24. KAPITEL

Dunkelheit.

Licht.

Dunkelheit.

Licht.

Die Dunkelheit bot Trost, das Licht brachte Qualen. Mary Ann fiel die Entscheidung nicht schwer, was sie vorzog. Die süße Dunkelheit. Aber dieses dumme Licht drängte sich immer wieder in ihr Bewusstsein.

So wie jetzt. Bumm, bumm. Bumm, bumm. Ihr armer, geschundener Körper wurde durchgerüttelt, jede Bewegung brachte neue Schmerzen mit sich. Wenn sie vorher gedacht hatte, sie wüsste, was Schmerzen waren, wurde sie jetzt eines Besseren belehrt.

„Trag du sie lieber, Vic“, sagte eine Männerstimme über ihr.

Mary Ann kannte sie. Mochte sie diese Stimme etwa nicht? Oder mochte sie sie zu gerne? Ihr Herzschlag legte einen Gang zu.

„Nenn mich nicht so. Und wieso sollte ich sie tragen?“ Moment mal. Das klang wie ihre, na ja, Freundin Victoria, die mit Aden zusammen war.

„Maxwell hat meine Klamotten mitgenommen, und ich stolpere ständig über diese Bettlakentoga, die ich vom Bett meines kleinen Bruders geklaut habe“, antwortete der erste Sprecher. Er klang wirklich vertraut. Sie kannte ihn, konnte ihn aber nicht ganz einordnen. Zumindest reimte sie sich zusammen, dass er nicht der war, den sie sich erhofft hatte. „Wenn ich sie fallen lasse, rastet Riley aus.“

Riley. Genau! Ihm gehörte die Stimme, nach der sie sich sehnte, die sie aber noch nicht gehört hatte.

„Beschwer dich nicht, ich schleppe schließlich den großen Typen hier.“ He, das klang nach Tucker. „Er könnte echt mal eine Diät vertragen.“

„Erledigt einfach euren Job.“ So erschöpft hatte sie Victoria noch nie gehört. Normalerweise sprühte die Prinzessin vor Energie. „Wir sind gleich draußen. Tucker, bist du sicher, dass uns niemand sieht?“

Tucker brummelte irgendwas vor sich hin, das klang wie: Wie oft willst du mich das noch fragen? „Ja, bin ich.“

„Was ist mit den Wachleuten und Krankenschwestern?“

„Die sehen die beiden immer noch in ihren Betten liegen. Im Moment versuchen sie sogar, sie wiederzubeleben. Die Kleinen sterben.

Wie traurig, schluchz.“ „Spüren sie nicht …“

„Nein. Erstens nimmt meine Kraft durch meine bösen Taten zu. Also kannst du dir denken, dass ich ziemlich mächtig bin. Zweitens akzeptiert der menschliche Verstand, was er sieht, und erfindet den Rest dazu. Und wenn nicht, tue ich das. Bis die Leute hier merken, dass ihre Verdächtigen verschwunden sind, ist es zu spät. Und jetzt sei ruhig. Hören können sie uns nämlich.“

„Aber …“

„Hast du auch so große Zweifel an Adens Fähigkeiten? Hast du, oder? Übrigens überlegt er wahrscheinlich gerade, ob er sich die Ohren abschneiden und sie irgendwem schicken soll. Meine Güte!“

Jetzt grummelte Victoria: „Ich dachte, in Mary Anns Nähe funktionieren deine Kräfte nicht.“

„Die Dinge ändern sich.“

„Ja“, stimmte sie seufzend zu. „Das stimmt.“

Retten sie mich, dachte Mary Ann. Bestimmt. Aber wo war sie? Sie wusste nur noch, wie sie Riley geküsst hatte, wie schön es gewesen war, dass sie mehr gewollt und gedacht hatte, dieses Mal würden sie endlich weiter gehen. Nur eine andere Umgebung hätte sie sich gewünscht. Plötzlich waren Schmerzen durch ihre Schulter gezuckt, warmes Blut war geflossen, und Riley hatte ihr gesagt, sie solle Energie von ihm nehmen – Moment, Moment, einen Schritt zurück.

Sie hatte Riley Kraft geraubt.

Ging es ihm gut? War er in der Nähe?

Der Gedanke ließ sie unvorsichtig werden, und sie versuchte sich freizustrampeln.

Sie wurde fester gepackt. „Mary Ann. Hör auf, das darfst du nicht.“ Wieder diese vertraute Stimme, die sie nicht einordnen konnte.

„Riley“, krächzte sie mit wunder Kehle.

„Er ist in Sicherheit. Er ist bei uns.“

Gut. In Ordnung. Ja. Die Anspannung fiel von ihr ab, und große Erleichterung vertrieb das Licht, bis ganz von selbst die Dunkelheit zurückkehrte.

Licht.

Mary Ann hörte Reifen quietschen. Dann laute hämmernde Rockmusik, gefolgt von leiser Rockmusik und einer Diskussion im Flüsterton. Sie wurde nicht mehr durchgerüttelt, sondern lag auf einer weichen Unterlage. In ihre Seite drückte sich ein kleiner harter Gegenstand.

Sofort stellten sich ungebetene Gedanken ein.

Mühsam öffnete sie die Augen. Jemand musste ihr Vaseline auf die Pupillen geschmiert haben, denn sie sah alles verschwommen. Das war nicht witzig; sie würde sich beschweren, sobald sie den Mund aufbekam.

„… doch gesagt, dass ich brav bin“, sagte Tucker.

„Tut mir leid, aber es ist ja wohl verständlich, dass ich vorsichtig bin“, antwortete Aden.

Aden. Aden war hier.

„Deine Freundin fahren zu lassen, während du mir ein Messer an die Kehle hältst, hat doch nichts mehr mit Vorsicht zu tun. Das ist ein Spiel mit dem Tod. Außerdem brauchst du mich noch. Ohne mich werdet ihr vielleicht angehalten.“

„Du brauchst mich auch noch. Vergiss das nicht.“

In der sich anschließenden Stille konnte Mary Ann ihre Gedanken ordnen. Sie war gerettet. Mit Riley. Wo war er? Ihr hämmerndes Herz erinnerte sie an etwas, doch sie wusste nicht, woran. Mit zitternden Händen wischte sie sich über die Augen. Obwohl nichts an ihren Fingern haften blieb, wurde ihr Blick etwas klarer, und sie konnte sich umsehen. Sie lag in einer Art Transporter ausgestreckt auf dem Rücksitz.

Also drückte sich nur der Sicherheitsgurt in ihren Rücken, nicht irgendein Typ und sein … Das war schon mal eine Erleichterung.

Noch mehr erleichterte es sie, Riley auf dem Sitz vor sich zu sehen. Selbst im Schlaf hörte er offenbar, dass sie sich bewegte, denn er drehte den Kopf in ihre Richtung. Er hatte die Augen geschlossen, sein Gesicht wirkte verkniffen.

Tausendmal besser verkniffen als tot.

Sie streckte eine Hand aus, die stark zitterte, und legte sie ihm auf den Arm. Er reagierte nicht, aber das war in Ordnung. Was ihnen auch passiert war, sie würden überleben.

Ein Seufzen entfuhr ihr, und wieder umfing sie Dunkelheit. Dieses Mal ließ sie sich mit einem Lächeln treiben.

Als Mary Ann aufwachte, knurrte ihr Magen.

Stirnrunzelnd öffnete sie die Augen, streckte sich, um die Schmerzen zu vertreiben, was allerdings nicht half, und setzte sich vorsichtig auf. Nach einem kurzen schwindeligen Moment konnte sie ihre Umgebung erkennen. Statt auf dem Rücksitz des Autos lag sie nun auf einem unbekannten Bett in einem kleinen, aufgeräumten Zimmer. Wer es eingerichtet hatte, stand eindeutig auf die Farbe Braun. Brauner Teppich, braune Vorhänge, braune Bettdecke.

„… musst trinken“, sagte Victoria gerade.

„Du auch.“

„Ja … also ich brauche im Moment nichts.“

„Das kann doch gar nicht sein. Ich habe dich die ganze Zeit nicht trinken sehen.“

„Das heißt nicht, dass ich es nicht getan habe.“

„Hast du denn getrunken?“

Trinken. Essen. Nahrung. Als Mary Anns Magen wieder grummelte, sahen Aden und Victoria zu ihr herüber. Wie peinlich. Beide saßen vor dem Bett auf einem braunen Sessel, Victoria auf Adens Schoß.

Bei ihren früheren Treffen hatte Mary Ann immer zugleich den Drang verspürt, ihn zu umarmen und davonzulaufen. Jetzt wollte sie ihn einfach nur noch umarmen. Er war einer ihrer besten Freunde, und sie liebte ihn wie einen Bruder, aber ihre Fähigkeiten – er zog an und verstärkte, sie stieß ab und schwächte – machten sie zu völligen Gegensätzen. Sie hatten zwei Magneten geglichen, die mit der falschen Seite aneinandergepresst wurden und nicht zusammengehörten. Bis jetzt.

Sie fragte sich, was sich geändert hatte, aber sie war zu hungrig, um der Sache auf den Grund zu gehen.

„Du bist wach“, stellte Aden hörbar erleichtert fest.

„Ja.“ Er sah verändert aus. Stark verändert. Statt der dunklen Haare trug er kurze blonde Stoppeln. Sein Gesicht war härter, schroffer, seine Schultern breiter. Wenn sie sich nicht täuschte, waren sogar seine Beine länger geworden.

In nur zwei Wochen war er so viel gewachsen. Wow. Aber wahrscheinlich sah auch sie anders aus. Sie war tätowiert und dünner, vielleicht sogar hager. „Wo ist Riley?“

„Direkt neben dir.“ Victoria deutete mit einer Kopfbewegung auf die andere Betthälfte.

Mary Ann fuhr überrascht herum, dass die Bettfedern quietschten. Tatsächlich. Riley lag neben ihr, gestützt von mehreren Kissen. Er war wach und schien Schmerzen zu haben. Sein Gesicht war bleich, unter den Augen hatte er dunkle Ringe. Seine sonst strahlend grünen Augen wirkten stumpf.

Sie streckte die Hand aus und wollte mit den Fingerspitzen über die Schatten fahren, als könne sie sie fortwischen, aber er zuckte vor ihrer Berührung zurück.

War sie erstaunt? Ja, das auch. Und zutiefst verletzt. Er sah sie nicht einmal an, sondern starrte zu Aden und Victoria hinüber. Ohne eine Erklärung presste er die Lippen fest zusammen.

Was war mit ihm los?

Hatte sie etwas getan oder gesagt?

Oder hatte er so große Schmerzen, dass er nicht berührt werden wollte?

An seinem nackten Oberkörper konnte sie keine Verletzung entdecken, aber von der Taille abwärts steckte er unter der Decke. Vielleicht bereiteten ihm seine Beine solche Schmerzen, dass er auf jede Berührung übersensibel reagierte. Das hätte sie nur zu gern geglaubt, aber im Innersten vermutete sie das Schlimmste.

Er wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben.

Wenn das stimmte, war sie selbst schuld, oder?

„Ich dachte, ich hätte vorhin Tucker gehört“, krächzte sie Aden und Victoria zu.

Die Vampirprinzessin hatte sich nicht von seinem Schoß gerührt. Warum sollte sie auch? Woanders hätte sie nicht so bequem gesessen. Allerdings bewahrte sie perfekt Haltung. Sie saß kerzengerade und hatte die Hände ordentlich auf dem Schoß gefaltet. Jede andere hätte darauf gepfiffen und es sich bequem gemacht. Aden jedenfalls fläzte sich auf dem Sessel und strich Victoria mit einer Hand über den Rücken.

Sie gaben das perfekte Bild eines verliebten Pärchens ab. So eingespielt und vertraut. Wenn es Probleme gab, wie Riley behauptet hatte, arbeiteten sie offenbar daran.

Sehnsucht flackerte in ihr auf. Würden auch sie und Riley ihre Probleme lösen können? Wollte sie das überhaupt?

Darüber musste sie nicht erst nachdenken. Ja, sie wollte es. Aber wollte sie mit ihm zusammen sein und ihn in noch größere Gefahr bringen?

Ja, dachte sie wieder. Auch das. Nach ihrem letzten Kuss würde sie alles tun, um mit ihm zusammen zu sein. Wenn er sie wollte. Sie war vor ihm weggelaufen, und er war ihr gefolgt. Sie hatte versucht, ihn wegzuschicken, trotzdem war er bei ihr geblieben. Und jetzt … jetzt hatte sie keine Ahnung, was in seinem Kopf vor sich ging.

Was die Tatsache betraf, dass sie anderen Kraft entzog – dafür würden sie schon eine Lösung finden. Riley war sich da immer sicher gewesen, und dieses Mal glaubte sie ihm.

„Mary Ann? Hast du gehört? Tucker ist weg“, sagte Aden.

„Ach. Wo ist er hin?“

„Wissen wir nicht.“ Victoria schürzte die Lippen. „Riley wollte ihn umbringen, also war es ganz gut, dass er abgehauen ist.“

„Du hättest mich nicht zurückhalten sollen“, sagte Riley aufbrausend zu Aden. „Majestät.“

Der Klang seiner rauen Stimme ließ Mary Ann zittern. Oder eher erschauern. Er konnte also sprechen, nur mit ihr wollte er nicht reden. Autsch.

„Wo ist der andere Typ?“, fragte sie. „Der aus dem Krankenhaus? Der mich getragen hat?“

Sorgenfalten gruben sich in Victorias Stirn. „Das hast du mitbekommen?“

„Vage.“

„Hast du gehört … Schon gut. Das war Nathan, Rileys Bruder, aber er ist nicht mitgekommen. Er hat Tucker nervös gemacht.“

Und das hatten sie nicht gewollt? Erstaunlich. „Sagt mir mal bitte jemand, was los ist?“ Wieder grummelte ihr Magen, und sie errötete.

„Hast du Hunger?“, fragte Aden.

„Ich … ja.“ Dabei war sie seit Wochen nicht mehr hungrig auf richtige Nahrung gewesen. Nur auf Energie. Magie. Kraft. Jetzt hätte sie morden können für einen Hamburger.

Mmhh, einen Hamburger …

Alle drei sahen sie komisch an.

„Das ist … seltsam“, meinte Victoria schließlich.

Mary Anns Magen widersprach mit weiterem Grummeln. „Das ändert nichts an den Tatsachen. Ich bin halb verhungert!“

„Dann besorgen wir dir mal was zu essen.“ Etwas zu eifrig sprang die Prinzessin auf. „Ich hole dir was.“

„Nein.“ Aden schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall. Tucker ist da draußen. Ich will nicht, dass du …“

„Mir passiert nichts. Wenn doch, schicke ich dir eine SMS. Ich habe mich mit der Technik richtig angefreundet, das hast du ja gesehen.“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Und du kannst jetzt nicht gehen. Du hast Mary Ann viel zu erzählen.“

„Das könntest du übernehmen.“

„Unmöglich. Die Hälfte von dem, was du ihr sagen willst, habe ich schon vergessen.“

„Glaube ich nicht“, sagte er. „Du hast doch mit Riley Händchen gehalten und Erinnerungen ausgetauscht. Du weißt mehr als wir anderen.“

„Stimmt. Also hast auch du einiges nachzuholen.“

Sie ging, ohne auf eine Antwort zu warten, und erstaunlicherweise versuchten weder Aden noch Riley, sie aufzuhalten, wie sie es früher getan hätten. Sie öffnete die Tür, und für einen kurzen Moment strömte Sonnenlicht ins Zimmer. Mit einem leisen Klicken fiel die Tür ins Schloss, und Victoria war verschwunden.

„Dickkopf“, grummelte Aden.

„Typisch“, brummte Riley.

Machos.

„Was willst du mir erzählen?“ Unter Mary Anns Hunger mischte sich Furcht, ätzend spürte sie die Magensäure unterm Brustbein.

„Halt dich fest.“ In der nächsten halben Stunde berichtete Aden ihr von so vielen schrecklichen Dingen, dass sie sich gern die Ohren mit Sandpapier ausgescheuert hätte.

Ein Hexenzirkel abgeschlachtet. Die D&M-Ranch komplett abgebrannt. Vlad der Pfähler, der Besitz von Menschen ergreifen und sie zu abscheulichen Taten zwingen konnte. Tuckers kleiner Bruder, der vielleicht entführt und ermordet werden sollte.

Shannon erstochen. Und im Moment ein Zombie.

Adens Stimme zitterte ein paarmal, als müsse er gegen Tränen ankämpfen, aber er gewann und erzählte weiter. Als er fertig war, wünschte Mary Ann beinahe, er hätte es nicht getan.

„So viel Tod“, flüsterte sie. Der arme, liebe Shannon, der noch einmal sterben musste, wenn nichts geschah. Konnten sie überhaupt etwas tun? Sie hätte gern geweint um ihn und um alles, was er verloren hatte. Sie wünschte sich, ihn so zurückzuholen, wie er gewesen war. Ihn in die Arme zu nehmen. Und Vlad grausam zu bestrafen.

Sie sehnte sich danach, dass Riley sie in den Arm nahm, sie tröstete und ihr sagte, alles würde gut werden.

Keine große Überraschung, dass nichts davon geschah. Im Gegenteil, nach ihrem entsetzten Flüstern senkte sich die Stille wie eine dicke bedrückende Wolke auf sie herab. Niemand wusste, wohin er sehen oder was er darauf sagen sollte.

Scharniere quietschten, und wieder flutete Licht ins Zimmer. Victoria kam herein, schloss die Tür und sperrte das Licht aus. Aus einer Papiertüte in ihrer Hand duftete es nach Brot, Fleisch und fettigen Pommes. Mary Ann lief das Wasser im Mund zusammen, und sie schämte sich dafür. Nach allem, was sie gerade gehört hatte, hätte ihr der Appetit vergehen sollen. Für immer.

Doch als Victoria ihr die Tüte gab, auf der sich schon Fettflecke abzeichneten, konnte sie sich nicht zurückhalten. Sie verputzte das komplette Essen in Rekordzeit. Als sie den letzten Krümel geschluckt hatte, merkte sie, dass es im Zimmer immer noch still war. Alle starrten sie an. Na toll. Wahrscheinlich hatte sie Essensreste zwischen den Zähnen und Senfflecken auf dem Kinn.

Verschämt wischte sie sich mit dem Handrücken über das Gesicht.

„Ist dir übel?“, fragte Victoria, die wieder auf Adens Schoß saß. Sie sah nicht mehr ganz so blass aus wie vorhin, und war dieser Fleck auf ihrem Gewand etwa Ketchup?

„Nein?“ Mary Ann war so verblüfft, dass ihre Antwort eher wie eine Frage klang. Ihrem Magen schien das Essen gut bekommen zu sein. Zuvor war ihr schon schlecht geworden, wenn sie nur an Essen gedacht hatte. „Was bedeutet das?“

Nachdenklich zupfte Victoria an ihrem Ohrläppchen. „Du wurdest von einer Hexe mit einem Pfeil angeschossen und hast viel Blut verloren.“

Mary Ann nickte.

„Und im Krankenhaus hast du eine Transfusion bekommen.“

„Ja. Soweit ich weiß.“

Die Prinzessin biss sich auf die Unterlippe. War sie nervös? „Vielleicht bist du durch das menschliche Blut wieder zu einem Menschen geworden. Zumindest für eine Weile. Oder es hat etwas mit Riley zu tun. Deine Fähigkeit, die Kräfte von anderen zu unterdrücken, hat er schon immer gestört. Vielleicht kannst du jetzt seinetwegen keine Energie mehr entziehen.“

„Also kann ich im Moment niemandem die Kraft rauben?“ „Wenn du dein Essen bei dir behältst, und so sieht es ja aus, stehen Magie und Energie wahrscheinlich nicht mehr auf deinem Speiseplan.“

„Du musst nicht mehr weglaufen“, sagte Aden.

„Nicht wenn es eine Möglichkeit gibt, dass es so bleibt.“ Mary Ann musste sich zurückhalten, um nicht aus dem Bett zu springen und wie eine Verrückte herumzutanzen. Es musste eine Möglichkeit geben.

„Ich weiß nicht. Du könntest mit einer Tätowierung verhindern, dass du noch mal jemandem Kraft entziehst, aber wenn du sie dann wieder brauchen solltest, würdest du verhungern.“ Victoria warf Riley einen Blick zu, bevor sie sich wieder an Mary Ann wandte. „Wir haben schon anderen Kraftdieben solche Zeichen verpasst. Nicht wenn sie ihre Fähigkeit verloren hatten, weil das noch nie passiert ist, soweit ich weiß, aber sie sind alle verhungert.“

Eine schlimmere Art zu sterben konnte sich Mary Ann nicht vorstellen. Aber davon ließ sie sich nicht aufhalten. „Das ist mir egal. Ich will es versuchen. Ich will das Zeichen.“ Wenn auch nur die Möglichkeit bestand, dass es funktionierte, musste sie die Chance nutzen. Sie würde alles tun, damit sie zu ihrem Vater zurückkehren konnte.

Damit sie mit Riley zusammen sein konnte.

Sie wollte lieber sterben, als den beiden Männern in ihrem Leben etwas anzutun. Ja, das musste sie riskieren. „Ist die Ausrüstung hier?“

„Ja. Nathan hat deine neuen Schutzzauber gesehen, und auf einem hat sich schon Schorf gebildet. Er dachte, Riley wolle den Schaden vielleicht beheben, und hat alles Nötige beschafft.“

„Vorher müssen wir darüber reden“, sagte Aden.

Mary Ann schüttelte schon den Kopf, bevor er ausgesprochen hatte.

„Nein. Wir machen das. Hier und jetzt. Bevor wir von hier weggehen.“

Auch Aden sah zu Riley hinüber. In seinem Blick lag eher Verwunderung als eine stumme Bitte an Riley, sie zur Vernunft zu bringen. „Was ist nur aus unserer süßen Mary Ann geworden, die nie streiten wollte?“

Als Riley nur mit den Schultern zuckte, traf es sie ebenso wie zuvor, als er vor ihr zurückgewichen war. „Du hast uns ja schon erzählt, was bei dir in der letzten Woche passiert ist. Jetzt sind wir dran. Wir haben einiges rausgefunden.“

Eine Pause, gefolgt von einem zittrigen Atemholen. „Na gut.“ Aden wappnete sich. „Schieß los.“

Eine weitere halbe Stunde verstrich, in der Riley von Mary Anns Suche nach der Identität der Seelen berichtete, von ihren Erfolgen und ihrer Suche nach Adens Eltern, die sie wahrscheinlich gefunden hatten.

Aden hörte zu, blass und angespannt. Seine Augen wechselten so schnell die Farben, dass sie einem rotierenden Kaleidoskop glichen. Blau, Gold, Grün, Schwarz. Violett, ein glitzerndes Violett. Die Seelen in seinem Kopf mussten verrückt spielen.

Als Riley ausgesprochen hatte, trat wieder diese bedrückende Stille ein.

Aden legte den Kopf zurück und starrte an die Zimmerdecke. „Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Ich brauche Zeit. Ein, zwei Jahre wären nicht schlecht.“ Er massierte sich die Schläfen, als würde er gegen Kopfschmerzen ankämpfen. „Wisst ihr, was mich am meisten ärgert? Dass wir die ganze Zeit herumlaufen und nur reagieren, statt selbst etwas zu unternehmen.“

„Das verstehe ich nicht“, sagte Victoria.

„Ich auch nicht“, stimmte Mary Ann zu. „Was meinst du?“

„Wir haben Vlad die Fäden ziehen lassen. Er versteckt sich in den Schatten, hetzt Leute auf uns, und wir tun nichts, um ihn aufzuhalten. Wir warten, wir stecken ein, wir reagieren, hampeln ohne Plan herum und schlagen nicht zurück. Er hat keine Angst vor uns, weil wir nie in den Angriff übergehen. Warum eigentlich nicht?“

„Woran denkst du?“, fragte Riley. Seine Stimme klang schroff, aber gleichzeitig eifrig, wie die eines Todeskandidaten, der nichts mehr zu verlieren hatte.

„Ich werde selbst mit Tonya Smart reden. Ich werde … meine Eltern besuchen, wenn sie das wirklich sind. Und so viel wie möglich über mich und die Seelen herausfinden. Unterm Strich muss ich in Bestform sein, wenn ich gegen Vlad eine Chance haben will. Und das kann ich nicht sein, wenn ich tausend verschiedene Baustellen habe.“

Er unterbrach sich und sah alle der Reihe nach an, um sicherzugehen, dass sie zuhörten. Als niemand antwortete, fuhr er fort: „Ihr zwei müsst noch hierbleiben, ihr seid ziemlich schwach und ich ehrlich gesagt auch. Also ruhen wir uns aus. Bei Sonnenuntergang ziehen wir los und machen uns ans Werk.“