchen hinüber, und genau wie sie vermutet hatte, befanden sich im Inneren des Sekretärs etwas Papier sowie ein paar Stifte. Zweifellos war der Schreibplatz seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Vor allem aber besaß er ein Schloss mit einem Schlüssel.
»Der hier wird mir in Zukunft als Schreibtisch für meine Korrespondenz dienen. Er ist wie dafür geschaffen.« Amelia setzte sich, durchwühlte die Papiere nach einem sauberen Blatt und untersuchte dann die Stifte. »Ich werde mir bald ein paar bessere Schreibutensilien besorgen, aber für heute wird das wohl reichen.« Sie lächelte Mrs. Higgs an und deutete mit einem knappen Nicken auf den Armlehnensessel, der dem Sekretär am nächsten stand. »Zieht Euch den da heran, setzt Euch, und dann wollen wir anfangen.«
Doch obwohl Amelia das Prozedere von der Theorie her natürlich kannte und gemeinsam mit ihrer Mutter schon an unzähligen Haushaltsplanungen teilgenommen hatte, so war sie nichtsdestotrotz überaus dankbar für Mrs. Higgs treue Unterstützung und ihren gesunden, durch viele Jahre des Dienstes geschulten Menschenverstand.
»Ente an Kirschen wäre eine gute Wahl. Das würde auch zu dem Rest des Menüs passen. Ich meine, nun, da wir es uns leisten können, das Drumherum ein klein wenig extravaganter zu gestalten, wäre es doch nur gerecht, wenn wir dem Hausherrn dafür eine seiner Leibspeisen zubereiten. Und Ente an Kirschen ist ganz eindeutig eine davon.«
Gehorsam fügte Amelia in das abendliche Menü »Ente mit Kirschen« ein. Und natürlich war ihr auch Mrs. Higgs kurze Bemerkung zur finanziellen Situation der Familie Ashford nicht entgangen. Die Haushälterin hatte in den letzten Jahren sicherlich mit einem äußerst knapp bemessenen Haushaltsbudget auskommen müssen... Es war also nur vernünftig, dass Luc ihr offenbar bereits mitgeteilt hatte, dass ab sofort kein Grund mehr zur Sparsamkeit bestand. »Können wir dazu noch Crème Brulée nehmen, was meint Ihr? Das würde die Sache sehr schön abrunden.«
Mrs. Higgs nickte. »Eine gute Wahl, Ma’am.«
»Wunderbar. Dann hätten wir das also schon einmal erledigt.« Amelia legte den Stift nieder und reichte Mrs. Higgs die Seite. Die Haushälterin ließ noch einmal rasch den Blick darüber schweifen, dann steckte sie das Blatt Papier in die Tasche ihrer Schürze.
»Nun wüsste ich aber gerne, ob es vielleicht noch irgendetwas.... anderes gibt, das ich wissen sollte?« Amelia blickte Mrs. Higgs aufmerksam an. »Ich denke da an die weniger erfreulichen Dinge, was das Haus und die Dienerschaft anbelangt. Gibt es da irgendwelche Probleme, die geklärt werden müssen?«
Wieder bedachte Mrs. Higgs Amelia mit einem breiten Lächeln. »Nein, Ma’am. Zumindest nichts, was jetzt im Augenblick anstände. Tatsächlich hatten wir sogar erst gestern Abend in der Halle noch bemerkt, dass nun, da der junge Herr verheiratet ist und sich als Ehefrau auch noch ausgerechnet Euch, Miss - oder ich sollte wohl besser sagen: Ma’am - ausgesucht hat - schließlich kennen wir alle Euch ja schon lange und haben miterlebt, wie Ihr von einem ganz kleinen Mädchen zur jungen Frau herangewachsen seid, und...« Mrs. Higgs hielt einen Moment inne, um Luft zu holen. »Nun ja, jedenfalls... was ich sagen wollte, ist, dass nun, da sich alles so wunderbar gefügt hat, keiner von uns noch irgendwelche nennenswerten Wünsche offen hat. Und das ist mein voller Ernst.«
Amelia erwiderte das Lächeln der Haushälterin. »Ich weiß, dass die vergangenen Jahre für Euch recht schwierig gewesen sein müssen.«
»Ja, das waren sie. Und manchmal sogar mehr als schwierig, was die Sache mit Master Edward und all dem anderen Kram angeht... aber...« Mrs. Higgs wölbte die Brust, und sofort hellte sich ihr Gesicht, das sich bei dem Gedanken an die Vergangenheit unwillkürlich verdüstert hatte, wieder auf »... aber das liegt ja nun alles weit hinter uns.« Damit nickte sie in Richtung der Fenster, hinter denen ein strahlender Sommertag grüßte. »Genauso wie beim Wetter, so hat sich auch in der Familie nun alles wieder zum Guten gewendet, und vor uns liegen endlich nur noch Zeiten des Glücks und vielleicht sogar ein paar nette Überraschungen.«
Amelia tat so, als ob sie die Erwähnung der »netten Überraschungen« nicht gehört hätte, die zweifellos eine Anspielung war auf den zukünftigen Nachwuchs im Hause, genauer gesagt auf ihren Nachwuchs - ihre und Lucs Kinder. Dankbar neigte Amelia den Kopf. »Ich hoffe, dass meine Amtszeit als Hausherrin hier eine glückliche Zeit wird.«
»Aber ja, natürlich.« Damit stemmte Mrs. Higgs sich aus dem Lehnsessel hoch. »Ihr habt doch schon ganz prima begonnen. Nun kommt es nur noch darauf an, genauso weiterzumachen.« Sie klopfte auf ihre Schürzentasche. »Ich bring der Köchin wohl am besten erst mal den Speisenplan. Danach steh ich Euch selbstverständlich sofort wieder zur Verfügung, Ma’am.«
»Ich habe eine bessere Idee.« Auch Amelia erhob sich. »Ich komme einfach mit Euch. Dann könnt Ihr mir bei der Gelegenheit gleich den Küchentrakt zeigen. Und danach könnt Ihr mich noch einmal durch das Haus führen. Die Raumaufteilung im Großen und Ganzen kenne ich zwar schon, aber ich bin mir sicher, es gibt noch so einige Orte, die ich noch nie gesehen habe.«
Orte, die ein Gast niemals betreten würde, die die Herrin des Hauses aber sehr wohl kennen sollte.
Wie zum Beispiel die Dachböden.
Die Böden über dem Westflügel und die Hälfte der östlichen Dachkammern waren zu Schlafkammern für die Dienerschaft ausgebaut worden. Die meisten der Unterkünfte waren zwar nur schmale Zimmerchen, gerade ausreichend, um die nötigsten Möbelstücke darin unterbringen zu können. Aber immerhin besaß jedes Zimmer ein kleines Fenster, wie Amelia auf ihrem Weg durch den schmalen Mittelgang befriedigt feststellte. Zudem waren sämtliche der Kammern, in die sie vorsichtig hineinspähte, nicht nur sauber und ordentlich aufgeräumt, sondern es fanden sich auch überall kleine wohnliche Accessoires - ein Spiegel, ein kleines gerahmtes Bild an der Wand oder ein altes Marmeladenglas, das als Blumenvase umfunktioniert worden war.
Die zweite Hälfte des östlichen Dachbodens diente als Lagerraum und Speicher. Nachdem Amelia auch hier einmal kurz hineingeschaut hatte, stimmte sie Mrs. Higgs zu, dass sie im Grunde erst einmal genug gesehen hatte. Luc hatte gesagt, dass er zum Mittagessen wieder zu Hause wäre, und Amelia wollte ihm schließlich nicht gleich an ihrem ersten Tag als Ehefrau und Ehemann mit Spinnenweben im Haar gegenübersitzen.
Nachdem sie wieder ins Hauptgebäude zurückgekehrt waren, hielt die Haushälterin auf dem obersten Absatz der Haupttreppe noch einmal kurz inne und deutete auf die Zimmer, die das Obergeschoss einnahmen. »Gleich hier vorn ist das Kinderzimmer, und das Schulzimmer liegt dort hinten rechts. Außerdem befinden sich auf diesem Flur die Räume des Kindermädchens und der Hauslehrerin, Miss Pink.«
Amelia erinnerte sich an die schüchterne, winzige Frau. »Wie kommt sie denn mit der Erziehung von Portia und Penelope zurecht?« Lucs jüngste Schwestern waren wahre Wildfänge, und sie zu bändigen war mit Sicherheit keine leichte Aufgabe.
»Um die Wahrheit zu sagen - ich glaube, Portia und Penelope erziehen eher Miss Pink. Die beiden jungen Damen sind nämlich sehr gewitzt. Aber ganz gleich, wie wild und eigensinnig sie manchmal auch sein mögen, so haben sie doch ein gutes Herz. Mir scheint, sie haben wohl spontan Mitleid empfunden mit Miss Pink, als sie sie das erste Mal gesehen haben. Die Gute ist eben genau solch ein Blaustrumpf, wie die beiden es sich wohl gewünscht hatten.«
»Dann macht ihnen der Unterricht also Spaß?«
»Sie verzehren sich sogar regelrecht danach. Und unter uns gesagt bringt Miss Pink ihnen wesentlich mehr bei, als junge Damen eigentlich zu wissen bräuchten. Aber wie dem auch sei... Miss Portia und Miss Penelope sind jedenfalls durchaus in der geistigen Verfassung, das Lernpensum zu bewältigen, ohne gleich von einem nervösen Fieber befallen zu werden. Pink macht ihre Sache also sehr gut. Und weil die Mädchen ihre Lehrerin mögen, bemühen sie sich auch, sich einigermaßen zu benehmen.«
Damit verließen Amelia und Mrs. Higgs das Obergeschoss und machten sich an eine genaue Inspektion der im ersten Stock gelegenen Räume. Der Großteil der Empfangsräume befand sich im Erdgeschoss, aber es gab auch noch diverse Wohnzimmer, die zwischen den Gästeschlafzimmern lagen, welche entlang der beiden Gebäudeflügel angesiedelt waren.
»Uns stehen also eine ganze Reihe an angemessenen Suiten zur Verfügung. Das ist praktisch, besonders wenn man ältere Herrschaften zu Besuch hat.« Amelia machte sich eine kurze Notiz auf dem kleinen Block, den sie mit sich trug.
Ein tiefes Gong hallte durch das gesamte Haus. Mrs. Higgs hob den Kopf. »Das ist das Zeichen, dass das Essen aufgetragen ist, Ma’am.«
Amelia drehte sich zur Treppe um. »Dann machen wir heute Nachmittag weiter.«
Sie kam gerade in dem Augenblick unten in der Eingangshalle an, als auch Luc aus dem langen Korridor im Westflügel trat. Er trug Breeches und eine Reitjacke und wirkte wie die Verkörperung des englischen Landedelmannes. Sein fein geschnittenes Gesicht und seine hochgewachsene Statur unterstrichen seinen Status nur noch.
Mrs. Higgs knickste. Dann eilte sie geschäftig an ihm vorbei und in den Dienstbotentrakt hinein. Fragend hob Luc eine Braue, als er neben Amelia trat. »Und, hast du dir alles angesehen?«
»Na ja, wir haben eigentlich erst knapp die Hälfte geschafft.« Sie ging voran in den neu auserkorenen Speisesalon. »Nach dem Mittagessen wollen Mrs. Higgs und ich unsere Erkundungstour fortsetzen.«
Damit setzte sie sich an den Tisch und wählte wieder den Platz unmittelbar rechts von Luc. Solange sie ihre Mahlzeiten allein einnahmen, wollte sie nicht ganz am anderen Ende des Tisches sitzen. Cottsloe schien ihr in dieser Hinsicht zuzustimmen, denn obwohl Amelia ihn noch gar nicht darum gebeten hatte, lag ihr Gedeck bereits auf dem gewünschten Platz. Amelia entfaltete ihre Serviette und warf Luc einen neugierigen Blick zu. »Gibt es irgendetwas Bestimmtes an der Art und Weise, wie der Haushalt hier geführt wird«, sie machte eine weit ausholende Geste, »das du gerne ändern würdest?«
Er setzte sich und dachte augenscheinlich angestrengt nach, während Cottsloe das Essen auftrug. Dann, als der Butler wieder zurücktrat, schüttelte Luc den Kopf. »Nein. Wir haben in den vergangenen Jahren schon so gut wie alles neu organisiert.« Er sah Amelia an. »Und nun, da Mama dir die Führung des Haushalts übertragen hat, entscheidest du über derlei Dinge ab sofort allein.«
Sie nickte, und beide begannen zu essen. Schließlich fragte sie behutsam: »Wie steht es denn mit den Angelegenheiten der Ländereien und der Wirtschaft auf deinen Anwesen? Möchtest du mir da vielleicht noch die eine oder andere Aufgabe übertragen?«
Das war eine sehr schwierige Frage, denn Minerva war schließlich nicht mehr allzu jung, und Luc war nun einmal Luc. Während seine Mutter also zweifellos unermüdlich all ihren Pflichten nachgekommen war, so hatte Luc ihr doch bereits so viel wie möglich abgenommen und auf seine eigenen Schultern geladen.
Wieder überlegte er eine Weile, schüttelte aber schließlich abermals den Kopf - genau wie Amelia erwartet hatte. Dann hielt er abrupt inne, schaute sie ernst an und ergänzte: »Nun ja, wenn man es genau nimmt, gibt es da schon so ein paar Dinge, die du vielleicht übernehmen könntest.«
Vor Erstaunen hätte sie fast ihre Gabel fallen lassen. »Was?« Sie hoffte, dass ihre Begeisterung nicht zu offensichtlich war. Denn zu ihrem Plan, was die längerfristige Zukunft ihrer Beziehung anging, gehörte auch, sich ganz offiziell den Platz der Frau an seiner Seite zu erobern - und zwar nicht nur in den Augen der Dienerschaft und der Angestellten des Gutes, sondern auch in den Augen von Luc.
»Zum Beispiel das Herbstfest. Das ist so eine Art... Gutsparty, wenn man es denn so nennen will, die jedes Jahr gegen Ende September hier auf dem Anwesen stattfindet.«
»Ich erinnere mich«, antwortete Amelia. »Ich selbst bin vor Jahren auch schon einmal auf einem dieser Herbstfeste gewesen.«
»Ja, stimmt schon. Aber du hast noch keine der Gesellschaften erlebt, wie meine Großeltern sie damals gefeiert haben. Das waren noch Feste!«
Amelia sah Luc an und grinste. »Ich bin mir sicher, wenn wir uns nur genügend anstrengen, dann können unsere Gesellschaften es durchaus mit denen deiner Großeltern aufnehmen.«
»Cottsloe war damals noch Lakai, und Mrs. Higgs arbeitete als einfaches Serviermädchen. Die beiden haben bestimmt noch genügend Erinnerungen, um auch ein paar der ungewöhnlicheren Festlichkeiten wiederauferstehen zu lassen.«
Luc hielt den Blick fest in ihre Augen gesenkt; Amelia neigte den Kopf. »Ich werde mich mal erkundigen und sehen, was wir bewerkstelligen können.« Damit legte sie die Gabel nieder und hob ihr Glas. »Hast du vielleicht noch mehr Aufgaben für mich?«
Luc zögerte. »Es gibt da noch eine Sache. Allerdings lässt die sich nicht so schnell deichseln... Mama hat regelmäßige Besuche bei den Pachtbauern gemacht, und ich nehme an, du willst das sicher genauso fortführen. Aber wir haben in letzter Zeit noch mehr Landarbeiter auf unseren Höfen eingestellt. Und zwar nicht nur auf unserem eigenen Gut, sondern auch auf den verpachteten Ländereien. Das heißt, es leben jetzt auch zahlreiche Kinder auf den Ashford-Gütern - zu viele, als dass sie eines Tages allesamt in die Fußstapfen ihrer Väter treten und ihren Lebensunterhalt auf den Gutshöfen verdienen könnten.«
Luc nahm sein Glas auf, nippte kurz daran und lehnte sich zurück. »Ich habe bereits sehr vielversprechende Berichte von diversen Landgütern gehört, auf denen Schulen für die Kinder der Bauern und Landarbeiter eingerichtet wurden. Irgendetwas in der Art würde ich hier auch gern aufbauen. Aber andererseits fehlt mir ganz einfach die Zeit, um mich mit diesem Thema einmal eingehender auseinanderzusetzen. Mal abgesehen von dem Aufwand, den es kostet, so etwas auf Calverton Chase dann auch in die Tat umzusetzen.«
Und wenn dann auch noch alles so laufen sollte, wie Devil und Gabriel es sich wünschten, und er, Luc, in das Anlagekartell der Cynsters hinzugewählt würde - nun, dann hätte er für Aktivitäten wie das Schulprojekt wohl erst recht keine Zeit mehr.
Er blickte Amelia prüfend an und erkannte ein tatendurstiges Funkeln in ihren Augen.
»Wie viele Landgüter hast du denn?«, wollte sie wissen.
»Fünf.« Er zählte sie auf. »Jeder der Höfe ist recht produktiv. Der Reingewinn reicht also aus, um die Zeit und die Mühen zu rechtfertigen, die ich darin investieren muss, um die Güter auch weiterhin reibungslos am Laufen zu halten.«
»Gleichzeitig bleibt dir damit aber kaum noch Freiraum für andere Projekte.«
Luc nickte. »Ich suche jedes der Landgüter mindestens zweimal im Jahr persönlich auf.«
Sie sah ihn an. »Ich werde dich in Zukunft auf deinen Reisen begleiten.«
Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Abermals nickte Luc zufrieden.
»Aber was diese anderen Güter betrifft - sind die denn auch alle so groß wie Calverton Chase? Ich meine, sind sie groß genug, dass es Sinn machen würde, auch dort Schulen zu eröffnen?«
»Es sieht danach aus, als ob sie in den nächsten Jahren alle groß genug würden, um auf jedem Gut eine ausreichende Anzahl von Schülern zusammenzubekommen.«
»Oder anders ausgedrückt - wenn wir uns hier einmal die Mühe machen, ein komplettes Schulkonzept aufzustellen und Lösungen für die Probleme auszuarbeiten, die unweigerlich mit einem solchen Projekt einhergehen, dann könnten wir diesen Plan später einfach auf deine anderen Ländereien übertragen.«
Luc erwiderte ihren nun unverhohlen begeisterten Blick. »Nun, in jedem Fall werden wir erst einmal überall eine Menge Zeit und Überredungskünste investieren müssen. Man wird zunächst eine Menge Vorurteile aus dem Weg schaffen müssen.«
Amelia lächelte. »Aber ich habe doch mehr als genug Zeit. Überlass diese ganze Angelegenheit also ganz einfach mir.«
Mit einem letzten knappen Nicken stimmte er ihr zu, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie zufrieden er über ihren spontanen Vorschlag war. Denn je mehr Amelia in sein Leben integriert wurde, in die Abläufe auf den Höfen und im Haushalt von Calverton Chase, desto besser.
Auf seinem Ritt über das unmittelbar zum Herrenhaus gehörende Landgut war ihm noch einmal in aller Deutlichkeit vor Augen geführt worden, wie emsig endlich die schon so lange liegen gebliebenen Reparaturarbeiten in Angriff genommen wurden, wie fleißig an Verbesserungen gefeilt wurde - alles Arbeiten, von denen Amelia zweifellos annehmen würde, dass sie von ihrer Mitgift bezahlt würden.
Natürlich würde sie ihn nicht direkt danach fragen, schließlich gehörte es zu den unumstößlichen gesellschaftlichen Konventionen, dass keine Ehefrau das Recht hatte, sich in die geschäftlichen Angelegenheiten ihres Mannes einzumischen.
Trotzdem konnte Luc sich wiederum auch nicht vorstellen, Amelia nicht doch irgendwann in sein Geheimnis einzuweihen.
Es kam der Tag, an dem er ihr die Wahrheit würde sagen müssen - dass ihre Mitgift nicht mehr als ein winziger Tropfen in dem Ozean seines, Lucs, Vermögens war. Und dass er das alles schon von jenem schicksalhaften frühen Morgen an gewusst hatte, als sie ihm ihre Mitgift - und sich selbst - angeboten hatte. Er würde ihr gestehen müssen, wie sorgsam er die ganze Zeit über darauf geachtet hatte, all dies vor ihr zu verbergen, und dass er sogar so weit gegangen war, ihren eigenen Vater zu seinem Komplizen zu machen. Selbst mit Devil hatte er einen Pakt abgeschlossen...
Durfte er also darauf vertrauen, dass der wohl zu erwartende Wutanfall, der auf eine solche Offenbarung folgte, leidenschaftlich genug ausfallen würde, um Amelias Verstand über den wahren Grund für all diese Heimlichkeiten hinwegzutäuschen?
Im Stillen verzog er das Gesicht zu einer gequälten Grimasse. Denn Amelia war immerhin eine Cynster - und folglich hatte Luc viel zu viel Respekt vor ihrem Scharfsinn in derlei Angelegenheiten, als dass er eine vorzeitige Aufdeckung seiner Listen riskieren wollte.
Und ohnehin hatte er ja noch Zeit bis zum September, um ihr sein Geständnis zu machen.
Schließlich brauchte er sich dieser überaus unangenehmen Aufgabe ja nicht eher zu widmen als unbedingt nötig.
»Mylord?«
Luc blickte auf und sah Cottsloe neben der Tür stehen.
»McTavish ist gerade angekommen. Er wartet im Büro.«
Luc legte seine Serviette beiseite. »Vielen Dank.« Damit blickte er Amelia an. »McTavish ist mein Verwalter. Bist du ihm schon einmal begegnet?«
»Ja. Obwohl das schon Jahre zurückliegt.« Damit schob sie ihren Stuhl zurück; sogleich kam ein Lakai herangeeilt, doch Luc, der ebenfalls aufstand, rückte Amelias Stuhl eigenhändig beiseite und bedeutete dem jungen Mann mit einer knappen Geste, sich wieder zurückzuziehen.
Dicht vor Luc blieb Amelia noch einen Moment stehen und blickte ihm lächelnd in die Augen. »Wie wär’s, wenn ich einfach mit dir komme und du uns beide noch einmal offiziell miteinander bekannt machst? Danach lasse ich dich mit deinen Geschäften allein, während ich mich meinen Aufgaben widme.«
Luc ergriff ihre Hand und legte sie auf seinen Arm. »Das Büro liegt im Westflügel.«
Nachdem Amelia rasch einen neugierigen Blick durch Lucs Arbeitszimmer hatte schweifen lassen und sie McTavish noch einmal formell als Lucs junge Ehefrau vorgestellt worden war, gesellte sie sich wieder zu Mrs. Higgs. Gemeinsam setzten die beiden Frauen ihren Erkundungsgang durch das Haus fort. Während das Gebäude an sich in bestem Zustand war und auch das Holzwerk - sowohl die Böden als auch die Möbel - dank sorgfältiger Pflege und großer Mengen Bienenwachs prachtvoll schimmerte, so mussten doch fast alle Stoffbezüge und Fenstervorhänge ausgetauscht werden. Sicherlich war dies keine Sache, die sofort in Angriff genommen werden musste, aber innerhalb des nächsten Jahres sollte dieser Austausch doch stattfinden.
»Wir können nicht alles auf einmal schaffen.« Amelia und Mrs. Higgs hatten ihre Runde durch die Salons beendet. Im Hauptwohnzimmer schrieb Amelia rasch eine kleine Notiz nieder, in der sie festhielt, dass die fadenscheinigen, ausgeblichenen Vorhänge in diesem Raum auf alle Fälle die ersten sein müssten, die ersetzt wurden; gefolgt von denen im Esszimmer. Und auch die Stühle in beiden Räumen brauchten neue Polster.
»Wäre das dann alles, Ma’am?«, fragte Mrs. Higgs. »Falls ja, soll ich Euch dann Euren Tee bringen?«
Amelia hob den Kopf, überlegte kurz, kam dann aber zu dem Ergebnis, dass Luc im Moment sicherlich noch keinen Tee wünschte. »Ja, bitte. Lasst ihn mir bitte im kleinen Salon servieren.«
Die Haushälterin nickte und zog sich zurück. Amelia ging in den kleinen Salon hinter dem Musikzimmer.
Dort legte sie ihre Notizen - einen beträchtlichen Stapel - auf den Sekretär und streckte sich zum Entspannen auf der Chaiselongue aus. Ein Lakai erschien mit ihrem Teetablett. Amelia dankte ihm und schickte ihn dann wieder fort. Endlich allein, schenkte sie sich eine Tasse ein und nippte daran. Die Ruhe, die sie umgab, das Alleinsein, kamen ihr sehr ungewohnt und befremdlich vor.
Obwohl die Stille natürlich nicht lange anhalten würde, schließlich war dies stets ein Haus voller Menschen gewesen, die meisten von ihnen Frauen. Und sobald Minerva und Lucs Schwestern aus London zurückkehrten, würde auf Calverton Chase alles wieder so zugehen wie immer.
Nein - nicht wie immer. Das stimmte nicht.
Denn das war es ja gerade, was diese eigentümlich stille Zwischenphase ankündigte: die Geburt einer neuen Ära. Und - genau wie Mrs. Higgs gesagt hatte, war nicht nur das Wetter umgeschwungen und eine neue Jahreszeit angebrochen, sondern auch die Menschen auf diesem Anwesen bewegten sich einer neuen, einer anderen Zeit entgegen.
Einer Zeit, in der die Verantwortung für einen reibungslos funktionierenden Haushalt in Calverton Chase nun in ihren, Amelias, Händen liegen würde. Nun musste sie das Haus führen und für alles Sorge tragen. Gemeinsam mussten Luc und sie die Geschicke lenken, mussten die Familie, die in diesem Haus lebte, durch sämtliche Höhen und Tiefen, durch sämtliche Prüfungen, die ihnen noch bevorstehen mochten, sicher hindurchgeleiten.
Abermals nippte Amelia an ihrem Tee und spürte, wie ihre Zukunft, das Gewebe ihres zukünftigen Lebens, sie vage, fast noch ein wenig formlos, zugleich aber bereits deutlich wahrnehmbar umschloss. Und sie war begierig darauf, endlich die Herausforderung anzunehmen - den vielen verschiedenen Möglichkeiten endlich eine feste Form zu geben.
Nachdem sie ihren Tee ausgetrunken hatte, schien die Sonne sie dazu verlocken zu wollen, die Verandatüren des kleinen Salons zu öffnen. Bereitwillig stieß Amelia die beiden Flügeltüren auf und schritt hinaus in die Gärten.
Sie schlenderte über die ordentlich gemähten Rasenflächen, wanderte einen von Glyzinien überdachten und dann einen von Sonnenschein geradezu überfluteten Pfad entlang und dachte über das wichtigste all ihrer Vorhaben nach - die Planung ihrer unmittelbaren Zukunft.
Was den körperlichen Aspekt ihrer Beziehung zu Luc anging, so brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Dieser Teil ihrer Ehe entwickelte sich von ganz allein. Das Einzige, was Amelia also noch zu tun brauchte, war, sich Luc mit Haut und Haar hinzugeben - eine Aufgabe, der sie nur allzu gerne nachkam, besonders nach der vergangenen Nacht. Und dem heutigen Morgen.
Sie grinste. Am Ende des kleinen Spazierpfades angelangt, bog sie auf den davon abzweigenden Weg ein. Langsam wanderte sie immer weiter. Amelia hätte nie gedacht, noch einmal eine solche Zuversicht aus der Tatsache schöpfen zu können, dass sie Luc in ihrem gemeinsamen Bett befriedigte, dass seine Leidenschaft für sie echt war und nicht nur vorgetäuscht. Und sollte seine sinnliche Begierde nach ihr tatsächlich noch eine andere Qualität angenommen haben, seit sie das Feuer das erste Mal entfacht hatten, so war dieses Verlangen eher noch gewachsen, statt weniger geworden. Amelia fühlte sich regelrecht angespornt durch dieses befriedigende Bewusstsein.
Ein weiterer, unerwarteter Erfolg war Lucs Bereitwilligkeit gewesen, ihre Unterstützung bei der Planung des nächsten Herbstfestes zu akzeptieren und ihr bei der Umsetzung seiner Idee bezüglich der Gutsschulen freie Hand zu lassen. Womöglich sah er in seiner Ehefrau zwar zunächst einfach nur eine kompetente Unterstützung, deren Hilfe er - angesichts der Lasten, die er bereits auf seinen Schultern zu tragen hatte - glücklicherweise auch ohne Vorbehalte annahm. Doch nichtsdestotrotz war dies immerhin schon einmal ein Anfang. Es war ein Schritt in Richtung jenes Teilens, das letztendlich den zentralen Punkt in einer echten Ehe ausmachte.
Eine echte Ehe - genau das war Amelias Ziel, das sie sich als Lebensaufgabe gesetzt hatte. Sie wollte eine echte Ehe führen.
Am Ende des Seitenpfades hob sie den Kopf und ließ den Blick in die Ferne schweifen, hinüber zu den Stallungen und dem langgestreckten Gebäude, das dahinter lag. Und aus genau diesem Haus schallte ihr das unverkennbare, aufgeregte Jaulen von Hunden entgegen.
Die Jagdhunde waren Lucs ganzer Stolz; er liebte sie von ganzem Herzen. Ein leichtes Lächeln spielte um Amelias Lippen, und sie beschloss, sich die Tiere noch einmal etwas genauer anzusehen. Auch sie mochte Hunde sehr gern, was in diesem Fall nur gut war, denn Lucs bereits mit diversen Preisen ausgezeichnete Belvoirhunde waren schon von frühester Jugend an sein liebstes Hobby. Ein Hobby, das mit der Zeit eine sehr lukrative Entwicklung genommen hatte - mittlerweile brachte seine Meute ihm eine nicht unbeträchtliche Summe Geldes ein. Und zwar sowohl dadurch, dass er sie an Jagdgesellschaften in der näheren Umgebung vermietete, als auch durch die Zuchtprämien und den Verkauf der Nachkommen von Hunden wie Morry oder Patsy.
Die weitläufigen, blitzsauberen und mit diversen gemütlichen Hütten und Decken ausgestatteten Zwinger erreichte man über denselben Hof, um den sich auch die Pferdestallungen gruppierten. In der Mitte des langen Zwingergebäudes verlief ein schmaler Gang, an den sich zu beiden Seiten die überdachten Ausläufe der Tiere anschlossen. Und genau in diesem Gang entdeckte Amelia zu ihrer Überraschung plötzlich auch Luc wieder, der sich gerade mit Sugden, dem Zwingeraufseher, unterhielt.
Die beiden Männer diskutierten darüber, ob man noch eine neue Zuchthündin ankaufen sollte. Luc hatte Amelia den Rücken zugekehrt, sodass Sugden der Erste war, der die neue Herrin auf Calverton Chase entdeckte. Er errötete leicht, kniff die Lippen zusammen, nickte und zog grüßend seine Kappe. Luc drehte sich um, zögerte kurz und hob dann fragend eine Braue. »Bist du gekommen, um dir meine Schönheiten anzusehen?«
Amelia lächelte. »Ja, ganz genau.« Der kurze Moment des Zögerns war ihr keineswegs entgangen - womöglich fragte er sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass einer der ersten Käufe, die er von ihrer Mitgift tätigte, gleich eine neue Zuchthündin war. Doch Amelia ließ echte Vorfreude in ihren Augen aufblitzen, denn das gesamte Rudel bestand ausnahmslos aus ganz außergewöhnlichen Tieren. Sie nickte Sugden kurz zu und hakte sich bei Luc ein. »Ich hatte den Eindruck, als ob die Hunde mich durch ihr Gebell geradezu rufen würden. Wie viele sind es denn?«
Luc schlenderte mit ihr den Gang hinunter. »Wahrscheinlich hatten sie nur gehofft, dass du ihnen ihr Abendessen bringen würdest.«
»Sind sie denn hungrig? Wann bekommen sie für gewöhnlich die letzte Futterration des Tages?«
»Ach, die sind immer hungrig. Und das nächste Fressen wird ihnen auch gleich ausgeteilt. Insgesamt sind es fast sechzig Tiere, aber im Augenblick werden nur dreiundvierzig aktiv bei den Jagden eingesetzt. Die meisten anderen sind noch zu jung, und ein paar sind bereits zu alt.«
Einer von jenen, die »zu alt« waren, lag zusammengerollt auf einer dicken Wolldecke in dem letzten der Zwinger - jener Hundebox, die am dichtesten bei dem Kanonenofen lag, der im Winter das Gebäude wärmte. Die Tür des Pferches war nur angelehnt, und freudig klopfte der Hund mit dem Schwanz auf den Boden, als Luc sich ihm näherte.
Er kniete sich nieder und streichelte dem Tier über den langsam ergrauenden Kopf. »Das hier ist Regina. Sie war die Rudelführerin, ehe Patsy ihre Stelle übernahm.«
Auch Amelia hockte sich hin, ließ Regina an ihrer Hand schnüffeln und kraulte sie dann hinter den Ohren. Die Hündin hob den Kopf und blickte unter schweren Lidern zu ihrem Herrn empor.
Luc ließ sich auf die Fersen zurücksinken. »Ich hatte ganz vergessen, dass du Hunde magst.«
Aber das war nur gut so, denn im Winter würden sie ohnehin überall um einen herumwuseln. Einige von ihnen - die ganz Jungen und die ganz Alten, so wie zum Beispiel Regina - nahm Luc, sobald der Frost einsetzte, nämlich mit zu sich ins Haus.
»Doch, natürlich mag ich Hunde. Sehr sogar. Auch Amanda liebt diese Tiere, und wir hatten uns immer einen jungen Hund gewünscht... aber damit hätten wir dem Tier ganz sicher keinen Gefallen getan. Schließlich haben wir das ganze Jahr über in London gelebt.«
Darüber hatte Luc noch nie nachgedacht. Auf der einen Seite hatten sie beide, er und Amelia, so viel gemeinsam, hatten den gleichen gesellschaftlichen Hintergrund... und auf der anderen Seite wiederum war ihr Leben so unterschiedlich verlaufen. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie man wohl leben mochte, ohne ein weitläufiges Anwesen auf dem Lande sein Eigen zu nennen. Ein Anwesen wie Calverton Chase oder Somersham Place. Während er seine Sommer damit zugebracht hatte, hoch zu Pferde über das hügelige Land zu stürmen, war Amelia stets nur umhergereist, war mal hier zu Besuch gewesen, mal dort... und doch hatte keines der Anwesen ihrer Familie gehört.
Mittlerweile war der Tenor des Hundegebells noch eindringlicher geworden. Luc schaute zurück zum anderen Ende des Ganges, dann stand er auf und fasste Amelia am Arm. »Komm mit. Du kannst uns helfen, die Hunde zu füttern.«
Sofort sprang Amelia auf. Luc führte sie den Gang hinab, entließ die Jungen, deren Aufgabe es war, die Hunde zu füttern, für diesen Abend aus ihrem Dienst und zeigte Amelia, wie viel von den Fleischbrocken sie jeweils in die Näpfe geben sollte. Ohne zu zögern machte sie sich an die Arbeit und lernte schnell, dass man die Hunde zunächst leicht gegen die Nasen stupsen musste, ehe sie einem den Weg zu ihren Futterschüsseln freigaben.
Ganz am Ende des Ganges und in der Box, die gegenüber dem Schlafplatz der alten Hündin Regina lag, war Sugden gerade dabei, den jüngsten Wurf zu begutachten. Die Welpen waren erst knapp sechs Wochen alt und noch nicht entwöhnt. Auch Luc und Amelia näherten sich neugierig der Kinderstube - Sugden nickte seinem Dienstherrn anerkennend zu.
»Die Jungen hier machen sich prächtig. Und in dem da könnte durchaus ein neuer Champion stecken.« Er zeigte auf jenen kleinen Welpen, der mit der Nase dicht über dem Boden gerade die Ecken des Pferches inspizierte, dabei bereits deutliche, wenn auch noch ziemlich kindlich klingende »Wuff«-Laute ausstieß und aufgeregt schnüffelte. Luc grinste, beugte sich über das niedrige Gatter, das die junge Hundeschar umschloss, hob vorsichtig besagten Champion in spe empor und zeigte ihn Amelia.
»Oh! Er hat so weiches Fell.« Sie nahm Luc den Kleinen ab und kuschelte ihn mit entzückter Miene in ihre Arme. Als sie den Welpen dann wie ein Baby in ihrer Armbeuge bettete und sein rundliches Bäuchlein kitzelte, seufzte er leise und schloss die Augen.
Luc beobachtete Amelia, schien von dem Anblick regelrecht hingerissen und wandte schließlich verlegen den Blick ab. Als er sich dann abermals seiner jungen Frau zuwandte, sah diese fragend zu ihm auf. »Später, wenn die Tiere größer sind, können wir dann eines von ihnen Amanda schenken?«
Wieder betrachtete sie verliebt den jungen Hund, sprach zärtlich mit ihm und kraulte unterdessen weiterhin das flaumweiche Fell an seinem Bauch. Luc ließ den Blick über Amelias Kopf schweifen, über ihre goldenen Locken. »Natürlich. Aber erst einmal musst du dir einen aussuchen.« Sanft nahm er ihr den schläfrig gewordenen Welpen wieder ab, stemmte ihn empor und kontrollierte den Wuchs seiner Beine sowie die Größe und die Stellung seiner Pfoten. »Der hier wäre mit Sicherheit schon einmal eine gute Wahl.«
»Oh, aber -« Amelia schaute Sugden an. »Wenn er doch ein Champion wird -«
»Gerade darum könntest du dir gar keinen Besseren aussuchen.« Luc ging in die Hocke und gab den jungen Welpen wieder zurück in die Obhut seiner Mutter. »Er wird Belle noch alle Ehre machen.« Damit streichelte er der Hündin liebevoll den Kopf. Sie schloss die Lider, drehte den Kopf und leckte ihm über die Hand.
Schließlich richtete Luc sich wieder auf und nickte Sugden kurz zu. »Ich komme dann morgen noch einmal zu Euch in den Stall... dann können wir unsere Besprechung fortsetzen.«
Er ergriff Amelias Arm, zog sie fast schon gewaltsam von dem offenbar geradezu faszinierenden Anblick des säugenden kleinen Champion fort, schob sie sanft in Richtung Ausgang und schließlich aus dem Zwingergebäude hinaus. »Jetzt musst du dir nur noch einen Namen für ihn überlegen. In ein paar Wochen wird er entwöhnt sein.«
Amelia starrte noch immer wie verzaubert den Gang hinab. »Kann ich ihn dann schon zu Spaziergängen mitnehmen?«
»Solange du bloß kurze Strecken mit ihm gehst - ja. Wobei du wohl erst mal ohnehin nicht sonderlich weit mit ihm kommen wirst, denn er wird mit Sicherheit mehr herumtollen als laufen. Junge Hunde spielen für ihr Leben gern.«
Amelia seufzte, wandte den Blick wieder nach vorn und hakte sich bei Luc ein. »Danke.« Sie sah ihn an, schenkte ihm ein zärtliches Lächeln, stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf den Mund. »Er ist das schönste Hochzeitsgeschenk, das du mir je hättest machen können.«
Plötzlich verdüsterte Lucs Miene sich; auch Amelia runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich fürchte nur«, fuhr sie dann fort, »ich habe nichts, womit ich mich revanchieren könnte...«
Ernst blickte sie aus großen Augen zu ihm auf, erwiderte seinen Blick und hatte dennoch nicht die leiseste Ahnung, was wohl gerade in Lucs Kopf vorgehen mochte.
Einen kurzen Moment lang herrschte Stille. Dann nahm Luc ihre Hand von seinem Arm und hob sie an seine Lippen. »Du«, erwiderte er, »bist schon mehr als genug.«
Amelia ging spontan davon aus, dass er sich mit dieser Bemerkung auf ihre Mitgift bezog. Als sie dann jedoch abermals sein Gesicht musterte, ihm in die Augen sah... da war sie sich mit einem Mal gar nicht mehr so sicher, ob ihre erste Einschätzung tatsächlich richtig war. Ein leiser Schauer der Anspannung rieselte ihr über den Rücken.
Schließlich schlenderten sie weiter, und Amelia wandte das Gesicht wieder nach vorn. In ihrem Inneren aber fühlte sie, wie ihr die Anspannung geradezu die Lungen zusammenzupressen schien, und sie fragte sich, ob sie Luc nicht einfach mal ganz offen sagen sollte, dass es ihr nichts ausmachte, wenn er ihre Mitgift in seine Hunde investierte. Denn womöglich hatte er ihr den Welpen - immerhin seinen neuesten Champion - nur deshalb geschenkt, weil ihn sein schlechtes Gewissen plagte. Dann aber schob Amelia diesen verstörenden Gedanken rasch wieder beiseite. Immerhin kannte sie Luc nun bereits lange genug, um zu wissen, dass solcherlei berechnende, fast schon hinterhältige Überlegungen ganz und gar nicht seine Art waren. Luc war schlichtweg viel zu arrogant, um auf derartige Manipulationen zurückzugreifen.
Aber sollte sie nicht trotzdem zumindest einmal ganz allgemein auf das Thema ihrer Mitgift zu sprechen kommen? Sie beide hatten diesen heiklen Punkt schließlich erst ein einziges Mal angeschnitten. Und das war auch noch ganz zu Anfang ihrer Beziehung gewesen. Andererseits jedoch... gab es denn wirklich noch irgendetwas darüber zu sagen? Denn was den Umgang mit Geld und die Verwaltung ihrer beider, nun zusammengeführten Vermögen anging, vertraute Amelia ihm vorbehaltlos. Luc war schließlich nicht wie dessen Vater. Seine Hingabe an Calverton Chase und an seine Familie stand somit also vollkommen außer Frage.
Genau genommen war es sogar speziell diese Hingabe gewesen, dieses tief verwurzelte Verantwortungsbewusstsein, das es Amelia überhaupt erst ermöglicht hatte, so weit zu kommen - das es ihr erlaubte, nun Seite an Seite mit ihrem Ehemann über die Wiesen von Calverton Chase zu wandern, ihrem neuen Zuhause.
Amelia spürte, wie er ihr Gesicht musterte, fühlte die Hitze, die von ihm ausstrahlte, nahm eindringlich den schlanken, doch muskulösen Körper neben sich wahr. Zart prickelte es über ihre Haut. Luc berührte sie zwar nicht, und doch schien in seinem Blick das Versprechen einer Berührung zu liegen, einer Liebkosung und noch so viel mehr.
Amelia hob den Kopf, lächelte ihn an und umschlang seinen Arm noch etwas fester. »Es ist noch zu früh, um schon wieder ins Haus zu gehen. Also komm und zeig mir noch ein bisschen mehr von den Gärten. Steht da noch immer dieser kleine Amortempel auf der Anhöhe?«
»Aber natürlich, das ist schließlich eine der Hauptattraktionen in dieser Landschaft. Den konnten wir doch nicht einfach verfallen lassen.« Damit wandte Luc sich zu dem Pfad um, der den kleinen Hügel hinaufführte. »Das ist im Übrigen einer der schönsten Plätze in der näheren Umgebung, um sich den Sonnenuntergang anzusehen.« Er schaute Amelia an. »Wenn du Lust hast, dich diesem Naturschauspiel hinzugeben, wäre das heute also genau die passende Gelegenheit.«
Amelia lächelte noch etwas strahlender und erwiderte seinen Blick. »Was für eine wundervolle Idee.«