19
Stillschweigend, ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren, waren Luc und Amelia zu der Übereinkunft gekommen, dass sie sich dem drohenden Unheil, das die Familie Ashford heimzusuchen schien, gemeinsam entgegenstellen würden. Was auch immer nun der konkrete Anlass für die neuerlichen Sorgen sein mochte - sie würden das Problem aus der Welt schaffen.
Als Diebinnen kamen also zunächst einmal sowohl Anne als auch Emily in Frage, denn beide waren auf den besagten Festen und Zusammenkünften gewesen, in deren Verlauf die diversen kleinen Preziosen abhanden gekommen sein sollten. Allerdings war nur schwer vorstellbar, wie Emily, die doch gerade so ganz und gar vertieft war in ihre Romanze mit Lord Kirkpatrick, neben ihrer Flirterei auch noch Zeit gefunden haben sollte, auf Beutezug zu gehen. Anne hingegen, die in letzter Zeit ohnehin auffällig ruhig und in sich gekehrt wirkte...
Es war bereits spät in der Nacht gewesen, als Luc leise gefragt hatte: »Hast du irgendeine Vorstellung, warum sie so etwas getan haben könnte?«
Amelia hatte den Kopf geschüttelt. Dann aber hatte sie plötzlich innegehalten und geflüstert: »Na ja, ich nehme an, sie braucht wohl ganz dringend Geld. Einen anderen Grund wüsste ich nicht. Es muss wohl um irgendeine Sache gehen, mit der sie sich weder an dich wenden mag noch an mich und auch nicht an deine Mutter.«
Dieser Schlussfolgerung hatte Luc nichts entgegenzusetzen. Dann, ehe sie endlich eng umschlungen eingeschlafen waren, hatte er hinzugefügt: »Eine Bitte habe ich aber noch - wir dürfen Anne erst dann auf diese Angelegenheit ansprechen, wenn wir einen echten Beweis gegen sie haben. Du weißt doch, wie sie ist.«
Dann war er verstummt, hatte seine Anmerkung nicht weiter ausgeführt, doch Amelia hatte auch ohne viele Worte gewusst, was er meinte. Denn wenn Anne schweigsam wie ein Geist und völlig in sich gekehrt bei den Mahlzeiten saß, dann schien das einen ganz anderen Hintergrund zu haben, als wenn Penelope sich aus der allgemeinen Unterhaltung zurückzog. Falls Penelope sich einmal nicht am Tischgespräch beteiligte, dann geschah das meist nur deshalb, weil sie in dem Moment einfach keinen Sinn darin sah, zu denen aus ihrer Sicht sinnlosen Plaudereien etwas beizutragen. Bei Anne dagegen wirkte diese Zurückhaltung eher, als wolle sie sich von der Außenwelt abschotten, als wollte sie sich am liebsten vor aller Augen in Luft auflösen und einfach gar nicht mehr wahrgenommen werden. Außerdem war Anne schon von Natur aus immer ein wenig angespannt. Es war also von Anfang an klar gewesen, dass es eine gewisse Zeit dauern würde, bis man ihr Rückgrat ein wenig gestärkt hätte und sie sich wirklich wohl fühlte auf dem gesellschaftlichen Parkett.
Eine unbegründete Anschuldigung jedoch würde ihr hart errungenes Selbstvertrauen sofort wieder zerstören. Wenn sie nun erfuhr, dass alle, auch ihre Familie und sogar Luc, ihr Bruder und Beschützer, sie des Diebstahls verdächtigten... Ganz gleich, ob man mit diesem Verdacht nun richtig lag oder nicht, so würde das Ergebnis in jedem Fall verheerend sein.
Am darauffolgenden Tage herrschte bei der morgendlichen Zusammenkunft am Frühstückstisch wieder der ganz normale Ton. Es wurde viel gelacht, und helle Stimmen schallten aufgeregt durcheinander. Die Damen hatten sich, wie stets, schon morgens viel zu erzählen. Diesmal wurde das gut gelaunte Geplauder aber durch einen männlich-knurrigen Tenor verstärkt. Amelia saß auf ihrem gewohnten Platz am Kopfende des Tisches. Luc und Lucifer wiederum hatten sich ganz am anderen Ende niedergelassen. Amelia konnte also nicht hören, worüber die beiden diskutierten. Phyllida und Minerva tauschten sich derweil über Erlebnisse aus den Haushalten ihrer beiden Anwesen aus, während Miss Pink mit Argusaugen über Portia und Penelope wachte und offenbar auf den rechten Moment wartete, um ihre beiden Schützlinge wieder hinauf ins Schulzimmer zu bugsieren.
Amelia wandte sich zu Emily um, die rechts von ihr saß; zu ihrer Linken hockte Anne. »Was haltet ihr davon, wenn wir heute Morgen einfach mal den Inhalt eurer Kleiderschränke inspizieren?« Mit einem raschen Seitenblick bezog sie auch Anne in ihre Unterhaltung mit ein. »Ihr könntet durchaus noch ein paar mehr Sommerkleider gebrauchen. Und wir sollten uns auch auf den Herbst vorbereiten, wenn wir wieder in die Stadt zurückkehren.«
Es dauerte einen kurzen Moment, ehe Emily sich aus ihren Tagträumen um Lord Kirkpatrick lösen konnte. Sie dachte nun ständig an ihn, zumal ihr Schwarm und dessen Familie schon in ein paar Wochen auf Calverton Chase zu Besuch weilen sollten. Sie blinzelte erst, dann nickte sie. »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, aber du hast Recht. Ich möchte schließlich nicht, dass wir, während Mark hier ist, plötzlich alle in Aufruhr geraten, nur weil wir nichts Passendes anzuziehen haben.«
Amelia unterdrückte ein amüsiertes Lächeln. »Richtig.« Damit wandte sie sich zu Anne um. »Und wie gesagt, deine Sachen sollten wir auch einmal durchsehen.«
Anne lächelte und neigte zustimmend den Kopf.
Sie schien vollkommen einverstanden und ganz und gar nicht besorgt darüber, dass nun mit einem Mal eine Kontrolle ihres Kleiderschranks und dessen Inhalts anstand.
Amelia ließ ihren Blick zum Ende des Tisches hinunterschweifen. Luc war noch immer in seine Unterhaltung mit Lucifer vertieft, und dennoch war ihm Amelias geschickter Winkelzug natürlich keineswegs entgangen. Sie erwiderte seinen düsteren Blick, und wenngleich er ihr nun natürlich nicht vor aller Augen zunicken konnte, so erahnte sie doch seine Zustimmung.
Denn falls Anne tatsächlich Dinge gestohlen haben sollte, so durfte man sich doch fragen, was sie eigentlich mit den ganzen Sachen tat? Falls sie nur aus einem nicht kontrollierbaren Zwang heraus handelte, dann musste sie die Dinge doch auch irgendwo horten. Am logischsten wäre also ein Versteck in ihrem Zimmer. Alles andere war unwahrscheinlich, schließlich eilte doch ständig irgendjemand durch die Korridore und Räumlichkeiten von Calverton Chase - allen voran Mrs. Higgs, aber auch Annes Schwestern und die zahlreichen Hausmädchen. Andererseits könnte es natürlich auch sein, dass sie die Stücke einfach aus dem Haus geschafft und verkauft hatte. Die Sache mit dem antiken Salzstreuer legte diesen Verdacht ja durchaus nahe. Doch selbst dann würde sie wohl nur schwerlich bereits alles an irgendwelche Hehler verhökert haben können.
»Bietet das Dorf eigentlich irgendwelche Sehenswürdigkeiten?«, fragte Phyllida plötzlich.
Amelia schaute auf. »Nein, eigentlich nicht. Aber es ist trotzdem ein netter Ort. Wenn du Lust hast, können wir ja nach dem Mittagessen mal einen kleinen Reitausflug in die Gegend machen.« Sie deutete mit einem knappen Nicken in Richtung ihrer beider Ehemänner. »Die beiden haben ja zweifellos bereits irgendwelche Angelegenheiten miteinander zu regeln.«
Phyllida grinste. »Da hast du wohl Recht. Also gut, dann nach dem Mittagessen.« Sie schob ihren Stuhl zurück.
Kurze Zeit darauf erhoben sich auch alle anderen Anwesenden. Phyllida und Minerva schlenderten in den Garten, um einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Miss Pink drängte ihre beiden Schülerinnen, sich nun endlich wieder in das Studierzimmer zu begeben, und Amelia, Emily und Anne machten sich auf den Weg in die Räume der Mädchen. Allein Luc und Lucifer blieben am Tisch sitzen, neben sich jeweils eine Tasse dampfenden Kaffees, und diskutierten eifrig weiter.
Im Übrigen war Amelias Idee, sich einmal Annes und Emilys Kleider anzusehen, nicht bloß ein Vorwand gewesen, um deren Schränke kontrollieren zu können. Schließlich war es ja gerade die Garderobe der Mädchen gewesen, die sie als Erstes auf die offenbar bedrückende finanzielle Lage der Ashfords aufmerksam gemacht hatte. Ihr war aufgefallen, dass die Stoffe abgenutzt waren, und dass jedes der Kleider mindestens schon einmal aufgetrennt und nach einem modischeren Schnitt neu zusammengesetzt worden war. Und obgleich diese ganzen Sparmaßnahmen natürlich sehr geschickt umgesetzt worden waren, so stand Amelia doch in so engem Kontakt mit der Familie, dass es ihr einfach irgendwann aufgefallen war und sie die Wahrheit erahnt hatte.
Nun allerdings gab es nichts mehr, das noch dagegensprach, den Mädchen endlich neue Kleider schneidern zu lassen und ihre Garderobe damit dem gesellschaftlichen Stand der Familie anzupassen. Emily, Anne, Portia und Penelope selbst ahnten zwar nichts von der Korrektur, die in ihrem Erscheinungsbild dringend notwendig war, doch Amelia hatte längst bemerkt, welcher Missklang zwischen deren Geburtsstatus und ihrem bescheidenen Auftreten lag.
Als Erstes betraten sie Emilys Zimmer, die dann auch sofort die Türen ihres Kleiderschranks weit aufriss. Amelia ließ sich in den Armlehnensessel neben dem Fenster sinken, Anne setzte sich aufs Bett, und dann beratschlagten sie sich mit viel Gelächter über Emilys Garderobe.
Vierzig erschöpfende Minuten später hatten sie sowohl den Inhalt des Kleiderschranks als auch den der Frisierkommode gewissenhaft durchkämmt. Schließlich war Amelia sogar so weit gegangen, auch noch sämtliche Schuhe, Accessoires und Weißwäsche einer kritischen Musterung zu unterziehen, hatte in jede Schublade, in jede Hutschachtel geschaut und sämtlichen Inhalt nach Tragbarkeit neu sortiert.
Dann ging sie kurz die Notizen in ihrem kleinen Büchlein durch, die sie während der Anproben hastig niedergekritzelt hatte, und nickte. »So weit, so gut. Der nächste Schritt ist, dass wir einige Besorgungen machen müssen. Alles, was hier auf der Liste steht, muss möglichst schnell herangeschafft werden. Und jetzt...« Damit deutete sie mit knapper Geste in Richtung des Korridors.
Mehr brauchte Amelia nicht zu sagen, denn schon zogen die drei geschlossen weiter in Annes Zimmer.
Dort wiederholten sie das Prozedere. Diesmal allerdings saß Emily auf dem Bett, und Anne stand neben ihrem Kleiderschrank. Amelia beobachtete ihre zweitälteste Schwägerin genau, während diese nach und nach ihre gesamten Kleider, Schals und Jacken heraushängte. Nicht ein Hauch von Unsicherheit, nicht die leiseste Spur von schuldbewusster Angst huschten über Annes hübsches Gesicht. Lediglich eine Art schüchterner Freude zeigte sich auf ihren Zügen - die Freude darüber, Teil eines solch spannenden Unterfangens zu sein.
Wieder wurde gewissenhaft der Inhalt aller Schubladen, Hutschachteln und Kistchen durchforstet. Das Einzige jedoch, was Amelia an wirklich dringenden Erneuerungen in Annes Garderobe auffiel, waren ein Paar neuer Abendhandschuhe, ein neuer kirschroter Schal und zusätzliche Seidenstrümpfe.
Angewidert hob Anne den alten Schal hoch und musterte ihn mit mürrischer Miene. »Ich weiß beim besten Willen nicht, warum... Sicher, der ist schon alt, aber ich kann trotzdem nicht verstehen, weshalb der Stoff sich hier stellenweise regelrecht aufzulösen scheint.«
Amelia zuckte mit den Achseln. »Das passiert bei Seide eben manchmal. Die zersetzt sich einfach.« Wenngleich der Schal, wenn Amelia ehrlich war, eher so aussah, als ob er schlichtweg abgenutzt und aufgetragen wäre. »Aber mach dir darüber keine Gedanken. Wir kaufen dir schon bald einen neuen.«
Emily richtete sich auf. »Aber bis es so weit ist, wirst du dein rotes Retikül ja wohl erst einmal nicht mehr tragen. Du weißt schon, ich meine dieses kleine Täschchen, das so gut zu dem Schal gepasst hat. Darf ich es mir ausleihen? Es hat genau den gleichen Ton wie mein Reisekostüm.«
»Aber natürlich.« Anne schaute auf und ließ ihren Blick suchend über das Regalbrett oberhalb der Kleiderstange schweifen. »Es müsste irgendwo da oben sein.«
Amelia überflog unterdessen noch einmal flüchtig ihre Notizen. Emily und Anne tauschten ihre Kleidungsstücke und Accessoires sehr freigebig miteinander aus - ein Trick, mit dem sie die Tatsache, dass ihre Kleiderschränke nur recht spärlich ausgestattet waren, noch ein wenig länger vor den Adlerblicken der Londoner Damen hatten verbergen können. Amelia notierte rasch, dass die Komplettierung von Annes Garderobe unbedingt oberste Priorität haben musste. Schließlich sah es ganz danach aus, als ob ihre Tauschpartnerin Emily das Haus schon bald verlassen würde.
»Ich bin mir ganz sicher, dass es hier lag.« Anne stellte sich auf die Zehenspitzen, schob ihre bescheidenen Habseligkeiten von rechts nach links und wieder zurück. »Ah - da ist es ja.«
Sie zerrte das Retikül an seinen dünnen Trageriemen unter einigen anderen Täschchen hervor und warf es mit einem triumphierenden Grinsen quer durch den Raum neben Emily auf das Bett.
Emily lachte, fing die Tasche auf - dann aber sah sie überrascht auf. »Die ist aber schwer. Was hast du denn da bloß drin versteckt?«
Vorsichtig versuchte Emily, durch die rote Seide zu ertasten, was sich wohl in dem Täschchen verbergen mochte. Sie sah zunehmend verwunderter aus.
Amelia beobachtete derweil Anne, doch in ihren Zügen und den sanften braunen Augen schien sich nichts als Verwirrung zu spiegeln. »Ich denke mal, ein Taschentuch, ein paar Haarnadeln. Ich weiß doch selbst nicht, was da angeblich so schwer sein soll...« Nun aber konnten sie alle sehen, wie sich deutlich eine kantige Silhouette unter Emilys Händen abzeichnete. »Lass mal sehen!«
Anne marschierte zum Bett hinüber und stellte sich dicht neben Emily. Auch Amelia stand auf und trat zu ihnen. Mittlerweile hatte Emily die feinen Kordeln, mit denen das Retikül zugebunden war, aufgeknüpft, zog das Oberteil auseinander und spähte ins Innere. Dann griff sie stirnrunzelnd hinein und hob das fragliche Stück heraus. Es war ein -
»Ein Lorgnon.« Verwundert hielt Emily es empor. Sie alle starrten auf den kunstvoll verzierten Stiel und die kleinen Juwelen, die funkelnd die gesamte Länge des Griffs schmückten.
»Wem, um alles in der Welt, gehört denn das?«
Es war Anne, die spontan mit dieser Frage herausplatzte. Amelia starrte sie an, musterte ihre Schwägerin eindringlich und forschend. Doch ganz gleich, wie genau sie auch hinschauen mochte, so konnte sie in dem Gesicht der jungen Frau doch nichts als ehrliche Verwunderung erkennen.
»Und vor allem - wie ist es da reingekommen?« Anne schaute zurück zu ihrem Kleiderschrank, drehte sich schließlich ganz um und marschierte wieder zu dem Bord mit den Taschen hinüber. Ohne dass Amelia irgendetwas in der Art vorschlagen musste, riss Anne nun abermals sämtliche Täschchen und Hutschachteln aus dem Schrank. Obwohl sie diese alle bereits gründlich inspiziert hatten. Erst als das Regalbrett komplett geleert war, kniete sie sich auf den Boden, schob hektisch die Hutschachteln zur Seite und unterzog den kleinen Taschenhaufen einer erneuten sorgfältigen Prüfung. Sie öffnete jede einzelne und schüttete den jeweiligen Inhalt aus. Zum Vorschein kamen wieder allerlei Taschentücher, Haarnadeln, ein Kamm und zwei kleine Fächer.
Sonst nichts.
Damit ließ sie sich auf ihre Fersen zurücksinken und starrte blicklos in die Luft. »Ich verstehe das nicht.«
Auch Amelia konnte sich keinen Reim auf diesen merkwürdigen Fund machen. »Und deiner Mutter gehört das Lorgnon wahrscheinlich nicht, oder?«
Emily schüttelte den Kopf. Noch immer musterte sie eingehend die kleine Stielbrille. »Und ich glaube auch nicht, dass ich schon einmal irgendjemand anderen damit gesehen habe.«
Amelia nahm ihr das Lorgnon ab. Es war wirklich außergewöhnlich schwer, und darum konnte sie sich auch nicht vorstellen, wer solch ein unhandliches Ding mit sich herumtragen sollte. Anne stellte sich dicht neben Amelia, starrte stirnrunzelnd auf die Brille hinab und wirkte, als ob sie plötzlich die Welt nicht mehr verstünde.
»Das muss wohl aus Versehen in dein Retikül gelangt sein.« Damit ließ Amelia das Stück in die Tasche ihres Tageskleids gleiten. »Ich werde mich mal umhören. Es sollte ja wohl kein allzu großes Problem sein, den Eigentümer ausfindig zu machen.« Sie schaute sich um. »Also, haben wir die Musterung eurer Kleiderschränke damit abgeschlossen?«
Anne blinzelte, schaute noch ein letztes Mal in ihren Schrank und entgegnete ein wenig benommen: »Ja, ich glaube schon.«
Emily schnappte sich das rote Retikül und sprang schwungvoll von Annes Bett. »Da fällt mir gerade ein - wir wollten heute doch noch die Blumengestecke fertigstellen.«
Trotz der Vielzahl von Gedanken, die Amelia gerade durch den Kopf schossen, schaffte sie es, ein heiteres Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern. »Na, dann solltet ihr euch besser an die Arbeit machen. In weniger als einer Stunde essen wir zu Mittag.«
Gemeinsam verließen sie den Raum, und Anne schloss die Tür hinter ihnen. Emily huschte noch einmal kurz in ihr Zimmer hinein, um das rote Retikül dort abzulegen, und gesellte sich dann wieder zu den beiden anderen, die bereits geschäftig durch den Korridor schritten. Dann aber ging Amelia bewusst ein wenig langsamer, während die beiden Schwestern die Treppe hinabeilten. Am Fuße der Treppe angekommen, drehten sie sich noch einmal nach Amelia um, winkten ihr zu und wanderten dann weiter in den Wintergarten.
Auf der letzten Treppenstufe blieb Amelia stehen. Emily hatte ihr soeben noch einmal herzlich zugelächelt, Anne jedoch nicht. Zweifellos hatte Emily die Angelegenheit mit dem Lorgnon längst wieder vergessen. Für sie gab es im Moment wesentlich wichtigere und schönere Dinge, an die sie zu denken hatte. Anne dagegen hatte besorgt gewirkt. Vielleicht hatte Amelia sogar ein klein wenig Angst in ihren Augen flackern sehen. Aber andererseits war das wohl auch nur normal, wenn man in seinem Täschchen plötzlich fremdes Eigentum entdeckte. Denn obwohl Anne sehr still war, war sie ja nicht dumm - keine der vier Schwestern war das -, und sie konnte sich die Konsequenzen einer solchen Entdeckung leicht ausmalen.
Amelia stand in der leeren Eingangshalle, in der Hand die aktuelle Post, während sie blicklos auf die Eingangstür starrte. Dann seufzte sie, riss sich wieder zusammen und ging zu Lucs Arbeitszimmer.
Neugierig sah er auf, als Amelia eintrat. Wie gewöhnlich saß er hinter seinem großen Schreibtisch, lächelte jedoch nicht. Stattdessen musterte er sie mit regloser Miene, während Amelia leise die Tür schloss und auf ihn zuging.
Als sie sich ihm zögerlich näherte, sah Luc, dass ihr Gesichtsausdruck so ganz anders war als sonst. Sie wirkte reserviert, fast schon traurig.
»Was ist denn los?« Er konnte diese Frage einfach nicht mehr länger zurückhalten und wollte sich gerade erheben.
Amelia erwiderte seinen Blick und bedeutete ihm mit einer knappen Geste, dass er sich wieder setzen solle. Luc ließ sich zurück in seinen Sessel fallen. Mit raschen Schritten ging sie an dem Besuchersessel vorbei und trat um den Schreibtisch herum. Mit fest zusammengepressten Lippen blieb sie vor Luc stehen, wandte sich ein wenig zur Seite, ließ sich auf seinen Schoß gleiten und schmiegte sich schließlich erschöpft an ihn.
Eine Vielzahl unterschiedlichster Gedanken schoss ihm durch den Kopf, ein seltsames Gefühl der Angst hatte sich um sein Herz geschlossen. Er ahnte es bereits - ihm standen schlechte Nachrichten bevor. Er schloss die Arme um seine Ehefrau, zuerst nur behutsam, zog sie dann jedoch nur noch umso enger an sich. Amelia kuschelte sich noch dichter gegen seine Brust, sank noch tiefer in seine Umarmung und legte die Wange an seine Schulter. Luc stützte das Kinn auf ihren lockigen Schopf und spürte, wie einige seidenweiche Strähnen seinen Unterkiefer kitzelten. »Was gibt es?«
»Ich bin mit Emily und Anne nach oben gegangen, um gemeinsam mit ihnen ihre Garderobe zu inspizieren. Du hast ja selbst gehört, wie ich den beiden den Vorschlag gemacht hatte, ihre Kleiderschränke mal einer Generalüberholung zu unterziehen.«
»Und dabei ist euch etwas in die Hände gefallen.« Die Beklemmung, die sich wie ein eiserner Ring um sein Herz gelegt hatte, wurde allmählich immer stärker.
»Ja. Das hier.« Amelia hob die Hand und zeigte Luc das kunstvoll verzierte Lorgnon. »Das war in einem von Annes Täschchen.«
Ihm wurde eiskalt ums Herz. Nur mit äußerster Willenskraft konnte er sich dazu zwingen, die kleine Stielbrille in die Hand zu nehmen. Er hielt sie hoch ins Licht. Dann, als er die glitzernden Steine entdeckte, kniff er die Augen zusammen. »Diamanten?«
»Ich glaube, ja. Aber ich denke nicht, dass das einer Dame gehört - dazu ist es zu schwer.«
»Das Stück hier ist mir völlig neu. Ich habe es noch nie bei irgendjemandem gesehen.«
»Ich kann mich auch nicht daran erinnern, es schon mal irgendwo gesehen zu haben. Auch Emily und Anne wissen nicht, wem es gehört.«
Eine eisige Woge der Anspannung brandete durch Lucs Körper. Er schwieg, verharrte mit einem Mal vollkommen reglos, sodass Amelia schließlich fragend zu ihm aufblickte.
Er erwiderte ihren Blick. Ihre Augen waren groß und so blau wie der Himmel, aber in ihnen spiegelten sich stille Bestürzung und ein Meer voller Sorgen. Luc schaute ihr offen ins Gesicht und stieß schließlich mit gepresst klingender Stimme hervor: »Dann ist es also Anne. Und uns Ashfords steht mal wieder ein Skandal ins Haus.«
Er musterte den kummervollen Ausdruck in Amelias Augen. Plötzlich runzelte sie die Stirn.
»Nein.« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Zieh jetzt keine voreiligen Schlüsse.«
»Voreilige Schlüsse?« Luc spürte, wie der Zorn in ihm aufwallte. Sicher, er wusste, dass seine Reaktion vollkommen irrational war, und dennoch… »Aber welche Rückschlüsse, zur Hölle noch mal, soll ich denn stattdessen ziehen? Wie würden andere über diese Sache denken?«
Amelia setzte sich auf und versuchte, sich aus seiner Umarmung zu lösen.
Sofort hielt er sie nur umso fester. »Nein. Bleib sitzen.«
Sie fügte sich seinem Wunsch. Wahrscheinlich aber nur - wie er vermutete -, weil ihr auch gar keine andere Wahl blieb. Ihr Ton war angespannt und streng, als sie ihm mit ernster Miene erklärte: »Ich bin mir absolut sicher, dass es nicht Anne ist. Und Emily kann ich mir eigentlich auch nicht als Diebin vorstellen.«
Luc spürte, wie die eisige Woge in seinem Inneren sich wieder ein wenig zurückzog, wie sie abebbte und auch der eiserne Ring, der sich um sein Herz gelegt hatte, ein klein wenig weiter wurde. »Und warum? Erklär es mir.«
Amelia zögerte. Schließlich erwiderte sie: »Ich kann ganz bestimmt noch keine Gedanken lesen. Aber ich bin andererseits auch nicht vollkommen blind, wenn es darum geht, andere Menschen und deren Reaktionen zu beurteilen. Anne war ehrlich erstaunt und hatte nicht die geringste Vorstellung, wie das Lorgnon in ihr Retikül gelangt sein könnte. Sie wusste wirklich nicht, dass es darin war. Und ich bin mir sicher, sie hat es auch nicht wiedererkannt. Das heißt, dass sie es tatsächlich noch niemals zuvor gesehen hat. Anne ist doch so schüchtern... Sie hat überhaupt keine Erfahrung darin, anderen Leuten irgendetwas vorzuspielen. Das überzeugendste Argument aber ist, zumindest aus meiner Sicht, dass sie Emily das Retikül doch gar nicht erst hätte geben müssen. Sie hätte mit Leichtigkeit behaupten können, dass das Täschchen gerade nicht in ihrem Schrank wäre oder dass sie es ihr irgendwann später am Tage heraussuchen würde, oder... Ach, sie hätte doch alles Mögliche entgegnen können.«
Konzentriert hatte Luc sich bemüht, Amelias Argumentation zu folgen, musste dann aber eingestehen: »Ich fürchte, ich hab immer noch nicht so ganz verstanden, was du mir eigentlich sagen willst. Bitte, erklär es mir noch einmal.«
Abermals erläuterte Amelia ihm geduldig ihren Gedankengang. Sie saß noch immer auf seinem Schoß, eingekuschelt in seine feste Umarmung.
Als sie geendet hatte, blieb sie ganz ruhig sitzen und wartete...
Es dauerte einige Augenblicke, bis Luc einmal tief durchatmete und unsicher fragte: »Bist du dir auch wirklich sicher?«
»Ja.« Amelia schaute ihm ins Gesicht und hielt seinem forschenden Blick stand. »Ich bin mir wirklich sicher, dass es weder Emily noch Anne war, die das Lorgnon an sich genommen hat.«
Luc forschte in ihren blauen Augen, suchte nach einem Anzeichen dafür, ob sie im Stillen nicht vielleicht doch noch den einen oder anderen Zweifel an ihren eigenen Worten hegte. »Und du sagst das jetzt wirklich nicht bloß, um...?« Er fuhr vage mit der Hand durch die Luft, und obwohl er diese Geste hinter ihrem Rücken machte, verstand Amelia, was er ihr damit sagen wollte.
Der störrische Zug um ihre Lippen wurde wieder etwas weicher, und sie senkte das leicht vorgereckte Kinn. Sie legte die Hand an seine Wange und entgegnete leise: »Vielleicht...« Dann hielt sie inne, setzte noch einmal an. »Vielleicht würde ich tatsächlich vor dem einen oder anderen die Augen verschließen... wenn ich der Ansicht wäre, dass das in deinem Interesse wäre oder zumindest im Interesse deiner Familie. Aber das hier ist doch eine Geschichte, bei der...« Amelia schüttelte den Kopf, blickte Luc dabei jedoch weiterhin offen ins Gesicht. »Es würde doch überhaupt nichts nützen, wenn ich Anne in Schutz nehmen würde, obwohl sie die Diebin ist. Damit würden die Probleme und der Schmerz für die Familie doch nur noch größer.«
Langsam sanken die Worte in sein Bewusstsein ein, zwangen den eisernen Ring, der sein Herz umschloss, sich ein wenig zu öffnen. Dann schien auch sein Blut wieder wie gewohnt durch seine Adern zu pulsieren, um ihn zu wärmen und die eisige Kälte aus seinem Inneren zu vertreiben.
Er atmete einmal tief durch. »Du bist dir also wirklich sicher.« Es war eine Feststellung und keine Frage, denn die Antwort lag klar in ihren Augen.
Amelia nickte. »Weder Anne - noch Emily.«
Einen Herzschlag lang ließ Luc sich von dem wohligen Gefühl der Gewissheit durchwogen. Dann fragte er: »Aber wenn die beiden es nicht waren, wer dann? Wer hat das hier«, damit hielt er das Lorgnon hoch, »in Annes Retikül geschmuggelt?«
Gedankenverloren starrte Amelia die kleine Stielbrille an. »Ich weiß es nicht. Und diese Unsicherheit, die macht mir wirklich Sorgen.«
Fünfzehn Minuten später ertönte der Gong zum Mittagessen, und gemeinsam verließen Luc und Amelia das Arbeitszimmer. Das Lorgnon lag unterdessen sicher verwahrt in einer abgeschlossenen Schublade.
Amelia kontrollierte ihr Aussehen in dem Spiegel in der Eingangshalle, sah verstohlen einmal um sich und zog dann rasch das Oberteil ihres Kleides zurecht.
Angestrengt versuchte Luc, ein amüsiertes Grinsen zu unterdrücken. Der scharfe Blick, den Amelia ihm daraufhin zuwarf, ließ allerdings vermuten, dass ihm dies wohl nicht so recht gelungen war.
Der Salon füllte sich rasch. Nachdem Luc Amelia zu deren Platz geführt und ihr den Stuhl zurechtgerückt hatte, schlenderte er langsam den Tisch entlang und ließ sich schließlich auf seinem Platz am anderen Ende der Tafel nieder. Es wurde geplaudert, gelacht, und die Zeit schien wie im Fluge zu verstreichen. Trotzdem beobachtete Luc Anne äußerst aufmerksam. Sie blickte zumeist stumm auf ihren Teller. Wenn jemand ihr eine Frage stellte, so antwortete sie natürlich darauf, aber selbst dann wirkte sie, als ob sie mit ihren Gedanken in Wirklichkeit ganz woanders wäre. Ihr Gesichtsausdruck war ernst, und sie beteiligte sich nicht ein einziges Mal von allein am Tischgespräch. Andererseits aber konnte ihr Verhalten auch einfach darauf zurückzuführen sein, dass nicht nur die übliche Mittagsgesellschaft am Tisch saß, sondern auch Lucifer und Phyllida dabei waren. Anne war eben sehr schüchtern.
Luc überlegte, ob er seine Schwester vielleicht irgendwie in die Unterhaltung mit einbeziehen sollte… Unglücklicherweise jedoch betrachteten sowohl sie als auch Emily ihn stets mit einer Art Bewunderung und Hochachtung, sodass er im Gegenzug gezwungen war, immer besonders behutsam mit den beiden umzugehen. Portia und Penelope verhielten sich ihm gegenüber viel unbefangener. Jede unbedachte Frage an Anne könnte deren Selbstbewusstsein also aufs Neue zerstören.
Lucifer, der zu Lucs Linker saß, ließ sich zufrieden gegen die Stuhllehne zurücksinken. »Falls du nicht schon andere Verpflichtungen zu erfüllen hast, würde ich mit dir heute Nachmittag gerne mal die Investitionen durchgehen.«
Luc zögerte einen Augenblick, nickte dann aber. Amelia und Phyllida planten einen kleinen Besuch im Nachbardorf; Anne und Emily würden die beiden natürlich begleiten. Portia, Penelope und Miss Pink wollten einen Streifzug durch die Ziergärten machen. Und seine Mutter würde sich, wie meistens, den Nachmittag über ein wenig ausruhen.
Luc legte seine Serviette nieder, schob den Stuhl zurück und sah Lucifer an. »Dann fangen wir doch am besten gleich damit an.«
Lucifer grinste. Gemeinsam standen sie auf, schlenderten durch den Raum und legten - völlig unabhängig voneinander - ihren Ehefrauen im Vorbeigehen jeweils kurz die Hand auf die Schulter. Sowohl Amelia als auch Phyllida schauten bei dieser vertrauten Geste mit fast identischen, selbstsicheren und dem für eine glückliche Ehefrau so typischen Lächeln zu ihren Männern auf. Dann wandten sie sich wieder der Planung ihres Ausflugs zu.
Ohne ein weiteres Wort verließen Luc und Lucifer den Raum.
»Wo ist Anne?«, fragte Amelia, als sie und Phyllida in den Stallungen auf Emily trafen.
»Die hat sich auf den Weg nach Lyddington Manor gemacht, um Fiona einen kurzen Besuch abzustatten. Sie hatte ganz vergessen, es euch zu sagen.«
Nachdenklich kletterte Amelia auf ihr Reitpferd. Das Herrenhaus der Lyddingtons war nicht allzu weit entfernt, sie brauchte sich um Anne also keine Sorgen zu machen. Außerdem freute es sie zu erfahren, dass die enge Freundschaft der beiden Mädchen offenbar noch immer Bestand hatte, denn Amelia konnte sich noch gut daran erinnern, wie Fionas aufgeweckte und unbekümmerte Art Anne ihre Einführung in die Londoner Gesellschaft erleichtert hatte.
Die Pferde der drei jungen Damen warteten bereits ungeduldig darauf, endlich losstürmen zu dürfen, und so stoben Amelia, Phyllida und Emily denn auch zunächst im gestreckten Galopp über die Felder. Dann, als die Tiere sich ausgetobt hatten, ritten sie in einem etwas gelasseneren Tempo entlang der Dorfstraße nach Lyddington. Es war ein angenehmer Tag, und die Sonne schien warm auf ihre Gesichter. Vögel zwitscherten und sausten in gewagten Sturzflügen über die Köpfe der drei Reiterinnen hinweg. Die Welt schien in bester Ordnung zu sein.
Im Dorf angekommen, ließen sie ihre Pferde im Gasthof zurück und spazierten über den Dorfanger. Anschließend kehrten sie bei der Bäckerei ein, um sich ein paar kleine Törtchen auszusuchen. Entspannt auf einer Bank in der Sonne sitzend, genossen sie ihre Köstlichkeiten und unterhielten sich über das Leben im ganz Allgemeinen. Doch sie sprachen auch über Kinder, und auf Amelias Bitte hin berichtete Phyllida schließlich über die zügig fortschreitende Entwicklung ihrer Söhne Aidan und Evan.
»Sie sind wahre Frechdachse und haben immer irgendwelchen Unfug im Kopf. Ich weiß, zu Hause sind sie zwar in Sicherheit, aber...« Phyllida ließ den Blick erst über den Dorfplatz schweifen und starrte dann auf irgendeinen fernen Punkt am Horizont. »Ach, ich vermisse sie doch sehr.« Dann wandte sie sich mit einem warmen Lächeln wieder Amelia zu. »Und ich kann dir versichern, dass Papa, Jonas und Sweetie sie bis zu unserer Rückkehr bestimmt wieder ganz fürchterlich verzogen haben.«
Plötzlich schaute sie mit gerunzelter Stirn über Amelias Schulter hinweg und murmelte leise: »Wir bekommen Gesellschaft. Wer ist das?«
Es war Mrs. Tilby, die Frau des Pfarrers, die sich mit wortreichen Begrüßungen und weitschweifigen Erklärungen zu ihnen setzte. Sie schien sehr aufgebracht, und sobald die allgemeinen Höflichkeiten ausgetauscht waren, erzählte sie ihnen auch, warum.
»Es gehen immer mehr Dinge verloren. Ein ganzer Berg irgendwelcher Kleinigkeiten - na ja, Ihr wisst ja selbst, wie es ist, wenn man sich einfach nicht mehr sicher ist, wo man etwas das letzte Mal gesehen hat. So richtig aufgefallen ist uns allen das auch erst, als wir uns gestern zum Treffen der Ladies Guild versammelten. Man macht sich ja nicht gleich Gedanken darüber, wenn man etwas mal nicht gleich auf Anhieb wiederfindet. Erst wenn man erfährt, dass das eine regelrechte Epidemie zu sein scheint... Tja, und mittlerweile fürchten wir uns fast, darüber nachzudenken, was wohl als Nächstes verloren gehen mag.«
Amelia wurde angst und bange, und sie erkundigte sich besorgt: »Was genau ist denn verloren gegangen?«
»Zum Beispiel die kleine Emailledose von Lady Merrington. Die stand immer auf dem Fenstersims in ihrem Salon. Und die Gingolds vermissen einen kristallenen, mit Gravuren verzierten Briefbeschwerer. Dann noch ein goldener Brieföffner von den Dallingers und ein tiefer, goldener Zierteller aus dem Castle.«
Sämtlichen dieser Haushalte hatte Amelia in der vergangenen Woche gemeinsam mit Minerva, Emily und Anne einen Besuch abgestattet.
Phyllida schaute Amelia an, in ihren dunklen Augen lag ein bekümmerter Ausdruck. Dann wandte sie sich zu Mrs. Tilby um. »Und diese Dinge sind alle erst vor Kurzem verschwunden?«
»Nun ja, meine Liebe, genau dort liegt ja das Problem. Keiner kann mit Sicherheit sagen, wann genau die Sachen verloren gingen. Alles, was wir wissen, ist, dass sie jetzt nicht mehr da sind, und dass keiner die leiseste Ahnung hat, wo sie sein könnten.«
Amelia und Phyllida mussten sich beherrschen und ihre Ungeduld bezähmen. Erst spät am Abend, als sie mit ihren Ehemännern allein waren, konnten sie offen sprechen. Dann aber berichteten sie ihnen aufgeregt, was sie bei ihrem Besuch im Dorf erfahren hatten.
Lucifer runzelte die Stirn. »Das ergibt doch keinen Sinn. Denn um solche Sachen verkaufen zu können, müsste man doch erst einmal nach London reisen.« Er sah Luc an.
Der schüttelte den Kopf. »Ich kann mir da auch keinen Reim drauf machen. Denn es stimmt - nur in London könnte man derlei Preziosen heimlich weiterverkaufen.« Er nahm einen Schluck von seinem Brandy und schaute Amelia an, die mit untergeschlagenen Beinen in der Ecke der Chaiselongue saß. »Immer vorausgesetzt, derjenige stiehlt die Dinge nicht einfach nur so, sondern weil er einen Gewinn daraus schlagen will.«
Lucifer nickte. »Richtig. Aber davon gehen wir jetzt einfach einmal aus.«
Schwer fühlte Amelia Lucs Blick auf sich ruhen. Sie wandte den Kopf um und sah ihn an. Er wartete offenbar darauf, dass sie den anderen von dem Lorgnon erzählte. Sie erwiderte seinen Blick, sagte aber nichts.
»Es gibt da noch einen weiteren, vielleicht sogar noch wichtigeren Punkt, den wir bedenken müssen«, meldete sich Phyllida vom anderen Ende der Chaiselongue zu Wort. »Die Diebstähle gehen offenbar immer noch weiter.«
»Was bedeutet«, nahm Amelia das Argument auf, das sie und Phyllida bereits zuvor unter vier Augen diskutiert hatten, »dass der Dieb noch immer auf Beutezug ist. Es besteht also die Chance, dass wir ihn irgendwie erwischen könnten, ihm damit sozusagen die Maske vom Gesicht reißen und die Angelegenheit endlich klären könnten.«
Lucifer nickte. »Du hast Recht.« Nach einem Moment überlegte er dann laut: »Wir müssen einen Weg finden, um denjenigen, wer immer es auch sein mag, ans Licht zu locken...«
Es wurden noch diverse Vorschläge gemacht, wie man den Dieb vielleicht fassen könnte, und doch kamen sie an diesem Abend zu keinem sinnvollen Ergebnis mehr. Gedanklich noch immer ganz in die Sache vertieft, zogen sie sich schließlich zurück und gingen zu Bett.
»Warum hast du ihnen denn nichts von dem Lorgnon in Annes Tasche erzählt?« Luc ließ sich neben Amelia in die Kissen sinken. Nachdenklich lag er auf dem Rücken und starrte in den Betthimmel empor. Amelia blies die Kerze aus. Silbrig und zart wie ein Schleier fiel das blasse Mondlicht in ihr Zimmer.
»Du hast doch auch nichts davon gesagt - warum?«
Luc antwortete nicht sogleich, denn er wunderte sich über ihren scharfen Ton. Andererseits aber konnte er sich nicht vorstellen, warum sie plötzlich wütend auf ihn sein sollte. »Na, ich kann doch wohl schlecht eine Geschichte zum Besten geben, die eine meiner Schwestern als Diebin darstellt. Zumal sie deiner Meinung nach ja noch nicht einmal die wahre Schuldige ist.«
»Na also! Da hast du es.« Nach einem Moment des Schweigens fuhr sie mit nicht mehr ganz so strenger Stimme fort: »Und jetzt verrate mir mal, wieso du geglaubt hast, dass ich anders darüber denken könnte.«
Mit einem Mal war Luc sich nicht mehr sicher, ob er Amelia nicht gerade völlig falsch verstanden hatte und ihr wieder einmal zu Unrecht misstraute. »Na ja, wie soll ich es sagen... ich meine, Lucifer ist doch schließlich dein Cousin. Und er ist ein Cynster.«
Amelia wandte den Kopf zu ihm um und schaute ihn an. »Aber du bist mein Ehemann.«
Er spürte ihren Blick, erwiderte ihn aber nicht, sondern starrte weiterhin zum Baldachin hinauf, während er versuchte, endlich einen Sinn in die ganze Angelegenheit zu bringen. »Und dennoch bist du durch und durch eine Cynster...« Luc hätte ihr seine Meinung nun natürlich noch etwas ausführlicher erläutern können, doch er traute sich nicht.
Nun wandte Amelia sich ihm mit ihrem ganzen Körper zu und stützte sich auf einen Ellenbogen. Stirnrunzelnd musterte sie sein Gesicht. »Ich mag zwar eine geborene Cynster sein... aber geheiratet habe ich dich. Und damit bin ich nun eine Ashford. Folglich tue natürlich auch ich alles, was nur irgend in meiner Macht steht, um deine Schwestern zu schützen.«
Nun konnte er nicht mehr anders, er musste sie einfach ansehen. »Sogar, wenn das bedeutet, dass du Lucifer etwas verschweigen musst?«
Sie erwiderte seinen Blick. »Wenn du die Wahrheit hören willst - über die Frage habe ich überhaupt nicht einmal nachgedacht. Meine ganze Loyalität gehört nun dir und darüber hinaus natürlich auch unserer Familie.«
Plötzlich schien sich eine Art Knoten in seinem Inneren zu lösen. Eine Anspannung, die Luc bis zu diesem Moment gar nicht recht wahrgenommen hatte, verschwand ganz einfach, verließ seinen Körper. Wieder und wieder hallten Amelias letzte Worte in seinem Hinterkopf nach, und der hartnäckige Zug um ihre Lippen und ihr Kinn verrieten, dass sie es mit ihrer Erklärung auch wirklich ernst meinte, und dass ihre Haltung ihm gegenüber durch nichts zu erschüttern war.
Dann konnte er nicht mehr an sich halten und fragte: »Kannst du das wirklich - so einfach die Seiten wechseln? Können Frauen von heute auf morgen plötzlich einer ganz anderen Familie die Treue halten?«
Selbst in dem nur schwachen Schein des Mondes erkannte er in dem Blick, den Amelia ihm nun zuwarf, dass sie ihn offenbar gerade für außergewöhnlich begriffsstutzig hielt.
»Aber natürlich können Frauen das. Das wird sogar von uns erwartet. Stell dir doch bloß mal vor, wie kompliziert das Leben wäre, wenn wir das nicht könnten - wenn wir das nicht täten!«
Sie hatte Recht. Er stellte sich einfach wieder einmal unverzeihlich dumm an. Nein, das stimmte nicht - er hatte sich unverzeihlich dumm angestellt, denn nun begriff er. »Darüber hatte ich gar nicht nachgedacht... uns Männern fällt es nicht so leicht, plötzlich die Seiten zu wechseln. Vor allem dann nicht, wenn damit die Loyalität zu unserer Familie in Frage stünde.«
Dann fühlte er plötzlich einen kleinen spitzen Ellenbogen auf seiner Brust ruhen. »Die schwierigeren Angelegenheiten lagen ja schon immer in den Händen der Frauen.«
Nun, da ihr Kopf unmittelbar über dem seinen war, konnte er die geradezu verzweifelt leidenschaftliche Liebe erkennen, die in ihren Augen schimmerte. Amelia konnte beim besten Willen nicht nachvollziehen, warum Luc all das nicht schon eher verstanden hatte. Und wenn sie ehrlich sein sollte, dann hielt sie ihn in diesem Moment für regelrecht beschränkt. Er hatte offenbar überhaupt nicht nachgedacht. Nun aber, da er endlich begriff und die Wahrheit sah… Luc hob die Hände und umschloss sanft Amelias Gesicht. »Komm, lassen wir diese Geschichte einfach ruhen.« Er zog sie noch ein wenig enger an sich. »In jedem Fall danke ich dir sehr.«
Noch ehe sie ihn fragen konnte, wofür er ihr denn dankte, küsste er sie auch schon - lange und genüsslich und begehrlich. Amelia murmelte irgendetwas, das er aber nicht verstand, und kuschelte sich noch dichter an ihn. Schließlich zog er seine Hände von ihren Wangen zurück, ließ sie an Amelias Körper hinuntergleiten, fasste sie um die Taille und hob sie auf sich, sodass sie rittlings auf seinem Unterleib saß.
Sich aus dem Kuss lösend, murmelte Luc: »Wenn ich vielleicht einen Vorschlag machen dürfte...?«
Angesichts der Tatsache, dass seine Erektion nun zwischen ihren Schenkeln eingebettet war, hatte Amelia eigentlich kaum noch Zweifel daran, in welche Richtung sein Vorschlag gehen würde. »Aber selbstverständlich.« Damit presste sie ihre Lippen auf die seinen und küsste ihn lange und innig. Als sie den Kuss schließlich beendete, forderte sie ihn auf: »Nur zu, dann lass doch mal hören.«
Was Luc denn auch prompt tat. Amelia hatte weder jemals an seiner Erfahrung und Sachkenntnis gezweifelt noch an seinem ungeheuren Einfallsreichtum. Die Aktivitäten, die er ihr nun mit leiser, verführerischer Stimme beschrieb und dann auch unverzüglich in die Tat umsetzte, ließen sie schlagartig alles andere vergessen - den Dieb, die dringende Notwendigkeit, Anne zu schützen, sowie alles andere, was mit seiner Familie zu tun hatte -, während sie sich mit Leib und Seele, mit jeder Faser ihres Wesens und von ganzem Herzen nur einer einzigen Sache widmete.
Dem Allerwichtigsten in ihrem Leben.
Der Aufgabe, Luc zu lieben.
Sie liebte ihn. Es musste ganz einfach so sein.
Amelia hatte ein treues, ehrliches Herz und ein Rückgrat, fest wie Stahl. Und natürlich hatte Luc stets gewusst, dass Amelia beides besaß... nur hatte er in den vergangenen Wochen eher ihren unbeugsamen Willen zu spüren bekommen als ihr liebendes Herz.
Jetzt aber waren sowohl ihr Herz als auch ihr Wille quasi die seinen, denn nun gehörte auch Amelia selbst einzig und allein ihm. Und endlich begriff er, was dies alles für ihn und ihr gemeinsames Leben bedeutete. Endlich verstand er, was Amelia ihm schon die ganze Zeit über hatte mitteilen wollen.
Und die Erkenntnis machte ihn ganz schwindelig vor lauter Glück.
Nun konnte er es ihr gestehen. Nun durfte er ihr alles sagen und ihr offenbaren, was sie seiner Meinung nach schon längst hätte erfahren müssen. Alles würde gut werden. Denn im Grunde war mit einem Mal doch alles genauso, wie Helena ihm bereits prophezeit hatte - sobald er die Macht der Liebe endlich annahm, stand ihm eine fast schon übermenschliche Kraft zur Seite.
Und diese Kraft würde ihn begleiten und ihn in allen seinen Vorhaben unterstützen.
Die einzige Frage, die nun noch blieb, war, wann genau er Amelia sein Geständnis machen sollte...
Denn schon am Nachmittag des gleichen Tages stand ihnen wieder neuer Besuch ins Haus. Amelias Eltern, Amanda, Martin, Simon und natürlich Tante Helena wurden erwartet.
Der Vormittag stand ganz im Zeichen der Vorbereitungen für ihre Gäste. Amelia eilte unentwegt hin und her, gab Anweisungen und kontrollierte den Stand der Dinge. Lucifer und Phyllida bedachten sie mit einem verständnisvollen Lächeln und verließen das Haus zu einem kleinen Picknick. Luc fügte sich unterdessen widerwillig in die Erkenntnis, dass nun sicherlich nicht der richtige Zeitpunkt für prekäre Geständnisse war, und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, damit Amelia ganz ungestört schalten und walten konnte - eben so, wie sie es für richtig hielt.
Und dafür war Amelia ihm wirklich dankbar. Denn nicht nur sie, sondern auch die Dienerschaft war schon ganz aufgeregt und nervös und wuselte hektisch durchs Haus. Dann aber, als der jüngste der Stallburschen, den Amelia hinausgeschickt hatte, um nach den Gästen Ausschau zu halten, schließlich ins Haus gerannt kam und verkündete, dass auf der anderen Seite des Tals die erste Kutsche zu sehen sei, war alles für die Ankunft des Besuchs bereit.
Amelia tauschte einen triumphierenden Blick mit Mrs. Higgs und Cottsloe und eilte nach oben, um sich ein anderes Kleid anzuziehen und ihr Haar zu ordnen. Zehn Minuten später kam sie wieder herunter und hatte gerade noch Zeit genug, um Luc aus seinem Arbeitszimmer zu zerren, als auch schon das Knirschen von Kies und das Trappeln und Stampfen von Pferdehufen ihre ersten Gäste ankündigten.
Hand in Hand traten Luc und Amelia unter den Portikus und beobachteten, wie Martin Graf von Dexter aus der Kutsche kletterte. Dann griff Martin hinauf, um auch seiner Gräfin aus dem Gefährt herauszuhelfen. In der Sekunde, in der Amandas Füße den Boden berührten, hob sie auch schon den Kopf und strahlte über das ganze Gesicht. »Melly!«
Am Fuße der Treppe fielen die Zwillinge sich voll überschwänglicher Wiedersehensfreude in die Arme. Sie drückten sich, überschütteten sich gegenseitig mit herzlichen Küssen, schwenkten sich übermütig im Kreis herum, hielten einander dann auf Armeslänge von sich entfernt - und brachen fast zeitgleich in einen hastigen Wirrwarr nur halb zu Ende gesprochener Sätze aus, die sie aber offenbar auch gar nicht zu beenden brauchten, weil die andere ohnehin schon wusste, was ihre Schwester ihr gerade sagen wollte.
»Hast du schon gehört -?«
»Ja, Reggie hat es mir geschrieben. Aber sag doch, wie war -?«
Amanda machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Die Reise war vollkommen unproblematisch.«
»Schön. Und was ist mit -?«
»Ach so, das! Na ja -«
Martin schüttelte verwundert den Kopf, während er die flachen Stufen zu Luc hinaufschritt. Die beiden Cousins tauschten ein Lächeln, dann, in einem spontanen Rückfall in die kameradschaftlichen Gesten ihrer Jugend, klopften sie einander auf die Schultern und wandten sich schließlich wieder um, um ihre noch immer wild durcheinanderredenden Frauen zu betrachten.
Schließlich schaute Martin auf und ließ den Blick über die sanft ansteigenden grünen Ausläufer des Tales schweifen. »Dein Land scheint noch besser zu gedeihen, als ich es in Erinnerung hatte.«
Luc nickte. »Ja, die Dinge entwickeln sich ganz zu meiner Zufriedenheit.«
Martin hatte nie gewusst, wie es wirklich um das Wohlergehen der Ashfords gestanden hatte. Er kannte Calverton Chase noch aus den glücklichen Tagen vor dem finanziellen Ruin der Familie. Die Zeiten, die dann ganz im Zeichen der mühsamen Rückkehr in die finanzielle Sicherheit standen, hatte er gar nicht miterlebt - und entdeckte ganz offenbar auch jetzt keinerlei Hinweis mehr auf die Entbehrungen der vergangenen Jahre. Luc beschloss also, einfach mit seinem Werk zufrieden zu sein und die Vergangenheit hiermit ein für alle Mal ruhen zu lassen. Die Ashfords hatten überlebt. Das war das Einzige, was zählte. Lucs Blick ruhte auf Amelias goldenen Locken, und er musste sich im Stillen eingestehen, dass sein Haus mit ihrem Eintreten in die Familie nur noch stärker geworden war. Es war eine stete Entwicklung, die Tag für Tag - seit Amelia die seine geworden war - immer noch weiter fortschritt.
Eine weitere Kutsche bog in die lange Auffahrt ein, die von Osten her das Tal durchschnitt. Martin deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf das Gefährt. »Das werden die Herzoginwitwe und Simon sein. Arthur und Louise kommen als Letzte.«
Langsam überquerte die Sonne den Zenit und überzog die leicht winkelförmige Front von Calverton Chase mit einem tiefgoldenen Glanz. Die Schatten wurden länger, der Nachmittag schritt voran, und seine Stunden waren erfüllt von Wärme, Freude und ungetrübter Heiterkeit. Unterdessen war schließlich auch der Rest von Amelias Familie angekommen, und die Gäste hatten sich in ihren Zimmern eingerichtet.
Dann, zu einem spätnachmittäglichen Tee, fanden sich schließlich alle wieder zusammen. In dieser Runde verkündeten Amanda und Martin dann auch, dass sie ihr erstes Kind erwarteten. Spontane Freudenrufe ertönten, man gratulierte und plauderte aufgeregt durcheinander. Luc schaute zu, wie Amelia ihre Zwillingsschwester herzlich umarmte und wie auch alle anderen Damen sich erhoben, um sich um Amanda zu drängen und diese voller Entzücken in ihre Arme zu schließen und zu küssen. Dann wandte Luc sich verstohlen von dem geradezu rührenden Anblick ab, winkte Cottsloe heran und wies ihn an, Champagner zu holen.
Geflissentlich eilte Cottsloe davon. Luc schaute Amelia an. Denn natürlich konnte er rechnen und fragte sich... Seine Frau spürte, dass er sie beobachtete, und erwiderte seinen Blick flüchtig. Doch Luc war sich nicht sicher, ob er den Ausdruck in ihren Augen richtig interpretierte... bat sie ihn etwa zu schweigen?
In diesem Moment kam auch schon der Champagner. Luc marschierte zur Anrichte hinüber und goss die köstliche, prickelnde Flüssigkeit in die Kristallkelche, die Cottsloe sogleich eifrig auf dem Silbertablett arrangierte. Auch Simon trat zu ihnen und war dabei behilflich, die Gläser zu verteilen.
Als dieser wieder zu den anderen Gästen zurückkehrte, erschien Amelia neben Lucs Schulter. Er hielt einen Augenblick inne, während sie die Finger um sein Handgelenk schloss und ihn beschwörend ansah.
»Bitte, sag noch nichts. Ich bin mir noch nicht sicher!«
Luc sah sie an, blickte ihr tief in die Augen. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem verschmitzten Lächeln, er neigte den Kopf zu ihr hinab und küsste sie zart auf die Schläfen. »Das werde ich auch nicht - keine Sorge. Dieser Augenblick gehört allein Martin und Amanda. Schließlich haben sie schon einen guten Monat vor uns beiden geheiratet. Wir werden unsere eigene kleine Bekanntgabe haben. Dann, wenn die Zeit dafür gekommen ist.«
Amelia schaute ihm in die Augen, betrachtete einen Moment lang forschend sein Gesicht, und schließlich schien diese gewisse Anspannung, die sich in ihren Zügen abgezeichnet hatte, wieder von ihr zu weichen. Sie ließ seine Hand los, Luc füllte auch die letzten Gläser und reichte ihr einen der Champagnerkelche.
Amelia nahm das Glas entgegen. Sah ihm abermals eindringlich in die Augen. Leise flüsterte sie: »Danke.«
Luc lächelte amüsiert. »Nein, ich danke dir.«
Für einen kurzen Moment schienen sie beide die einzigen Menschen in diesem Raum zu sein. Dann kehrte Simon zurück und nahm, bis auf eines, auch die restlichen Gläser mit sich. »Damit müssten dann wohl alle versorgt sein, glaube ich.« Mit dem Tablett in den Händen ging er vorsichtig auf die spontane Versammlung in der Mitte des Salons zu.
Luc nahm das letzte Glas auf, sah Amelia an und stieß mit dem Rand seines Champagnerkelches leicht gegen den ihren. »Komm.« Er schlang den Arm um ihre Taille und wandte sich wieder zu ihrer gemeinsamen Familie um. »Lass uns auf die Zukunft trinken.«
Amelia lächelte, lehnte sich kurz an ihn, und gemeinsam kehrten sie zu ihren Gästen zurück.
Die nächste Stunde verging wie im Fluge. Gegen Ende der kleinen Feier beschloss man dann allgemein, sich noch einmal kurz zurückzuziehen und für das Abendessen umzukleiden. Simon stand auf, reckte und streckte sich, und Miss Pink zog geschäftig Portia und Penelope mit sich. Gerade, als Amelias Bruder den Salon verlassen wollte, wurde die Tür bereits von außen geöffnet. Cottsloe kam herein, sah Luc und eilte auf ihn zu.
»Mylord, General Ffolliot wünscht, Euch zu sprechen. Er wartet in der Halle.«
Luc warf einen raschen Blick auf die Gesellschaft im Salon. »Das ist unser nächster Nachbar«, erklärte er und wandte sich dann wieder zu Cottsloe um. »Führt ihn hier herein. Vielleicht möchte er ja mit uns anstoßen?«
Cottsloe verbeugte sich und zog sich wieder zurück. Luc stand auf und ging durch den langen Raum auf die Tür zu.
Abermals öffneten sich die Flügel der Doppeltür, und der General trat ein. Er war von mittlerer Größe und leicht untersetzter Statur, und seine auffälligsten Merkmale waren die buschigen Augenbrauen und der leicht gerötete Teint. Der General war ein leutseliger, wenngleich etwas schüchterner und zurückgezogen lebender Mann. Er schlug sofort mit herzlicher Geste in die Hand ein, die Luc ihm entgegenstreckte.
»Einen schönen guten Tag, Calverton. Gut, dass ich Euch hier antreffe.«
»Willkommen, General. Darf ich Euch dazu einladen, uns Gesellschaft zu leisten?«
Der General folgte Lucs schwungvoll einladender Handbewegung und musterte die am Ende des Raumes versammelte Gruppe. Alle blickten ihn mit freundlichem Lächeln an. General Ffolliot erbleichte sichtlich. »Oh. Ah. Ich wusste ja nicht, dass Ihr Besuch habt.«
»Es ist aber keine geschlossene Gesellschaft. Also, darf ich Euch einen Drink anbieten?«
»Nun ja...«
Der General zauderte. Luc hatte ganz vergessen, wie unbeholfen der gutmütige Mann sich in Gegenwart Fremder zuweilen gab. Dann hörte er das leise Rascheln von Röcken - eine der Damen schien sich ihm von hinten zu nähern. Luc vermutete, dass dies nur Minerva sein könne, die den General stets sehr zuvorkommend behandelte. Stattdessen aber erschien Amelia an seiner Seite und schob mit strahlendem Lächeln ihren einen Arm unter seinem Ellenbogen hindurch, während sie ihre freie Hand einladend dem General entgegenstreckte.
»Wie schön, Euch zu sehen, Sir! Bitte, lasst Euch doch von mir dazu überreden, uns für eine Weile Gesellschaft zu leisten.«
Luc unterdrückte ein zufriedenes Lächeln, trat ein kleines Stückchen zurück und überließ das Feld damit seiner Ehefrau. Nur wenige Minuten später thronte der General bereits mitten auf der Chaiselongue, rechts von ihm Louise, zu seiner Linken Minerva. Und obgleich er noch immer ein wenig nervös war, so konnte er sich dem geballten Charme dieser beiden Damen doch nur schwerlich entziehen. Schon kurz nachdem er Platz genommen hatte, hielt er in der einen Hand eine Tasse Tee, in der anderen ein kleines Törtchen und lauschte mit gebannter Aufmerksamkeit der Herzoginwitwe von St. Ives und deren Ansichten über die geradezu überirdischen Reize der Umgebung von Calverton Chase.
Arthur warf Luc einen verstohlenen Blick zu, und in seinen Augen blitzte es verräterisch. Luc lächelte und nippte an seinem Tee. Die Herzoginwitwe gratulierte dem General gerade aufs Ausführlichste zu dessen Geschick, sich ausgerechnet diese wundervolle Gegend für seinen Familiensitz ausgesucht zu haben. Schließlich mischte Luc sich vorsichtig in die Unterhaltung ein und fragte: »Was, verehrter General, war eigentlich der Grund für Euren Besuch? Worüber wolltet Ihr mit mir sprechen?«
Der General blinzelte verunsichert, seine Nervosität kehrte zurück. »Nun... sicherlich ist das nicht gerade eine Angelegenheit, die man... auf der anderen Seite aber, natürlich...« Nach einer kurzen Pause atmete er einmal tief durch und platzte schließlich heraus: »Ich weiß einfach nicht, was ich davon halten soll. Beziehungsweise, was ich tun soll.« Damit ließ er den Blick zu Minerva hinüberschweifen, die unmittelbar neben ihm saß, schaute Louise und Helena an - sämtliche drei Damen lächelten ihm aufmunternd zu. »Es geht um den goldenen Fingerhut meiner verstorbenen Frau. Eines der wenigen Dinge, die mir von ihr noch geblieben sind.« Mit einem flehenden Ausdruck in den Augen sah er Luc an. »Er ist verschwunden, müsst Ihr wissen, und seit nun so viele Gerüchte über diesen angeblichen Dieb kursieren... Nun ja, ich wusste einfach nicht, an wen ich mich sonst mit meinen Sorgen wenden sollte...«
Einen Augenblick lang herrschte vollkommene Stille im Raum. Dann beugte Amelia sich vor und berührte den General mitfühlend am Arm. »Wie schrecklich. Das tut mir sehr leid für Euch. Seit wann vermisst Ihr den Fingerhut denn?«
»Das ist aber auch wirklich ein sehr unglücklicher Vorfall«, stimmte Helena ihm zu.
Emily und Anne, die, ohne es zu bemerken, von einigen der Anwesenden bereits scharf beobachtet wurden, reagierten vollkommen ungekünstelt und zeigten ihr Entsetzen ganz offen. »Wie schrecklich«, murmelte Anne mit weit aufgerissenen Augen, und alles, was man in ihrem Gesicht ablesen konnte, war ehrliche Unschuld.
Die Damen versammelten sich sofort alle um General Ffolliot, und Luc hörte genau zu, was der alte Mann auf die leider unumgänglichen, doch sehr geschickten Fragen antwortete, die Amelia und Phyllida ihm stellten.
Es schien ganz so, als ob der Fingerhut - ein reingoldenes, doch schlichtes und schmuckloses Stück - seit dem Todestag der Ehefrau des Generals stets seinen festen Platz auf dem Kaminsims des Herrenhauses gehabt habe. Das letzte Mal, dass der General den Fingerhut bewusst wahrgenommen habe, sei allerdings bereits einige Wochen her, so erklärte er.
»Das kleine Andenken gehörte nun einmal nicht zu jener Sorte Dinge, die ich mir jeden Tag aufs Neue ansehe. Es reichte mir zu wissen, dass er da war.«
Er verdächtigte niemanden, ganz besonders nicht die Bewohner von Calverton Chase, sodass schnell klar wurde, dass der einzige Grund, weshalb der General die Ashfords aufgesucht hatte, die Hoffnung auf ein wenig Trost war. Und dieser Trost wurde ihm von den Damen natürlich auch nicht vorenthalten, sodass er die Gesellschaft zwar nicht in fröhlicher Stimmung verließ, jedoch immerhin wieder ein wenig ruhiger wirkte und vielleicht sogar tatsächlich ein wenig Geborgenheit gefunden hatte. Kaum aber, dass sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, wurde die Stimmung im Salon von Calverton Chase sehr ernst. Luc, Lucifer, Amelia und Phyllida tauschten bedeutungsschwangere Blicke.
Arthur, Minerva, Helena und Louise bemerkten diese Blicke natürlich ebenfalls und tauschten wiederum ihrerseits verstohlen die eine oder andere kleine Geste aus. Minerva war die Erste, die sich schließlich wieder erhob, ihre Röcke ausschüttelte und verkündete: »Am besten, wir gehen jetzt alle auf unsere Zimmer und ziehen uns zum Abendessen um. Es kann nicht mehr lange dauern, bis Penelope und Portia wieder herunterkommen. Und stellt euch vor, wir sitzen dann immer noch hier - grübelnd und ohne angemessene Kleidung fürs Abenddinner.«
Damit löste die Gruppe sich auf, und alle kehrten in ihre Räumlichkeiten zurück.
»Wir müssen uns später noch einmal unterhalten«, murmelte Lucifer, als er neben Luc die Treppe hinaufschritt.
Luc nickte. »Und besser, es bleibt nicht nur beim Reden.« Eindringlich schaute er in Lucifers blaue Augen, die fast so dunkel waren wie seine eigenen. »Wir müssen dringend einen Plan entwickeln.«