27. KAPITEL
Riley trat die Haustür ein, dass Holzsplitter in alle Richtungen flogen. Es schrillte keine Alarmanlage. Was nicht hieß, dass er keine ausgelöst hatte, aber das war ihm egal. Das letzte Mal, als Riley in dieser Gegend gewesen war, hatte er auf Nummer sicher gehen wollen und war fast umgebracht worden. Das Tier in ihm hatte tatsächlich daran glauben müssen. Dieses Mal wollte er anders vorgehen.
Mit geballten Fäusten stampfte er ins Haus. Er durfte jetzt nicht an das denken, was passiert war. Sonst würde er wütend werden und alles klein schlagen. „Wir haben fünf Minuten.“ Danach würde die Polizei kommen. „Die müssen wir nutzen.“
Mary Ann stürmte hinterher. „Soll ich mir einfach schnappen, so viel ich kann?“
Soweit sie wussten, wohnten hier Joe und Paula Stone. Natürlich lautete der Plan, so viel wie möglich mitzunehmen. Das waren sie schon mehrmals durchgegangen. Mary Ann kannte die Antwort, sie war nur nervös. Und so gern Riley sie getröstet hätte – im Moment hätte er selbst Trost gebrauchen können.
Auf dieser Seite waren nur zwei Türen. Riley betrat das erste Zimmer. Das Schlafzimmer der Stones? Möglich. Klein, spärlich eingerichtet mit nur einem Bett, einem Nachttisch und einer Kommode. Die Bettdecken waren zerwühlt, als hätte man sie schnell zurückgeschlagen. Auf dem Nachttisch lag eine umgekippte Tasse. Ihr Inhalt, offensichtlich Wasser, war auf den Boden getropft, auf dem sich Kleidung häufte. Einige Schubladen einer Kommode standen offen. Das einzige Fenster war mit dicker schwarzer Farbe zugeschmiert.
Dieses Zimmer hatte lange niemand betreten. Wahrscheinlich nicht seit dem Morgen, an dem Riley im Haus gegenüber beinahe mit Mary Ann geschlafen hätte – der Tag, an dem sich beider Leben für immer verändert hatte.
Wenn das stimmte, waren Joe und Paula Stone getürmt. Und würden nicht zurückkommen. Und wenn sie getürmt waren, mussten sie gewusst haben, dass Riley und Mary Ann kommen würden. Aber woher? Und warum sollten sie abhauen? Wovor hatten sie Angst?
„Riley“, rief Mary Ann.
Er folgte dem Klang ihrer Stimme und stand wenig später neben ihr im zweiten Zimmer. Als er sah, dass der Boden mit Spielsachen übersät war, verschlug es ihm im ersten Moment die Sprache. „Sie haben ein Kind?“
„Entweder das, oder sie sind Tageseltern.“
„Nur für Mädchen? Wohl kaum.“ Nichts in dem Zimmer deutete auf Jungs hin. Es gab nichts Blaues, keine Rennautos, keine Actionfiguren. Nur Rosa, Stofftiere und Puppen.
„Glaubst du …“
Dass Aden eine Schwester hatte? „Könnte sein.“ Wahrscheinlich.
Aber dass sie das auf diese Weise herausfinden mussten … Riley rief sich das Paar und ihr Auto in Erinnerung, aber an einen Kindersitz konnte er sich nicht erinnern. Trotzdem könnte das Mädchen bei ihnen gewesen sein. „Jetzt …“ Was jetzt? Er sah sich nach einer Uhr um, konnte aber keine entdecken. Wie lagen sie in der Zeit? „Geh in die Küche und durchsuche die Schubladen. Nimm alle Rechnungen mit, die du findest. Alles, auf dem ein Name steht.“
„Okay.“ Statt loszulaufen, blieb sie stehen. „Riley, ich …“
„Ich kann darüber nicht reden. Geh einfach.“ Bevor sie noch etwas sagen konnte, kehrte er ins Schlafzimmer zurück. Er bemühte sich, seine düsteren Gedanken zu vertreiben, während er den Nachttisch und die komplette Kommode durchwühlte und unter Matratze und Bett nachsah. Die Bewohner hatten nichts Persönliches zurückgelassen.
War ja klar.
„Du, Riley“, rief Mary Ann. Ihre Stimme überschlug sich.
Obwohl er ihr den Rücken zuwandte, spürte er ihre Angst. Er fuhr hoch, drehte sich zu ihr um und erstarrte. Der Atem gefror ihm in den Lungen.
„Mary Ann. Komm her, ganz langsam.“
Sie stieß einen erstickten Laut aus. „Kann nicht.“
„Du gibst hier keine Befehle, Junge. Dafür bin ich zuständig“, sagte der Mann hinter Mary Ann. Er hielt eine Pistole auf ihren Kopf gerichtet.
Er war groß, blond und schlank. Unter den aufgerollten Ärmeln seines Flanellhemds waren Tätowierungen zu sehen. Schutzzeichen. Wogegen, konnte Riley nicht erkennen. Noch nicht. Er musste sich das näher ansehen. Deutlich zu erkennen dagegen war die Wut, die von dem Mann ausging wie wilde dunkle Wellen. Er würde schießen, und es wäre ihm egal, wenn er Leichen zurückließ.
Riley verfluchte sich selbst dafür, dass er Mary Ann nicht beigebracht hatte, wie sie in einer solchen Situation reagieren sollte. „Wenn du ihr etwas tust, bringe ich dich um“, erwiderte er ruhig. Das war keine leere Drohung.
Ähnliches und mehr hatte er schon getan. Er hatte noch nie grundlos zugeschlagen, aber er hatte niemals einfach alles hingenommen.
„Das dürfte dir etwas schwerfallen, wenn du tot bist, oder.“ Keine Frage, eine Feststellung. „Aber keine Angst, ich mache es schnell.“
Das Traurige war, dass Riley nichts tun konnte. Er konnte sich nicht richtig verteidigen. Hätte er seine Wolfsnatur nicht eingebüßt, er hätte den Mann ins Haus kommen hören. Oder ihn zumindest gerochen. Stattdessen hatte er zugelassen, dass jemand seine Exfreundin bedrohte. Nun ja, irgendwie hatte er es ja verdient.
Nur Mary Ann nicht, sie hatte nichts davon verdient. Nicht … seine ehemalige Freundin. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er über sie dachte, als würde sie nicht mehr zu ihm gehören. Nie zuvor hatte er so über sie beide gedacht.
Der Mann drückte ihr die Pistole gegen den Kopf und schob sie nach vorn. Sie stolperte ins Zimmer.
„Es tut mir so leid“, flüsterte sie. Tränen traten ihr in die Augen. „Er hat sich angeschlichen, und ich …“
„Halt die Klappe, Kleine. Ich will nichts mehr von dir hören.“
Als Mary Ann endlich nah genug war, nahm Riley ihren Arm und zog sie hinter sich. Zitternd griff sie nach seiner Hand. Aber er hatte keine Zeit, sie zu trösten. Wenn er ihr Schutzschild sein wollte, musste er sie ganz loslassen. Sie hatte die Hände flach auf seinen Rücken gelegt, und für einen kurzen Augenblick krallte sie sich in seinem T-Shirt fest. Schließlich ließ sie ihn ebenfalls los und trat neben ihn.
Riley stellte sich vor sie und starrte den Mann mit der Waffe finster an. Der Mensch, etwa genauso groß wie Riley mit seinen eins neunzig, hatte der kleinen Szene mit unbewegter Miene zugesehen, als erlebte er so was alle Tage.
„Bist du Joe Stone?“
In den Augen des Mannes blitzte Überraschung auf, aber statt zu antworten, stellte er eine Gegenfrage. „Seid ihr bei meinen Nachbarn eingebrochen und habt alles mit Blut verschmiert?“
„Ja“, antwortete Riley. „Und?“
„Und?“ So viel Offenheit brachte den Mann kurz aus dem Konzept.
„Wer seid ihr, und was habt ihr in meinem Haus zu suchen?“
Sollte er dieses Mal die Wahrheit sagen oder lügen? Wer war dieser Typ überhaupt? Er hatte Adens Haarfarbe und das gleiche kantige Kinn, aber das hatten Tausende. Abgesehen davon sah er ihm nicht ähnlich.
Der Mann hatte ein grobschlächtiges Gesicht, seine Nase war ein wenig schief, als wäre sie einige Male gebrochen gewesen. Über seine Wangen zogen sich feine zackige Narben. Aden hatte ein Gesicht wie ein Engel, das kein bisschen grobschlächtig wirkte.
„Ich habe dich etwas gefragt, Junge.“
„Und ich habe nicht geantwortet.“ Reiz ihn nicht zu sehr. Schließlich konnte er seinen Wolf nicht zum Spielen rauslassen.
Ein neuer Gedanke für Riley. Tatsächlich war er älter als dieser Mann. Früher wäre er auch stärker gewesen. Deutlich stärker und deutlich böser. Und jetzt? War er nur noch jämmerlich.
„Wir kennen Ihren Sohn“, sagte Mary Ann seelenruhig. „Aden. Haden, meine ich. Alle nennen ihn Aden.“
In der steinernen Miene ihres Gegenübers regte sich kein Muskel. Schlimmer noch, er hielt die Waffe ohne jedes Zittern auf sie gerichtet, was zeigte, wie stark er war. Jedem anderen wäre sie schon zu schwer geworden. „Ich habe keine Ahnung, was du da redest.“
„Aber ich dachte … Sie müssten … Vielleicht waren wir … Das kann doch nicht sein!“, rief sie. „Sind wir etwa im falschen Haus?“
„Nein, sind wir nicht“, widersprach Riley.
Sie fiel ihm ins Wort. „Es tut mir leid, wirklich. Wir hätten nicht …“
Rileys primitive Seite hätte dem Mann gern etwas angetan, um ihn dafür büßen zu lassen, dass er Mary Anns Kampfgeist gebrochen hatte. Vielleicht hatte ihr auch die Begegnung mit dem Tod den Mut genommen, aber … Moment. Sie hatte sich gerade vor ihn geschoben. Was zum … Sie wollte ihn beschützen.
So viel zu ihrem gebrochenen Kampfgeist.
Er hätte das als Beweis dafür nehmen können, dass sie ihn irgendwie noch liebte. Aber er konnte nur daran denken, dass sie ihn für nicht stark genug hielt, um sie zu beschützen. Wieso sollte sie auch? Er war nicht stark genug.
Der Mann, der vielleicht Joe war, machte Ernst und spannte den Hahn. „Du hast fünf Sekunden um zu reden, Junge, sonst landet dein Hirn an meiner Wand.“
„Zählst du laut runter, damit ich mit meinen Geheimnissen bis zur letzten Sekunde warten kann?“ Riley würde einfach davon ausgehen, dass der Mann Joe war. Sonst würde er sich nur verhaspeln. „Du weißt genau, wer Aden ist. Er ist dein Sohn.“ Beim Reden schob er Mary Ann wieder hinter sich. Er steuerte sie ein, zwei Schritte rückwärts in Richtung Fenster. Wenn sie hinaussprang und weglief, könnte er die Lage klären, ohne sich um sie sorgen zu müssen.
„Ich habe keinen Sohn.“
„Das glaube ich dir nicht.“
„Mir egal. Wieso glaubt ihr, ich bin dieser Joe?“
„Weißt du was? Wenn du Fragen mit Gegenfragen beantwortest, macht dich das weder schlau noch geheimnisvoll.“
Seine dunklen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Pass mal auf, wie du mit mir redest, Kleiner. Ich habe hier die Pistole.“
Ein weiterer Schritt zurück. Fast geschafft.
„Ich weiß, was ihr macht. Kein Stück weiter.“ Joe kam näher, bis er Riley den Pistolenlauf gegen die Brust drückte. „Ihr bleibt schön hier, bis ich ein paar Antworten habe.“
„Als würde zum ersten Mal jemand auf mich zielen. Wenn du mir Angst machen willst, lass dir was Originelleres einfallen. Wenn du Antworten willst, lass das Mädchen gehen.“
„Nein“, widersprach Mary Ann. Er langte hinter sich und drückte ihren Arm, damit sie um Himmels willen ruhig blieb. „Ich bleibe hier.“
„Hör nicht auf sie.“
„Zu spät“, sagte Joe. „Ich habe sie gehört. Sie bleibt hier.“
Nein, verdammt. Da würde er nicht mitspielen. „Das wirst du noch bereuen.“ Riley hob die Hände, als wollte er sich ergeben.
„Das glaube ich eher nicht.“
Blitzschnell packte Riley die Pistole und drückte sie mit aller Kraft nach unten. Joe schoss, aber die Kugel schlug in den Fußboden ein.
Ohne Joe loszulassen, schlug Riley mit der anderen Hand zweimal zu. Als sein Gegner benommen war, wand Riley ihm die Pistole aus der Hand und brach ihm dabei den Zeigefinger. Er hätte selbst schießen können, aber er tat es nicht. Er nahm die Waffe lediglich an sich und zielte. „Hab ich’s nicht gesagt?“
Leise fluchend und mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt Joe die Hände hoch. Im Gegensatz zu Riley war die Geste ernst gemeint. Sein gebrochener Finger stand in einem seltsamen Winkel ab, mit der ganzen Hand konnte er nichts anfangen.
Riley richtete die Pistole weiter auf ihn, denn er war sicher, dass Joe versteckt noch mehr Waffen bei sich trug. „Rühr dich ja nicht, sonst schieße ich. Mary Ann, ruf Aden an.“
„Was? Warum?“
Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie ihr Handy zückte und die Nummern durchging. Einen Moment später flüsterte sie etwas. Riley achtete währenddessen vor allem auf Joe. Abgesehen von einer leichten Kurzatmigkeit und heftigem Zittern zeigte dieser keine Reaktion.
„Wenn du nicht Joe Stone bist, wer bist du dann?“ Riley wollte die Wahrheit herausfinden, bevor Aden herkam.
Joe schluckte schwer. „Na schön. Ich spiele mit. Tun wir so, als wäre ich dieser Joe Stone. Was willst du von mir?“
Okay. Also war er Joe, ohne jeden Zweifel. Wieso hätte er sonst diese Frage stellen sollen? Aber was sollten die Ausflüchte?
„Erst mal eine Entschuldigung.“
„Weil ich mein Zuhause beschütze?“
„Weil du deinen Sohn im Stich gelassen hast.“
Unter Joes Auge zuckte ein Muskel. Vor Wut? Oder aus Schuldgefühlen?
„Mary Ann?“, fragte Riley.
„J…ja?“
„Komm mal her.“
Eine Sekunde später stand sie neben ihm. „Aden ist auf dem Weg.“
„Gut. Jetzt nimm die Pistole“, bat er, ohne Joe aus den Augen zu lassen.
„Was?“
Wieder konnte er ihre Angst spüren.
„Nimm die Pistole, halt den Finger auf dem Abzug und drück ab, wenn er sich bewegt.“
„Okay. Klar. Kein Problem.“ Mit zitternden Händen tat sie, was er gesagt hatte. Weil die Pistole so schwer war, dass Mary Ann sie wahrscheinlich nicht lange halten konnte, beeilte Riley sich. Er tastete Joe ab und achtete dabei darauf, nicht in die Schusslinie zu geraten. Neben drei Messern fand er eine volle Spritze und ein Elektroschockgerät. Ein Ausweis fehlte.
Joe rührte sich die ganze Zeit nicht von der Stelle. Kluge Entscheidung.
„Riley“, sagte Mary Ann.
„Du machst das gut, Liebes.“ Als er Joe in Richtung Bett schubste, folgte Mary Ann mit dem Pistolenlauf. „Setz dich und bleib sitzen.“
Joe gehorchte, und Riley kehrte zu Mary Ann zurück. Als er ihr die Pistole abnahm, seufzte sie erleichtert.
„Nimm die Messer und stell dich neben die Tür. Wenn jemand anderer als Aden oder Victoria hereinkommt, stich zu.“
„Außer mir ist niemand hier“, sagte Joe. „Mir wird niemand helfen.“
Der Typ sprach in seinem üblichen emotionslosen Ton. Riley sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. „Also stürmt deine Frau Paula nicht gleich rein und versucht dich zu retten?“
Unter der gebräunten Haut wurde Joe kränklich blass. „Nein, tut sie nicht. Ihr braucht auch gar nicht nach ihr zu suchen. Sie ist in Sicherheit.“
Keine Frage, das war wirklich Joe Stone.
Schweigen breitete sich aus, bis eine Stunde später Aden eintraf, gefolgt von Victoria. Beide trugen zerknitterte Kleidung, ihr Haar war völlig zerzaust. Victorias Wangen waren gerötet, und auf ihrem Hals prangten zwei kreisrunde Bisswunden. Auch Aden trug ähnliche Wunden, allerdings waren seine unsauber und ausgerissen, als hätte er sich einen Menschen vom Leib halten müssen.
Victoria wurde nachlässig. Aber das war längst nicht Adens größtes Problem. Sie tranken nicht nur voneinander – was gefährlich war, wenn man bedachte, was bereits geschehen war –, sie schliefen auch miteinander. Und Riley war der lebende Beweis dafür, dass nichts Gutes dabei herauskam, wenn man Spaß und Arbeit vermengte.
Falls sich Adens Monster befreien konnte oder Victoria vom Blutdurst mitgerissen wurde, würde das keiner überleben. Allerdings standen sie sicher auf den Beinen, sie zitterten nicht und starrten dem anderen auch nicht sabbernd auf den Hals.
Gut so. Die Monster der Vampire sprangen auf Aggressionen und Testosteron an, und davon lag im Moment genug in der Luft, um fast als Nebel durchzugehen.
Joe verkrampfte sich und sah mit einem Mal alarmiert aus. Doch, welch Überraschung, er sah Aden nicht an. Sein Blick wanderte überallhin, nur nicht in Adens Richtung.
„Das Haus ist sonst leer“, sagte Victoria. „Und in den Nachbarhäusern ist niemand Verdächtiges, der uns beobachtet.“
Nach ihrer langen Zeit zusammen wusste sie ohne nachzufragen, wie Riley vorging und welche Informationen er brauchte.
Aden sah Joe mit ausdrucksloser Miene an. „Ist er das?“ In seiner Stimme lag Wut, aber auch Faszination.
„Ja“, antwortete Mary Ann. „Das ist er.“
Riley ließ Aden einen Moment Zeit, um seine Gedanken zu ordnen.
„Ich bin nicht der, für den ihr mich haltet“, sagte Joe, der Aden immer noch nicht ansehen wollte. Aden ging mit Victoria zu Mary Ann hinüber und stellte sich so vor die beiden Mädchen, dass Joe sie nicht sehen konnte.
„Du bist kein guter Lügner, Joe. Spar dir die Geschichte. Du hast schon zugegeben, dass du Paula kennst.“
„Vielleicht habe ich auch nur so getan.“
„Egal.“ Riley ließ die Pistole sinken, sodass sie zu Boden zeigte. „Ach und übrigens, falls du glaubst, ich könnte nicht schnell genug schießen, falls du versuchst, dir jemanden von meinen Freunden zu schnappen, dann probier’s ruhig. Trau dich.“
Joe presste die Lippen zusammen.
„Für wen halten wir dich denn?“, nahm Aden das Gespräch wieder auf.
„Für deinen … Vater.“ An dem Wort schien er fast zu ersticken.
„Bist du das nicht?“
Schweigen. Dann: „Warum suchst du ihn?“
„Darüber werde ich nur mit ihm reden.“
Wieder Schweigen. Die Anspannung im Zimmer war fast mit Händen zu greifen. Überrascht sah Riley, wie Aden langsam und entschlossen zu Joe ging und sich vor ihn hinhockte.
Joe zuckte zusammen, versuchte aber nicht, Aden auszuweichen.
„Sag mir, wer du bist“, befahl Aden.
Was zum … Aden hatte gerade die Voodoo-Stimme benutzt, wie Mary Ann sie nannte. Und er hatte so viel Macht in sie gelegt, dass ihm sogar ein Wolf gehorcht hätte. Normalerweise waren Wölfe immun dagegen.
Scheinbar war Joe das auch. „Nein.“ Endlich sah er Aden in die Augen. „Du bist also einer von denen.“ Mit einem Mal zeigte er Gefühle, starke Gefühle. Enttäuschung, Ungläubigkeit, Wut.
Unter Adens T-Shirt war zu erkennen, wie sich seine Rückenmuskeln anspannten. „Einer von denen? Wen meinst du?“
„Die Vampire. Wen sonst?“
Diese beiden Wörter – die Vampire – glichen einer Offenbarung. Joe wusste, dass es solche Wesen gab, er kannte die Anderwelt.
„Du weißt, dass es Vampire gibt?“, brachte Aden mühsam heraus.
„Wenigstens versuchst du nicht, es abzustreiten“, sagte Joe trocken. Er klang nun nicht mehr wütend, sondern eher angsterfüllt.
„Bist du mein Vater?“
„Das schon wieder.“ Dieses Mal dauerte ihr Schweigen länger. Schließlich gab Aden die Antworten, die Joe hören wollte. „In meinem Kopf sind drei Seelen gefangen. Ich kann bestimmte Dinge tun, seltsame Dinge – etwa an frühere Zeitpunkte meines Lebens zurückkehren, Tote auferstehen lassen, mich in fremde Körper hineinversetzen und die Zukunft vorhersagen.“
„Und?“
Aden lachte bitter. „Du sagst ‚und‘, als wäre das nicht genug. Und. Ich will wissen, ob noch jemand in meiner Familie so war … so ist wie ich. Ich will wissen, warum ich so bin. Und warum mir meine eigenen Eltern nicht helfen wollten.“
Joe kniff die Augen ganz leicht zusammen. Seine Wimpern waren genauso schokoladenbraun wie Adens. „Glaubst du, die Antworten könnten dir helfen, es zu verstehen?“
„Sie könnten jedenfalls nicht schaden.“
„Hoffst du, dass sich deine Eltern entschuldigen? Sollen sie sagen, dass sie einen Fehler gemacht haben? Dich mit offenen Armen aufnehmen?“ Jetzt war es Joe, der bitter lachte. „Wenn das so ist, kann ich dir jetzt schon sagen, dass dich eine herbe Enttäuschung erwartet.“
Auch ohne das Gesicht seines Königs zu sehen, wusste Riley, dass Aden die Antwort bis ins Mark traf. Er hätte es nie zugegeben, aber er hätte sich das von Herzen gewünscht. Wahrscheinlich hatte er sich insgeheim sogar danach gesehnt. Dieses Geheimnis hatte er tief in sich vergraben, um es vor sich selbst zu verstecken. Aber er konnte sich noch sosehr einreden, dass er mit seinen leiblichen Eltern nichts zu tun haben wollte, eine solche Zurückweisung würde nicht spurlos an ihm vorübergehen.
„Glaub mir“, sagte Aden im selben unterkühlten Ton wie zuvor. „Ich will mit diesen Leuten nichts zu tun haben. Sie haben mich in Irrenanstalten verrotten lassen. Diese Scheusale haben mich Ärzten überlassen, die mich misshandelt haben, und Pflegefamilien, die mir das Normalsein einprügeln wollten.“
„So sollte das nicht …“ Joe presste die Lippen zusammen, aber er hatte schon genug gesagt. Riley war sich bereits sicher gewesen, und jetzt gab es auch für Aden keinen Zweifel mehr.
„So sollte das nicht mit mir laufen?“, spie Aden ihm entgegen. „Sollte ich sterben? Oder hast du geglaubt, wenn du mich als kleines Kind an den Staat abschiebst, wird alles ganz toll für mich?“
Joe atmete scharf durch die Nase ein. „Ja, genau. Ob ich dein Vater bin? Ja. Ob es noch jemanden wie dich gab? Ja. Meinen Vater. Ich wurde als Kind durch die ganze Weltgeschichte geschleppt, weil er alle möglichen Wesen angezogen hat. Und du nennst mich ein Scheusal? Du hast keine Ahnung, was ein echtes Scheusal ist! Ich musste mit ansehen, wie riesige hässliche Bestien meine Mutter und meinen Bruder getötet haben.“
„Und das soll eine Entschuldigung für das sein, was du mit mir gemacht hast?“
Joe sprach weiter, als hätte Aden nichts gesagt. „Als ich alt genug war, bin ich von meinem Vater weggegangen und habe mit der Vergangenheit abgeschlossen. Bevor er gestorben ist, wollte er ein paarmal den Kontakt wieder aufnehmen. Bestimmt haben ihn die gleichen Viecher geholt, die den Rest meiner Familie umgebracht haben. Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben. So wollte ich nicht mehr leben. Ich musste für meine eigene Familie sorgen.“
„Für mich hast du nicht gesorgt!“, schrie Aden. „Warum hast du überhaupt Kinder in die Welt gesetzt, wenn du wusstest, dass du die Fähigkeiten deines Vaters weitergeben kannst?“
„Das wusste ich nicht. Er war als Einziger so. Ich dachte … Ich habe gehofft … es sei nicht vererbbar. Das hätte es nicht sein dürfen. Er hatte sich das selbst eingebrockt. Hatte sich mit Sachen beschäftigt, von denen man die Finger lassen sollte.“
„Mit welchen Sachen?“
„Magie, Wissenschaft.“ Joe beugte sich dicht zu Aden herunter.
„Und wie hätte ich dich behalten sollen? Du warst genau wie er. Eine Woche nach deiner Geburt sind die ersten Kreaturen aufgetaucht. Erst streunende Kobolde, die durch dein Fenster klettern wollten, dann Wölfe und Hexen. Alles Einzelgänger, die nicht viel mit ihren Völkern zu tun hatten, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis du ganze Gruppen angezogen hättest. Wir hätten fliehen müssen. Sie hätten deine Mutter getötet, mich und auch dich.“
„Was ist mit dem Mädchen?“, fragte Riley. Aden wusste nicht, wovon er sprach, aber er verriet sich nicht.
„Ein Unfall.“
„Ist sie …“
„Ich rede nicht über sie!“
„Deine Gründe kaufe ich dir nicht ab“, sagte Aden. „Ich habe es über zehn Jahre geschafft, keine Monster anzuziehen.“
„Wegen der Schutzzeichen“, erklärte Joe.
Aden ballte die Fäuste. „Mein erstes Zeichen habe ich vor ein paar Wochen bekommen.“
„Nein. Schon als Kleinkind.“
„Unmöglich.“
„Ist nicht wahr. Sie waren versteckt.“
Aden schnaufte. „Wo?“
„Auf deiner Kopfhaut.“
„Die Sommersprossen“, stieß Victoria hervor. „Weißt du noch?“
Aden rieb sich den Kopf. „Warum hat es irgendwann nicht mehr funktioniert? Und warum habt ihr mich nicht behalten, wenn es die Monster ferngehalten hat?“
Joe schloss die Augen und sackte in sich zusammen. Er seufzte. „Vielleicht ist die Tinte verblasst. Oder der Zauber wurde irgendwie gebrochen.“
Als Aden und Mary Ann einander ansahen, vermutete Riley, dass sie sich an ihre erste Begegnung erinnerten. Dabei war eine atombombengleiche Kraft freigesetzt worden, die all die Wesen angelockt hatte, die Joe aufgezählt hatte – und noch mehr.
„Und wir haben dich nicht bei uns behalten, weil ich das Risiko nicht eingehen wollte“, antwortete Joe. „Ich musste deine Mutter beschützen.“
„Meine Mutter.“ Es war offenkundig, wie sehr sich Aden nach ihr sehnte. „Wo ist sie?“
„Das sage ich auf keinen Fall.“ Die Antwort kam entschlossen, klang endgültig.
Riley wollte das nicht hinnehmen. „Wenn man euch nicht finden soll, hättet ihr eure Namen ändern sollen.“
Für einen winzigen Moment erwiderte Joe seinen Blick. „Das habe ich. Für eine Weile. Aber Paula …“ Er zuckte mit den Schultern. „Sie hat darauf bestanden.“
Hatte sie etwa gewollt, dass Aden sie fand?
Aden richtete sich auf, als hätte ihm jemand gerade ein Brett auf den Rücken geschnallt. „Ich habe genug gehört.“
Riley hatte eher das Gefühl, dass Aden nicht mehr ertragen konnte. Er schien fast zusammenzuklappen. Vor ihm saß sein Vater – der ihn immer noch nicht wollte. Der sich weigerte, ihm zu helfen, und ihm nicht einmal den kleinen Finger reichte.
„Was ist mit Joe?“, fragte Riley.
„Lass ihn hier. Ich bin mit ihm fertig.“ Damit verließ Aden das Zimmer und das Haus.
Riley winkte den Mädchen, sie sollten ihm folgen. Als sie nicht mehr zu sehen waren, warf er die Pistole auf den Boden. Joe griff nicht nach ihr, sondern blieb einfach nur sitzen. „Er ist ein guter Kerl, und jetzt ist er der Anführer der Welt, die du so verachtest. Und weißt du was? Die Ungeheuer aus deinen Albträumen gehorchen ihm aufs Wort. Er hätte dich besser beschützen können als jedes Zeichen, aber du hast ihn weggeworfen wie Müll. Zum zweiten Mal.“
Joe blinzelte. „Das … das verstehe ich nicht.“
„Na hoffentlich verstehst du das: Er hat was Besseres verdient als dich. Etwas viel Besseres.“
Jetzt sprang Joe auf. „Du hast keine Ahnung, was ich durchgemacht habe, als …“
„Deine Ausreden sind mir egal. Sie ändern nichts an dem, was passiert ist. Du hast deinen eigenen Sohn im Stich gelassen. Du bist ein gieriger, egoistischer Scheißkerl. Und jetzt gib mir dein Hemd.“
Der abrupte Themenwechsel brachte Joe aus dem Konzept. „Was?“
„Du hast schon verstanden. Gib mir dein Hemd. Ich will das nicht noch mal sagen müssen. Das Ergebnis würde dir nicht schmecken.“
Joe zog sich das Hemd über den Kopf und warf es Riley zu. „Da. Zufrieden?“
Riley fing es auf. „Bei Weitem nicht.“ Joes Oberkörper war von dicken Narben übersät – Narben von Klauen. Außerdem trug er weitere Schutzzeichen. Das größte von ihnen erkannte Riley. Es war ein Zeichen, das Alarm schlug. Wenn Gefahr drohte, bebte sein Träger am ganzen Körper. Deshalb hatte Joe gewusst, dass er abhauen musste, als Riley in seine Nähe gekommen war. „Noch was, Joe Stone. Wenn wir wieder mit dir reden wollen, kannst du dich nirgendwo verstecken.“ Auch wenn er sich nicht mehr verwandeln und vielleicht keine Spuren mehr verfolgen konnte – seine Brüder konnten es. „Wir haben deine Witterung.“
Damit ging auch er hinaus.